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Während digitale Spiele schon längst kein neues Medium mehr darstellen, ist die Spielfreude junger Menschen für viele Erziehende aber nach wie vor eine Herausforderung. Sorgen über mögliche suchtfördernde Wirkung oder Gewaltdarstellungen in digitalen Spielen erschweren häufig einen verständnisvollen Zugang und Umgang mit dem Medium. Was genau daran als herausfordernd erlebt wird und welche Strategien Familien und Erziehende finden, im Alltag mit digitalen Spielen umzugehen, ist Gegenstand des Buches. Dazu kommen sowohl junge Spielende selbst, deren Eltern als auch Fachkräfte in sozialpädagogischen Einrichtungen zu Wort. Die Diskrepanzen, die in der Bewertung des Mediums zwischen Spielenden und Erziehenden offenkundig werden, erlauben zum einen Rückschlüsse auf ein tiefsitzendes Unverständnis dem neuen Medien gegenüber, das mehr ist als reiner Generationenkonflikt, zum anderen wird auch klar, dass elterliche Sorgen legitim, aber nicht immer hilfreich sind. Und manchmal ist eine Sorge so stark auf ein vermeintliches Problem fokussiert, dass deutlich größere potentielle Risiken, wie aggressive Finanzierungsstrategien digitaler Spiele oder Hatespeech in virtuellen Räumen, unbemerkt bleiben.
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Seitenzahl: 587
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Markus Meschik
Digitale Spiele in Familien und der stationären Kinder- und Jugendhilfe
Gefördert durch
Markus Meschik
GAME OVER (?)
Digitale Spiele in Familien und der stationären Kinder- und Jugendhilfe
ISBN (Print) 978-3-96317-301-1
ISBN (ePDF) 978-3-96317-849-8
ISBN (ePub) 978-3-96317-850-4
Copyright © 2022 Büchner-Verlag eG, Marburg
Zugl.: Univ. Diss., Karl-Franzens-Universität Graz 2021
Bildnachweis Umschlag: Illustrationen von Jacqueline Kaulfersch
Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
www.buechner-verlag.de
Ich bedanke mich aufrichtig bei allen Personen, die mich beim Erstellen dieser Arbeit unterstützt haben.
Besonderer Dank gebührt Univ.-Prof. Dr. Arno Heimgartner und Priv.-Doz. Mag. Dr. phil. Natalia Wächter für die stetige Ermutigung und kompetente Betreuung des Dissertationsvorhabens.
Weiters danke ich den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe Lebensraum Heidlmair GmbH, Volkshilfe Wien, SOS Kinderdorf sowie den weiteren beteiligten Institutionen für ihre großartige und tatkräftige Unterstützung. Besonders sei hierbei Jürgen Pils erwähnt, dessen Motivation und Tatendrang eine große Inspiration waren.
Last but not least danke ich allen Interviewteilnehmer*innen für ihre Mitwirkung, Zeit und die Bereitschaft, ihre Erfahrungen zu teilen. Ihre Offenheit hat diese Arbeit erst möglich gemacht.
Dass digitale Spiele als Freizeitbeschäftigung einen zentralen Bestandteil der Lebensgestaltung (nicht nur) österreichischer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener darstellen, ist ein Befund, der sich so oder ähnlich in vielen medialen Berichterstattungen wiederfindet, so wie auch hier in diesem Vorwort. Trotz der recht hohen Frequenz, in der sich besagter Satz finden lässt (oder vielleicht genau deswegen), konnte ich lange den Eindruck nicht abschütteln, dass es sich dabei um eine hohle Worthülse handelt, die das Thema vereinfacht und der Komplexität des Mediums in der Lebenswelt einzelner Akteur:innen nicht gerecht wird. Dieses Buch stellt einen, und ich wage zu sagen, erfolgreichen, Versuch dar, Einblicke in die lebensweltliche Relevanz digitaler Spiele zu gewähren und sich den Fragen hinter dieser Worthülse zu stellen.
Im vorliegenden Buch wird der Umgang mit digitalen Spielen in zwei erzieherischen Kontexten, traditionellen Familiensystemen sowie der stationären Kinder- und Jugendhilfe, untersucht. Darüber hinaus wird der Stellenwert beleuchtet, den das Medium in der Lebenswelt jugendlicher Spielender einnimmt. Dazu wurden in einem theoretischen Teil Daten und Vorarbeiten zur Nutzung digitaler Spiele in Familien und der stationären Kinder- und Jugendhilfe zusammengefasst. Ein Schwerpunkt wurde dabei auf potenziell problematische Phänomene gelegt; im Wesentlichen sind dies Abhängigkeit von digitalen Spielen und spielimmanente Glücksspielelemente (Dieser alleinige Fokus auf problematische Aspekte sei mir bitte verziehen; er nährt sich aus Erfahrungswerten in der Beratung von Familien und Fachkräften in Bezug auf dieses Thema). In einem qualitativen Forschungsansatz wurden insgesamt 30 Leitfadeninterviews mit Familien, Jugendlichen, Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie einschlägigen Expert*innen durchgeführt und ausgewertet.
Es zeigten sich dabei unter anderem eine große lebensweltliche Relevanz digitaler Spiele für vor allem männliche Spielende, für die digitale Spiele auch als Quelle von Anerkennung in ihren Peergroups fungieren. Dies steht in Diskrepanz zum Stellenwert, den das Medium im erzieherischen Alltag vieler Familien einnimmt, wo Umgang mancher Erziehender mit digitalen Spielen von Sorge geprägt ist. Dieser Umgang stellt sich sowohl in Familien als auch bei Fachkräften als heterogen dar. Während in manchen Familien restriktive Maßnahmen im Vordergrund stehen, wird das Medium vor allem bei medienbiographischen Spieleerfahrungen der Erziehenden in den gemeinsamen Familienalltag integriert. In der stationären Kinder- und Jugendhilfe stellt das Wissen über digitale Spiele sowohl eine Ressource in der direkten Arbeit mit Adressat*innen als auch bei der Etablierung adäquater Regeln für das gesamte Team dar.
Da ich mich selbst am Angelpunkt zwischen sozialpädagogischer Praxis und Forschung verorte, ist diese Arbeit fast rein empirisch und lebt auch von der Praxisnähe. Ich hoffe, diesem Anspruch der Praxisnähe gerecht geworden zu sein und mit diesem Buch einen Beitrag sowie eine Inspiration für die Forschung zu digitalen Spielen vor allem im sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Kontext erwirkt zu haben. Über Rückmeldung und Diskurs dazu freue ich mich sehr und wünsche etwaigen Leser:innen viel Vergnügen.
Danksagungen
Vorwort
1.Einleitung
2.Sozialpädagogische Aspekte
2.1 Digitale Spiele als Schutzräume
2.2 Kompetenzumkehr beim Umgang mit digitalen Medien
3.Mediennutzung
3.1 Freizeitaktivitäten von Jugendlichen
3.2 Technische Ausstattung von Jugendlichen
3.2.1 Spielen von digitalen Spielen
3.2.2 Spieldauer
3.2.3 Spielpräferenzen
3.2.3.1 Relevanz von Altersbeschränkungen
3.2.3.2 Geschlechtsspezifische Präferenzen
3.3 Veränderung in den letzten Jahren
3.3.1 Gemeinsames Spielen
3.3.2 Prävalenz von In-Game-Käufen
3.4 Relevanz digitaler Spiele im Alltag
3.5 Zusammenfassung
4.Computerspiele in der Familie
4.1 Stellenwert digitaler Spiele in der Familie
4.1.1 Erste Spielerfahrungen
4.1.2 Rolle der Geschwister
4.1.3 Gemeinsames Spielen
4.1.4 Spielintensität
4.1.5 Kompetenzen im Umgang mit digitalen Spielen
4.1.6 Kommunikation über Spiele
4.2 Funktionen in der Familie
4.2.1 Computerspiele als verbindendes Element
4.2.2 Computerspiele als Familienereignis
4.2.3 Computerspielen als Wettkampf
4.3 Geschlechtsspezifische Präferenzen
4.4 Regeln und Maßnahmen
4.4.1 Zeitliche Beschränkungen
4.4.2 Inhaltliche Beschränkungen
4.4.3 Lose Regulierungen
4.4.4 Konsequenzen
4.4.5 Konflikte
4.5 Zusammenfassung
5.Medien in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
5.1 Technische Infrastruktur
5.2 Haltungen der Fachkräfte
5.3 Umgang und Regeln
5.4 Konzeptuelle Verankerung
5.5 Zusammenfassung
6.Problematische Aspekte bei digitalen Spielen
6.1 Sucht bei digitalen Spielen
6.1.1 Begriffsdefinition
6.1.1.1 Definitionen der Begriffe »Internetsucht« und »Computerspielsucht«
6.1.1.2 Internet Gaming Disorder im DSM-5
6.1.1.3 Kritik an der Definition der Internet Gaming Disorder
6.1.1.4 Gaming Disorder in der ICD-11
6.1.1.5 Debatte um die Aufnahme der Gaming Disorder in die ICD-11
6.1.1.6 Alternative Definitionen
6.1.2 Motivationsfaktoren von digitalen Spielen
6.1.2.1 Psychosoziales Moratorium
6.1.2.2 Exkurs: Spiele als Schutzräume
6.1.2.3 Amplification of Input
6.1.2.4 Soziale Faktoren
6.1.2.5 Immersive Faktoren
6.1.2.6 Leistungsfaktoren
6.1.2.7 Sozialer Druck
6.1.2.8 Zusammenhang von Spielmotivation und problematischem Spielverhalten
6.1.2.9 Abgrenzung problematischen Spielverhaltens
6.1.3 Messinstrumente
6.1.4 Prävalenz
6.1.4.1 Österreich
6.1.4.2 Deutschland
6.1.4.3 International
6.1.5 Risikogruppe
6.1.5.1 Alter
6.1.5.2 Genrepräferenz
6.1.5.3 Geschlecht
6.1.5.4 Prädiktoren
6.1.6 Geschlechterverteilung
6.1.7 Herausforderungen in der Praxis
6.1.8 Zusammenfassung
6.2 Konvergenz von Computerspiel und Glücksspiel
6.2.1 Finanzierungsmodelle
6.2.1.1 Flat Fee
6.2.1.2 Add-On/DLC
6.2.1.3 Free-to-Play
6.2.1.4 Pay-to-Win
6.2.1.5 Abonnements
6.2.2 Glücksspiel und Computerspiel
6.2.2.1 Definition von Glücksspiel in Österreich
6.2.2.2 Analogien zu klassischem Glücksspiel
6.2.2.3 Lootboxen
6.2.2.4 Simuliertes Glücksspiel
6.2.2.5 Skin Betting oder Skin Gambling
6.2.3 Prävalenz von In-Game-Käufen
6.2.3.1 Nutzer*innen
6.2.3.2 Geldmengen
6.2.4 Kritische Aspekte
6.2.4.1 Rolle der Herstellerfirmen
6.2.4.2 Rolle der Influencer*innen
6.2.4.3 Sozialer Druck
6.2.5 Zusammenfassung
7.Methode
7.1 Ziele und Forschungsfragen
7.2 Interviews
7.2.1 Familien
7.2.2 Kinder- und Jugendhilfe
7.2.3 Leitfragebögen
7.3 Zielgruppen
7.3.1 Familien
7.3.2 Stationäre Kinder- und Jugendhilfe
7.3.3 Expert*innen
7.4 Auswertungsmethode
7.5 Kategorien
7.5.1 Stellenwert bei Kindern und Jugendlichen
7.5.2 Spezifische Nutzungsart digitaler Spiele
7.5.3 Wissen über digitale Spiele
7.5.4 Erzieherische Zugänge
7.5.5 Wertung von digitalen Spielen
7.5.6 Kommunikation über die Computerspielnutzung
7.5.7 Computerspielverhalten der Eltern
7.5.8 Wertschätzung durch die Eltern
7.5.9 Spielmotivation
7.5.10 Anlaufstellen
7.5.11 Einfluss des Mediums auf den Alltag
7.5.12 Geschlechtsspezifische Unterschiede im Spielverhalten
8.Datenauswertung
8.1 Stellenwert von digitalen Spielen bei Kindern und Jugendlichen
8.1.1 Spielmotivationen
8.1.1.1 Leistungsanspruch und Wettbewerb
8.1.1.2 Gaming als Berufsoption
8.1.1.3 Soziale Motivationsfaktoren
8.1.1.4 Aufbau eines Spielcharakters
8.1.1.5 Spiele als Versuchsraum
8.1.2 Funktionen des Spielverhaltens
8.1.2.1 Veränderte Zeitwahrnehmung
8.1.2.2 Erfolgserlebnisse
8.1.2.3 Computerspielen als Copingstrategie
8.1.2.4 Spiele zur Entspannung
8.1.3 Bedeutung digitaler Spiele für den Alltag der Spielenden
8.1.3.1 Errungenschaften in Computerspielen
8.1.4 Bedeutung in der Peergroup
8.1.4.1 Gespräche über Spiele
8.1.4.2 Kontakt halten mit Freunden und Familie
8.1.4.3 Freundschaften in digitalen Spielen
8.1.5 Zugang zu Spielen
8.1.6 Spielpräferenzen
8.2 Erzieherischer Umgang mit digitalen Spielen
8.2.1 Sicherheitsgefühl
8.2.2 Regeln zum Umgang mit digitalen Spielen
8.2.2.1 Gegenstand der Regulierung
8.2.2.2 Konkrete Regeln
8.2.2.3 Individuelle Lösungen
8.2.2.4 Orientierung bei der Regelsetzung
8.2.2.5 Kontrolle der Regeln
8.2.2.6 Konsequenzen bei Regelbrüchen
8.2.3 Aufteilung der Erziehungsaufgaben
8.2.3.1 Sonderrolle männlicher Bezugspersonen
8.2.3.2 Sonderrolle der Geschwister
8.2.4 Teilhabe am Spiel und gemeinsames Spielen
8.2.4.1 Diskussionen über Spielinhalte
8.2.4.2 Gemeinsames Spielen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
8.2.4.3 Einhalten von Altersbeschränkungen
8.2.5 Kommunikation über Spielnutzung
8.2.6 Belohnung und/oder Bestrafung mit Computerspielen als Erziehungsmaßnahme
8.2.7 Zusammenarbeit mit dem Herkunftssystem
8.2.8 Besondere Situationen und Herausforderungen
8.2.8.1 Spielspezifische Eigenheiten
8.2.8.2 Jugendliche schätzen Regeln
8.2.8.3 Regeln werden umgangen
8.2.9 Konzeptuelle Verankerung
8.3 Wissen über digitale Spiele
8.4 Wertung von digitalen Spielen
8.4.1 Abwertende Haltung
8.4.2 Wahrnehmung des Suchtpotenzials
8.4.3 Wahrnehmung von Monetarisierungsmodellen
8.4.4 Annahmen über positive Auswirkungen
8.5 Spezifische Nutzungsart
8.5.1 Umgang mit Mikrotransaktionen
8.5.2 Rolle von Influencer*innen
8.5.3 Kreativer und produktiver Umgang
8.5.4 Kontakt zu anderen Spielenden
8.5.5 Umgang mit Belästigungen und Hatespeech
8.5.6 Einschätzung des eigenen Spielverhaltens
8.6 Computerspielverhalten der Erziehenden
8.7 Geschlechtsspezifische Unterschiede im Spielverhalten
8.8 Unterstützungsmöglichkeiten
8.9 Reflexion des Forschungsprozesses/Grenzen der Arbeit
9.Zusammenfassung und Ausblick
9.1 Umgang mit digitalen Spielen bei Kindern und Jugendlichen
9.1.1 Motive
9.1.2 Funktionen
9.1.3 Mikrotransaktionen
9.1.4 Zur Rolle von Influencer*innen
9.1.5 Kontakte zu anderen Spielenden online
9.1.6 Geschlechtsspezifische Unterschiede
9.2 Umgang mit digitalen Spielen von Erziehungsberechtigten
9.2.1 Wissen über digitale Spiele
9.2.2 Wertung von digitalen Spielen
9.2.3 Erzieherischer Umgang
9.2.4 Regeln
9.2.5 Kontrolle der Regeln
9.2.6 Konsequenzen
9.2.7 Sonderrolle männlicher Bezugspersonen
9.2.8 Gemeinsames Spielen
9.2.9 Spiele als Gesprächsthema
9.3 Umgang mit digitalen Spielen bei Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe
9.3.1 Wissen
9.3.2 Wertung
9.3.3 Erzieherischer Umgang
9.3.4 Regeln
9.3.5 Kontrolle der Regeln
9.3.6 Konsequenzen
9.3.7 Gemeinsames Spielen
9.3.8 Jugendliche Selbstdarstellung auf sozialen Netzwerken
9.3.9 Spiele als Gesprächsthema
9.3.10 Zusammenarbeit mit dem Herkunftssystem
9.3.11 Konzeptuelle Verankerung
9.4 Befunde
10.Glossar
11.Abbildungsverzeichnis
12.Tabellenverzeichnis
13.Literatur
Als ich im November 2018 eingeladen war, einen Elternabend in einem Wiener Jugendzentrum mit einem Beratungsangebot zum Thema »Digitale Spiele in der Erziehung« zu begleiten, ereignete sich folgende Situation. Ich kam mit einem 9-jährigen Mädchen und ihrer Mutter ins Gespräch, da das Mädchen sich lebhaft mit einer der Spielkonsolen (Nintendo Switch), die ich mitgebracht hatte, beschäftigte. Im Gespräch mit dem Mädchen fragte ich es, ob es zuhause auch spielen dürfe, was sie bejahte. Auf die Frage hin, wie lange sie am Tag spielen dürfe, erntete ich einen verwunderten Gesichtsausdruck und folgende Antwort: »Bis der Akku leer ist.« Das Mädchen konnte die Frage offenbar nicht zuordnen und hatte elterliche Regulierung ihrer Mediennutzung noch nicht erlebt, ihre Mutter, die daneben saß, lächelte mich schulterzuckend an.
Während mich die unerwartete Reaktion des Kindes in der Situation amüsierte, ist diese Anekdote eine, die sich in vielen Variationen in meiner Praxis wiederholt und die sinnbildlich für eine Unsicherheit von vielen Erziehenden im Umgang mit digitalen Spielen in der Erziehung steht. Eine Unsicherheit, die nicht nur Familien betrifft. Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit treffe ich regelmäßig auf gut ausgebildete und erfahrene Fachkräfte sozialer Arbeitsfelder, die angesichts des Spielverhaltens ihrer meist jugendlichen Adressat*innen verunsichert, besorgt oder verwundert sind. Fragen nach dem Umgang mit digitalen Spielen scheinen so keinesfalls banal, sondern beschäftigen auch versierte und erfahrene Professionist*innen. Die Fragen, wie es mit dem Umgang mit, den Werthaltungen zu und dem Wissen über Computerspiele bei Erziehenden bestellt ist, beschäftigten auch mich bereits vor diesen Erlebnissen. Dieses Buch stellt einen Versuch dar, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Während einschlägige Studien zum Umgang mit digitalen Medien in Familien allgemein bestehen, gibt es kaum Erhebungen, die den Medienbegriff stärker differenzieren und auf ein bestimmtes Medium, wie hier auf digitale Spiele eingrenzen. Dies scheint ob der zunehmenden Differenzierung digitaler Spiele, öffentlicher Diskurse über deren Suchtpotenzial und der steigenden Beliebtheit dieser vor allem bei männlichen Kindern und Jugendlichen aber wünschenswert. Dieses Buch stellt darum einen Beitrag zur Erforschung eines Feldes dar, dem wissenschaftlich bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde: dem Umgang mit digitalen Spielen in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Dieser Umgang wird demnach in verschiedenen Kontexten von erzieherischem Handeln beleuchtet. Neben traditionellen Familiensystemen stellt dabei die stationäre Kinder- und Jugendhilfe einen Bereich dar, in dem Erziehung in familienähnlichen Strukturen stattfindet und in dem ein Umgang mit digitalen Spielen gefunden werden muss.
Konkret wurden dazu Erziehende und Jugendliche in zwei Kontexten der Erziehung zu ihrem Umgang mit digitalen Spielen befragt. Einerseits waren dies traditionelle Familiensysteme, andererseits Wohngruppen im Rahmen stationärer Kinder- und Jugendhilfe. Weiters wurde relevante und aktuelle Forschung zu digitalen Spielen, die sich in den letzten Jahren rasant weiterentwickelte, analysiert und aufbereitet. Folgende Inhalte finden sich darum in diesem Buch wieder.
In Form einer Literaturrecherche wurde zuerst die Relevanz des Mediums in der jugendlichen Lebenswelt skizziert. Dabei wurde die Nutzung digitaler Spiele im deutschsprachigen und europäischen Raum sowie Besonderheiten bei der Nutzung dieser anhand aktueller Mediennutzungsstudien zusammengefasst. Weiters wurde der aktuelle Forschungsstand in Bezug auf die Nutzung digitaler Spiele in der Familie und der stationären Kinder- und Jugendhilfe im deutschsprachigen und internationalen Raum zusammengefasst. Außerdem wurden potenziell problematische Aspekte digitaler Spielenutzung wie ein pathologisches Spielverhalten oder spielimmanente Glücksspielelemente erläutert und anhand aktueller Erhebungen auf ihre Relevanz hin untersucht. Dies geschah zum einen aufgrund der politischen Aktualität dieser beiden Themen. Zum anderen sind die Themen Sucht und Glücksspielelemente jene Themen, denen ich sowohl in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als auch im beraterischen Kontext mit besorgten Eltern und Fachkräften bei weitem am öftesten begegne.
Im empirischen Teil wurden leitfadengestützt 30 Interviews mit Familien, Jugendlichen, Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie Expert*innen aus einschlägigen Beratungsinstitutionen geführt und ausgewertet. Dies erfolgte, um folgenden Forschungsfragen nachzugehen:
1)Wie gehen Familien mit digitalen Spielen und dem Spielverhalten ihrer zu Erziehenden um?
2)Wie gehen professionelle Akteur*innen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe mit digitalen Spielen und dem Spielverhalten ihrer jugendlichen Adressat*innen um?
3)Wie gestaltet sich der Umgang mit digitalen Spielen bei Kindern und Jugendlichen?
Die Forschungsfragen umfassen die Herausforderungen und Chancen, die von den Akteur*innen erlebt werden, das Wissen und die Werthaltungen dem Medium gegenüber, die Regulierungen, die dabei getroffen werden, die Art der Diskussionen, die diesbezüglich geführt werden sowie Fragen nach dem gemeinsamen Spielen und den Funktionen, die digitale Spiele in der Familie einnehmen.
Dem Titel dieses Buches, »Game Over«, ist ein Fragezeichen nachgestellt. Dies ist zum einen als Hinweis drauf gemeint, dass das Spielerleben selbst sich nicht nur auf das direkte Spielen beschränkt, sondern weit darüber hinaus auch soziale Aspekte der Spielenden mit beeinflusst. Zum anderen ist er als Hinweis darauf zu deuten, dass digitale Spiele zwar zum freudvollen Zeitvertreib einladen, das Spielen in der Praxis aber auch Phänomene bedingen kann, die im erzieherischen Umgang sehr ernst genommen werden und als problematisch wahrgenommen werden können.
Zu den Aspekten, die in diesem Buch als problematische Aspekte genannt werden, sei dabei noch Folgendes erwähnt. Während bei manchen Erhebungen einzelne Persönlichkeitsmerkmale (Geschlecht, persönliche Stressbewältigungsstrategien, Genrepräferenz) von exzessiven Spieler*innen im Vordergrund stehen (vgl. Rehbein 2015b; Yee 2007) und andere Studien die Familie, die sozioökonomischen Hintergründe und die familieninternen Erziehungsstile fokussieren (vgl. Kammerl et al. 2012; Lampert et al. 2012), gibt es meines Wissens nach kaum Studien, die den Umgang mit den Eigenheiten der Spiele selbst untersuchen (beispielsweise deren Finanzierungsmodelle oder deren Potenzial, sozialen Druck auf Spielende zu ermöglichen). Wenn das Thema des problematischen Spielverhaltens jedoch umfassend untersucht werden soll, reicht es nicht, die Verantwortung für das Phänomen bei Einzelpersonen und deren Familiensystemen zu suchen. Vielmehr muss auch die Dimension der Spielehersteller und deren Intentionen beachtet werden, die in vielen Fällen eine Gewinnmaximierung beinhaltet. Dieser Dimension wird auch in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um problematisches Spielverhalten wenig Beachtung geschenkt (vgl. King 2018). Wenn durch teilweise fragwürdige Methoden Menschen zum Weiterspielen animiert werden und damit teils gezielt vulnerable Bevölkerungsgruppen monetarisiert werden, ist das ein Umstand, der eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, und damit auch eine Aufgabe für die Sozialpädagogik darstellt. Aus diesem Grund wird in diesem Buch, die im Kern auf den familiären Umgang mit dem Thema fokussiert, auch intensiv auf Finanzierungsmethoden der Spielehersteller eingegangen, mit denen Akteur*innen im familiären Umfeld konfrontiert sind und umgehen müssen.
Der Begriff der digitalen Spiele umfasst hier sämtliche Programme, die über Spielmechaniken verfügen und auf Smartphones, Computern, Konsolen oder ähnlichen Devices gespielt werden können. Der im deutschen Sprachgebrauch geläufige Begriff der Computerspiele wird in dieser Arbeit synonym mit digitalen Spielen und dem im englischen Sprachraum geläufigen Begriff der Videospiele (video games) verwendet.
In dieser Erhebung wurden Bewohner*innen und Fachkräfte aus stationären sozialpädagogischen Wohneinrichtungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe befragt. Diese sind damit gemeint, wenn im Folgenden von Wohneinrichtungen sowie Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen die Rede ist.
Vor allem von den jugendlichen Gesprächspartner*innen wurden in den Interviews eine Vielzahl von Spieltiteln genannt und spielespezifische Begriffe verwendet. Zur einfacheren Nachvollziehbarkeit und genaueren Definition wurden diese Begriffe und Spieltitel in einem kurzen Glossar zusammengefasst und erklärt.
Da digitale Spiele, wie gezeigt wurde, einen wichtigen Teil der Freizeitbeschäftigung von sehr vielen jungen wie auch älteren Menschen darstellen, kommt die Sozialpädagogik, wenn sie Jugendkultur ernst nimmt und dem Paradigma einer Lebensweltnähe gerecht werden möchte, nicht umhin, sich ernsthaft mit Implikationen von digitalen Spielen für ihr Feld zu beschäftigen. Dies wird ob der vielfältigen Funktionen von Computerspielen für jugendliche Individuationsprozesse evident, die hier angesprochen werden sollen.
Digitale Spiele wurden beispielsweise bei Lothar Böhnisch (2012, S. 157ff.) thematisiert, der in der Diskussion um Medien bei Kindern und Jugendlichen Herausforderungen sieht: die Spannung zwischen Eigenleben und Erziehung, in den meisten Erziehungskonzepten relativ souverän thematisiert, werde im pädagogischen Zwist um Medien zum Dilemma (vgl. ebd., S. 157). Die Jugend sei heute deutlich mehr als zuvor in der Lage, sich autonome Lebensbereiche zu erschließen, und mehr als das: sie sei auch früher gefordert, dies zu tun (vgl. ebd., S. 162f.). Zu der zunehmenden Individualisierung von Lebensräumen, die, wie Hajok (2019a, S. 36) anmerkt, schon vor mehr als 30 Jahren von Ulrich Beck mit dem Begriff der »Risikogesellschaft« geradezu prophezeit wurde (vgl. Beck 1986), kommt eine weitere große Schwierigkeit: »In der zunehmend komplexen Welt sind Erziehende nun einmal immer weniger in der Lage, unseren Schützlingen den für sie ›besten‹ Weg zu zeigen, die ›richtigen‹ Antworten auf drängende Fragen zu geben (…)« (Hajok 2019a, S. 36). Dass viele Erziehende neue Medien wie digitale Spiele angesichts ihrer Komplexität relativ wenig nutzen und dieser Umstand auch zu größeren Sorgen um die Wirkung dieser Medien beitragen kann, zeigt sich anhand empirischer Erhebungen (vgl. Wagner et al. 2013, S. 247). So sind Kinder und Jugendliche sehr früh gefordert, eigene Zugänge zu digitalen Medien und mit diesen zu einem kulturell relevanten Lebensaspekt zu finden. Hajok (2019a, S. 36) spricht dabei von Selbstlernen und einer Selbstsozialisation von Kindern und Jugendlichen im digitalen Raum. Den Zugang, den Kinder und Jugendliche sich selbst erarbeiten, haben sie ihren Eltern dann voraus, und zwar sowohl auf technischer Ebene im Sinne der Handhabung der Gerätschaften als auch auf inhaltlicher Ebene, wenn es um das Kennen und Wissen um bestimmte soziale Plattformen, Nachrichtendienste oder digitale Spiele geht. Daher ist anzunehmen, dass sich viele Kinder und Jugendliche in Positionen finden, in denen etablierte Altershierarchien in Familien auf den Kopf gestellt werden – zum Beispiel, wenn sehr junge Kinder ihren Eltern die Software auf deren neuem Smartphone erklären oder Erziehende von ihren Kindern in Computerspielen besiegt werden. Somit nehmen die Kinder auch eine lehrende Funktion ein, wenn sie in der Lage sind, ihren Eltern den Umgang mit digitalen Medien als neue Kulturtechnik näherzubringen. Dies sorgt aber nicht nur für Irritation in manchen Familien, sondern hat auch für Kinder und Jugendliche selbst Auswirkungen.
Besonders evident werden die Auswirkungen für Jugendliche an der bereits erwähnten Erosion von jugendlichen Schutzräumen, welche die zunehmende Digitalisierung des Alltags mit sich bringt. Die Zeit der Jugend ist eine Zeit, die traditionell auch mit einer gewissen gesellschaftlichen Nachsicht verbunden ist (vgl. Hajok 2019a, S. 38). In der Erziehung gilt es demnach auch, jungen Menschen einen Raum zu geben, um durch Experimentieren ihre Entwicklungsaufgaben bewältigen zu können: »Hier gilt es, mit möglichst transparenten Grenzen einen Handlungsraum zu definieren, diesen dann möglichst frei von Gefahren zu halten und ansonsten eine weitgehend freie, an persönlichen Bedürfnissen, Interessen und Kompetenzen orientierte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu ermöglichen« (ebd.). Die Jugend müsse im Sinne des Moratoriumgedankens des 20. Jahrhunderts geschützt werden; sie müsse also die Möglichkeit haben, Grenzen auszutesten, ohne die realweltlichen Konsequenzen dafür zu spüren (vgl. Böhnisch 2012, S. 163). Fraglich ist, ob dieses grundlegende pädagogische Konzept (vgl. Hajok 2019a, S. 38) in einer von digitalen Medien geprägten Welt noch haltbar und gültig ist.
Neue Medien bringen für Menschen die Möglichkeit mit sich, relativ mühelos Inhalte zu produzieren und diese bereits in jungem Alter einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Man denke diesbezüglich an Influencer*innen oder Streamer, die oft noch minderjährig sind, aber deren Videos von Millionen von Menschen regelmäßig betrachtet werden (vgl. Social Blade 2020). Aber auch ohne Millionen von Followern ist es leicht, Inhalte zu produzieren und öffentlich zu posten, die, aus der Distanz einiger Jahre betrachtet, vielleicht nicht als förderlich betrachtet werden. Dann stehen Nutzer*innen vor dem Problem, dass das Internet sprichwörtlich »nicht vergisst« und auch unliebsame Daten nur schwer gelöscht werden können. Mit der großen Öffentlichkeit, die neue Medien jungen Menschen bieten und der Unmöglichkeit, auch kompromittierende Inhalte nachhaltig aus dem Netz zu entfernen, untergraben neue Medien die Grundidee von Jugend als psychosoziales Moratorium (vgl. Böhnisch 2012, S. 163). Wenn es eine der zentralen Aufgaben von Jugendarbeit ist, solche geschützten Räume anzubieten und damit Jugend zu ermöglichen, stellt sich die Frage, ob der digitale Raum in diesem Sinne überhaupt schützbar ist – eine Frage, die Böhnisch verneint (vgl. ebd.).
Digitale Medien sollen hier noch weiter differenziert betrachtet werden. Während die Erosion jugendlicher Schutzräume für das Medium der sozialen Plattformen seine Gültigkeit hat, so könnte man in Bezug auf digitale Spiele auch anders argumentieren. Digitale Spiele könnten vor dem Hintergrund sich auflösender Schutzräume für Jugend auch als Gegenthese dazu betrachtet werden. Computerspiele bieten je nach Design die Möglichkeit, Lernerfahrungen zu machen und Risiken einzugehen, ohne realweltliche Konsequenzen davontragen zu müssen – und sind damit genau das, was Erik Eriksson als psychosoziales Moratorium bezeichnet hat (vgl. Gee 2007, S. 59). Es gibt in vielen Spielen die Möglichkeit, einen Charakter nach eigenen Wünschen zu erstellen, Spielzüge auszuprobieren und bei unerwünschtem Ergebnis einen gespeicherten Spielstand zu laden oder die Schwierigkeit des Spiels zu verändern, sollte es zu einfach oder zu herausfordernd sein. Auch, wenn in ein Spiel viel Zeit und Energie gesteckt wurde und ein Sieg oder eine Niederlage Auswirkungen auf den Gemütszustand haben können, sind die Kosten eines verlorenen Spiels am Computer im Vergleich zu den Kosten eines unerwünschten Verhaltens am Arbeitsplatz oder in der Schule verhältnismäßig gering (vgl. Gee 2007, S. 59).
Eine Dimension, die den Effekt von digitalen Spielen als psychosoziales Moratorium dabei relativiert, ist die der Onlinespiele und der großen Spielecommunitys in diesen. Digitale Onlinespiele zeichnen sich dabei nicht nur durch straffreies Erkunden und Experimentieren aus, sondern haben oft einen Wettkampfcharakter, der vor allem in Teamspielen zu abwertendem und beleidigendem Verhalten Spieler*innen gegenüber führt (vgl. Breuer 2017). Dieses Verhalten ist in vielen Onlinespielen keine Seltenheit. So geben 73 Prozent der Spieler*innen in den Vereinigten Staaten an, bereits in Onlinespielen beleidigt oder belästigt worden zu sein (vgl. Anti-Defamation League 2019, S. 7). 53 Prozent davon wurden aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer Ethnie, sexuellen Orientierung oder ihrer Religion beleidigt (vgl. ebd.). Dass vor allem Frauen oft Ziel von übergriffigem Verhalten in digitalen Spielen sind, macht eine Vielzahl von Videoberichten junger Frauen deutlich, die die Kommentare ihrer Mitspielenden aufzeichneten und den frauenverachtenden Umgangston in vielen Onlinespielen dokumentierten (vgl. Spawntaneous 2019). Dabei geschieht der Übergang zwischen sportlichem Necken des Gegners zu übergriffigen Kommentaren oft fließend und ist geprägt von einer Gruppennorm, die dieses Verhalten zulässt bzw. sogar begünstigt (vgl. Breuer 2017, S. 108f.). Im Vergleich zu vielen anderen digitalen Medien wie sozialen Plattformen ist ein soziales Korrektiv in digitalen Spielen, in denen sich Hobbyspieler*innen noch größtenteils anonymisiert aufhalten, nur bedingt gegeben. Meist besteht dieses Korrektiv in Form von Funktionen, unangemessenes Verhalten von Mitspieler*innen den Herausgebern des Spiels zu melden (vgl. Howard 2019) – mit intransparenten Resultaten. Gleichzeitig bieten Onlinespiele Spielenden Möglichkeiten, in relativer Anonymität neue soziale Rollen auszuprobieren. Somit stellen sie einen Bereich digitaler Spiele dar, der im Sinne eines sanktionsfreien Ausprobierens neuer Rollen zwar ein psychosoziales Moratorium bietet, durchaus aber auch ein Abscheubild von diesem sein kann, wenn durch übergriffiges und beleidigendes Verhalten Frauenfeindlichkeit und diskriminierendes Gedankengut verbreitet werden.
Eine Jugend, die von einer starken Präsenz digitaler Medien geprägt ist, kann und muss diese Medien also auf vielfältige Weise nutzen, um altersspezifische Entwicklungsaufgaben und (vorgezogene) Individualisierungsprozesse zu erfüllen. Angesichts des großen Stellenwertes digitaler Medien zeigt sich aber, dass viele Jugendliche die Präsenz dieser als Stressfaktor erleben. Es wird über verschiedene Kanäle wie WhatsApp, Instagram oder Discord gleichzeitig kommuniziert, reagiert und schnelle Reaktion auf Nachrichten wird oft auch erwartet (vgl. Hajok 2019a, S. 37). Ähnliches könnte auch beim Spielen digitaler Spiele der Fall sein, wenn zum Beispiel klassenintern regelmäßige Spielabende mit dem Spiel Fortnite veranstaltet werden. Diese Art sozialer Druck, an der medialen Welt teilzuhaben, wird von vielen Kindern und Jugendlichen als unangenehm und stressinduzierend empfunden (vgl. Saferinternet 2019). Damit wird eine neue Aufgabe von Eltern und sozialpädagogischen Fachkräften evident. Die Selbstregulation ist vor allem bei jüngeren Kindern und in Bezug auf digitale Medien nur sehr bedingt gegeben (vgl. Hajok 2019a, S. 36f.), womit Erziehende in der Pflicht stehen, auf das subjektive Stressempfinden der Heranwachsenden im Umgang mit digitalen Medien zu achten, dieses zu thematisieren, und Kinder beizeiten auch zu entlasten, indem strengere zeitliche Mediennutzungsregelungen konsequent eingefordert werden.
Auffällig ist, dass sowohl die mediale Berichterstattung, Elternratgeberliteratur als auch manche wissenschaftlichen Publikationen (vgl. forsa 2019) einen Fokus auf potenziell problematische Aspekte digitaler Medien legen. Ziel ist dabei oft, problematische Aspekte digitaler Medien im jugendlichen Alltagsgebrauch zu erkennen und Ableitungen für die pädagogische Praxis zu treffen. Naheliegend ist da der Vergleich mit dem Rebecca-Mythos, nach dem jedes neue Medium im Generalverdacht steht, die Jugend zu verderben und, im schlimmsten Fall, den Untergang des Abendlandes, wie wir es kennen, zu beschleunigen (vgl. Postman 1998). Ein Gedankenexperiment, das den gesellschaftlichen Stellenwert neuer Medien in Frage stellt, bietet der Kolumnist und Autor Sascha Lobo an, wenn er von der Annahme ausgeht, dass Videospiele bereits vor fünfhundert Jahren erfunden worden wären und das Buch eine Erfindung der Gegenwart wäre (vgl. Lobo 2019, S. 367f.). Dann könne es sein, dass die fehlende Interaktivität, der Zwang, sich allein ohne soziale Interaktion zu beschäftigen und der lineare Erzählfluss des Mediums Buch, der Menschen dazu zwinge, einen Gedanken zu verfolgen und dadurch Unfähigkeit vermittle, Einfluss auf die eigene Biografie zu nehmen, plausible Argumente von Gegner*innen dieser fiktiv neuen Kulturtechnik wären (vgl. ebd.).
Dass neue Medien die Gesellschaft rasant verändern und nachhaltig prägen, steht außer Frage. Dabei ist nicht undenkbar, dass die Jugend in ihrer mutmaßlichen Medienaffinität auf die Herausforderungen der Gesellschaft im 21. Jahrhundert besser vorbereitet ist als ihre Erziehenden, die sie darauf vorbereiten sollten. Weitverbreitete Running Gags im Internet thematisieren den Umstand, dass Kinder ihren Eltern oft in der Handhabung neuer Medien überlegen sind und diese dabei unterstützen (vgl. Visual Statements 2020).
Abb. 1: Computerprobleme (Visual Statements 2020)
Dies gilt nicht nur für digitale Spiele, bei denen eine Kompetenzumkehr auch anekdotisch am evidentesten ist, wenn Eltern von ihren jungen Kindern in digitalen Spielen besiegt werden, sondern auch für den Umgang mit Phänomenen wie Fake News, die von Menschen über 60 Jahren dreimal so oft verbreitet werden als von Menschen zwischen 18 und 29 Jahren (vgl. Loos/ Nijenhuis 2020, S. 12). Lobo bringt diese Kompetenzumkehr sehr überspitzt auf den Punkt, wenn er schreibt: »Jahrelang warnten uns unsere Eltern vor den Gefahren im Internet, und jetzt fallen sie selbst auf jede einzelne herein« (Lobo 2019, S. 367).
So ist auch die Kompetenz von Kindern und Jugendlichen zu werten, elterlichen Kontrollen sehr elegant aus dem Weg zu gehen. Wenn Kommunikationsmittel wie WhatsApp von Eltern verboten werden, bietet sich der Chat in digitalen Spielen wie Clash of Clans oder Plattformen zur gemeinsamen Textbearbeitung wie Google Docs an, ohne elterliche Kontrolle zu kommunizieren. Weil, hier nochmal Lobo: »[…] [F]ür Erwachsene ist Datenschutz, Persönliches vor dem Staat und Unternehmen verbergen zu können. Für Kinder und Jugendliche aber bedeutet Datenschutz, Persönliches vor den Eltern verbergen zu können« (Lobo 2019, S. 374).
So polemisch die Erörterungen von Lobo sein mögen, ist eine Kluft in den Kompetenzen in der Handhabung digitaler Medien zwischen Kindern und ihren Erziehenden nicht einfach von der Hand zu weisen. Für die Sozialpädagogik ist dies insofern bedeutsam, als dass hier ein Drahtseilakt zu bewältigen ist. Zum einen soll und muss das Paradigma der Lebensweltnähe im Sinne eines breiten Verständnisses und auch Teilhabe an der oft virtuellen Lebenswelt der Adressat*innen aufrechterhalten werden. Zum anderen gilt es auch, jugendliche Schutzräume zu respektieren und gewisse Sphären digitaler Spiele und sozialer Netzwerke nicht mit gut gemeinten Beratungsangeboten zu infiltrieren, sondern diese auch Jugendlichen zur Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben zu überlassen. Es muss also auch eine Aufgabe der Sozialpädagogik sein, Wissen über die digitalen Lebensräume von Jugend zu generieren, nicht nur, um im Bedarfsfall bei negativen Erfahrungen mit diesen kompetente/r Ansprechpartner*in zu sein, sondern auch, um einen sensiblen und wertschätzenden Umgang mit diesen jugendlichen Lebenswelten gewährleisten zu können.
Digitale Spiele konnten sich als Medium in den letzten zwei Jahrzehnten klar profilieren. Dafür sprechen auch die Umsätze, die das Medium generiert: bereits vor 2018 konnte die (digitale) Spieleindustrie mehr umsetzen als die bis dahin größte Sparte der Unterhaltungsindustrie, Hollywood (vgl. Shieber 2018). Manche Praktiker*innen sprechen von digitalen Spielen als neuer Leitkultur (vgl. e-sports 2018). Ob und wie sich diese mutmaßliche Entwicklung zur Leitkultur in der Mediennutzung digitaler Spiele von Kindern und Jugendlichen niederschlägt und wie sich die Nutzungsfrequenz von Computerspielen in der Familie gestaltet, ist anhand etablierter und sorgfältig recherchierter Studien im deutschsprachigen Raum belegt und wird anhand dieses Kapitels beleuchtet. Ein Fokus wird dabei auf das Spielen digitaler Spiele gelegt, wobei auch andere für die Forschungsfrage relevante Aktivitäten miteingeschlossen werden. Herangezogen wurden dafür unter anderem die JIM-Studien der vergangenen Jahre aus Deutschland sowie die aktuelle Oberösterreichische Jugendmedienstudie aus Österreich.
Ein Blick in die öffentlichen Verkehrsmittel oder in die Pausenhöfe mancher Schulen kann den Eindruck erwecken, Kinder und Jugendliche verbrächten einen Großteil ihrer Zeit in direkter Beschäftigung mit neuen Medien. Tatsächlich zeigt sich ein deutlich differenzierteres Bild. Auf der Liste der liebsten Freizeitbeschäftigungen von Kindern und Jugendlichen steht an oberster Stelle – nicht überraschend, aber vielleicht für manche/n besorgte/n Beobachter*in jugendlicher Lebenswelt beruhigend – das Treffen mit Freund*innen und Peers (vgl. Education Group 2019, S. 6).
Mehr als 74 Prozent der 1200 befragten Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren geben auch im Rahmen der JIM-Studie an, sich in ihrer Freizeit am liebsten mit Freund*innen zu treffen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016, S. 9). Die Präferenz zu Kontakten mit Peers gegenüber anderen Tätigkeiten zieht sich seit Jahren durch Mediennutzungsstudien (vgl. ebd.; Education Group 2019, S. 6; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012, S. 11) und ist als eindeutiger Hinweis darauf zu verstehen, dass das Aufkommen neuer Medien die Priorität sozialer Kontakte bei Kindern und Jugendlichen nicht verändert hat. Die Verfasser der JIM-Studie 2016 räumen dabei aber ein, dass die Kanäle, über die diese Kontakte zustande kommen, sich verändert haben könnten und dass das Treffen von Freund*innen von zahlreichen Medientätigkeiten wie dem gemeinsamen Nutzen von Programmen auf dem Smartphone begleitet ist (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016, S. 9).
Im Vergleich zu den 72 Prozent der befragten Jugendlichen, die im Rahmen der Oberösterreichischen Jugendmedienstudie angaben, sich in ihrer Freizeit am liebsten mit Freund*innen zu treffen, wirkt das Spielen von Computerspielen, das von 56 Prozent als eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen angegeben wurde (vgl. Education Group 2019, S. 6), etwas abgeschlagen. Dabei ist aber auch zu beachten, dass sich für das Treffen von Freund*innen beide untersuchten Geschlechter mit je 72 Prozent gleichermaßen begeistern, das Spielen von Spielen aber nur 46 Prozent der Mädchen als liebste Freizeitbeschäftigung angaben, während dies bei den Burschen mit 67 Prozent deutlich mehr waren (s. Abb. 2).
Abb. 2: Freizeitaktivitäten von Jugendlichen (vgl. Education Group 2019, S. 6)
Interessant ist darüber hinaus der zweitplatzierte Punkt, der mit »am Computer, Tablet, Handy, etc. etwas machen« (ebd.) sehr umfassend formuliert ist. Was damit konkret gemeint ist, ist aus der Studie leider nicht ersichtlich und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche der Befragten auch spielerische Aktivitäten mit Medien unter diesen Punkt fassten. Ähnlich unscharfe Formulierungen finden sich auch in der JIM-Studie, wenn bei der Frage nach den am meisten frequentierten medialen Freizeitbeschäftigungen das Internet mit 97 Prozent und das Smartphone mit 96 Prozent der Befragten angegeben wurde (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 12). Ebenfalls erhoben wurde die Nutzung von Onlinevideos mit 84 Prozent bzw. digitalen Spielen mit 63 Prozent. Diese Medien sind von Smartphone und Internet aber kaum trennbar, weshalb eine gewisse Unschärfe bei der Frage entsteht, was die Jugendlichen nun genau machen.
Evident wird bei Sichtung der liebsten Freizeitbeschäftigungen auch, dass das Erledigen von Hausaufgaben und Lernen als liebste Freizeitbeschäftigung für 59 Prozent der Befragten über dem Spielen von Computerspielen, Fernsehen oder dem Surfen im Internet gereiht ist (vgl. ebd.). Da dieses Ergebnis einem Praxistest wohl nur sehr schwer standhalten würde, muss davon ausgegangen werden, dass manche der Befragten sozial erwünscht antworteten. Unter dem Licht potenziell sozial erwünschter Antworten muss auch das Spielen von digitalen Spielen betrachtet werden, das noch keine breite Anerkennung als sinnvoll verbrachte Freizeitbeschäftigung gefunden hat und dessen Nutzung oft negativ konnotiert ist. Somit könnte auch die tatsächliche Zahl der spielenden Jugendlichen höher anzusetzen sein.
Mit der Frage, wie viele Kinder und Jugendliche digitale Spiele nutzen, ist auch die Frage verbunden, welche Plattformen dazu verwendet werden und welche Ausstattung in Familien bereitsteht. Mit Preisen von mehr als 400,- Euro für manche Spielkonsolen und bis zu 70,- Euro für ein Computerspiel ist dies auch eine finanzielle und soziale Frage.
Während eine feste Spielkonsole in 67 Prozent der deutschen Haushalte existiert, sind Computer und Laptop mit 98 Prozent sowie ein Smartphone mit 99 Prozent in fast allen Haushalten vorhanden (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 5). Auch hier lässt sich ein großer Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen feststellen. Während 96 Prozent der weiblichen bzw. 94 Prozent der männlichen Jugendlichen ein eigenes Smartphone im Besitz haben, so gibt es bei den Spielkonsolen große Unterschiede: 56 Prozent der männlichen Befragten geben an, eine Spielkonsole in ihrem Besitz zu haben, während dies nur bei 26 Prozent der weiblichen Befragten der Fall ist (vgl. ebd., S. 8). Interessant ist auch, dass tragbare Spielkonsolen mit je 26 Prozent von beiden Geschlechtern im selben Ausmaß besessen werden. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass die meisten tragbaren Spielkonsolen von der Firma Nintendo stammen, die in der Auswahl der dafür produzierten Spiele eine eher kindliche Zielgruppe haben und wenige Spiele produzieren, die klar einem Geschlechterstereotyp folgen. Auch besitzen Jungen mit 44 Prozent weit öfter einen stationären Computer als Mädchen mit 26 Prozent. Mädchen geben dafür an, öfter einen Laptop zu besitzen (54 Prozent) als Jungen (41 Prozent) (vgl. ebd.). Grafisch und spielerisch aufwendig gestaltete Spiele benötigen oft eine starke Rechenleistung des Computers. Diese kann auf stationären Computern eher gewährleistet werden als auf Laptops. Es kann also sein, dass Burschen deshalb mehr spielen als Mädchen, weil sie Zugang zu stärkeren Computern haben. Der Umkehrschluss ist dabei ebenso denkbar, nach dem sie Zugang zu stärkeren Computern haben, weil sie diese für ihre Spielgewohnheiten benötigen.
Bei österreichischen Jugendlichen zeigt sich ein sehr ähnliches Bild:
Abb. 3: Elektronische Geräte im Besitz von Jugendlichen (vgl. Education Group 2019, S. 22)
Auch hier geben mehr als 90 Prozent der Befragten an, ein eigenes Smartphone zu besitzen und deutlich mehr männliche als weibliche Jugendliche führen an, Zugang zu einer eigenen Spielkonsole zu haben. Nach Computer und Laptop wurde dabei nicht gesondert gefragt, was ein Grund dafür sein könnte, dass hierbei mehr weibliche (61 Prozent) als männliche (52 Prozent) Jugendliche angaben, ein eigenes Gerät in ihrem Besitz zu haben (s. Abb. 3).
Gefragt wurde bei der Studie in Oberösterreich darüber hinaus, welche Geräte für Jugendliche unverzichtbar wären. Wenig überraschend wurde dabei von 82 Prozent der Befragten das Smartphone an erster Stelle genannt. Die Spielkonsole sehen 22 Prozent der männlichen sowie 5 Prozent der weiblichen Jugendlichen als unverzichtbares Medium an (vgl. Education Group 2019, S. 25). Auffällig ist dabei auch das Wording der Autor*innen der Studie. Diese kommentieren das Ergebnis, nach dem ein Großteil der Jugendlichen das Smartphone als unverzichtbares Medium ansieht, folgendermaßen: »Die Höchststrafe für Jugendliche: Ein Leben ohne Handy/Smartphone & Internet!« (ebd.). Dieser Kommentar hat einen ironischen Unterton und wirkt als Statement der Verständnislosigkeit jugendlichen Mediengebrauchs gegenüber befremdlich.
Digitale Spiele werden von 63 Prozent der Jugendlichen zumindest mehrmals die Woche gespielt (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 13). Nur 13 Prozent der Jugendlichen geben an, nie Computerspiele zu spielen (vgl. ebd., S. 44). Damit liegt das Spielen von Computerspielen in seiner Beliebtheit noch deutlich hinter dem Fernsehen, das von knapp 75 Prozent und dem Smartphone, das von 97 Prozent der Jugendlichen täglich oder mehrmals in der Woche genutzt wird (vgl. ebd., S. 13). Dabei gilt zu bedenken, dass Computerspiele auch bei Kindern und Jugendlichen keiner homogenen Definition unterliegen. Viele verstehen unter dem Spielen von Computerspielen das Spielen an einem Laptop, PC oder an einer Konsole und fassen das Spielen von Mobile Games am Smartphone nicht als klassisches Computerspiel auf. Dabei sind gerade und vielleicht ob der einfachen Verfügbarkeit »Smartphonespiele (…) am stärksten in den Alltag der Jugendlichen integriert, sie werden von 45 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen mindestens mehrmals pro Woche gespielt« (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 45). Dies geht so weit, dass für Mädchen Smartphones die einzige Spiele-Plattform darstellen, die eine Relevanz hat: »Der Anteil der Mädchen, die regelmäßig [am Smartphone] spielen, beläuft sich hier auf 36 Prozent« (ebd.). Das uneinheitliche Verständnis bei Jugendlichen, was ein »echtes« Computerspiel ist, und was ein Zeitvertreib am Smartphone ist, könnte in Kombination mit diesem Faktor eine weitere Erklärung dafür sein, warum deutlich mehr männliche als weibliche Jugendliche angeben, Computerspiele zu spielen. So geben 80 Prozent der männlichen Befragten an, mehrmals die Woche Computerspiele zu spielen, während dies nur bei 44 Prozent der weiblichen Befragten der Fall ist (vgl. ebd., S. 44). Für Mädchen scheint demnach hauptsächlich das Smartphone eine Relevanz als Spiele-Plattform zu haben.
Hierbei sollte die Nutzung digitaler Spiele auch vor dem Hintergrund soziodemografischer Besonderheiten betrachtet werden. Der (voraussichtliche) Schulabschluss spielt offenbar keine große Rolle bei der Frequenz des Spielens digitaler Spiele. Eine forsa-Studie erhob, dass 74 Prozent der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren, die maximal einen mittleren Abschluss anstrebten (und damit 10 Schuljahre erfolgreich absolvieren), zumindest einmal in der Woche spielten, während es bei den befragten Jugendlichen, die Abitur anstrebten, mit 70 Prozent ähnlich viele waren (vgl. forsa 2019, S. 4).
Es scheint darüber hinaus, dass die Nutzungsfrequenz digitaler Spiele sowohl der männlichen als auch der weiblichen Befragten mit zunehmendem Alter leicht abnimmt. So spielen 37 Prozent der männlichen Befragten zwischen 12 und 13 Jahren täglich Computerspiele, während bei den 16- bis 17-jährigen Burschen nur noch 22 Prozent täglich spielen (vgl. forsa 2019, S. 3). Eine ähnliche Abnahme der Spielfrequenz zeigte sich auch bei den weiblichen Befragten (s. Abb. 4).
Gründe dafür könnten sowohl in den steigenden schulischen und beruflichen Anforderungen, welche die Freizeitmöglichkeiten zeitlich einschränken, als auch in altersspezifischen Veränderungen von Interessen liegen. Mit steigendem Alter nehmen auch Möglichkeiten zu, an bestimmten sozialen Praxen teilzunehmen, die jüngeren Menschen traditionell oder rechtlich nicht zugänglich sind – sei es der Besuch von Gaststätten, eine gesteigerte Mobilität durch Moped oder Führerschein oder ebenfalls altersbedingt steigendes Interesse am Kontakt mit gleichaltrigen Peers.
Im europäischen Vergleich liegt der deutschsprachige Raum mit 65 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 9 und 16 Jahren, die zumindest einmal in der Woche Computerspiele spielen, im Mittelfeld. Deutlich weniger wird in Italien gespielt, wo nur 44 Prozent angaben, zumindest einmal in der Woche zu spielen, deutlich mehr in Litauen, wo 87 Prozent mindestens einmal wöchentlich spielen (s. Abb. 5).
Abb. 4: Häufigkeit der Spielnutzung (vgl. forsa 2019, S. 3)
Abb. 5: Spielfrequenz im europäischen Vergleich (vgl. Smahel et al. 2020, S.31)
Allen Nationen ist dabei der große Unterschied in der Nutzungsfrequenz digitaler Spiele von männlichen und weiblichen Befragten gemein. Dieser ist dabei auch für das Medium der digitalen Spiele einzigartig und wird bei keinem anderen Medium in dieser Breite beobachtet (vgl. Smahel et al. 2020, S. 31).
Unterschiede in der Nutzung digitaler Spiele zwischen männlichen und weiblichen Befragten setzen sich auch in der Dauer der Computerspielnutzung fort: »Jungen spielen 2019 mit durchschnittlich 116 Minuten 2,5-mal so lange wie Mädchen (43 Min.). Die 16- bis 17-Jährigen spielen am längsten (95 Min., 12-13 Jahre: 62 Min., 14-15 Jahre: 95 Min., 18-19 Jahre: 82 Min.)« (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 47). Wenig überraschend nimmt die Spielzeit dabei am Wochenende oder an Ferientagen deutlich mehr Raum in Anspruch als unter der Woche (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012, S. 50).
In Österreich geben 53 Prozent der befragten Jugendlichen an, zwischen 30 Minuten und 3 Stunden täglich Computer zu spielen (vgl. Education Group 2019, S. 53). 8 Prozent spielen länger als 3 Stunden am Tag und 23 Prozent gaben an, gar nicht zu spielen (vgl. ebd.). Die forsa-Studie erhob bezüglich Jugendlicher, die sehr viel Zeit mit digitalen Spielen verbringen, noch höhere Zahlen: Auch wenn mit 53 Prozent der Großteil der Befragten unter 3 Stunden täglich spielt, gaben 10 Prozent der befragten Spieler*innen an, an einem durchschnittlichen Spieltag unter der Woche mehr als 5 Stunden Computerspiele zu spielen (vgl. forsa 2019, S. 6). Die reine Spielzeit gleicht hierbei bereits einer Teilzeitanstellung. Auch hier finden sich deutliche Unterschiede in der Spielzeit zwischen männlichen und weibliche Befragten: Während die Burschen im Schnitt 148,5 Minuten an einem Wochentag mit Spielen am Computer, an der Konsole oder am Smartphone verbringen, sind es bei den Mädchen nur 117,3 Minuten (vgl. ebd.).
Interessant ist auch ein Unterschied bei der täglichen Nutzungsdauer von Computerspielen zwischen Schüler*innen, die das Abitur anstreben und Schüler*innen, die maximal einen mittleren Abschluss verfolgen. »So liegt die tägliche Nutzungsdauer der jugendlichen Spieler mit maximal mittlerem Abschluss mit durchschnittlich 159,7 Minuten deutlich über der von computerspielenden Kindern und Jugendlichen, die Abitur anstreben (128,6 Minuten)« (forsa 2019, S. 7). Diese Diskrepanz zeigt sich, vielleicht noch verstärkt, bei den Spielzeiten am Wochenende, wo Befragte mit maximal mittlerem Abschluss 212,8 Minuten und Befragte, die Abitur anstreben, 192,4 Minuten tägliche Spielzeit angaben (vgl. ebd., S. 9). Bei den Befragten mit mittlerem Abschluss gaben überdies mit 33 Prozent der Befragten deutlich mehr Jugendliche als bei den Abiturient*innen (19 Prozent) an, täglich mehr als 5 Stunden Computerspiele zu spielen (vgl. ebd.). Bei der Deutung dieser Ergebnisse gilt es natürlich, mit großer Sorgfalt vorzugehen, da Gründe dafür in vielen hier nicht ersichtlichen Variablen liegen können. Es ist aber dennoch ein interessanter Befund, dass Jugendliche, die einen mittleren Abschluss verfolgen, zwar ähnlich oft, aber deutlich länger spielen als Jugendliche, die ein Abitur anstreben.
Die von Kindern und Jugendlichen präferierten Computerspiele sind nicht nur aus (bewahr-) pädagogischer Sicht relevant, wenn es darum geht, Inhalte und Finanzierungsmodelle (siehe Kap. 6.2) zu diskutieren. Sie sind auch ein Instrument, um sich jugendkulturell und altersspezifisch abzugrenzen. Wenn Computerspiele große Verbreitung bei jüngeren Jugendlichen finden, kann es geschehen, dass sich ältere Jugendliche vom Spiel abwenden. So könnten beispielsweise Nutzungszahlen des enorm erfolgreichen Spiels Fortnite erklärt werden.
Fortnite war 2018 bei der Frage nach dem beliebtesten Spiel aller Jugendlichen von 12 bis 17 Jahren an erster Stelle gereiht (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2018, S. 59). Im Jahr darauf war es nur noch in der Alterskohorte der 14- bis 15-Jährigen auf dem ersten Platz (s. Abb. 6).
Die Autor*innen der Studie erklären den Rückgang der Beliebtheit des Spiels Fortnite mit dem Abflachen des Hypes um das Spiel – ein Hype, der übrigens im Jahr 2018 zu einer deutlich erhöhten durchschnittlichen Spielzeit bei Jugendlichen führte (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 46). Bei Betrachtung der Alterskohorten fällt aber noch etwas auf. Während Fortnite bei den Befragten zwischen 12 und 17 Jahren immer als eines der beliebtesten Spiele auftaucht, ist es bei den 18- bis 19-Jährigen nicht zu finden. Dies gilt auch für das Jahr 2018, wo Fortnite bei Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren auf Platz eins der beliebtesten Spiele rangierte – bei den 18- bis 19-Jährigen schaffte es das Spiel nicht unter die ersten drei Plätze (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2018, S. 59). Dabei kann angemerkt werden, dass ein Spiel wie Fortnite aufgrund seiner comichaften Darstellung eine jüngere Zielgruppe anspricht und als Spiel für ältere Jugendliche vielleicht weniger relevant ist. Ein Blick auf die beliebtesten Spiele der 18- bis 19-Jährigen zeigt aber, dass sich dabei sehr wohl Titel wiederfinden, die auch von den jüngeren Spielenden genannt werden – etwa die Fußballsimulation FIFA oder das Aufbauspiel Minecraft. Nur eben Fortnite wird von den älteren Jugendlichen weniger gerne gespielt. Ein Grund dafür könnte auch sein, dass sich ältere Jugendliche bewusst von Fortnite abwenden, um sich dadurch von einer vom Spiel faszinierten, weniger adoleszenten Spieler*innengruppe abzugrenzen.
Abb. 6: Liebste Computerspiele 2019 (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 47)
Ebenfalls von 14- bis 19-Jährigen wird der Spieleklassiker Grand Theft Auto als Lieblingsspiel genannt, der unter anderem durch explizite Gewaltdarstellungen bekannt wurde und einer Altersbeschränkung ab 18 Jahren unterliegt. Die Nutzung von Spielen mit expliziten Gewaltdarstellungen ist nach Angaben der Jugendlichen relativ verbreitet: »64 Prozent der Gamer geben an, dass in ihrem Freundeskreis solche Spiele gespielt werden und 34 Prozent bestätigen, selbst solche Spiele zu spielen. Bei den Mädchen sind es erwartungsgemäß deutlich weniger (10 Prozent) als bei den Jungen (50 Prozent). Auch hier ergeben sich höhere Werte für die höheren Alters- und niedrigeren Bildungsgruppen« (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012, S. 52).
Unterschiede gibt es bei den Spielpräferenzen somit auch zwischen männlichen und weiblichen Spielenden. »Während für 13 Prozent der Mädchen die Simulation Die Sims das beliebteste Spiel ist (Jungen: 2 Prozent), erfreuen sich bei den Jungen Fortnite (23 Prozent, Mädchen: 4 Prozent) und FIFA (23 Prozent, Mädchen: 2 Prozent) größter Beliebtheit« (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 47). Im Jahr 2016 gaben neben 13 Prozent der Mädchen, die Die Sims als ihr Lieblingsspiel angaben, auch 14 Prozent das kostenlos spielbare Mobile Game Candy Crush als liebstes Spiel an (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016, S. 45). Während Burschen sich vermehrt für Actionspiele (Ego-Shooter, Ballerspiele), Strategie- und Sportspiele interessieren, gaben die weiblichen Teilnehmerinnen vorwiegend Jump and Run, Geschicklichkeits- und Denkspiele als präferierte Spielgenres an (vgl. Education Group 2019, S. 56).
Ähnliche Unterschiede zwischen den beliebtesten Spielen von männlichen und weiblichen Befragten findet auch die forsa-Studie (s. Abb. 7).
Während einige der befragten Mädchen Mobile Games wie Candy Crush oder Hay Day als Lieblingsspiele nennen, findet sich kein einziges Mobile Game unter den beliebtesten Spielen bei Jungen. Dies bestärkt den Eindruck, dass bei den weiblichen Spielenden vor allem das Smartphone zum Einsatz kommt und als Spieleplattform die größte Relevanz hat (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 45).
Die Ergebnisse der Oberösterreichischen Jugendmedienstudie würden der JIM-Studie bei den präferierten Spielen widersprechen, allerdings wurden dabei nicht konkrete Spiele, sondern Spielgenres abgefragt. So geben 38 Prozent der spielenden Jugendlichen an, am liebsten Actionspiele (Ego-Shooter, Ballerspiele) zu spielen (vgl. Education Group 2019, S. 56). Dies ist nicht verwunderlich, da auch Fortnite unter dieses Genre fallen würde. Sportspiele, die in der JIM-Studie durch die Fußballsimulation FIFA aber von vielen als Lieblingsspiel genannt wurden, wurden hier nur von 26 Prozent der Befragten genannt und liegen auf dem sechsten Platz der beliebtesten Spielgenres.
Der große Unterschied im Spielverhalten zwischen männlichen und weiblichen Befragten widerspricht oft zitierten Umfragen der Softwareindustrie, nach denen das Geschlechterverhältnis bei Spielenden ausgeglichen sei (vgl. ÖVUS 2019). Dies könnte sowohl an einem uneinheitlichen Verständnis der Befragten liegen, was als Computerspiel gelte und was nicht, es könnte aber auch mit dem Forschungsdesign zusammenhängen – die Erhebung des ÖVUS ist intransparent und die Methodik wurde leider auch auf Anfrage nicht offengelegt.
Das Medium der Computerspiele hat in den letzten Jahren rasant an Verbreitung und gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Dies ist auch anhand der Zunahme der Spielzeiten von Kindern und Jugendlichen über die letzten Jahre feststellbar. In einer amerikanischen Studie wurde erhoben, dass Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 18 Jahren im Jahr 1999 im Schnitt 26 Minuten am Tag mit Computerspielen verbrachen. 2004 waren es bereits 49 Minuten und 2009 73 Minuten (vgl. Rideout 2010, S. 26).
Abb. 7: forsa 2019 – Lieblingsspiele nach Geschlecht (vgl. forsa 2019, S. 11f)
Dieser Anstieg in der Spieldauer ist auch im deutschsprachigen Raum zu beobachten. Die JIM-Studie erhob 2012 bei den 12- bis 19-Jährigen eine durchschnittliche Spieldauer von 56 Minuten an Wochentagen und 77 Minuten am Wochenende (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012, S. 50). Auch damals spielten die männlichen Befragten fast doppelt so lange wie die weiblichen Befragten (vgl. ebd.). Bis zum Jahr 2019 stieg dieser Durchschnittswert auf 81 Minuten an einem Wochentag an (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 46). Dabei ist auch zu erwähnen, dass es sich bei diesen Werten um subjektiv geschätzte Angaben der Befragten selbst handelt, der tatsächliche Wert könnte somit variieren. Eine zunehmende Spielintensität belegt auch die Oberösterreichische Jugendmedienstudie, wobei wenig überraschend vor allem die Nutzungsintensität am Smartphone anstieg (vgl. Education Group 2019, S. 55). Auch auf die Frage nach den für Jugendliche unverzichtbaren Geräten gewinnt das Smartphone im Jahresvergleich stetig an Relevanz: während im Jahr 2008 nur ein Prozent und im Jahr 2013 46 Prozent angaben, das Smartphone sei für sie unverzichtbar, war das im Jahr 2019 bei 92 Prozent der Befragten der Fall (vgl. Education Group 2019, S. 26). Gleichzeitig wurden Spielkonsolen, Computer und Laptop Jahr für Jahr von weniger Jugendlichen als unverzichtbar angegeben, was ein weiterer Hinweis für die Migration zu Spielangeboten auf Smartphones sein kann.
Die stetig steigende Spielbegeisterung von Kindern und Jugendlichen stellt sowohl eine pädagogische Herausforderung als auch eine Chance dar. Die Spielleidenschaft der Kinder aufzugreifen, wertschätzend zu diskutieren oder im besten Fall gemeinsam zu spielen, wären mögliche Umgangsweisen mit dem Phänomen und es wäre naheliegend anzunehmen, dass mit steigender Spielfreude von Kindern auch das gemeinsame Spielen mit den Eltern zunimmt. Interessanterweise scheint dies nicht der Fall zu sein. Die Zahl der befragten Eltern, die angibt, häufig gemeinsam mit ihren Kindern Computerspiele zu spielen, hält sich seit dem Jahr 2008 stabil zwischen 1 und 5 Prozent (vgl. Education Group 2019a). Im Jahr 2019 gaben 2 Prozent der befragten Eltern an, häufig gemeinsam Computerspiele zu spielen (vgl. ebd.). Das geringe Vorkommen gemeinsamen Spielens könnte mit der Herausforderung zusammenhängen, sich an die Steuerung von Spielen auf Konsolen und am PC oder Laptop gewöhnen zu müssen, die für manche Eltern eine Einstiegshürde darstellen kann. Mit dem vermehrten Gebrauch von Computerspielen am Smartphone und dem Umstand, dass auch 95 Prozent der Eltern ein Smartphone benutzen (vgl. ebd., S. 18), wird das Argument der technischen Herausforderungen jedoch anfechtbar. Ein möglicher Erklärungsansatz stellt eine wenig positiv besetzte Wahrnehmung des Mediums in der Familie dar, die zur Folge haben kann, dass das Spielverhalten von Kindern nicht gefördert werden soll. So geben 40 Prozent der befragten Eltern an, dass sie sich ärgerten, weil ihr Kind viel Computer spielt oder spielen möchte und 45 Prozent der befragten Eltern haben den Eindruck, ihre Kinder mache langes Computerspielen unruhig (vgl. ebd., S. 12). Noch mehr Eltern (75 Prozent) befürchten, dass Computerspiele Kindern ein unrealistisches Weltbild vermittelten, Gewaltinhalte nahebrächten (79 Prozent) oder geradeheraus schädlich für Kinder seien (60 Prozent) (vgl. Education Group 2016, S. 33). Diese Befürchtungen und negativ konnotierten Grundannahmen stehen einer gemeinsamen Nutzung von Computerspielen im Familienalltag entgegen und könnten mit ein Grund für die geringe Zahl der gemeinsam mit ihren Kindern spielenden Eltern sein.
Ein Wert, der auch in aktuellen Studien wenig erfasst ist, aber aufgrund der starken Präsenz von Spielen am Smartphone, die oft kostenlos spielbar sind und Umsätze in anderer Form generieren, relevant ist, sind die Geldmengen, die Kinder und Jugendliche in Spielen ausgeben. In der JIM-Studie finden sich nur unbeabsichtigte Käufe oder Abonnements beim Spielen von Onlinespielen, die 8 Prozent der befragten Spielenden bereits unterlaufen seien (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 48). Männliche Befragte sind dabei dreimal so häufig betroffen wie weibliche Befragte, was auch mit ihrer vermehrten Spielfrequenz erklärbar sein könnte (vgl. ebd.). Dieser Wert ist etwa gleich hoch wie der Wert aus dem Vorjahr der Studie (vgl. ebd.). Zahlen zu bewussten Käufen in Onlinespielen, die die Entwicklung dieser über mehrere Jahre verfolgen, bestehen im deutschsprachigen Raum kaum, was vermutlich mit der Neuartigkeit des Phänomens zu erklären ist.
Digitale Spiele spielen über ihre direkte Nutzung hinaus auch im alltäglichen Leben von Spielenden eine Rolle und erfüllen dabei soziale Zwecke.
So spielen Computerspiele eine Rolle in der Kommunikation mit Klassenkamerad*innen und Kolleg*innen. 28 Prozent der im Rahmen der forsa-Studie befragten männlichen Jugendlichen gaben an, mit Freund*innen, Klassenkamerad*innen und Kolleg*innen hauptsächlich über Computerspiele zu sprechen (vgl. forsa 2019, S. 32). Bei den 12- bis 13-jährigen Burschen ist dieser Wert mit 37 Prozent noch höher, bei den weiblichen Befragten mit 5 Prozent erwartungsgemäß deutlich geringer (vgl. ebd., S. 32f.). Dies macht zum einen die Bedeutung digitaler Spiele in der Lebenswelt von vor allem männlichen Kindern und Jugendlichen evident, und ist zum anderen ein wichtiger Hinweis auf die Funktion, die bestimmte Spiele im Klassengefüge haben können. Wenn jemand ein bestimmtes Spiel nicht spielen möchte, kann, oder darf, so kann dies direkte Konsequenzen im sozialen Klassengefüge haben: die Teilnahme an Pausengesprächen über Computerspiele oder das gemeinsame Spielen nach der Schule können wichtige Elemente sozialer Bindung sein, weshalb vor allem nicht-spielende männliche Jugendliche auch von Exklusionserfahrungen betroffen sein können.
Vor allem, wenn im Freundeskreis digitale Medien einen wichtigen Stellenwert ausmachen, wie das bei sehr vielen vorwiegend männlichen Kindern und Jugendlichen zweifellos der Fall ist, spielt auch die Verfügbarkeit und die Kompetenz der Jugendlichen im Umgang mit dem Medium eine wichtige Rolle. Dies gilt für Smartphones, die sowohl als Statussymbol dienen als auch durch die Teilnahme an Gruppenchats auf Plattformen wie WhatsApp Partizipation am Klassengeschehen ermöglichen (vgl. Wagner et al. 2016, S. 17) genauso wie für digitale Spiele. Dabei ist vielleicht weniger ausschlaggebend, welches Smartphone zum Spielen benutzt wird, aber das spielerische Geschick sowie die erspielten oder gekauften kosmetischen Zusatzinhalte werden von Peers wahrgenommen, kommentiert und auch bewundert (siehe Kap. 8.1).
Mit der Aneignung der virtuellen Lebenswelt von Jugendlichen entsteht insofern auch Druck, diese regelmäßig zu betreten. So gibt es Berichte von Druckgefühlen, die junge Menschen auch erleben, wenn es beispielsweise um Erreichbarkeit über soziale Netzwerke geht (vgl. Saferinternet 2019). Wer sich nicht aktiv in der klasseninternen WhatsApp-Gruppe beteiligt, läuft Gefahr, relevante Informationen zu verpassen, was sich auch in einer erhöhten Nutzungsfrequenz niederschlagen kann (vgl. Wagner et al. 2016, S. 18). Wenn diese Phänomene bei der Nutzung sozialer Plattformen auftreten, so ist es angesichts der hohen Relevanz von digitalen Spielen bei vor allem männlichen Jugendlichen auch naheliegend anzunehmen, dass sozialer Druck auch beim Spielen digitaler Spiele eine große Rolle spielt.
Bei allen revidierten Mediennutzungsstudien zeigt sich eine stetig steigende Computerspielnutzung von Kindern und Jugendlichen sowohl in der Frequenz der Spielenutzung als auch in der Spieldauer. Die Anzahl an Kindern und Jugendlichen, die mehrmals in der Woche Computerspiele spielen, steht mit 63 Prozent (vgl. Education Group 2019, S. 22) einer relativ kleinen Zahl von 13 Prozent an Befragten gegenüber, die nie Computerspiele spielen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 44). Während der voraussichtlich erreichte Schulabschluss keinen Unterschied bei der Frequenz des Spielens digitaler Spiele ausmacht, spielen Jugendliche, die eine höhere schulische Ausbildung verfolgen, deutlich weniger lange als ihre Peers, die maximal einen mittleren Abschluss anstreben (vgl. forsa 2019, S. 7).
Die jugendkulturelle Relevanz des Mediums wird neben den hohen Nutzungszahlen auch durch den Befund gestärkt, dass Computerspiele ein beliebtes Thema in Gesprächen mit Klassenkamerad*innen und Kolleg*innen und für 28 Prozent der männlichen Jugendlichen sogar das Hauptthema in Gesprächen mit Freund*innen darstellen (vgl. forsa 2019, S. 32). Somit kann das Spielen von Computerspielen auch eine partizipative Funktion in einem spielaffinen Klassengefüge einnehmen. Der Umkehrschluss ist aber ebenso möglich, was für manche Jugendliche zu sozialem Druck führen kann, bestimmte Medien zu benutzen bzw. darüber erreichbar zu sein (vgl. Wagner et al. 2016, S. 18).
Auffallend ist die steigende Beliebtheit des Smartphones als Spielgerät, die auch dadurch erklärt werden kann, dass das Smartphone in fast allen Haushalten in Österreich vorhanden ist und dadurch einen niederschwelligen Zugang zu digitalen Spielen bietet (vgl. Education Group 2019, S. 22).
Eine Sonderrolle nehmen Computerspiele beim Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen ein. Bei allen untersuchten Erhebungen spielten männliche Jugendliche deutlich öfter und deutlich mehr als ihre weiblichen Peers. Unterschiede gibt es auch in Bezug auf die präferierten Spiele: Die Sims oder das Mobile Game Candy Crush wurden von vielen weiblichen Befragten als Lieblingsspiel genannt, tauchten aber bei den männlichen Befragten nicht unter den 10 beliebtesten Spielen auf (vgl. forsa 2019, S. 11). Das Bild von digitalen Spielen als vorwiegend männlich geprägte Domäne wird von diesen Zahlen gestützt.
Das gemeinsame Spielen von digitalen Spielen ist trotz der hohen Spielfreude von Kindern und Jugendlichen in sehr wenigen Familien im Alltag verankert (vgl. Education Group 2019a). Mögliche Gründe dafür könnten neben einer technisch bedingten Einstiegshürde für Eltern auch der tendenziell schlechte Ruf sein, den Videospiele bei Erziehungsberechtigten genießen. Elterliche Befürchtungen, dass digitale Spiele von Gewaltinhalten geprägt sind und für Kinder schädlich sein könnten, überwiegen klar die Hoffnungen auf positive Auswirkungen von Computerspielen (vgl. Education Group 2016, S. 33).
Trotz der starken Präsenz digitaler Spiele und anderer Medien im Alltag von Jugendlichen spielen soziale Aspekte wie das Treffen von Freunden und Peers die größte Rolle in der Freizeitgestaltung dieser (vgl. ebd.; Education Group 2019, S. 6; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012, S. 11; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016, S. 9). Bedenken, nach denen Computerspiele zu sozialer Isolierung von Jugendlichen führen, können anhand dieser Zahlen somit nicht belegt werden.
Während es zum Umgang mit digitalen Medien in der Familie im deutschen Sprachraum einschlägige Erhebungen gibt, bestehen zum Umgang mit digitalen Spielen im Besonderen nur wenige Forschungsarbeiten. Da in dieser Arbeit der spezifische Umgang mit digitalen Spielen im Erziehungskontext erhoben wird, werden für einen Abriss des Forschungsstandes in erster Linie die Arbeiten von Claudia Lampert et al. (2012) und Rudolf Kammerl et al. (2012) herangezogen, da diese digitale Spiele spezifisch betrachten.
Dazu ist anzumerken, dass die Zugänge zum Umgang mit digitalen Spielen heterogen sind und es abgesehen von der zeitlichen Beschränkung von Spieldauer, die bei fast allen Familien vorkommt, kaum einheitliche Konzepte zum Umgang mit Spielen in Familien gibt und der Umgang stark von den persönlichen medienbiografischen Erfahrungen der erziehenden Akteur*innen geprägt ist (vgl. Brunner 2014, S. 1f.). Im Folgenden werden relevante Aspekte des Umganges mit digitalen Spielen in der Familie zusammengefasst, die von einschlägigen Studien festgestellt wurden. Die dabei genannten Aspekte wurden neben anderen auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit empirisch erhoben.
Computerspiele stellen im familiären Alltag ein Medium dar, das neben einer verbindenden gemeinsamen Beschäftigung auch ein ständiges Konfliktthema sein kann. Bei der Bewertung des Mediums im Familienalltag stellen sich bestimmte Aspekte als bedeutsam heraus, wie im Folgenden erörtert wird.
Eine erste wichtige Frage ist hierbei, wie der Kontakt zu digitalen Spielen überhaupt zustande kommt und welche Faktoren zusammenspielen, das Interesse von Menschen am Medium zu wecken und das Computerspielen für Menschen attraktiv zu machen. Interessant ist hierbei, dass als »Impulsgeber« (Lampert et al. 2012, S. 35) vor allem männliche Bezugspersonen eine große Rolle zu spielen scheinen. Vor allem männliche Vorbilder wie große Brüder, Väter sowie Onkels oder Cousins werden als Personen genannt, die maßgeblich dazu beitragen, ein erstes Interesse am Thema Computerspiele zu entfachen (vgl. ebd.). Hierbei unterscheiden Lampert et al. (2012) zwischen »Vorbildern« und »Türöffnern«. Während »Türöffner« Heranwachsende mit der notwendigen Infrastruktur versorgen, um Computerspiele spielen zu können, beispielsweise durch Erlauben des Benutzens des Computers oder das Schenken einer Spielkonsole, sind diese Infrastrukturen bei Vorbildern bereits vorhanden und werden von diesen selbst zum Spielen genutzt (vgl. ebd.). Die »Türöffner« spielen dabei auch eine besondere Rolle, da sie durch die Auswahl des Spieles maßgeblich die ersten Spielerfahrungen der Heranwachsenden mitbeeinflussen (vgl. ebd., S. 36). Zahlreiche Spieler*innenbiografien beginnen mit dem Spielen im familiären Kontext, beispielsweise beim wöchentlichen Besuch bei Verwandten, deren Kinder Spielkonsolen besitzen (vgl. Mitgutsch 2013, S. 256). Das Computerspiel selbst bekommt durch die soziale Einbettung und das mit dem Spielen verbundene Ritual eine besondere Bedeutung (vgl. ebd.). Diese ersten Spielerfahrungen können ausschlaggebend für ein Interesse an einem weiterführenden Thema sein. So kann ein Fußballspiel, das heimlich am PC des Vaters gespielt wird, für ein Kind bedeutsam sein, sodass ein Interesse am Sport aus diesen Erfahrungen erwächst (vgl. ebd., S. 253). Darauf, dass diese ersten Spielerfahrungen für die Spielenden von großer Bedeutung sind, weist auch der Umstand hin, dass viele Personen, die zu ihren Spielerlebnissen befragt wurden, »ihre ersten Computerspielerfahrungen abrufen können, ohne lange überlegen zu müssen, auch wenn diese bei vielen Befragten bereits 10 bis 20 Jahre zurückliegen« (Lampert et al. 2012, S. 41).