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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2016
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»Nach Venedig?« fragte Victoria Dryer irritiert. »Wir fliegen nach Venedig? Aber wie kommen Sie denn jetzt ausgerechnet auf Venedig, Mylady? Wollten Sie nicht Ihre Verwandten in Irland besuchen? Man erwartet Sie doch sicher in Sligo.«
Die junge bildhübsche Privatsekretärin von Lady Beatrice Emerson schüttelte den Kopf. Sie war daran gewöhnt, daß die alte Dame sie mit seltsamen Einfällen konfrontierte – ein Essen in einem Fast-food-Restaurant, der Besuch eines Flohmarktes oder die Besichtigung einer Schokoladenfabrik waren nur einige der Schrullen, denen Lady Beatrice mit Vergnügen nachging. Nun ja, sie verfügte über Unabhängigkeit und ein beachtliches Vermögen, und sie war nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes allein, denn sie hatte keine Kinder.
Ihre Verwandten in Sligo, Brüder, Schwägerinnen, Neffen und Nichten, gaben sich redliche Mühe, sie dazu zu bewegen, sich wie ein anständiges Mitglied des Hochadels zu benehmen, aber die alte Dame ignorierte diese guten Ratschläge.
»Es ist mein Leben, und ich habe nicht vor, in meinem Schloß zu versauern, mich mit nichtsnutzigen, arroganten, aufgeblasenen Lords und Ladies abzugeben, die sich selbst für wichtiger als den lieben Gott halten. Es gibt so viel auf der Welt zu entdecken, und einiges davon will ich noch mitnehmen, bevor ich sterbe.« So antwortete sie stets, wenn jemand ihr Vorhaltungen zu machen versuchte. Die einzige, die Lady Beatrice in ihrer Meinung unterstützte, war ausgerechnet ihre Schwägerin Patricia, verheiratet mit Lord Gregory, dem absolut humorlosen Bruder von Beatrice, der seine Schwester schon mehr als einmal für verrückt erklärt hatte. Aber auch darüber ging die Lady mit einem feinen Lächeln hinweg.
Und jetzt Venedig? Victoria, die seit rund fünf Jahren in den Diensten der etwas schrulligen Frau stand, wunderte sich nicht lange. Zu oft schon war Lady Emerson einem Impuls gefolgt. Eines konnte man von der Arbeit für die Lady auf jeden Fall sagen: Sie wurde nie langweilig.
»Warum sollte ich nicht auf Venedig kommen, mein Kind? Haben Sie heute früh nicht in der Post den Brief des Marchese di Conti gesehen?«
»Selbstverständlich, Mylady. Aber er war als privat gekennzeichnet, ich habe ihn natürlich nicht gelesen.«
»Das war ein Fehler«, erklärte Beatrice süffisant. »Es ist schon seltsam. In all den Jahren haben Sie nicht einmal den Versuch unternommen indiskret zu werden. Ich frage mich manchmal, ob Sie wirklich eine richtige Frau sind, Victoria. Keinerlei Neugier bei Ihnen vorhanden?«
»Mylady«, rief Vicky, wie sie von ihren wenigen Freunden genannt wurde, empört.
»Ja, schon gut, ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Etwas, das ich bislang nicht von allen meinen Sekretärinnen behaupten konnte.«
Die junge Frau lächelte. Es gab keine klare Stellenbeschreibung für diese Arbeit. Als Sekretärin war sie natürlich hauptsächlich, aber nicht nur für die Korrespondenz zuständig, sie war auch eine Art Gesellschafterin, Vertraute, schon fast Freundin für die Lady, die ihrerseits Vicky fest ins Herz geschlossen hatte. Sie ersetzte ihr die Tochter, die sie nie bekommen hatte.
Beatrice Emerson hatte weitgehende Pläne mit ihrer Angestellten, die davon aber jetzt noch nichts zu wissen brauchte.
»Der Marchese hat mich eingeladen, im Palazzo Cortese zu wohnen und den Karneval dort zu verbringen; in angemessener Begleitung selbstverständlich, was Sie demnach mit einschließt. Das halte ich für eine gute Idee. Und das Wetter wird allemal besser sein als in Irland. Im übrigen bewahrt mich das davor, meinem Bruder den Kopf waschen zu müssen, oder seine ständigen Vorhaltungen überhören zu müssen.«
Vicky lachte auf. »Ist es nicht eher so, daß Ihr Bruder Ihnen den Kopf wäscht, Lady Beatrice, weil Sie sich nicht seinen Ansichten anpassen?«
»Papperlapapp. Wie dem auch sei, wir fliegen nach Venedig.«
»Wir? Sollte ich denn nicht hierbleiben und mich um…«
»Auf gar keinen Fall! Was sollte ich denn ohne Sie tun? Nein, Sie begleiten mich selbstverständlich. Geben Sie Claire Anweisung unsere Koffer zu packen, ich möchte morgen abreisen.«
»Morgen schon? Aber das geht nicht. Sie haben zugesagt, die Schirmherrschaft bei der Versteigerung der Weihnachtsraritäten bei Lord Percy zu übernehmen.«
»Mein liebes Kind, diese sogenannten Weihnachtsraritäten, die der gute Percy jeden Februar versteigern läßt, sind in der Regel nichts weiter als geschmacklose, überteuerte Schmuckstücke, die sein Versteigerungshaus gewinnbringend an den Mann, beziehungsweise die Frau bringen will, um einen Teil des Erlöses als Kostenaufwand in die eigene Tasche zu stecken. Schreiben Sie eine Grußbotschaft, die er verlesen kann, wir sind verhindert.«
Dazu gab es nichts weiter zu sagen.
»Kennen Sie den Marchese eigentlich?«
»Nein, ganz und gar nicht. Aber wir können ihn ja kennenlernen.«
Vicky hatte noch viel zu tun, bevor die Reise losgehen konnte. Claire, die Hauswirtschafterin, sorgte dafür, daß das übrige Personal die Koffer packte. Die junge Sekretärin hingegen mußte darauf achten, daß die Post nachgeschickt wurde, Termine mußten verschoben werden, und in Venedig mußte auch all das zur Verfügung stehen, was Lady Beatrice besonders liebte. Dazu gehörten unter anderem deutsche Schokolade und ägyptische Zigaretten.
Es mochte noch so ungesund sein, Lady Emerson liebte ab und zu den Genuß von aromatischem Tabak. Außerdem trank sie gern mal einen guten schottischen Whisky.
Doch alles in Maßen, Übermäßigkeit, in welcher Form auch immer, war ihr ein Greuel.
Es wurde spät, bis Vicky alles erledigt hatte, denn Lady Beatrice beanspruchte ihre Sekretärin natürlich auch, um die umfangreiche Korrespondenz zu erledigen. Aber Vicky fühlte sich wohl dabei. Die Arbeit machte ihr Freude, und die Bezahlung war großzügig. Im Laufe der Zeit hatte sie gelernt, die Lady so zu nehmen, wie sie war. Die beiden kamen großartig miteinander aus.
Und jetzt ging es auf nach Venedig.
*
Der Palazzo Cortese entpuppte sich als ein traditionsreiches Gebäude ganz in der Nähe des Canale Grande. Generationen Adliger hatten hier schon gewohnt, bis der jetzige Besitzer, der Marchese di Conti, das Anwesen gekauft hatte. Der Palazzo besaß drei Stockwerke, von denen jedoch nur eines, nämlich das Erdgeschoß, dauerhaft bewohnt wurde. Auf der einen Seite gab es einen langgestreckten Kai, an dem neben einer typischen Gondel auch zwei schnelle Motorboote vertäut waren. Auf der anderen Seite des Palazzo gab es allerdings auch eine Haustür an einer Straße, die geradewegs zum Markusplatz führte. Die zentrale Lage des Palazzo sorgte dafür, daß das Gebäude mit zu den Sehenswürdigkeiten gehörte, die allgemein bestaunt wurden. Unzählige Touristen flanierten täglich auf der einen, wie auch auf der anderen Seite vorbei, und Victoria fragte sich, woher die wohl alle kamen.
Sie selbst fand die Stadt bislang nicht so beeindruckend. Hier war ihr alles zu eng, zu laut und zu teuer. Sie hatte auf dem Markusplatz genüßlich einen Espresso trinken und einen Kuchen essen wollen, war aber angesichts der unglaublichen Preise davon abgegangen. Sie fragte sich, warum die Touristen sich derart ausnehmen ließen.
Lady Emerson hatte sich über ihre Empörung amüsiert. »Liebes Kind, die Italiener leben hier in erster Linie vom Tourismus. Was haben Sie denn erwartet? Sonderangebote? Nein, um das wirkliche Venedig zu erfahren, müssen Sie schon weggehen von den Orten, die häufig von Touristen aufgesucht werden. Aber ich denke, wir werden morgen einen Ausflug unternehmen und Kostüme für den Maskenball kaufen. Mein Neffe Frederick wird ebenfalls bald hier eintreffen, und ich möchte gern, daß ihr jungen Leute euch ein bißchen amüsiert.«
»Wie Sie wünschen, Mylady. Frederick ist Ihr Neffe aus Irland?«
»Ja, Sie haben ihn bisher noch nicht kennengelernt, weil er in Amerika studiert hat. Doch jetzt ist er zurück, und ich denke, ihr werdet euch gut verstehen.«
Genau diesen Moment nutzte der Marchese Alfonso di Conti, um fast unbemerkt aufzutauchen. Victoria mochte den Mann schon auf den ersten Blick nicht, und sie hätte nicht einmal sagen können, warum das so war. Es handelte sich um eine instinktive Abneigung, die man nicht erklären konnte.
Di Conti war Ende dreißig, besaß einen schlanken durchtrainierten Körper, ein klassisches Profil mit einer vorspringenden Nase, dunkle glutvolle Augen und schwarze Haare. Er zeigte die besten Manieren, verfügte über viel Geld und eine reichliche Menge Charme, und er verschlang die junge Frau mit seinen Blicken.
Obwohl Vicky nur eine Angestellte und nicht von adliger Herkunft war, schien er einen Narren an ihr gefressen zu haben. Er bemühte sich so auffällig um sie, daß auch Lady Emerson die Stirn runzelte, sobald er anwesend war. Doch diesen Mann umgab auch ein Geheimnis, denn obwohl der Marchese und die Lady auf verschlungenen Wegen miteinander verwandt waren, gab es nicht viel, was sie über ihn berichten konnte. Am meisten machte sie stutzig, daß er keinen vernünftigen Grund für die Einladung angegeben hatte. Vielleicht war das der Grund, warum Beatrice die Einladung überhaupt angenommen hatte. Sie wollte wissen, was dieser unbekannte Cousin im Schilde führte.
Alfonso di Conti beugte sich mit einem strahlenden Lächeln zur Lady herab und küßte ihr die Hand.
»Was höre ich da? Ihr wollt Kostüme für den Maskenball bei Prizzi und für den Karneval kaufen? Kaufen! Welch eine Verschwendung, wo doch hier im Palazzo mehr als genug vorhanden ist. Laßt uns die alten Truhen öffnen und nachsehen. Ich bin sicher, daß sich noch originale Kleidung aus der Zeit der Dogenherrschaft finden wird.«
Lady Beatrice wechselte einen kurzen Blick mit Vicky, dann nickte sie.
»Warum nicht? Eine reizvolle Idee. Dann müssen wir nur noch Masken besorgen.« Ihr Blick wanderte weiter, die Regale in diesem Salon entlang, wo sich zwischen Glaspokalen und Büchern durchaus bemerkenswerte Masken befanden. Eine von ihnen hatte es Vicky ganz besonders angetan. Obwohl sie, wie alle venezianischen Masken, nur mit leeren Augenhöhlen ausgestattet war, besaß diese Maske doch einen ganz eigenen Charakter, ja schon fast Leben. Sie war auch die einzige, die sich in einer Art Safe aus Glas befand.
Alfonso bemerkte den Blick der beiden Frauen und lächelte.
»Diese Art Maske werden Sie wohl kaum im freien Verkauf finden, Signorina Vittoria. Sie ist sehr alt und stammt direkt aus Murano, aus einer Zeit, als die Glasbläserkunst noch streng gehütet wurde. Sie besitzt eine eigene Geschichte, die ich Ihnen bei Gelegenheit gern berichten will.«
Lady Beatrice bemerkte das Unbehagen in Vicky.
»Wir werden entzückt sein, lieber Alfonso, diese Geschichte zu erfahren. Aber jetzt entschuldigst du uns bitte, wir haben noch eine Menge Korrespondenz zu erledigen. Wir sehen uns doch beim Essen?«
Di Conti deutete eine Verbeugung an. »Selbstverständlich. Ich hoffe, daß du dann etwas mehr Zeit hast, liebe Cousine.«
Die Tür schloß sich hinter ihm, und Victoria schüttelte sich unwillkürlich.
»Ich kann mir nicht helfen. Ich mag ihn nicht«, murmelte sie.
Beatrice gab ein Schnauben von sich. »Dann sind wie schon zwei. Doch Sie müssen ihn ja nicht gleich heiraten, also nehmen Sie ihn einfach hin, unser Aufenthalt wird ja nicht ewig dauern, obwohl mir die Stadt durchaus gefällt. Aber ich möchte trotzdem zu gern wissen, warum er mich eingeladen hat. Schließlich kenne ich diesen Zweig der Familie kaum. Er kann also nicht auf enge Familienbande verweisen. Es wäre einfach, jetzt abzureisen, aber damit ließe ich ein paar ungelöste Fragen zurück, und das mag ich nun überhaupt nicht. Außerdem irritiert mich diese Maske. Sie sieht fast so aus, als besäße sie ein eigenes Gesicht. Nun, vielleicht ist es auch nur die Atmosphäre in dieser Stadt, die mich auf so seltsame Gedanken bringt. Ich werde froh sein, wenn Frederick endlich eintrifft. Er ist ein so besonderer junger Mann, er wird Ihnen auch guttun, Victoria. Sie sehen aus, als hätten Sie dringend anregende Gesellschaft nötig.«
»Aber nein, wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie doch sehr angespannt sind, seit wir uns hier befinden. Aber Frederick ist ein guter Junge, der wird uns bestimmt Freude machen. Und wer weiß, vielleicht finden Sie ja Gefallen an ihm.«
»Mylady…?«
»Ach, Quatsch, protestieren Sie nicht. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen.«
Vicky lachte hell auf. »Haben Sie vergessen, wer und was ich bin? Außerdem lege ich wirklich keinen Wert darauf, jemanden aus dem Hochadel zu heiraten. Bis jetzt habe ich überhaupt noch nicht die Absicht zu heiraten.«
»Nicht? Wie schade. Aber wir werden sehen.« Für Lady Beatrice war das Thema damit abgeschlossen. Es störte sie wenig, daß weder ihr Neffe noch Victoria bisher überhaupt an eine Heirat gedacht hatten, mit wem auch immer. Ja, es interessierte sie auch nicht, daß die beiden sich nicht einmal kannten. Sie hatte beschlossen, Vicky unter ihre Fittiche zu nehmen und ein wenig Schicksal zu spielen. Mal sehen, was sich daraus ergab.
*
Die Nacht war kalt, ein leuchtender Vollmond hing über der Stadt und schien selbst durch die Vorhänge hindurch, die vor den Schlafzimmerfenstern von Victoria Dryer hingen. Unruhig wälzte sich die junge Frau im Bett hin und her, geplagt von wirren Träumen. Das Gesicht von Alfonso di Conti tauchte auf, immer wieder, wurde ersetzt durch die Maske unten im Salon und wirbelte umher. Das starre silberne Gesicht mit den blauen Verzierungen, die perfekt geformte Nase und der volle Mund mit den geschwungenen Lippen bekam plötzlich wirklich ein Eigenleben. Die Maske wurde zu einer Frau mit weit aufgerissenen blauen Augen, in denen sich nackte Angst spiegelte. Der Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, dann verloren die Augen jedes Leben, und die Maske erstarrte wieder. Das Gefühl von Angst jedoch blieb und übertrug sich auf Victoria, die plötzlich mit einem Schrei erwachte und sich aufrecht sitzend in ihrem Bett wiederfand. Ihre Stirn war schweißnaß, das Herz hämmerte wie nach einem schnellen Lauf, und die Hände zitterten. Vicky versuchte sich zu beruhigen.
»Es war nur ein Traum«, murmelte sie. »Nichts weiter als ein dummer törichter Traum.«
Erstaunt bemerkte sie, daß das am Abend geschlossene Fenster offenstand und kühle Nachtluft hereinließ. War jemand in ihrem Zimmer gewesen, oder hatte sie selbst in Gedanken das Fenster nicht geschlossen? Unsinn, niemand konnte ihr Zimmer betreten. Fröstelnd stand sie auf, hörte unten im Kanal das leise Plätschern von vorbeiziehenden Gondeln und das Murmeln von Stimmen. Sicher ein paar Verliebte, die trotz der Kühle romantische Gefühle hatten.
Rasch verschloß sie das Fenster wieder und schlüpfte unter die warme Decke. Heftig knuffte sie die Kissen und nahm sich vor, nicht noch einmal einen solchen Unsinn zu träumen.
Am nächsten Morgen gab es gleich zwei besondere Ereignisse: Frederick Bannister, nächster Lord of Kilmore traf ein, und die venezianische Maske war verschwunden.
*
»Haben Sie schon die Polizei informiert?« erkundigte sich Lady Beatrice.
Das Personal im ganzen Haus wimmelte durcheinander, seit der Verlust der Maske bemerkt worden war. Obwohl es mehr als unwahrscheinlich schien, bestand doch eine geringe Möglichkeit, daß jemand sie beim Aufräumen einfach an anderer Stelle abgestellt hatte. Doch die kleine Glasvitrine, in der sich das wertvolle Stück befand, kam nirgendwo zum Vorschein. Ein Einbruch konnte es auch kaum gewesen sein, denn alle Fenster und Türen waren unversehrt.
Alfonso di Conti hatte einiges von seinem Charme verloren, er wirkte gehetzt und verärgert.
»Natürlich habe ich die Polizei verständigt. Sie wird gleich hier sein. Es tut mir leid, dir Unannehmlichkeiten zu machen, liebste Beatrice, aber sicher wird man verlangen, alle Räume zu durchsuchen. Das schließt auch die Gästezimmer mit ein.«
»Ich habe nichts dagegen, solange alles wieder in Ordnung gebracht wird«, erklärte die Lady vergnügt, die eine ganz unangemessene Freude zu empfinden schien.
»Und wie steht es mit Ihnen, Signorina Vittoria?« wandte sich der Marchese an die junge Frau.
»Ich habe auch nichts zu verbergen. Suchen Sie ruhig, wenn es Ihnen Spaß macht«, gab sie zurück und versuchte seinem Blick auszuweichen.
»Ich würde Ihnen das alles gern ersparen, doch ich bin sicher, die Polizei wird Vorsicht…«
»Die Polizei wird mit Sicherheit darauf bestehen, und das ist ja auch richtig so«, meldete sich die Lady energisch zu Wort. »Vicky, ich fürchte, ich werde mich doch etwas aufregen. Sind Sie so nett und besorgen mir ein Glas Whisky?«
Alfonso blickte sie irritiert an. Jedes Mal, wenn er versuchte, der jungen Frau näherzukommen, mischte sich die alte Dame ein und hatte einen Auftrag, der sie wieder von ihm fortführte.
Victoria stand jetzt rasch auf und holte ein Tablett, auf dem sich eine Karaffe und einige Gläser befanden. Lady Emerson schaute auf die Uhr.
»Frederick wird wohl bald eintreffen. Deine Gastfreundschaft ist ausgesprochen großzügig, Alfonso. Mein Neffe hätte sich auch in einem guten Hotel einquartieren können.«
»Aber ich bitte dich, hier im Palazzo sind mehr als genug freie Zimmer. Ich freue mich, einen weiteren Verwandten kennenzulernen.«
»Warum bin ich überhaupt hier?« fragte Beatrice ohne Vorwarnung.
»Ich verstehe nicht«, meinte er irritiert.
»Doch, ich glaube schon. Alfonso, wir sind nicht so eng miteinander verwandt, daß Besuche in unseren Familien obligatorisch sind. Du verfolgst einen bestimmten Zweck mit dieser Einladung. Welchen?«
Wer die Lady kannte, wunderte sich längst nicht mehr darüber, daß sie stets geradewegs auf ihr Ziel zusteuerte. Aber hier schien sie mit dieser Taktik nicht weiterzukommen.
Di Conti lächelte. »Es mag wohl so sein, daß keine engen Bindungen bestehen, bisher jedenfalls. Aber dein Ruf eilt dir voraus, Beatrice. Ich mußte einfach die Frau kennenlernen, die alle Konventionen sprengt und schon zu Lebzeiten eine Legende ist. Es freut mich doppelt, daß du in so reizender Begleitung hier bist. Signorina Vittoria ist eine Bereicherung für den Palazzo.«
»Na, dann kommt ja jetzt die nächste Bereicherung. Ich denke, Frederick wird da sein.«
Lady Emerson besaß das besondere Geschick, eine Situation zu entschärfen, bevor sie kritisch wurde. Sie wußte, daß Vicky die Aufmerksamkeiten des Marchese nicht mochte. Also sorgte sie einfach für Ablenkung. Und sie hatte nicht unrecht damit. Zusammen mit der Polizei traf Frederick Bannister ein.
*
»Commissario Stephani, ich muß mich entschuldigen.« Alfonso di Conti schüttelte dem älteren Beamten mit dem schütteren Haar und der sorgenvoll gerunzelten Stirn die Hand. »Es handelt sich hier offenbar um ein Mißverständnis auf beiden Seiten. Signore Bannister ist als mein Gast gerade eingetroffen und wußte selbstverständlich nichts vom Verschwinden der Maske. Nur aus diesem Grund hat er sich geweigert, sich von Ihren Leuten durchsuchen zu lassen.«
Der Begriff Mißverständnis mutete ein wenig harmlos an angesichts der Tatsache, daß Frederick fast handgreiflich geworden war, als die Beamten ohne lange zu fackeln seine Taschen und Koffer geöffnet hatten.
Weder Lady Beatrice noch Victoria waren zur Begrüßung in die Halle gekommen, sie waren davon ausgegangen, daß der Majordomus des Palazzo den jungen Mann gleich zu ihnen führen würde. Statt dessen hatte sich hier unten ein kleines Drama abgespielt, bis Alfonso die Sache aufklären konnte.