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Wir alle wünschen uns Kinder, die dem Leben mit Mut begegnen. Die mit Misserfolgen, Schwierigkeiten und Rückschlägen umzugehen wissen – resilient sind. Kinder, die ihre Stärken kennen und nutzen und ihre Schwächen akzeptieren. Im Alltag bieten sich unzählige Möglichkeiten, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen von Kindern zu fördern. Dieses Buch gibt eine Vielzahl von Impulsen, die Kindern zu innerer Stärke und Widerstandsfähigkeit verhelfen. Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler sind Psychologen und schreiben regelmässig für das Schweizer Elternmagazin Fritz+Fränzi. Dieses Buch enthält ihre besten Artikel der letzten Jahre.
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Seitenzahl: 363
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Fabian Grolimund | Stefanie Rietzler
Geborgen, mutig, frei –
Wie Kinder zu innerer Stärke finden
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: © agentur IDee, Herzogenrath
Umschlagmotiv: © Alain Laboile
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-81689-5
ISBN (Buch) 978-3-451-60093-7
Inhalt
Vorwort von Nik Niethammer: Wie geht Erziehung?
Was Kinder stark macht
Genießen Sie Momente zu zweit
An Misserfolgen und Niederlagen wachsen
»Ich kann das nicht!« Wenn Kinder zu rasch aufgeben
Wie Kinder leichter Freunde finden
Streit im Freundeskreis: Manchmal brauchen Kinder ein wenig Hilfe, um sich zu versöhnen
Gruppendruck: Mein Kind kann nicht Nein sagen
Etwas mehr Optimismus, bitte!
Es braucht Mut, Kindern Freiräume zu schenken
Mein Kind trödelt
Mit Kindern über Ängste sprechen
Wie Eltern die Ängste ihrer Kinder unbewusst verstärken
Angst mit Mut begegnen
Kinder und Jugendliche wollen sich nützlich fühlen
Haben Sie etwas mehr Verständnis!
Mein Kind hört mir nicht zu
Mobbing: Und alle schauen weg
Wie Sie Ihrem Kind bei Mobbing zur Seite stehen können
Mobbing in der Schule beenden – mit dem No Blame Approach
Mobbing geht uns alle an
Mein Kind ist ein Minimalist
Mein Kind ist ein Perfektionist
Sich engagieren macht glücklich
Wie wird mein Kind selbständiger?
Staunen und genießen
Kinder unter Druck
Belohnungen – ein zweischneidiges Schwert
Hilfe, mein Kind vergleicht sich ständig mit anderen!
So stärken Sie das psychische Immunsystem Ihres Kindes
Mir wird alles zu viel
Kooperation statt Gehorsam
So unterstützen Sie verträumte Kinder
Wer sind eigentlich diese Leute in meinem Haus?
»Bei Papa dürfen wir das aber!«
Hilfe, mein Kind lügt!
Was ist ein Erziehungsfehler?
»Darf ich bei euch schlafen?«
Modelllernen: Mit gutem Beispiel vorangehen
Warum Kinder Freunde brauchen
Was tun, wenn Kinder sich schnell zurückgewiesen fühlen?
Mein Kind hat Angst vor Neuem
Kinder möchten mitbestimmen
»Du würdest noch deinen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre!«
Was ist los mit der Jugend von heute?
Eine liebevolle innere Stimme kultivieren
»Papa, Mama, erzählt doch mal!«
Eltern sind heute verunsichert – und das darf so sein
Dank
Über die Autoren
Literatur
Über Erziehung schreiben, heißt,beinahe über alles auf einmal schreiben.
Jean Paul Friedrich Richter (1763–1825),deutscher Dichter, Publizist und Pädagoge
Elternsein ist anstrengend, keine Frage. Aber welcher Vater gibt schon offen zu, dass ihn die Kinder manchmal überfordern? Wer redet darüber, dass ihn öfter das Gefühl beschleicht, als Mutter oder Vater nicht zu genügen? Und wer traut sich in einer netten Runde mit Freunden den Satz auszusprechen: »So habe ich mir das mit den Kindern nicht vorgestellt.«?
Dabei wäre genau das wichtig. Ich habe kürzlich bei einer Veranstaltung davon erzählt, wie sehr mich das ständige Gezanke und Gezerre unserer Kinder nerve. Und wie sehr mich die Situation fordere, nicht zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt ist, dazwischenzugehen. »Erst, wenn Blut fließt«, riet mir ein Vater. »Geschwisterstreit ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung«, gab ein Kursteilnehmer zu bedenken. »Wenn es dich stresst, unternimm was«, sagte ein Dritter. »Manchmal braucht es in der Erziehung harte Sanktionen.«
Wie geht Erziehung? Wie halte ich den Druck aus, etwas falsch zu machen? Wie schaffe ich den Spagat zwischen Beruf und Familie? Wie halte ich alle Bälle in der Luft: Schule, Elternabende, Fahrdienste, Kindergeburtstage, Musikunterricht, Fußballtraining?
Das sind Fragen, mit denen ich mich beruflich und privat beschäftige. Ich glaube: Elternsein erfordert heute vor allem Managerqualitäten. Humor. Und gesunden Menschenverstand. Für besonders anstrengende Zeiten ist mir dieser »Notfallzettel« ein verlässlicher Begleiter:
Ich bin nicht allein mit dem Gefühl, dass das Leben mit Kindern oftmals anstrengend, fordernd und frustrierend ist. Es ist sehr tröstlich zu wissen, dass es anderen Eltern genauso geht.
Ich muss nicht perfekt sein. Das Glück unserer Kinder hängt nicht allein von mir ab.
Ich halte mir vor Augen, dass die Liebe zum Partner mindestens so wichtig ist wie die Liebe zu unseren Kindern. Die Liebe zu einem Kind ist instinktiv und immer da, die Liebe zum Partner muss stets von neuem erarbeitet werden.
Ich versuche, unsere Kinder nicht anzubrüllen. Also nicht zu oft. Höchstens dreimal im Monat. Sonst verpufft die Wirkung.
Ich denke an den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, der einmal gesagt hat: »Auch gute Eltern machen 20 Fehler am Tag.«
Ich erinnere mich an unseren Kinderarzt, der auf die meisten unserer besorgten Fragen antwortete: »Das ist völlig normal.«
Ich wiederhole, wenn es besonders mühsam ist, mantramäßig: »Es ist nur eine Phase. Es geht vorbei.«
Ich halte mich an das Lieblingsmotto meiner Frau: »Loslassen. Entspannen. Einverstanden sein.«
Ich versuche unseren Kindern ein guter Vater zu sein. Ein großes Wort, ich weiß. Ein guter Vater sein heißt für mich, seine Kinder bedingungslos zu lieben. Ohne Kompromisse. Ohne Grenzen. Egal, wie sehr sie gerade nerven. Egal, ob sie einem den Schlaf rauben oder einen vorpubertären Schub durchleben. Bedingungslose Liebe der Eltern stärkt die Selbstliebe des Kindes. Sie ist der wichtigste Schlüssel für eine glückliche Kindheit.
Ich bin kein Anhänger einer bestimmten Erziehungsideologie. Genau deshalb sprechen mich die Texte in diesem Buch an. Sie ordnen ein, geben Orientierung, schaffen Klarheit, kommen verständlich und unaufgeregt daher, ohne erhobenen Zeigefinger.
Gemeinsam mit den Lesern machen sich die Autoren auf die Suche nach Antworten auf die Frage, wie Eltern dazu beitragen können, dass Kinder als Erwachsene sagen können: »Ich kenne mich, ich kann mich selbst annehmen, ich weiß, was ich möchte, ich bin in der Lage, mit anderen Menschen gute Beziehungen aufzubauen und die Welt um mich herum in positiver Weise mitzugestalten.«
Oft haben Eltern nach der Lektüre von Erziehungsinterviews oder Elternratgebern im besten Fall ein schlechtes Gewissen. Oder schlechte Laune. Oder beides. Tatsache ist: Die meisten Rezepte der Experten nerven und verunsichern Eltern eher, als dass sie für Klarheit sorgen. Anders bei den Texten von Fabian und Stefanie. Diese machen Eltern Mut, wenn die Autoren zum Beispiel schreiben: »Es ist normal, wenn sich Eltern oft unsicher fühlen. Eltern müssen nicht perfekt sein. Das Glück der Kinder hängt nicht allein von ihnen ab.«
»Geborgen, mutig, frei – Wie Kinder zu innerer Stärke finden«. Dieses Buch möchte Eltern, Pädagogen und Lehrkräfte begleiten, unterstützen und inspirieren. In guten wie in schwierigen Zeiten. Ich wünsche Ihnen viele gute Einsichten und eine spannende Lektüre.
Nik Niethammer, Chefredakteur des Schweizer Elternmagazins Fritz+Fränzi
Wir wünschen uns Kinder, die dem Leben mit Mut begegnen; die mit Misserfolgen, Schwierigkeiten und Rückschlägen umzugehen wissen. Kinder, die ihre Stärken kennen und nutzen und ihre Schwächen akzeptieren können. Wir möchten, dass sich unsere Kinder in der Familie aufgehoben und geborgen fühlen, Beziehungen zu anderen als etwas Schönes und Stärkendes begreifen und in der Lage sind, Freunde zu finden und mit Konflikten umzugehen.
Die Texte in diesem Buch sind über einen Zeitraum von sechs Jahren entstanden und decken ein breites Themenspektrum ab. Viele Kapitel sind aufgrund von Fragen entstanden, die von Eltern an uns herangetragen wurden. So verschieden die Anliegen sind: Allen liegt der Wunsch zugrunde, Kindern eine glückliche Kindheit zu schenken und sie in ein erfülltes Erwachsenenleben zu begleiten.
Wir hoffen, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Buch einige Antworten auf Ihre Fragen finden, sei es, weil Sie wissenschaftliche Hintergründe zu einem tieferen Verständnis führen, Beispiele von anderen Familien Sie inspirieren oder unsere Ansichten Sie zum Nachdenken anregen.
Bitte betrachten Sie dieses Buch nicht als Programm, das Sie mit Ihrem Kind durcharbeiten müssen, oder als Schlüssel zur »richtigen Erziehung«. Unser Wunsch wäre, dass Sie sich in vielem bestärkt fühlen, was Sie ohnehin bereits tun, und da und dort neue Anregungen finden.
Wenn wir darüber sprechen, wie wir Kinder stärken können, tauchen immer wieder ähnliche Begriffe auf. Eltern erzählen, dass sie ihrem Kind gerne zu mehr Selbstvertrauen verhelfen oder seinen Selbstwert stärken möchten. Da wir diese Begriffe im Laufe des Buches immer wieder aufgreifen werden, möchten wir zu Beginn kurz darauf eingehen, inwiefern sich diese unterscheiden.
Unter Selbstvertrauen verstehen wir eine Einschätzung der eigenen Kompetenz. Der Begriff geht auf den Psychologen William James zurück, der bereits 1890 die folgende Formel aufstellte:
Gemäß dieser Formel wächst unser Selbstvertrauen, wenn wir Erfolge erzielen. Das gilt allerdings nur, wenn wir die Erfolge auch als solche werten. Sind unsere Ansprüche zu hoch, laufen wir Gefahr, dass nur noch hervorragende Leistungen gut genug sind. Perfektionisten leiden daher oft darunter, dass sie trotz vieler positiver Rückmeldungen, guter Noten und Ergebnisse nicht das Gefühl entwickeln, sich auf ihre Fähigkeiten verlassen zu können. Ständig beschleicht sie von neuem die Angst, nicht zu genügen.
Einen Menschen mit hohem Selbstvertrauen – Psychologen sprechen von Selbstwirksamkeit – erkennt man an der Einstellung: »Wenn ich mir etwas vornehme, werde ich es erreichen. Auf dem Weg dorthin mag es Hindernisse, Rückschläge und Misserfolge geben, aber damit komme ich klar!«
Selbstvertrauen ist wertvoll, weil es uns hilft, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Einige Kapitel in diesem Buch befassen sich daher mit der Frage, wie Kinder an Selbstvertrauen gewinnen können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Selbstvertrauen Ihres Kindes wächst, wenn es im Alltag immer wieder erleben darf:
Ich kann etwas! Ich habe Stärken und Talente.
Ich mache Fortschritte, wenn ich mich anstrenge und übe.
Ich kann mit Misserfolgen und Rückschlägen umgehen.
Ich kann mich meinen Ängsten stellen und sie überwinden.
Ich habe Einfluss: Andere greifen meine Ideen auf und lassen sich von mir begeistern.
Starke Kinder verfügen aber nicht nur über ein gesundes Ausmaß an Selbstvertrauen, sie haben auch ein intaktes Selbstwertgefühl.
Der Soziologieprofessor Morris Rosenberg definierte 1965 Selbstwertgefühl als eine Haltung oder Einstellung, die wir uns selbst gegenüber einnehmen. Nach seiner Definition empfindet sich ein Mensch mit hohem Selbstwertgefühl als »gut genug«; er glaubt, dass er als Mensch wertvoll ist, und kann sich mit seinen positiven und negativen Facetten annehmen – ohne sich deswegen selbst zu bewundern oder dies von anderen zu erwarten. Beim Selbstwertgefühl steht somit nicht die Kompetenz im Vordergrund, sondern die Akzeptanz der eigenen Persönlichkeit. Kinder mit einem hohen Selbstwertgefühl mögen sich selbst und gehen liebevoll mit sich um.
Um diese Haltung zu entwickeln, sind wir auf Erfahrungen mit anderen Menschen angewiesen, die uns das Gefühl geben, liebenswert zu sein. Das Selbstwertgefühl Ihres Kindes wird gestärkt, wenn es beispielsweise erleben darf:
Ich habe Eltern, die mir zuhören, sich Zeit für mich nehmen und mich verstehen.
Ich habe Freunde, die mich gernhaben und mich so akzeptieren, wie ich bin.
Wir haben eine Lehrerin, die sich für uns interessiert und uns ernst nimmt.
Ich fühle mich in meiner Familie eingebunden und willkommen.
Meine Eltern fangen mich auf, wenn ich strauchle. Sie mögen mich auch, wenn ich etwas nicht kann oder ihre Erwartungen nicht erfülle.
Mein Umfeld nimmt meine Stärken, positiven Eigenschaften und liebenswerten Seiten wahr und gesteht mir meine Schwächen zu.
Das Selbstwertgefühl wird von anderen Quellen gespeist als das Selbstvertrauen. Ein hohes Selbstwertgefühl entwickeln wir dann, wenn wir erfahren dürfen, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind, die uns annimmt, versteht, respektiert und in der wir uns geborgen fühlen.
Über das Selbstwertgefühl lassen sich oft auch Kinder stärken, die im Leistungsbereich eher schwierige Erfahrungen machen müssen.
Ich (Fabian) war ein Spätzünder, lernte spät sprechen, besuchte ein zusätzliches Jahr den Kindergarten, weil ich nicht schulreif war, und benötigte Logo- und Ergotherapie, um meinen Sprachfehler und den steifen Gang zu überwinden. Mein Bruder hingegen lernte schnell und holte mich bald ein – trotz der zweieinhalb Jahre Altersunterschied.
Viele Eltern kennen diese Situation, die oft zu Eifersucht und Geschwisterrivalitäten führt. Manche Eltern reagieren darauf, indem sie versuchen, das Selbstvertrauen des »schwächeren« Kindes zu stärken. Sie nehmen es in den Arm, wenn es sich selbst abwertet, und sagen ihm: »Aber du kannst dafür besser …« Verzweifelt zählen sie ihm seine Stärken auf in der Hoffnung, dass es sich dadurch besser fühlt. Unserer Erfahrung nach funktioniert das selten. Und zwar deshalb, weil es den Konkurrenzgedanken verschärft. Die Kinder erhalten das Gefühl, es gehe darum, besser und talentierter zu sein als andere.
Das »weniger talentierte« Kind beginnt nun zu kalkulieren und bemerkt bald: Ich mag zwar in ein, zwei Bereichen stärker sein – aber mein Geschwister schlägt mich in fast allem.
Bald flammt jedes Mal Eifersucht auf, wenn der Bruder oder die Schwester einen Erfolg erlebt oder von den Eltern gelobt wird. Nicht selten greift ein Kind in dieser Situation zum letzten Mittel, um sich zu schützen: Es beginnt sein Geschwister abzuwerten, um sich selbst aufzuwerten. Das wiederum wird von den Eltern nicht gerne gesehen und führt zu heftiger Kritik und noch größeren Selbstzweifeln auf Seiten des Kindes.
Meine (Fabians) Eltern konzentrierten sich damals nicht auf mein Selbstvertrauen, sondern auf mein Selbstwertgefühl. Sie wiesen mich darauf hin, wie sehr sich mein kleiner Bruder freut, wenn er mich sieht, wie viel er von mir lernt, wie gern er mich hat, dass er mich braucht und wie wichtig es für ihn ist, einen großen Bruder zu haben.
Im Vordergrund standen nicht wir als Personen, sondern unsere Beziehung zueinander und unser Beitrag für ein schönes Miteinander. Wenn meinem Bruder wieder etwas Erstaunliches gelungen war, rannte ich zu meinen Eltern und rief voller Stolz: »Kommt schnell, schaut, was unser kleiner Johannes kann!«
Wenn wir uns selbst annehmen können, uns auch mit unseren Schwächen wohlfühlen und die Erfahrung machen, dass wir uns unseren Platz in einer Gemeinschaft nicht durch Leistung verdienen müssen, passiert etwas Wunderbares: Wir müssen nicht mehr ständig darüber nachdenken, wie wir abschneiden und wo wir stehen. Wir können uns auf andere einlassen, mit ihnen zusammenarbeiten und uns mit ihnen über ihre Erfolge freuen.
Innere Stärke zu entwickeln bedeutet nicht nur, sich etwas zuzutrauen und sich selbst als wertvoll anzunehmen, sondern auch sich selbst und seine Bedürfnisse kennenzulernen und einen konstruktiven Umgang mit unangenehmen Gefühlen zu finden.
Bin ich mir meiner Gedanken und Gefühle bewusst? Kann ich diese ausdrücken und reflektieren? Widerstandsfähige Kinder und Jugendliche besitzen eine gut ausgeprägte Selbstwahrnehmung. Es geht ihnen nicht einfach schlecht: Sie wissen, ob sie traurig, wütend, enttäuscht oder nur mies gelaunt sind. Dadurch kennen sie nicht nur sich selbst besser, sondern können auch die Gefühle und Stimmungen anderer besser »lesen« und adäquat darauf reagieren. Gleichzeitig sind sie dazu in der Lage, ihre Emotionen zu regulieren.
Dies bedeutet, dass sie diesen nicht ausgeliefert sind, sondern Möglichkeiten kennen, um ihre Gefühle zu beeinflussen. Dadurch können sie beispielsweise trotz Wut im Bauch darauf verzichten, ein anderes Kind zu schlagen. Sie können ihre Ängste überwinden, an einer Aufgabe bleiben, obwohl sie keine Lust darauf haben, oder sich selbst beruhigen. Ein Kind kann diese Kompetenzen eher erwerben, wenn es Erwachsene um sich hat, die:
über ihr eigenes Befinden sprechen.
ihm dabei helfen, seine Gefühle auszudrücken.
in der Lage sind, unangenehme Gefühle beim Kind und sich selbst auszuhalten und ihm einen kompetenten Umgang mit Emotionen vorzuleben.
»Wie kann ich meinem Kind mehr Selbstvertrauen einimpfen?« Diese Frage wird uns immer wieder gestellt. Die Idee, dass man einem Kind innere Stärke quasi mit dem Löffel verabreichen kann, wird auch befeuert durch entsprechende Angebote.
Bei einer Suche im Internet oder in der Buchhandlung stößt man bald auf Bücher und CDs, die mit positiven Suggestionen arbeiten wie: »Ich bin beliebt … Ich bin stark … Ich bin voller Selbstvertrauen.« Gerade Erziehungsratgeber aus den USA empfehlen, dem Kind die Haltung zu vermitteln, dass es alles schaffen kann, wenn es nur genügend an sich glaubt. Entsprechend wird den Eltern geraten, das Kind mit Lob zu überschütten, um dadurch Selbstzweifel aus dem Weg zu räumen.
Inzwischen konnten mehrere Forscher/innen (vgl. Oettingen, 2017; Brummelman et al., 2014, 2016, 2017) nachweisen, dass diese Strategie nicht aufgeht: Kinder werden durch solche Methoden zusätzlich verunsichert und wollen sich nicht mehr auf schwierige Aufgaben einlassen. Manche Kinder entwickeln narzisstische Züge: Sie plustern sich auf, wollen ständig im Mittelpunkt stehen, erwarten von anderen bewundert zu werden und reagieren höchst gekränkt oder aggressiv auf Kritik oder mangelnde Beachtung. Die gute Absicht der Eltern, ihr Kind durch übertrieben positive Botschaften zu stärken, führt beim Kind zur falschen Annahme, dass es nur dann liebenswert ist, wenn es etwas Besonderes ist. Diese Besonderheit muss es sich und anderen in der Folge immer wieder unter Beweis stellen.
Als Eltern können wir darauf achten, dass unsere Kinder ein gesundes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl entwickeln. Dabei gilt nicht: Je selbstsicherer, desto besser. Hilfreich ist ein positives, aber realistisches Bild von sich selbst. Unser Ziel sollte darin bestehen, dass sich Kinder selbst mögen, sich etwas zutrauen, aber auch ihre Schwächen sehen und akzeptieren können. Dazu benötigen sie keine Lobeshymnen, sondern wohlwollende, aber akkurate Rückmeldungen und echte Erfahrungen mit Menschen, die sie so annehmen, wie sie sind.
Corina Wustmann bringt diese Aspekte in ihrem Buch »Resilienz« (2004) auf den Punkt. Wir geben sie hier ein wenig verändert wieder:
Ein starkes Kind kann von sich sagen:
Ich kann:
mich über Erfolge freuen
aus Misserfolgen und Fehlern lernen
mich durch Anstrengung und Übung verbessern
Probleme lösen und Schwierigkeiten überwinden
mit anderen sprechen, wenn mich Sorgen quälen
mir Hilfe und Unterstützung holen, wenn ich sie benötige
Ich bin:
als Mensch liebenswert
verantwortlich für das, was ich tue
zuversichtlich, dass ich mit Herausforderungen und schwierigen Gefühlen umgehen kann
mir bewusst, dass mein Wert als Mensch nicht von meinen Leistungen abhängt
Ich habe:
Eltern, die mir zuhören, sich Zeit für mich nehmen, aber auch eigene Standpunkte vertreten
Menschen in meinem Leben, die mich so annehmen und lieben, wie ich bin
Menschen, die mir helfen, wenn ich Hilfe brauche, und mich gleichzeitig darin bestärken, selbstbestimmt zu handeln
Werte, die mir wichtig sind und für die ich mich einsetzen kann und will
Wie wir in der Einleitung beschrieben haben, hängt unser Selbstwertgefühl davon ab, ob wir uns in eine Gemeinschaft eingebunden fühlen. Die vielleicht grundlegendste stärkende Erfahrung in diesem Zusammenhang machen wir, wenn jemand Zeit mit uns verbringt, sich auf uns einlässt und uns zeigt, dass er oder sie gerne mit uns zusammen ist. Wenn wir erleben dürfen: Du bist eine Bereicherung für mein Leben.
Manchmal begegnen uns Eltern, die sich über die vermeintliche Undankbarkeit der Kinder ärgern. Sie zählen ihren Kindern auf, was sie alles für sie tun, was sie geopfert haben, und erhalten im Gegenzug ein: »Ich habe nicht darum gebeten, dass ihr mich in die Welt setzt. Hättet ihr euch halt vorher überlegen müssen!«
Wir können diese Reaktion der Kinder bzw. Jugendlichen gut verstehen. Niemand möchte hören, dass er eine Belastung ist und dass er Menschen, die ihm wichtig sind, um Träume und Ziele gebracht hat.
Im Umkehrschluss gilt: Wann immer wir mit Kindern Zeit verbringen und ihnen dabei das Gefühl schenken, dass wir das Zusammensein mit ihnen genießen, gemeinsam lachen, etwas erleben, toben und rangeln, schöne Momente teilen und uns gegenseitig zuhören können, stärken wir nicht nur die Beziehung zum Kind, sondern auch sein Selbstwertgefühl.
Ein Kind entwickelt durch solche Erfahrungen das Grundvertrauen, dass es ein Mensch ist, dessen Anwesenheit andere schätzen, was ihm alle weiteren sozialen Beziehungen erleichtert.
Brooks und Goldstein (2011) schreiben dazu: »Es ist ein verbreiteter Mythos, dass sich Nähe und Vertrautheit unter den Familienmitgliedern schon einstellen werden, wenn sie einander räumlich nahe sind. Zeit, die für das einzelne Kind allein reserviert wird, dürfte allerdings die eindrucksvollste Form sein, dem Kind mitzuteilen, dass es uns lieb und wert ist« (S. 136).
Ich (Fabian) kann mich gut daran erinnern, wie besonders es für mich war, wenn sich mein Vater Zeit nur für mich nahm und ich beispielsweise mit ihm alleine und dem Hund spazieren gehen durfte.
Bereits kleine Kinder genießen exklusive Momente. Als mein Sohn 2,5 Jahre alt war, wollte er bei jedem Wetter mit mir auf den Spielplatz. Auf dem Weg legten wir jeweils einen Zwischenhalt im Café ein: Ich trank einen Kaffee, er ein Glas Wasser – und dabei erzählte er mir alles, was ihm gerade einfiel und was sein Wortschatz hergab. Ein schöner Nebeneffekt: Nach dieser Zeit war ich deutlich weniger interessant und er spielte auf dem Spielplatz mit den anderen Kindern im Sandkasten und ließ mich auf der Bank mein Buch lesen.
In vielen Erziehungs- und Elternratgebern findet man die Empfehlung, sich als Paar immer mal wieder einen Babysitter zu leisten, um gemeinsam essen oder ins Kino zu gehen. Ein guter Tipp! Es wäre doch schön, das gleiche Prinzip zu verwenden, um mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Wie wäre es mit einem Essen ganz alleine mit einem Kind oder Jugendlichen? Vielleicht geht der Vater mit der Tochter essen, die Mutter mit dem Sohn – und beim nächsten Mal werden die Rollen getauscht? Wahrscheinlich stellen Sie fest, dass sich dabei ganz andere Gespräche entwickeln als am Familientisch.
Das gilt nicht nur für die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen. Ich (Stefanie) genoss es sehr, dass ich als Jugendliche einmal pro Woche bei meiner Tante Gerti zu Mittag essen durfte. Sie wohnte direkt neben meinem Gymnasium und winkte mir bereits durch das offene Küchenfenster zu, wenn sie mich unten auf der Straße erspähte. Noch heute verbinde ich viele liebgewonnene Erinnerungen mit unserem Ritual: Tante Gerti kochte nicht nur Woche für Woche meine Lieblingsspeisen, vor allem hatte sie die Angewohnheit, Fragen zu stellen, die Erwachsene Jugendlichen viel zu selten stellen. Über Kaffee und Florentinerkeksen entführte sie mich immer wieder in die Vergangenheit, erzählte mir Episoden aus unserer Familiengeschichte und teilte Erfahrungen aus ihrem Leben mit mir. In einigem wurde sie mir zum Vorbild. Gerade auch während der Pubertät fühlte ich mich von ihr ernst genommen und schätzte es, dass wir uns »von Frau zu Frau« begegnen konnten.
In den meisten Familien ist es gang und gäbe, jedes Wochenende mit der ganzen Familie zu verbringen. Ein Vater von vier Kindern erzählte uns, dass er und seine Frau sich ein wenig anders organisieren, sodass sie viermal pro Jahr mit jedem Kind einen Tag alleine etwas unternehmen können.
Manchmal begibt sich der Vater mit einem Kind auf eine Wanderung, während die drei Geschwister mit der Mutter zu Hause bleiben. Manchmal trifft sich die eine Hälfte am Wochenende mit Freunden und die Eltern machen mit jeweils einem Kind einen Ausflug. Der Vater erzählte, dass gerade diese Zeit zu zweit sie als Familie zusammenschweißt und für viele schöne, intensive Momente mit den Kindern sorgt.
Ein anderer Vater aus unserem Bekanntenkreis verreist einmal pro Jahr für drei Tage mit seiner mittlerweile fünfzehnjährigen Tochter in den Urlaub. Wir können uns vorstellen, dass er in diesen drei Tagen mehr aus ihrem Leben erfährt als viele andere Väter in einem ganzen Jahr.
Wie machtvoll Zeit zu zweit ist, wird auch in Familientherapien sichtbar. In angespannten Situationen, aber auch bei Verhaltensauffälligkeiten, wird den Familien eine Eltern-Kind-Zeit verordnet. Dabei fixieren die Eltern und das Kind einen festen Termin pro Woche, an dem sie sich bewusst Zeit füreinander nehmen. Es gilt: Das Kind darf auswählen, was es in dieser Zeit machen möchte, zum Beispiel:
ein Spiel spielen
gemeinsam Pizza backen
etwas basteln
einen Film ansehen und anschließend darüber sprechen
sich eine Geschichte vorlesen lassen
spazieren gehen
gemeinsam eine Runde gamen.
Wichtig ist für die Kinder, dass:
der Termin eingehalten wird
sie den Elternteil ganz für sich allein haben (und sich dieser nicht durch Anrufe etc. ablenken lässt)
sie darüber bestimmen dürfen, wie sie diese Zeit nutzen möchten
sich der Elternteil in dieser Zeit mit Kritik und Ermahnungen zurückhält.
Erstaunlicherweise lassen sich oft bereits bei einer einzigen Spielzeit pro Woche nach einer kurzen Phase Veränderungen bei Kind und Eltern beobachten. Viele Familien erzählen, dass verschiedene Symptome des Kindes abnehmen, seine positiven Seiten stärker ins Bewusstsein rücken und sie sich als Familie wieder näherkommen.
Gerade Eltern, die alleinerziehend sind, viele Kinder haben oder einer hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt sind, stehen immer wieder vor der Aufgabe, ganz bewusst für solche Momente zu sorgen – im Wissen darum, wie viel sie den Kindern bedeuten.
Wenn wir eine Fähigkeit benennen müssten, die Kindern im späteren Leben mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit weiterhelfen wird, ist es die Kunst, mit Misserfolgen umzugehen. Wer scheitern und sich wieder aufraffen kann, wer aus Fehlern lernen und einen neuen Anlauf nehmen kann, kommt weiter, empfindet bei der Arbeit und beim Lernen mehr Freude und ist seltener gestresst.
Wer hingegen ständig darüber nachdenkt, was alles passieren könnte, wie sich Fehler oder ein Scheitern verhindern ließen, und stets versucht, alle Erwartungen zu erfüllen und nichts falsch zu machen, engt sich selbst ein.
Eltern sind sich dessen meist bewusst. Doch wie können wir Kinder begleiten, wenn diese mit hängendem Kopf nach Hause kommen, von einer Niederlage erzählen oder die Prüfung mit einer ungenügenden Note hervorkramen?
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Das spüren auch unsere Kinder. Anerkennung, manchmal auch Zuneigung, bekommt, wer gewinnt und Leistung erbringt.
Genau das steht auf dem Spiel, wenn wir »versagen«. So drehen sich die Gedanken von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bei Misserfolgen meist nicht um reale Konsequenzen, sondern darum, was andere von ihnen denken könnten und ob ihr Status oder eine Beziehung auf dem Spiel steht. Wir fürchten uns davor, dass die Chefin unzufrieden mit uns sein wird, der Lehrer oder die Eltern enttäuscht, der Trainer und die Teamkameraden wütend.
Tritt das befürchtete Ereignis ein und das Prüfungsresultat ist beispielsweise ungenügend, fühlen sich viele von uns auch als Mensch infrage gestellt – sie schämen sich und kommen sich schwach und inkompetent vor.
Wie ein Forscherteam aus den Niederlanden (Brummelman et al., 2014) zeigen konnte, lässt sich dieses Muster durchbrechen. In einer Studie mit Schüler/innen zwischen 11 und 15 Jahren fanden die Psychologen einen einfachen Weg, der diese im Umgang mit Niederlagen stärkte und die damit einhergehenden negativen Gefühle gegenüber der eigenen Person massiv abschwächte.
Drei Wochen vor dem Zwischenzeugnis besuchten die Forscher/innen die Jugendlichen in der Schule und teilten diese nach dem Zufallsprinzip einer von drei Gruppen zu.
Ein Teil der Jugendlichen erhielt die Aufgabe, an Menschen zu denken, »die sie immer akzeptieren und wertschätzen – unabhängig davon, wie man sich verhält oder wie gut man in etwas ist«. Anschließend sollten sie sich eine konkrete Situation vor Augen führen, in der sie von anderen akzeptiert und wertgeschätzt wurden, obwohl sie selbst einen Fehler gemacht oder etwas Dummes getan hatten. Die Jugendlichen setzten sich also mit Erlebnissen von bedingungsloser Wertschätzung auseinander.
Die Schüler/innen der zweiten Gruppe wurden dazu angehalten, sich Personen in Erinnerung zu rufen, die sie nur dann annehmen und mögen, wenn sie sich nach deren Maßstäben verhalten oder etwas tun, das diese gutheißen. Sie sollten sich ein Erlebnis bewusst machen, in dem sie an Akzeptanz und Wertschätzung eingebüßt hatten, nachdem sie etwas falsch gemacht oder sich ungünstig verhalten hatten. Die Jugendlichen beschäftigten sich also mit Erlebnissen, in denen der ihnen beigemessene »Wert« als Person an Bedingungen geknüpft war.
Die dritte Gruppe sollte über Menschen nachdenken, die sie nicht näher kannten, und eine Situation beschreiben, in der ihnen im Beisein einer unbekannten Person ein Fehler unterlaufen war oder sie sich unangemessen benommen hatten. Die Übung dieser Gruppe hatte keinen tieferen Sinn, sondern sollte später als Ausgangspunkt für Vergleiche dienen.
Insgesamt dauerte diese kurze Intervention rund 15 Minuten. Drei Wochen später erhielten die Jugendlichen ihre Zwischenzeugnisse und schätzten noch am selben Tag ein, welche Gefühle die Noten in ihnen ausgelöst hatten. Die Forscher/innen entdeckten wie vermutet, dass Schüler/innen mit schlechteren Noten auch mit stärkeren negativen Gefühlen wie Scham, Hilflosigkeit, Unsicherheit oder Schwäche kämpften. Nicht aber in der Gruppe der Jugendlichen, die sich drei Wochen zuvor über Erlebnisse von bedingungsloser Wertschätzung Gedanken gemacht hatte! Das Bewusstsein darüber, dass es Menschen gibt, die sie auch bei Fehlern und Unzulänglichkeiten annehmen und schätzen, vertrieb die unangenehmen Emotionen der eigenen Person gegenüber. Diese Erfahrung schien die Jugendlichen davor zu schützen, sich im Falle einer Niederlage selbst abzuwerten oder schuldig zu fühlen.
Wenn wir mit Eltern oder Fachpersonen über bedingungslose Akzeptanz sprechen, kommen rasch Widerstände auf: »Das ist doch Kuschelpädagogik! Schließlich wird man im Berufsleben auch streng bewertet. Die Kinder müssen sich daran gewöhnen, dass der Wert eines Mitarbeiters an seiner Leistung gemessen wird.«
Interessanterweise zeigt sich jedoch auch bei Erwachsenen, dass ein Klima, in dem man immer wieder um seinen Platz kämpfen muss, abträglich ist.
Daniel Coyle, Autor des Buchs »The Culture Code« (2018) untersuchte vier Jahre lang, was besonders erfolgreiche Gruppen ausmacht. Er interviewte Forscher, fasste Studien zusammen und beobachtete Teams aus den Bereichen Wirtschaft, Sport und Schule. Er kommt zum Schluss, dass die Mitglieder solcher herausragender Gruppen sich zwar sehr offen, direkt und ungeschönt Feedback geben, es gleichzeitig aber schaffen, ein Klima der Sicherheit und Zugehörigkeit aufzubauen.
Die Teammitglieder senden einander immer wieder Zeichen, mit Hilfe derer sie sich gegenseitig signalisieren:
wir sind sicher
wir sind verbunden
wir teilen eine gemeinsame Zukunft
keiner von uns weiß alles – wir sind hier, um uns gegenseitig zu unterstützen
Weil die Mitglieder solcher Teams ein tief empfundenes Gefühl der Sicherheit und gegenseitigen Akzeptanz aufbauen, können sie sich besser als andere auf die vorliegende Aufgabe konzentrieren und werden dadurch deutlich effektiver.
Oft merken wir im Alltag nicht, wie selten solch ein Klima ist, wie sehr wir auf der Hut und um unseren Status besorgt sind. Es wird jedoch offensichtlich, wenn wir im Alltag genauer hinsehen und uns Fragen der folgenden Art stellen: Wie fühlen wir uns, wenn wir im Team eine Idee äußern? Geht es nur um den Vorschlag an und für sich oder fragen wir uns, was die anderen »von mir denken« werden? Wie geht es der Schülerin, wenn sie vom Lehrer überraschend aufgerufen und um eine Antwort gebeten wird? Kann sie in Ruhe überlegen oder hat sie Angst, etwas Falsches zu sagen und sich dabei zu blamieren? Wie geht es dem Kind, das seine Hausaufgaben im Beisein der Eltern erledigt? Wie sicher fühlt es sich? Rechnet es damit, bei einem Fehler mit einem kalten Blick, einem Seufzer oder einem ärgerlichen »Nein!« konfrontiert zu werden oder kann es sich auf eine neutrale und sachliche Korrektur verlassen?
Interessanterweise sind es genau die schwierigen Momente, die Niederlagen und Misserfolge, die uns die Chance bieten, für Entspannung zu sorgen und anderen ein Gefühl der Geborgenheit zu schenken.
Wenn wir einen Misserfolg einstecken mussten, wollen wir vor allem eines: Menschen um uns herum, die uns vermitteln, dass sie zu uns stehen und für uns da sind.
Dazu benötigen wir Empathie. Wir müssen einen Schritt zurücktreten und uns in das Kind hineinversetzen. Wir können uns beispielsweise fragen: Wie geht es einem Kind, das schulisch trotz größter Bemühungen nicht auf einen grünen Zweig kommt und immer wieder ungenügende Noten zurückerhält?
Als Erwachsene können wir uns diese Situation oft kaum vergegenwärtigen: Das Berufsleben ist in dieser Hinsicht eine echte Wohlfühloase. Wir dürfen das tun, was wir gut können und uns andernfalls nach einer neuen Stelle umsehen. Rückmeldungen werden normalerweise unter vier Augen gegeben und bestehen meist aus einem Mix aus positiven und negativen Punkten.
Ungenügende Noten sind im Vergleich dazu ein knallhartes Feedback. Meist weiß die gesamte Klasse, welche zwei bis drei Schüler/innen die »schlechtesten« der Klasse sind. Ein Kind mit einer Lernschwäche muss immer wieder die Erfahrung machen, dass genau das, was es nicht kann, für alle anderen im Zentrum zu stehen scheint. Es muss sich immer wieder neu auf das Rechnen, Lesen oder Schreiben einlassen und tagein, tagaus den Frust ertragen, dass es trotz seiner Anstrengungen den Ansprüchen nicht genügen kann. Als Erwachsene würden wir in dieser Situation rebellieren, kündigen oder resignieren.
Genau in dieser Situation braucht ein Kind Lehrkräfte, Eltern und Klassenkameraden, die ihm zeigen: Du darfst damit Schwierigkeiten haben. Du gehörst dazu, wir mögen dich und sind für dich da.
Kommt Ihr Kind niedergeschlagen nach Hause, können Sie sich als Eltern zunächst ausschließlich um die Gefühle des Kindes kümmern. Widerstehen Sie dem Drang, Lösungsvorschläge anzubringen oder die Prüfung mit Ihrem Kind durchzusprechen.
Wenn wir starke unangenehme Emotionen wie Ärger, Wut, Enttäuschung oder Angst empfinden, ist ein spezifischer Bereich in unserem Gehirn aktiv: die Amygdala. Wenn dieser Bereich feuert, geht die Hirntätigkeit in unserem präfrontalen Kortex, dem Sitz unseres bewussten Denkens, zurück.
Genau diesen Bereich benötigen wir jedoch, um uns eine Lösung zu überlegen. In diesem Zustand werden Ideen und Lösungsvorschläge von außen keinen Anklang finden: Sie reden gegen eine Wand. Ganz egal, ob es sich beim Gesprächspartner um ein Kind oder einen Erwachsenen handelt.
In diesem Zusammenhang erzählte uns eine Mutter eine wunderbare Geschichte, die wir an dieser Stelle gerne weitergeben.
Sie meinte: »Meine Tochter hat eine Rechenschwäche und egal wie viel wir üben – es bleibt ein Krampf. Wir haben uns nun darauf geeinigt, 10 Minuten pro Tag zu üben und uns dabei über kleine Fortschritte zu freuen. Wichtig ist auch, wie wir mit Prüfungen umgehen. Wenn unsere Tochter mit einer genügenden Note nach Hause kommt, gehen wir ein Siegereis essen.«
»Und wenn es eine ungenügende Note gab?«, wollten wir wissen.
»Dann gehen wir ein Trosteis essen. Ich will, dass meine Tochter weiß: Wenn ich Erfolg habe, dann freuen sich meine Eltern mit mir. Wenn ich einen Misserfolg habe, fangen sie mich auf.«
Was für eine wunderbare Haltung.
Je besser es uns gelingt, Kinder bei einer Niederlage aufzufangen, desto mehr nehmen wir Misserfolgen und Fehlern den Schrecken.
Wir schenken ihnen dadurch das Vertrauen: Ich kann etwas, ich kann lernen, mich entwickeln und Erfolge erzielen – und wenn es nicht gelingt, dann kann ich mich auf Menschen verlassen, die für mich da sind.
Wie reagiert Ihr Kind, wenn es auf ein Hindernis stößt, beispielsweise eine schwierige Aufgabe? Wirft es gleich das Handtuch oder übt es weiter?
Manche Kinder haben den Anspruch, alles auf Anhieb zu beherrschen, und geben bei der ersten Unsicherheit gleich auf. Andere wissen, dass sie im Lernprozess auch Fehler machen dürfen und es normal ist, dass es ab und zu ein wenig dauert, bis sich ein Aha-Erlebnis einstellt.
Die Psychologieprofessorin Carol Dweck (2007) konnte nachweisen, dass Kinder unterschiedlich auf Leistungssituationen reagieren – je nachdem, welche Art von Selbstkonzept sie haben. Sie unterscheidet zwei Formen: das dynamische und das statische Selbstkonzept.
Menschen mit einem dynamischen Selbstkonzept haben eine Wachstumsperspektive. Sie gehen Herausforderungen mit der folgenden Haltung an:
Was nicht ist, kann noch werden. Wichtig ist, dass ich mir Mühe gebe und gute Strategien entwickle.
Das kann ich
noch
nicht.
Das ist schwierig, aber ich darf mir Zeit lassen und in meinem Tempo lernen.
Kompetenzen und Wissen erwirbt man durch Ausdauer und Übung.
Ganz anders ergeht es Menschen mit einem statischen (unbeweglichen) Selbstkonzept. Diese vertreten die Überzeugung, dass ihnen spezifische Stärken und Schwächen in die Wiege gelegt wurden – sie glauben an Talent und Begabung, an IQ und Gene und sind auf diese fixiert.
Menschen mit einem statischen Selbstkonzept finden sich in den folgenden Aussagen wieder:
So bin ich.
Das kann ich. Das kann ich nicht.
Dafür bin ich zu dumm/zu unbegabt.
Das werde ich nie lernen.
Entweder man checkt es – oder eben nicht.
Ich muss alles sofort können.
Ich habe es nicht geschafft, also bin ich für diese Aufgabe nicht gemacht – was nützt da schon das Lernen/Üben?
Eine Vielzahl von Studien konnte nachweisen, dass Kinder gut mit Hürden und Misserfolgen umgehen können, wenn sie glauben, dass sie sich durch Übung verbessern können (vgl. Blackwell et al., 2007; Zentall & Morris, 2010; Mueller & Dweck, 1998). Dies spricht dafür, dass ein dynamisches Selbstkonzept hilfreich ist. Kinder geben hingegen rasch auf, wenn sie den Eindruck haben, eine Leistung hinge von Intelligenz oder Begabung ab. Diese Überzeugung wird bei Kindern sogar durch entsprechendes Lob gefördert: Sagen Erwachsene Kindern, dass sie klug seien, neigen diese in der Folge eher dazu, bei Schwierigkeiten aufzugeben, zu schummeln und Fehler zu vertuschen (Zhao et al., 2017).
Warum? Für Menschen, die ein statisches Selbstkonzept entwickelt haben, wird jedes Hindernis beim Lernen zu einer Bedrohung – schließlich könnte zum Vorschein kommen, dass ihre Intelligenz oder Begabung nicht ausreicht. Ein Misserfolg wird als Beweis angesehen, dass man »zu dumm ist«, weshalb es sich nicht mehr lohnt, einen zweiten Anlauf zu nehmen.
Wir sollten uns daher damit zurückhalten, Kinder dafür zu loben, dass sie »begabt in XY« oder »intelligent« sind.
Stattdessen können wir uns darum bemühen, Kindern ein dynamisches Selbstkonzept mit auf den Weg zu geben, ihnen also zu vermitteln, dass sich Fähigkeiten entwickeln lassen und es sich auszahlt, hartnäckig zu sein. Dabei fallen Situationen, in denen Kinder auf Schwierigkeiten stoßen, besonders ins Gewicht. Sehen wir uns verschiedene Wege an, um die Beharrlichkeit bei Kindern zu wecken.
Wenn Kinder über einer Matheaufgabe oder mit ihrem Instrument über einem neuen Musikstück brüten, fällt oft der Satz »Ich kann das nicht!«. Schnell sind wir Erwachsenen zur Stelle und versuchen, dem Nachwuchs klarzumachen, dass die Aufgabe machbar ist:
»Komm, das ist doch nicht so schwierig – das schaffst du!«
»Du musst doch nur …!«
»Das ist eigentlich ganz leicht, du musst es nur versuchen!«
Diese Aussagen sind nur dann hilfreich, wenn die Tochter oder der Sohn sie glaubt, loslegt und unmittelbar die Erfahrung macht, dass die Aufgabe wirklich leicht und auf Anhieb lösbar ist. In allen anderen Fällen führen sie dazu, dass das Kind die Aufgabe als bedrohlich für den eigenen Selbstwert wahrnimmt.
Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihren Job gewechselt und haben Schwierigkeiten mit einer der Ihnen zugewiesenen Aufgaben – zum Beispiel mit einem neuen Computerprogramm. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihre Kollegen sagen: »Ach komm, das ist doch ganz leicht!«?
Wahrscheinlich würden Sie denken: »Wenn die das alle so einfach finden und ich es nicht kapiere – dann bin ich wahrscheinlich zu blöd!«
Es ist viel schlimmer, an einer scheinbar einfachen Aufgabe zu scheitern als an einer anspruchsvollen. Wahrscheinlich wären Sie gelassener und gleichzeitig motivierter und zuversichtlicher, wenn Ihre Kollegen Ihnen auf die Schulter klopfen und sagen: »Ja … das hat mich auch einiges an Einarbeitungszeit gekostet. Bleib einfach dran und melde dich, wenn du Fragen hast – mit der Zeit und etwas Übung wird es nach und nach klarer …«
Verzweifelt Ihr Kind an einer Aufgabe, ist es hilfreich, zunächst auf seine Wahrnehmung einzugehen: »Das scheint dir im Moment wie ein riesiger Berg« oder »Das ist wirklich knifflig«. Stimmt das Kind zu, kann man seinen Fokus wieder auf die Aufgabe lenken: »Komm, jetzt lesen wir die Aufgabe erst mal in Ruhe durch und dann lass uns überlegen, worum es genau geht … Wie könntest du vorgehen?«, »Was hast du davon verstanden?« Wir können ihm den aktuellen Stand bewusst machen und ihm helfen, Ziele und einen Plan zu entwickeln. Dabei ist es hilfreich, wenn wir dem Kind vermitteln, dass vieles Übungssache ist: »Da habe ich als Kind auch lange gebraucht, bis ich das begriffen habe. Das erfordert ein wenig Ausdauer. Aber dir traue ich das zu!«
Ein schöner Nebeneffekt dabei ist: Wenn wir eine schwierige Aufgabe lösen konnten, empfinden wir danach ein Gefühl von Befriedigung und Stolz. Dieses Gefühl wird dem Kind genommen, wenn man die Aufgabe als leicht betitelt.
Um schwierige Aufgaben zu lösen und uns auf etwas Neues einzulassen, benötigen wir Zuversicht, Geduld und eine gute Portion Frustrationstoleranz.
Je mehr ein Kind meint, alles sofort begreifen und können zu müssen, desto schwerer wird es ihm fallen, mit Misserfolgen und anspruchsvollen Aufgaben umzugehen.
Wir können Kinder und Jugendliche unterstützen, indem wir sie dazu ermuntern, bei Schwierigkeiten dranzubleiben, sie ermutigen und uns darüber freuen, wenn sie Ausdauer und Hartnäckigkeit zeigen. Das könnte wie folgt klingen:
»Hey, jetzt bist du aber lange drangeblieben!«
»Okay, das wird nicht leicht … das braucht ein wenig Biss!«
»Jetzt hast du es verstanden! Manchmal braucht es zwei, drei Anläufe, aber dann ist es umso schöner, wenn das große ›AHA!‹ endlich kommt!«
»Ich weiß, das hat letztes Mal nicht geklappt. Jetzt erfordert es einiges an Mut, um sich wieder darauf einzulassen. Willst du es nochmal versuchen?«
»Das klingt doch schon viel flüssiger! Mit jedem Durchgang wirst du ein bisschen schneller.«
In der Regel erhalten Kinder Wertschätzung für das Ergebnis – dafür, dass sie »gut sind« oder eine Aufgabe »richtig« gelöst haben. Wenn wir die Frustrationstoleranz von Kindern stärken möchten, sollten wir unseren Blickwinkel verlagern und den Fokus vermehrt auf die Arbeitshaltung des Kindes lenken.
Kinder profitieren von Eltern, die (je nach Kind auch kleine) Fortschritte sehen, sich darüber freuen können und dem Kind bewusst machen, dass man Fähigkeiten mit der Zeit entwickelt und sich die eigenen Bemühungen auszahlen.
Sich anzustrengen, sich auf ein schwieriges Fach einzulassen, sich seinen Schwächen zu stellen und sich nach Misserfolgen wieder auf das Lernen einzulassen, verlangt gerade von einem »schwachen« oder »schwierigen« Schüler Motivation, Mühe und die Bereitschaft, über seinen Schatten zu springen. Hat der Schüler Eltern oder Lehrer/innen, die diese Mühen sehen und es aus seiner Sicht wert sind, wird er diesen Weg eher auf sich nehmen.
Hat Ihr Kind sich nochmals auf das Rechenblatt, das knifflige Puzzle oder das schwierige Musikstück eingelassen und einen kleinen Erfolg erzielt, können Sie sich mit ihm darüber freuen und ihm eine einfache Frage stellen: »Wie ist dir das gelungen? Wie hast du das geschafft?«
Das Kind beginnt nun, sich seine Strategie bewusst zu machen:
»Na ja, ich habe zuerst die Ecken gesucht und den Rand zusammengesteckt. Von da an ging’s leichter.«
»Hm … es gab doch die Stelle im Stück, bei der ich mich immer verspielt hab, die habe ich ein paar Mal einzeln geübt.«
»Ich habe eine kurze Pause gemacht und mich dann nochmal drangesetzt. Dann hat’s irgendwie geklappt.«
Indem Sie Ihrem Kind dabei helfen, über sein Vorgehen nachzudenken, stärken Sie es für zukünftige Herausforderungen. Es wird sich bewusst, dass seine Erfolge und Fortschritte nicht zufällig entstehen, sondern durch sein Zutun.
Auf diese Weise rüsten Sie seinen Werkzeugkoffer und steigern die Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten: »Aha, wenn ich mit einer schwierigen Aufgabe konfrontiert werde, dann kann ich X oder Y tun. Wenn das nicht funktioniert, dann kann ich Z versuchen.«
Wir können Kindern auch zu mehr Beharrlichkeit verhelfen, indem wir uns als Modell anbieten. Es hilft Kindern im Alltag, wenn sie immer wieder miterleben, dass ihren Eltern auch nicht alles leichtfällt.
Wenn die Eltern bei Schwierigkeiten geduldig und hartnäckig bleiben und zu sich selbst sagen: »O.K., ruhig Blut … du hast irgendwo einen Fehler gemacht … lies die Bedienungsanleitung nochmals genau durch«, werden die Kinder, die sie beobachten, merken, dass es manchmal etwas Geduld erfordert, um auf eine Lösung zu kommen.
Es ist hilfreich, wenn wir Kindern von Zeit zu Zeit von eigenen Schwierigkeiten erzählen und davon, wie wir ihnen die Stirn bieten.
Wie effektiv schon ein kurzer Kontakt mit einem positiven Modell sein kann, zeigte das Forscherteam Perry und Penner (1990). Sie führten Psychologiestudenten ein Video eines Professors vor. Dieser erzählte von seinen Studienzeiten und schilderte ein Ereignis, bei dem er wiederholt Misserfolge einstecken musste und nur durch gutes Zureden eines Freundes nicht aufgab. Danach habe er die Uni erfolgreich abgeschlossen. Er betonte, dass die Leistung vor allem von der eigenen Anstrengung abhänge und sich Fähigkeiten durch Übung trainieren ließen. Die Studierenden, die das Video gesehen hatten, erbrachten am Ende des Semesters bessere Leistungen.
Wo gab es in Ihrer Schul- oder Berufslaufbahn Momente, in denen Sie sich nach einem Rückschlag wieder aufraffen mussten? Welche Episoden könnten Sie mit Ihren Kindern teilen?
Vielleicht haben Sie als Ergänzung auch Lust, sich gemeinsam mit Ihrem Kind unseren Kurzfilm »Ich kann das nicht!« anzusehen, in dem der kleine Bär seinen Matheproblemen mit echtem Kämpferherzen zu Leibe rückt: www.biber-blog.com