Gebieterin der Dunkelheit - Lara Adrian - E-Book

Gebieterin der Dunkelheit E-Book

Lara Adrian

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Beschreibung

Die Journalistin Dylan Alexander entdeckt eine verborgene Grabstätte und gerät dadurch in einen Strudel aus Gewalt und Geheimnissen. Doch niemand ist gefährlicher als der von Narben entstellte und unendlich verlockende Rio, der sie in seine Welt der ewigen Finsternis und dunklen Obsessionen entführt. Dylan kann sich Rios Berührung nicht entziehen, selbst als sie eine schreckliche Entdeckung macht, die ihn mit ihrer Vergangenheit verbindet. Dylan muss sich entscheiden: Will sie Rios Reich der Dunkelheit verlassen oder alles aufs Spiel setzen für den Mann, der ihr gezeigt hat, was wahre Leidenschaft ist?

Der vierte Band der erfolgreichen Vampirsaga "Midnight Breed" von Bestseller-Autorin Lara Adrian!

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Seitenzahl: 475

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Roman

Ins Deutsche übertragen von Katrin Kremmler

Allen Kriegsveteranen, in Dankbarkeit und tief empfundenem Respekt

1

Die Frau wirkte in ihrer makellosen weißen Bluse und der maßgeschneiderten cremefarbenen Hose völlig fehl am Platz. Langes mokkabraunes Haar fiel ihr in dicken Wellen über die Schultern. Trotz der feuchten Dunstglocke, die über dem Wald hing, hatte sich keine einzige Strähne gelöst. Sie trug elegante Schuhe mit hohen Absätzen, was sie aber offenbar nicht davon abgehalten hatte, einen Waldpfad hinaufzuklettern, der die anderen Wanderer um sie herum in der schwülen Julihitze arg ins Schnaufen brachte.

Am Gipfel des Steilhangs wartete sie im Schatten einer massigen, moosbewachsenen Felsformation und wirkte völlig ungerührt, als ein halbes Dutzend Touristen an ihr vorbeiging. Einige fotografierten den Ausblick, der sich ihnen bot. Niemand bemerkte die Frau. Aber schließlich können die wenigsten Menschen Tote sehen.

Auch Dylan Alexander wollte sie nicht sehen.

Sie hatte keine Tote mehr gesehen, seit sie zwölf war. Dass sie jetzt hier eine sah, zwanzig Jahre später und mitten in Tschechien, war reichlich beunruhigend. Sie versuchte die Erscheinung zu ignorieren, aber als Dylan und ihre drei Reisegefährten weiter den Pfad hinaufgingen, fanden die dunklen Augen der Frau sie und ließen sie nicht mehr los.

Du siehst mich.

Dylan tat so, als hörte sie das Flüstern nicht, das über die reglosen Lippen des Geistes kam und das sich wie ein undeutliches Rauschen aus dem Radio anhörte. Sie wollte diese Begegnung nicht. Sie hatte nun schon so lange ohne diese unheimlichen Erscheinungen gelebt, dass sie schon fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte.

Dylan hatte ihre seltsame Fähigkeit, die Toten zu sehen, nie verstanden. Sie hatte sich nie auf sie verlassen und ihr nie vertrauen können. Sie konnte mitten auf einem Friedhof stehen und gar nichts sehen, nur um sich dann plötzlich in Tuchfühlung mit einem Verstorbenen zu finden, so wie jetzt gerade, hier in den Bergen, etwa eine Autostunde von Prag entfernt.

Die Geister waren immer Frauen. Meistens jung und strahlend, so wie die, die sie gerade anstarrte, mit unverkennbarer Verzweiflung in ihren exotisch dunklen, tiefbraunen Augen.

Du musst mich hören können.

Sie sprach mit volltönendem spanischem Akzent, ihre Stimme hatte einen flehenden Tonfall.

„Hey, Dylan. Komm her und stell dich da neben den Felsen, ich mache ein Foto von dir.“

Der Klang einer realen Stimme aus der diesseitigen Welt löste Dylans Aufmerksamkeit schlagartig von der wunderschönen Toten, die ganz in der Nähe unter dem verwitterten Sandsteinbogen stand. Janet, eine Freundin von Dylans Mutter Sharon, kramte in ihrem Rucksack und förderte eine Digitalkamera zutage. Die Sommerreise nach Europa war ursprünglich Sharons Idee; es wäre ihr letztes großes Abenteuer gewesen, aber der Krebs war im März zurückgekommen, und nach der letzten Dosis Chemotherapie vor einigen Wochen war sie zum Reisen zu schwach. In der letzten Zeit war Sharon immer wieder mit Lungenentzündungen im Krankenhaus gewesen, und sie hatte darauf bestanden, dass Dylan für sie mitfahren sollte.

„Hab dich“, sagte Janet und machte ein Foto von Dylan und den hoch aufragenden Felsklippen im waldigen Tal unter ihnen. „Deiner Mutti würde es hier so gefallen, Liebes. Ist es nicht atemberaubend?“

Dylan nickte. „Wir mailen ihr die Fotos gleich heute Abend, wenn wir wieder im Hotel sind.“

Sie führte ihr Grüppchen fort von den Felsen, begierig, die flüsternde jenseitige Präsenz hinter sich zu lassen. Sie gingen einen abschüssigen Bergrücken hinunter in ein kleines Kiefernwäldchen, die schlanken Bäume standen dort dicht beieinander. Goldbraunes Laub und die Tannennadeln vergangener Jahre knisterten unter ihren Schritten auf dem feuchten Pfad. Am Morgen hatte es geregnet, und danach war es drückend heiß geworden, was viele der Touristen, die diese Gegend besuchten, heute fernhielt.

Der Wald war ruhig, friedlich … doch immer noch hatte Dylan das Gefühl, auf Schritt und Tritt von Geisteraugen verfolgt zu werden, während sie tiefer in das Gehölz hineinging.

„Ich bin ja so froh, dass dein Chef dir freigegeben hat und du uns begleiten konntest“, meinte eine der Frauen, die ihr auf dem Waldweg folgten. „Ich weiß, wie viel Arbeit du bei der Zeitung hast, wenn du dir all diese Geschichten ausdenken musst …“

„Die denkt sie sich nicht aus, Marie“, sagte Janet mit sanftem Tadel. „Es muss doch etwas Wahres dran sein an Dylans Artikeln, sonst könnten sie sie doch nicht drucken. Oder nicht, Liebes?“

Dylan ließ ein verächtliches kleines Schnauben hören. „Nun, da wir ständig mindestens eine Entführung durch Außerirdische oder Augenzeugenberichte von Dämonenbesessenheit auf der Titelseite haben, heißt das wohl, dass wir uns nicht von Fakten stören lassen, wenn wir eine gute Story bringen wollen. Wir veröffentlichen Unterhaltung, keinen seriösen Faktenjournalismus.“

„Deine Mutti sagt, dass du eines Tages eine berühmte Reporterin wirst“, sagte Marie. „Eine zweite Woodward oder Bernstein, das ist es, was sie immer sagt. So hießen doch die beiden, die die Watergate-Affäre aufgedeckt haben?“

„Genau das sagt sie“, pflichtete Janet bei. „Weißt du, sie hat mir mal einen von deinen ersten Artikeln gezeigt, als du nach dem College deine erste Stelle bei einer Zeitung hattest. Du hast über einen üblen Mordfall auf dem Land recherchiert. Das weißt du doch noch, Liebes?“

„Klar“, sagte Dylan und führte die Gruppe auf eine weitere Ansammlung massiver Sandsteintürme zu, die sich steil über die Baumwipfel erhoben. „Sicher weiß ich das noch. Aber das ist lange her.“

„Nun, was auch immer du tust, ich weiß, dass deine Mutter sehr stolz auf dich ist“, sagte Marie. „Du hast eine Menge Freude in ihr Leben gebracht.“

Dylan nickte und bemühte sich, ihre Stimme wiederzufinden. „Danke dir.“

Janet und Marie arbeiteten beide mit ihrer Mutter in einem Zentrum für Straßenkinder in Brooklyn. Nancy, das vierte Mitglied ihrer kleinen Reisegruppe, war Sharons beste Freundin seit der Highschool. Alle drei Frauen waren in den letzten Monaten zu Dylans Ersatzfamilie geworden. Drei weitere Menschen, die sie tröstend in die Arme nahmen, und die würde sie wirklich brauchen, wenn sie ihre Mutter verlor.

In ihrem Herzen wusste Dylan, dass es nur noch eine Frage der Zeit war.

So lange waren sie zu zweit gewesen. Ihr Vater hatte sich davongemacht, als Dylan noch klein war. Aber auch als er noch bei ihnen war, hatte er keinen besonders guten Vater abgegeben. Auch ihre beiden älteren Brüder waren inzwischen fort, der eine war Opfer eines Verkehrsunfalls geworden, und der andere hatte alle Verbindungen zu seiner Familie abgebrochen, als er vor Jahren zur Armee ging. Dylan und ihre Mutter waren übrig geblieben, um sich um die Scherben ihres alten Lebens zu kümmern, und genau das hatten sie getan. Immer hatte die eine die andere getröstet, wenn sie verzweifelt war, und selbst die kleinsten Triumphe hatten sie miteinander gefeiert.

Dylan konnte den Gedanken nicht ertragen, wie leer ihr Leben ohne ihre Mutter sein würde.

Nancy holte sie ein und lächelte ihr liebevoll, aber auch etwas traurig zu. „Es bedeutet Sharon so viel, dass du diese Reise für sie machst. Du lebst und machst diese Erfahrungen für sie mit, weißt du?“

„Ich weiß. Das hätte ich mir auch nie nehmen lassen.“

Dylan hatte ihren Reisegefährtinnen – und auch ihrer Mutter – nicht gesagt, dass es sie höchstwahrscheinlich ihren Job kosten würde, sich so kurzfristig einfach zwei Wochen freizunehmen. Aber einem Teil von ihr war das egal. Sie hasste es sowieso, für dieses billige Skandalblatt zu arbeiten. Sie hatte versucht, ihren Chef damit zu ködern, dass sie sicher mit interessantem Material aus Europa zurückkommen würde – vielleicht einer Geschichte über Rübezahl, den Geist der böhmischen Wälder, oder einer Entdeckung Draculas außerhalb seiner rumänischen Heimat.

Aber es war nicht einfach, einem Typen Unsinn anzudrehen, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, ihn anderen anzudrehen. Ihr Chef hatte sich klipp und klar ausgedrückt. Wenn Dylan diese Reise machte, sollte sie entweder mit einem echten Knüller zurückkommen oder aber sie brauchte gar nicht wiederzukommen. „Gottchen, ist das vielleicht heiß hier oben“, sagte Janet, zog sich ihre Baseballmütze von den kurzen silbergrauen Locken und fuhr sich mit der Handfläche über die Stirn. „Bin ich der einzige Schwächling hier oder ist sonst noch wer dafür, sich etwas auszuruhen?“

„Eine Pause würde mir auch guttun“, meinte Nancy.

Sie nahm ihren Rucksack ab und legte ihn unter einer hohen Kiefer auf den Boden. Auch Marie verließ den Weg, gesellte sich zu ihnen und nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Feldflasche.

Dylan war überhaupt nicht müde. Sie wollte weitergehen. Die eindrucksvollsten Kletterwände und Felsgebilde lagen noch vor ihnen. Sie hatten für diesen Abschnitt ihrer Reise nur einen Tag veranschlagt, und Dylan wollte so viel wie möglich sehen.

Und dann war da noch diese wunderschöne Tote. Jetzt stand sie direkt vor ihnen auf dem Pfad und starrte Dylan an; immer wieder materialisierte sie sich zu einer sichtbaren Gestalt, um dann wieder zu verblassen.

Sieh mich doch.

Dylan schaute weg. Janet, Marie und Nancy saßen auf der Erde und knabberten Müsliriegel und Studentenfutter.

„Möchtest du?“, fragte Janet und hielt ihr einen wiederverschließbaren Plastikbeutel mit Trockenfrüchten, Nüssen und Kernen hin.

Dylan schüttelte den Kopf. „Ich bin zu kribbelig, um mich jetzt auszuruhen oder was zu essen. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich mich gerne ein wenig allein umsehen, solange ihr hier rastet. Ich bin gleich wieder zurück.“

„Sicher, Liebes. Du hast schließlich jüngere Beine als wir. Aber sei vorsichtig.“

„Na klar. Bin gleich zurück.“

Dylan machte einen Bogen um die Stelle, an der das Bild der toten Frau flackerte. Sie verließ den Pfad und kletterte den dicht bewaldeten Abhang hinauf. Ein paar Minuten ging sie so und genoss die Stille. Die aufragenden Gipfel aus Sandstein und Basalt hatten etwas Uraltes, geradezu Mysteriöses. Dylan blieb stehen, um Fotos zu machen, und hoffte, etwas von dieser Schönheit für ihre Mutter einfangen zu können.

Höre mich.

Zuerst sah Dylan die Frau nicht, sondern hörte nur den verzerrten Tonfall ihrer geisterhaften Stimme. Aber dann bemerkte sie ein weißes Aufblitzen. Die Frau stand weiter oben am Abhang auf einem Felsgrat, auf halber Höhe einer der steilen Felsklippen.

Folge mir.

„Keine gute Idee“, murmelte Dylan und beäugte die schwierige Kletterstrecke. Sie war extrem steil, ein Durchkommen ungewiss. Und obwohl der Blick von da oben einfach atemberaubend sein musste, hatte sie nun wirklich nicht die Absicht, ihrer neuen Geisterfreundin auf die Andere Seite zu folgen.

Bitte … hilf ihm.

Ihm helfen?

„Wem helfen?“, fragte sie, obwohl sie wusste, dass der Geist sie nicht hören konnte.

Das konnten sie nie. Kommunikation mit ihrer Spezies war immer eine Einbahnstraße. Sie erschienen einem einfach, wenn sie Lust dazu hatten, und sagten, was sie sagen wollten – wenn sie denn überhaupt etwas sagten. Und dann, wenn es zu schwer für sie wurde, ihre sichtbare Form aufrechtzuerhalten, verblassten sie einfach und verschwanden.

Hilf ihm.

Die Frau in Weiß oben auf dem Berg begann, durchscheinend zu werden. Dylan schirmte ihre Augen von dem dunstigen Licht ab, das durch die Bäume fiel, und versuchte, sie im Blick zu behalten. Mit einer unguten Vorahnung begann sie, weiter aufwärtszustapfen, und hielt sich dabei an Fichtendickicht und Buchengestrüpp fest, um über die schwierigsten Stellen des Geländes zu kommen.

Als sie auf den Felsgrat hinaufkletterte, wo die Erscheinung gestanden hatte, war die Frau fort. Vorsichtig ging Dylan den Felsvorsprung entlang und bemerkte, dass er breiter war, als es von unten den Anschein hatte. Der Sandstein war dunkel und durch den ständigen Einfluss der Elemente verwittert, so dunkel, dass ein tiefer vertikaler Spalt ihr erst jetzt auffiel.

Und aus diesem schmalen, lichtlosen Spalt hörte Dylan nun wieder dieses körperlose, geisterhafte Geflüster.

Rette ihn.

Sie sah umher, und alles, was sie sah, war nur Wildnis und Felsen. Hier oben war niemand. Und keine Spur mehr von der ätherischen Gestalt, die sie so weit den Berg hinaufgelockt hatte, allein.

Dylan sah sich wieder um und warf einen Blick in die Düsternis der Felsspalte. Sie steckte die Hand hinein und spürte, wie kühle, feuchte Luft über ihre Haut strich.

In diesem tiefen schwarzen Spalt herrschte völlige Stille.

Grabesstille.

Wenn Dylan jemand gewesen wäre, der daran glaubte, dass an den alten Legenden von gruseligen Ungeheuern durchaus etwas dran sein konnte, hätte sie sich vielleicht vorstellen können, dass an einem so abgeschiedenen Ort welche hausten. Aber sie glaubte nicht an Ungeheuer und hatte es auch nie. Abgesehen davon, dass sie ab und zu Tote sehen konnte, die ihr nie etwas zuleide taten, war Dylan extrem pragmatisch veranlagt – man konnte sie manchmal sogar zynisch nennen. Die Reporterin in ihr war es, die jetzt neugierig wurde, was wohl in dieser Felsspalte zu finden war. Wenn man mal davon ausging, dass man dem Wort einer Toten glauben konnte – wer brauchte ihrer Meinung nach Hilfe? Lag dort drin etwa ein Verletzter? Konnte sich jemand verlaufen haben, als er diese steile Felsklippe hinaufgeklettert war?

Aus einer der Außentaschen ihres Rucksacks nahm Dylan eine kleine Taschenlampe. Sie hielt den Lichtstrahl in die Öffnung, und da bemerkte sie außen und innen am Rand der Spalte schwache Meißelspuren, als hätte jemand versucht, sie zu verbreitern. Aber so verwittert, wie ihre Kanten aussahen, musste es schon lange her sein.

„Hallo?“, rief sie in die Dunkelheit. „Ist da jemand?“

Nichts als Stille.

Dylan nahm ihren Rucksack ab und fasste ihn mit der einen Hand, die andere schloss sie fest um den schmalen Griff ihrer Taschenlampe. Sie passte gerade noch durch den Spalt, aber jemand, der größer war als sie, musste sich wohl seitlich hineinzwängen.

Das enge Stück dauerte nicht lange an, dann weitete sich der Raum. Plötzlich stand sie mitten im massiven Felsgestein des Berges, der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe tanzte auf glatten, gerundeten Wänden. Es war eine Höhle – und außer ein paar Fledermäusen, die über ihrem Kopf aus dem Schlaf aufgeschreckt das Weite suchten, war sie leer.

Aber so wie es aussah, war dieser Ort zum größten Teil von Menschenhand geschaffen. Die Decke hob sich mindestens sechs Meter über Dylans Kopf. An jeder Wand der kleinen Höhle waren eigenartige Wandgemälde, die wie seltsame Hieroglyphen wirkten, eine Mischung aus kruden Stammeszeichen und ineinandergreifenden, anmutig geschwungenen geometrischen Mustern.

Fasziniert von der Schönheit dieser seltsamen Kunstwerke trat Dylan näher an eine der Wände heran. Sie ließ den kleinen Lichtstrahl ihrer Taschenlampe nach rechts wandern und sah staunend, dass die kunstvolle Wandbemalung sich überall um sie herum fortsetzte. Sie ging einen Schritt weiter in die Mitte der Höhle. Mit der Spitze ihres Wanderstiefels trat sie gegen etwas, das auf dem Boden lag. Es klapperte hohl, als es zur Seite rollte. Dylan ließ den Lichtstrahl über den Boden gleiten und keuchte auf.

Ach du Scheiße.

Es war ein Schädel. Weißer Knochen schimmerte im Dunklen, der menschliche Schädel starrte mit leeren, blicklosen Augenhöhlen zu ihr auf.

Wenn die Tote ihn gemeint hatte, den Dylan retten sollte, war sie etwa ein Jahrhundert zu spät dran.

Dylan ließ den Lichtstrahl weiter in die Dunkelheit wandern, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte, aber zu fasziniert, um wieder zu gehen. Noch nicht. Der Lichtstrahl huschte über einen weiteren Knochenhaufen – Himmel, da waren ja noch mehr menschliche Überreste auf dem Höhlenboden verstreut.

Gänsehaut breitete sich auf Dylans Armen aus, ein Luftzug strich durch die Höhle, Gott weiß, woher der so plötzlich kam.

Und da sah sie es.

Am anderen Ende der Dunkelheit stand ein großer, rechteckiger Steinblock. Er war überzogen von eingemeißelten Ornamenten, genau den gleichen, mit denen die Wände bedeckt waren.

Dylan musste nicht näher herangehen, um zu erkennen, dass sie in einer Gruft stand. Über dem Sarkophag lag eine dicke Steinplatte. Sie lag leicht schräg, als hätten unglaublich starke Hände sie zur Seite geschoben.

War dort jemand – oder etwas – zur letzten Ruhe gebettet worden?

Dylan musste es wissen.

Vorsichtig schob sie sich vorwärts, ihre Finger, die ihre Taschenlampe fest umklammert hielten, plötzlich schweißnass. Nun war sie nur noch ein paar Schritte entfernt. Dylan richtete den Lichtstrahl in die Öffnung des Sarkophags.

Er war leer.

Und obwohl sie es sich nicht erklären konnte, entsetzte sie dies viel mehr, als wenn sie in dem Sarkophag ein abscheuliches, zu Staub zerfallendes Skelett gefunden hätte.

Über ihrem Kopf begannen sich die nachtaktiven Bewohner der Höhle zu rühren. Die Fledermäuse wurden immer unruhiger, und plötzlich schoss ein ganzer Schwarm in einem Wirbel wilder Bewegung an ihr vorbei. Dylan duckte sich, um sie vorbeizulassen, und dachte, dass auch sie gut daran täte, sich schleunigst davonzumachen.

Als sie sich umdrehte, um den Ausgang der Höhle zu finden, hörte sie ein anderes Geräusch. Noch etwas bewegte sich in der Höhle. Es klang, als wäre es größer als Fledermäuse. Ein tiefes Knurren ertönte, und dann hörte sie, wie irgendwo in der Höhle lose Gesteinsbrocken zu Boden fielen.

Oh Gott. Womöglich war sie doch nicht alleine hier.

Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und bevor sie sich daran erinnern konnte, dass sie nicht an Ungeheuer glaubte, begann ihr Herz wild zu hämmern.

Hektisch suchte sie nach dem Höhlenausgang, der Puls dröhnte ihr in den Ohren. Als sie endlich den Weg hinaus ans Tageslicht gefunden hatte, rang sie nach Luft. Ihre Beine fühlten sich wie Gummi an, als sie den Berggrat hinunterkletterte und dann losrannte, um sich in der Sicherheit der hellen Mittagssonne wieder zu ihren Freundinnen zu gesellen.

Er hatte wieder von Eva geträumt.

Es war nicht genug damit, dass die Frau ihn, als sie noch lebte, verraten hatte – nun, da sie tot war, kroch sie in seine Gedanken hinein, wenn er schlief. Immer noch wunderschön, immer noch trügerisch, sprach sie zu ihm von Reue und von ihrem Wunsch, alles wiedergutzumachen.

Nichts als Lügen.

Evas Geist, der ihn heimsuchte, war nur ein Teil von Rios schleichendem Abgleiten in den Wahnsinn.

Seine tote Gefährtin weinte, wenn er sie in seinen Träumen sah, flehte ihn an, ihr den Verrat zu vergeben, den sie vor einem Jahr begangen hatte. Es tat ihr leid. Sie liebte ihn immer noch und würde ihn immer lieben.

Sie war nicht real. Nur eine höhnische Erinnerung an eine Vergangenheit, die er nur allzu gern hinter sich lassen würde.

Es hatte ihn viel gekostet, dieser Frau zu vertrauen. Die Explosion in der Lagerhalle hatte sein Gesicht entstellt und seinen Körper zerschmettert, und immer noch erholte er sich von Verletzungen, die einen Normalsterblichen getötet hätten.

Und sein Verstand …?

Rios geistige Gesundheit war zerbrochen, Stück für Stück, und in der Zeit, die er nun schon hier war, sich allein in dieser böhmischen Berglandschaft verkrochen hatte, war es nur noch schlimmer mit ihm geworden.

Er konnte alldem ein Ende machen. Als Angehöriger des Stammes – einer hybriden Rasse von Menschen, die vampirische, außerirdische Gene in sich trugen – konnte er sich ins Sonnenlicht hinausschleppen und sich von den UV-Strahlen verzehren lassen. Genau das hätte er am liebsten getan, aber damit hätte er immer noch keine Lösung für das Problem gefunden, wie er die Höhle verschließen und ihren brisanten Inhalt vernichten sollte.

Er wusste nicht, wie lange er schon hier war. Die Tage und Nächte, Wochen und Monate hatten nach einer Weile begonnen ineinanderzufließen, bis die Zeit für ihn völlig zum Stillstand gekommen war; wie, das wusste er nicht. Er war zusammen mit seinen Ordensbrüdern hergekommen. Die Krieger waren auf einer Mission gewesen, um eine uralte, unsagbar böse Macht aufzuspüren und zu zerstören, die sich vor Jahrhunderten in diesem geheimen Versteck in den Felsen verborgen hatte.

Aber sie waren zu spät gekommen.

Die Gruft war leer, ihr gefährlicher Bewohner schon befreit worden.

Es war Rio gewesen, der sich freiwillig gemeldet hatte, allein zurückzubleiben und die Höhle zu versiegeln, während die anderen nach Boston zurückkehrten. Er konnte nicht mit ihnen zurückgehen. Er wusste einfach nicht mehr, wohin er gehörte. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich allein durchzuschlagen, vielleicht nach Spanien zurückzugehen, in sein Heimatland.

Das hatte er zumindest den Kriegern erzählt, die so lange seine Brüder gewesen waren. Aber er hatte keinen seiner Pläne verwirklicht. Er hatte es immer weiter hinausgezögert, erfüllt von einer quälenden Unentschlossenheit und niedergedrückt vom Gewicht seiner Entscheidung, allem ein Ende zu machen.

In seinem Herzen hatte er gewusst, dass er diese Gruft nicht lebend verlassen würde. Aber bisher hatte er immer Ausflüchte gefunden, um das Unausweichliche noch hinauszuzögern. Er wartete auf den richtigen Moment, die richtigen Umstände, um zu tun, was er tun musste. Aber das waren eben nur Ausflüchte und führten nur dazu, dass sich Stunden zu Tagen dehnten und Tage zu Wochen.

Nun musste es schon Monate her sein, und immer noch lag er verborgen in der Dunkelheit, wie die Fledermäuse, die den feuchten Höhlenraum mit ihm bewohnten. Er jagte nicht mehr, hatte nicht mehr das Bedürfnis, Nahrung zu sich zu nehmen. Er existierte einfach nur noch und beobachtete bewusst seinen eigenen stetigen Abstieg in eine Hölle, die er sich selbst geschaffen hatte.

Dann war schließlich der Augenblick gekommen, wo Rio diesen Abstieg nicht länger ertrug.

Neben ihm auf einem Felsvorsprung drei Meter über dem Höhlenboden lagen eine Zündkapsel und eine kleine Kiste C-4-Plastiksprengstoff mit genug Saft, um die verborgene Gruft für immer zu versiegeln. Rio hatte vor, sie diesen Abend zu sprengen … und zwar von innen.

Heute Abend würde er es tun.

Als seine lethargischen Sinne ihn aus tiefem Schlaf weckten und ihm meldeten, dass ein Eindringling in der Höhle war, war er zunächst wieder von einem der Phantome ausgegangen, die ihn ständig heimsuchten. Doch dann fing er den Duft eines Menschen auf. Einer jungen Frau, der moschusartigen Wärme nach zu urteilen, die ihre Haut ausstrahlte. Mühsam öffnete er in der Dunkelheit die Augen, und seine Nasenflügel bebten, um mehr von ihrem Duft einzufangen und in seine Lungen zu saugen.

Das war keine Wahnvorstellung.

Das war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Der erste, der auch nur in die Nähe des verborgenen Höhleneingangs kam, seit er dort war. Die Frau leuchtete mit einem hellen Licht in der Höhle umher, das ihn vorübergehend blendete, selbst in seinem versteckten Winkel über ihrem Kopf. Er hörte ihre Schritte auf dem Sandsteinboden der Höhle. Hörte ihr plötzliches Aufkeuchen, als sie über die Skelettreste stolperte, die der ursprüngliche Bewohner der Höhle hinterlassen hatte.

Rio auf seinem Felsvorsprung setzte sich auf. Er prüfte kurz seine Glieder, ob er auf den Boden springen konnte. Der Luftzug scheuchte die Fledermäuse an der Höhlendecke auf. Sie flogen hinaus, aber die Frau blieb. Ihr Lichtstrahl wanderte tiefer in die Höhle hinein und kam schließlich auf dem offenen Sarkophag zu ruhen.

Rio spürte, wie ihre Neugier einem kalten Angstgefühl wich, als sie sich der Grabstätte näherte. Selbst ihre menschlichen Instinkte konnten das unsagbar Böse spüren, das einst in diesem Steinblock geschlafen hatte.

Sie sollte nicht hier sein.

Rio konnte nicht erlauben, dass sie noch mehr sah. Er hörte sich selbst knurren, als er einen Satz auf den nächsthöheren Felsvorsprung machte. Die Frau hörte es auch. Sie erstarrte. Der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe fuhr hektisch über die Wände, als sie panisch nach dem Höhlenausgang suchte.

Bevor Rio seinen Gliedern befehlen konnte, sich zu bewegen, war sie schon davongeschlüpft.

Sie war fort.

Sie hatte zu viel gesehen, aber schon bald würde es keinen Unterschied mehr machen.

Mit Einbruch der Dunkelheit würde es keine Spur mehr von der Höhle und der Gruft oder von Rio selbst geben.

2

Verborgene Gruft enthüllt die Geheimnisse einer uralten Zivilisation!

Dylan runzelte die Stirn und drückte die Delete-Taste auf ihrem Laptop. Sie brauchte einen anderen Titel für den Artikel, an dem sie arbeitete – es müsste irgendwie reißerischer klingen und weniger nach dem National Geographic. Sie zermarterte sich das Hirn für eine Alternative. So reißerisch musste es klingen, dass es an den Zeitungsständen die allwöchentlichen Schlagzeilen über die neueste Entziehungskur diverser Hollywood-Sternchen übertönte.

Uraltes Menschenopfer in Draculas Hinterhof entdeckt!

Das war schon besser. Dracula war zwar etwas weit hergeholt, schließlich lag Tschechien Hunderte von Kilometern von der Burg des blutgierigen Vlad Tepes in Rumänien entfernt, aber es war immerhin ein Anfang. Dylan streckte die Beine auf ihrem Hotelbett aus, balancierte ihren Laptop aus und tippte den ersten Entwurf ihrer Story.

Als sie beim zweiten Absatz angekommen war, hielt sie inne. Drückte dann die Löschtaste, bis die Seite wieder leer war.

Die Worte wollten einfach nicht kommen. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Diese übersinnliche Erscheinung in den Bergen hatte sie schon nervös gemacht, aber es war das Telefongespräch mit ihrer Mutter gewesen, das Dylan wirklich von der Arbeit abgelenkt hatte. Sharon hatte sich bemüht, fröhlich und stark zu klingen. Sie hatte ihr alles über eine Benefizveranstaltung erzählt, die ihre Organisation in ein paar Tagen auf einem Flussdampfer abhalten würde, auf die sie sich schon sehr freute.

Nachdem sie erst neulich wieder ein junges Mädchen an das Leben auf der Straße verloren hatte – eine junge Ausreißerin namens Toni, von der Sharon wirklich gedacht hatte, dass sie es schaffen würde –, hatte sie Pläne für ein neues Programm ausgearbeitet, die sie Mr. Fasso, dem Gründer der Stiftung für jugendliche Ausreißer, unterbreiten wollte. Sharon hoffte auf eine persönliche Audienz bei ihm. Schon öfter hatte sie zugegeben, dass sie in diesen Herrn ein wenig verknallt war, was niemanden überraschte, ihre Tochter am wenigsten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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