Gebrauchsanweisung für die Deutsche Bahn - Mark Spörrle - E-Book

Gebrauchsanweisung für die Deutsche Bahn E-Book

Mark Spörrle

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Beschreibung

Schienenersatzverkehr, defekte Klimaanlagen, Döner im Großraumwagen und Dauertelefonierer im Flüsterabteil: Wer wie Mark Spörrle nicht aufs Zugfahren verzichten kann, kennt die Tücken der Deutschen Bahn. Er weist den richtigen Weg bei Fahrkartenkauf, umgekehrter Wagenreihung und verwirrenden Durchsagen. Er schildert notorische Platzbesetzer; erzählt, wie Mitfahrende von Fremden zur Schicksalsgemeinschaft werden. Lässt sich auf Abenteuer mit Fernbussen ein, erinnert an Nachtreisezüge und andere aussterbende Spezies. Zeigt, wann eine Bahncard 100 sich wirklich lohnt. Warum WLAN im Zug Glückssache und das Bordbistro immer wieder für Überraschungen gut ist. Weshalb man Freitage meiden sollte – und warum Bahnfahren immer noch die kultivierteste Art der Forbewegung ist.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür Sabeth und StellaISBN 978-3-492-97531-5Oktober 2016© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016Covergestaltung: Birgit KohlhaasCovermotiv: Jürgen Lösel/VisumKonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

»Für alle, die tatsächlich hoffen, mit diesem Buch nun endlich die lange vermisste (…) ›Gebrauchsanweisung zum Bahnfahren in 36 Schritten‹ in Händen zu halten: Fragen Sie besser direkt bei der Bahn nach …«

Mark Spörrle und Lutz Schumacher in »Senk ju vor träwelling. 2. Folge: Neue Tipps zum Überleben in der Bahn«, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2008

»Die lange vermisste Gebrauchsanweisung zum Bahnfahren: Hier ist sie endlich!«

Mark SpörrleHamburg, im Sommer 2016

Wieso man zum Bahnfahren eine Gebrauchsanweisung braucht

Eine Gebrauchsanweisung für die Deutsche Bahn? Lustig, denken Sie: Ist Bahnfahren denn so kompliziert, dass man dafür eine Anleitung braucht? Kauft man nicht einfach eine Fahrkarte, steigt ein – und los geht’s?

Doch, manchmal klappt das tatsächlich. Dann ist Zugfahren die beste und entspannteste Art der Fortbewegung: Man sitzt, liest, arbeitet, döst, isst, trinkt, plaudert – und zugleich gelangt man dorthin, wo man hinwill. Ohne dass man sich anstrengen muss. Ohne dass man den Weg suchen muss. Ohne dass man selbst fahren und, vor allem: ohne dass man im Stau stehen und aufs Lenkrad hauen muss. Vor dem Fenster fliegen Landschaften und Orte vorbei, immer neue, aber immer auf die gleiche, fast meditative Weise: Bahnfahren beruhigt – und regt zugleich an. Kein Zufall, dass große Literatur in der Bahn entstand. Auch über die Bahn. Nein, es muss nicht immer der Klassiker, Agatha Christies »Mord im Orient-Express« sein (obwohl man Mordgelüste gegenüber so manchem Mitreisenden durchaus verstehen könnte). Auch die Reiseliteratur von Bruce Chatwin oder Paul Theroux wäre nicht denkbar ohne Züge, und bis heute lassen sich Schriftsteller von Pascal Mercier bis Steffen Kopetzky inspirieren vom Fahren, nein: dem Reisen in der Bahn.

Das eben nicht nur Fortbewegung ist von einem Ort zum anderen, sondern viel mehr: ein Zustand nämlich, Zeit zu verbringen. Kommen dazu noch die Mitreisenden mit ihren Vorlieben und Marotten und die für geübtere Bahnfahrer alltäglichen, für Bahnnovizen erstaunlichen bis beunruhigenden Vorkommnisse im Bahnalltag, wird das Ganze zu einer Mischung aus Fernsehen, Theatervorstellung, Restaurantbesuch, Abenteuerreise und Kreuzfahrt zu Lande. Und, sofern man sich darauf einlässt, obendrein zur Messe, zur Kontaktschmiede, zum Klassen- oder Familientreffen mit Unbekannten oder gleich zur Live-Dating-Show – versuchen Sie mal, das alles im Flugzeug oder beim Autofahren hinzukriegen!

Reisen per Bahn ist eine Welt für sich. Die sich unweigerlich auch jenen erschließt, die nicht zu Urlaubs-, Genuss- oder Beobachtungszwecken reisen, sondern beruflich: die Millionen Menschen, die täglich oder wöchentlich von ihrem Zuhause zum Arbeitsplatz und zurück pendeln. Oder zwischen Zuhause, Arbeitsplatz und Beziehung. Oder zwischen Zuhause, Beziehung und mehreren Arbeitsplätzen – und klar, es gibt auch Leute, die konsequenterweise ihren festen Wohnsitz gegen eine Bahncard 100 eintauschen, fortan in Zügen leben und über ihre rätselhaften Mitfahrer bloggen, welche noch zu Hause leben.

Mit der Bahn zu fahren fasziniert die Menschen seit jeher. Weit mehr als das Fahren per Auto übrigens oder das Fliegen. Beim Auto ist es das Gefährt, das einen in seinen Bann schlagen kann, beim Flugzeug das Berückende, in Berlin bei fünf Grad und Regen loszufliegen und kurz danach auf Mallorca bei 25 Grad und blauem Himmel auszusteigen. Bei der Bahn aber ist es das Fahren selbst. Das Unterwegssein. Wer es noch nie probiert hat, wird niemals verstehen, wie es sich anfühlt. Und erst recht nicht, warum sich bei vielen Bahnfahrern nach einiger Zeit zu den Zügen, dem ganzen Drumherum, selbst den Mitreisenden so etwas entwickelt wie eine Beziehung.

In der manchmal eben alles super läuft. Wenn man den richtigen Tag erwischt, die richtige Uhrzeit, die richtige Strecke, den richtigen Zug. Wenn dieser Zug mit der richtigen Wagenreihung einfährt (was künftig viel häufiger passieren soll), wenn die Platzreservierung funktioniert und wenn neben einem kein Lauttelefonierer, Dauerpupser oder Knoblauchbrotesser sitzt. Und auch niemand, der verzweifelt versucht, ein Gespräch zu beginnen, ohne dass man das will.

Natürlich sollte man dazu erfolgreich das richtige Ticket für genau diesen Zug gekauft haben und korrekt eingestiegen sein, in den Zugteil nämlich, der nach Hamburg durchfährt und nicht in Hannover Richtung Bonn abbiegt. Man sollte auf keinen Fall das Dokument vergessen haben, das man beim Fahrkartenkauf zwecks Identifikation angegeben hat. Und wenn dann noch die Klimaanlage funktioniert, die Toiletten, das Bordbistro, und das in genau dieser Reihenfolge, dann lässt sich auch über die eine oder andere Störung im Betriebsablauf hinwegsehen, zu der es unvermeidlicherweise kommen wird.

Aber wenn noch mehr nicht stimmt und das immer wieder, dann kann die Bahnliebe – wie die echte – irgendwann umschlagen in Enttäuschung, Wut, Verzweiflung, Tränen – vielleicht sogar in Hass.

Haben Sie jemals erwachsene Männer im Anzug gesehen, die auf dem zu früh (!) von ihrem Zug nach Frankfurt verlassenen Bahnsteig standen und diesem lauthals hinterherschrien, dies sei jetzt endgültig das letzte Mal gewesen und nun würden sie sich wieder ein Auto zulegen?

Aber, wie bei einer echten Beziehung: Irgendwann ist der Groll meist vorbei. Spätestens dann, wenn ein paar Mal alles wieder einigermaßen gut geht, ja, man sogar pünktlich ans Ziel kommt.

Und damit das klappt – dafür gibt es jetzt diese Gebrauchsanweisung.

Sehnsuchtsort, Mythos, Abenteuer – die Magie der Züge

Zum ersten Mal fuhr ich mit der Bahn, da muss ich ungefähr sechs gewesen sein. Mitte der 70er-Jahre reisten meine Eltern mit mir von Flensburg zu den Großeltern ins Rheinland. Ich erinnere mich noch genau an das Sechserabteil mit den geteilten roten Sitzen, die sich so gen Abteilmitte ziehen ließen, dass aus immer zwei gegenüberliegenden jeweils eine Liegefläche entstand. Es war heller Tag, aber ich hatte mir sofort die Liege ganz am Fenster eingerichtet. Und wenn ich nicht gerade den metallenen Tischabfalleimer auf- und zuklappte, zur Freude meiner Eltern und einer Frau von nebenan, die mehrfach schimpfend in der Abteiltür erschien, lag ich gemütlich auf dem Bauch, rhythmisch geschaukelt von den Bewegungen des Zuges, leicht sediert vom »Tatam-tatam-tatam-tatam« der Räder, und las. Für mich gab es damals nichts Schöneres, ich fand es herrlich, einfach da liegen und lesen zu können, und: Ich hatte extra für diese Fahrt zwei neue Bücher bekommen!

Außerdem gab es hart gekochte Eier und den ersten Erdbeerquark meines Lebens, von dem ich so viel aß, dass ich sehr dringend auf die Toilette musste. Es war noch ein Exemplar, bei dem sich nach verrichtetem Geschäft per Hebelzug eine Klappe öffnete, durch die man die dahinjagenden Gleise sah. Weshalb mir meine Eltern vehement einschärften, mich beim Sitzen bloß gut festzuhalten, man konnte ja nie wissen. Bei meinem zweiten Toilettengang fiel ihnen dann ein, dass es noch ein Problem gab: die Hygiene. Also bastelten sie eine behelfsmäßige Toilettenbrille aus Papier und schärften mir ein, mich bloß NICHT festzuhalten. Ich verzichtete dann darauf, den Abort noch ein weiteres Mal aufzusuchen.

Und trotzdem, diese erste Bahnreise meines Lebens war für mich etwas ganz Besonderes: Das große Kofferpacken, die Fahrt zum Bahnhof, ausnahmsweise im schwarzen Taxi, die winkenden Großeltern, die drei neuen Bücher, die meine Mutter mir für die Rückfahrt kaufte, weil ich die zwei anderen schon auf der Hinfahrt ausgelesen hatte – all das ist mir bis heute ungemein präsent. Vielleicht hat Bahnfahren deshalb noch heute für mich diesen Reiz, diese Faszination.

Über das Bahngefühl und Sex im Kopf. Eine Beziehungsanalyse

Es gibt natürlich Leute, die suchen für so etwas eine tiefenpsychologische Erklärung. Und meinen, das leichte Schaukeln des Zuges werde deshalb als so angenehm empfunden, weil es unser inneres Ich an die frühkindliche Erfahrung des Schaukelns im Kinderwagen erinnere. Zumal das gedämpfte, monotone »Tatam-tatam-tatam-tatam« der Art ähnle, wie Kinder Geräusche im Mutterbauch wahrnähmen … Sicher, darüber lässt sich streiten, außerdem sind die Schienen mittlerweile auf den meisten Strecken zusammengeschweißt, sodass das mit dem »Tatam-tatam-tatam-tatam« auch vorbei ist.

Aber so weit müssen wir auch gar nicht gehen, wollen wir das Bahngefühl und dessen Faszination erkunden: Autofahren mag, bei einem entsprechendem Auto, spannend sein, Fliegen schnell, aber Bahnfahren ist ein bequemer und zugleich keineswegs unproduktiver Zustand, denn schließlich kommt man dabei voran, und das, ohne dafür selbst etwas zu tun: Bahnfahren ist mobiler Müßiggang. Mit weit besserer Umweltbilanz, als wäre man im Flugzeug oder im Auto unterwegs. (Zu den Fernbussen, die auch die Bahn losschickt, um sich lieber selbst Konkurrenz zu machen, bevor andere es tun, kommen wir später.)

Auch wenn man einfach nur nüchtern rechnet, spricht viel für die Bahn: Okay, manchmal ist es billiger, nach Köln, Frankfurt oder Düsseldorf zu fliegen. Aber da hetzt man erst zum Check-in oder zur Gepäckabgabe, lässt dann bei der Sicherheitskontrolle fast die Hosen runter und muss, kaum dass man glücklich im Flugzeug sitzt, den Laptop vor die Brust gequetscht hat und vorsichtig versucht, die Ellenbogen so weit auszufahren, dass man einigermaßen die Tastatur bedienen kann, wieder einpacken, denn es wird ein süßer oder salziger Snack serviert. Die Zeit im Zug dagegen, ist man einmal eingestiegen und hat seinen Platz gefunden – was natürlich voraussetzt, dass Zug und Platz existieren –, lässt sich viel effizienter zum Arbeiten nutzen. Im Auto sollte man als Fahrer sowieso die Finger vom Laptop lassen. Abgesehen davon haut es mit der Pendlerpauschale finanziell ohnehin nur dann einigermaßen hin, wenn man öffentlich fährt. Und, last not least: Man entsteigt der Bahn (vorausgesetzt, es geht nicht allzu viel schief) nach fünf Stunden Fahrt in deutlich besserer Verfassung als dem Auto oder Flugzeug.

Sie haben natürlich völlig recht, wenn Sie sagen: All das ist zwar vernünftig – aber den Zauber des Zugfahrens erklärt es nicht. Dass es nämlich so viele leidenschaftliche Bahnfahrer gibt, die diesem Verkehrsmittel jahrelang die Treue halten, gemeinsam mit ihrem 16.45-Uhr-ICE durch dick und dünn gehen, kaputte Klimaanlagen, wasser- oder gar bistrolose Bistrowagen klaglos hinnehmen – in »leidenschaftlich« steckt eben auch »Leiden« – oder auch laut klagend und schimpfend. Aber: es immer wieder tun. Es gibt Menschen, die alle Loktypen seit 1952 schon an der Silhouette erkennen, die in ihrem Hobbyraum ganze Gleiswelten aufgebaut haben (doch: ein paar Hobbykeller gibt es noch!) und abends Fachwerk-Plastikbahnhöfe zusammenleimen oder kichernd kleine Loks samt Wagen tagelang auf freier Strecke stehen lassen. Aber das ist kein Vergleich zur Hingabe der Bahnkunden: Die vertrauen nämlich sich selbst einem Transportunternehmen an, das so groß ist, so unübersichtlich, so komplex, so renovierungsbedürftig, dass Pannen und Fehler einfach passieren müssen.

Noch mal kurz zum Auto: Wie Sie sicher wissen, sehen viele Autofahrer ihr Gefährt immer noch als eine Art rollendes Wohnzimmer, als eine Verlängerung ihres eigenen Selbst (»So eine Sauerei: Ich bin abgeschleppt worden! Ich!«). Für sie ist der PKW weit mehr als ein Gegenstand, er ist eine Art Partner für gute und schlechte Zeiten, und selbst in Letzteren fällt es ihnen schwer, sich von ihrem Vehikel zu trennen: Man trennt sich schließlich auch ungern von einem lieben Menschen, nur weil der allmählich ein Wrack ist, oder?

In der Tat, erklärte etwa die Berliner Soziologin Christa Bös der »WELT«, sei eine Beziehung zum Auto einer zwischenmenschlichen Liebesbeziehung erstaunlich ähnlich. Drei Komponenten prägen eine solche Beziehung: Leidenschaft, Intimität und der Wunsch, sich dauerhaft zu binden. Hirnforscher haben herausgefunden, wenn Menschen mit attraktiven Autos zu tun haben – und das natürlich nicht etwa in der Form, dass sie von ihnen überfahren werden –, wird jenes Areal im Vorderhirn aktiviert, das man als »Belohnungszentrum« kennt: der Nucleus accumbens, der dann seinerseits Erregungspotenziale an andere Teile des Gehirns sendet, die bei uns im Kopf wiederum Zufriedenheit und Freude auslösen. Angeregt werden kann das Belohnungssystem aber natürlich auch durch anderes: das Lächeln eines geliebten Menschen, ein leckeres Eis, ein erfüllendes Buch, Sex, Kokain, Sport und, davon können wir ausgehen, durch das Reisen mit der Bahn. Bahnfahren ist also wie Sex?

»Der Mensch kann alles lieben«, zitiert die »WELT« den Tübinger Neurobiologen und Hirnforscher Niels Birbaumer. Den Partner. Das Auto. Warum also nicht das Dahingleiten im Zug. Diesen Zustand, der sich bestens eignet, um sich schwerelos und mit wachsender Vorfreude dem Urlaubsort zu nähern, ja, um idealerweise den Urlaub schon unterwegs beginnen oder, umgekehrt, noch ausklingen zu lassen, mit einem Buch, mit Musik aus dem Kopfhörer, einem Kartenspiel mit der Familie. Der aber auch ideal ist für Kopfarbeiter, auch jene, bei denen Arbeit und Freizeit ohnehin längst zu einer Daseinsform verschmolzen sind, die man mithilfe von ein paar technischen Geräten, Strom und WLAN überall leben kann, in der Bahn sogar eigentlich am besten, denn dort kommt man gleichzeitig noch voran (mehr zum WLAN später).

Gut, Bahnfahren ist also ein bisschen wie Sex. Aber vor allem etwas wie Meditation, Flow, Trance. Etwas, an das man sich gewöhnen kann.

Vor ein paar Jahren reiste ich für das Goethe-Institut mit dem italienischen Autor Beppe Severgnini in einer guten Woche von Berlin nach Palermo. Per Bahn. »Va bene?!« hieß unsere Reise, unser Auftrag: den Vorurteilen der Deutschen gegenüber den Italienern und denen der Italiener gegenüber den Deutschen wechselseitig auf die Spur zu kommen. Wir stoppten in Städten, um ganz konkreten Klischees nachzugehen, wir schliefen nachts ein paar Stunden in Hotels, aber den größten Teil dieser Zeit verbrachten wir im Zug. Verfassten unseren täglichen Reiseblog, der online veröffentlicht und in diverse Sprachen übersetzt wurde, dachten uns Video-Sketche für den mitreisenden Kameramann aus und erreichten unsere Umsteigezüge diverse Male nur noch in gestrecktem Galopp. Pünktlich zu unserer Reise war der isländische Vulkan Eyjafjallajökull ausgebrochen, die Vulkanaschewolken hatten reihenweise Flughäfen lahmgelegt, und alle Züge waren noch voller als sonst. Aber ab dem dritten, vierten Tag bemerkte ich zu meiner großen Verblüffung abends im Hotel regelmäßig etwas wie – Enttäuschung.

Was mir fehlte, war die Bahn. Oder vielmehr: die vierte Dimension. Das Abtauchen-Können. Dieser Zustand des Fast-Entrücktseins in eine Zwischenwelt. Die Eindrücke, die Inspirationen, die einen anfliegen, wenn man einfach nur aus dem Fenster sieht (und wo anders macht man das heute noch?). Eigentlich also das Gefühl, das ich seit meiner Kindheit immer im Zug habe.

Wie es kam, dass wir Deutschen »die Bahn« so lieben. Und warum sie uns immer wieder enttäuschen muss

Bevor wir zur essenziellen Frage kommen, wie man ganz konkret seine persönliche Beziehung zur Bahn, diesem schienengeführten Wunderwerk der Emotionen, am geschicktesten gestaltet, noch etwas zur generellen Beziehung von uns Deutschen zur Bahn. Wobei, und das gehört schon zum Thema, die allermeisten Menschen unter »der Bahn«, obwohl es mittlerweile mehr als 400 Unternehmen gibt, die in Deutschland Fahrgäste in Zügen transportieren, immer noch die Deutsche Bahn verstehen, manche sagen sogar noch »Bundesbahn«. Jenes staatseigene Unternehmen also, dem ein Streckennetz von 33000 Kilometern gehört, das sechstlängste der Welt – und das, Privatisierung hin oder her, in Deutschland immer noch kaum ernsthafte Wettbewerber hat. Im Güterverkehr kommt die Deutsche Bahn auf einen Marktanteil von 75 Prozent, im Regionalverkehr sogar auf 80 Prozent. Den Fernverkehr kontrolliert sie nach wie vor praktisch alleine. Insofern ist es also für die Wettbewerber sehr ungerecht, wenn die meisten Menschen, wenn sie »Bahn« sagen, in erster Linie die »Deutsche Bahn« meinen, aber es ist irgendwie auch verständlich.

Was nun aber das Verhältnis zur besagten Bahn angeht, ist das der Deutschen ein ganz besonderes. Auch wenn die Anfänge des hiesigen Eisenbahnwesens im Jahr 1835 sich so schwierig gestalteten, dass damals kaum jemand an nachhaltigen Erfolg glaubte, mit Ausnahme der beiden Männer natürlich, die den ersten Zug nach Deutschland holten: Zwei Kaufleute aus Franken waren es, die der neueste Hype aus England – selbstfahrende dampfgetriebene Kutschenzüge auf Metallschienen! – so begeistert hatte, dass sie diese Attraktion unbedingt auch nach Deutschland bringen wollten.

Das war damals noch in viele Kleinstaaten zersplittert, und für die meisten Fürsten war eine Eisenbahn ab dem Moment undenkbar, wo sie über die Grenze ihres Fürstentums hinausreichte. Fuhrleute witterten zu Recht Konkurrenz. Und Ärzte machten sich Sorgen, der Rauch der Lokomotiven und die hohe Geschwindigkeit der Züge – in England jagte man bereits mit ungeheuren fünfzig Stundenkilometern dahin – könnten die Bevölkerung irre und krank machen.

Nur wenige, wie der schwäbische Politiker und Ökonom Friedrich List, sprachen davon, dass ein bundesweites Eisenbahnnetz auch die deutschen Staaten mehr zusammenführen und für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen könne.

Der bayerische Staat allerdings war aufgeschlossen für das Projekt, der Landtag hatte die Strecke zwischen Nürnberg und Fürth als geeignet empfohlen, und Bayernkönig und Schöngeist Ludwig I. hatte sogar eine Testeisenbahn im Park von Schloss Nymphenburg installieren lassen, wollte dann aber doch lieber in einen Kanal zwischen Main und Donau investieren. Also sammelte der Nürnberger Kaufmann Georg Zacharias Platner, unterstützt von Johannes Scharrer, dem Leiter der Polytechnischen Hochschule, über eine Aktiengesellschaft Geld von Privatleuten ein. Im Prospekt wurde den Anlegern eine ungemein attraktive Rendite von 12,5 Prozent im Jahr versprochen.

Platner und Scharrer gründeten eine Eisenbahngesellschaft, ließen eine Gleisstrecke von Nürnberg nach Fürth bauen und bestellten beim englischen Lokomotivenhersteller Stephenson eine Dampflok und einen Musterwaggon. Der Kurzzug wurde zerlegt geliefert, allein für die Lok brauchte man zwanzig Kisten, die mit dem Schiff nach Köln gebracht und von dort mit Fuhrwerken umständlich nach Franken kutschiert wurden – schon das ein Beleg, wie sehr man eine Eisenbahn brauchte. Die Firma Stephenson schickte auch einen Lokführer mit, William Wilson, einen langen Schlaks, der mehr verdiente als Platner als Direktor der Eisenbahngesellschaft und über den das »Stuttgarter Morgenblatt« bewundernd schrieb: »Auf alles achtend, die Minute berechnend, da er den Wagen in Bewegung zu setzen habe, erschien er als der regierende Geist der Maschine und der in ihr zu der ungeheuren Kraftwirkung vereinigten Elemente.« Lokführer von heute würden vor Neid erbleichen.

Und dann, am 7. Dezember 1835, dampfte die Lok »Adler« los.

In nur neun Minuten legte sie die Strecke von 6,2 Kilometern von Nürnberg nach Fürth zurück, neun Wagen mit todesmutigen Ehrengästen hinter sich her ziehend; es muss ungefähr ein Gefühl gewesen sein wie heute bei der Jungfernfahrt der neuesten Superlooping-Achterbahn auf dem Oktoberfest. Entlang der Gleise standen die Franken im Sonntagsstaat, jubelten, rollten das »R« nach Leibeskräften und warfen ihre Hüte hoch – und das Beste: Am Schluss entstiegen alle Mitfahrer dem Zug unbeschadet.

Aber, so viel Unterschied musste sein: Schon auf dieser allerersten deutschen Eisenbahnfahrt gab es die erste, zweite und dritte Wagenklasse. Und in Letzterer führten die deutschen Eisenbahngründer am 11. Juni 1836 gleich noch den ersten deutschen Gütertransport per Zug durch: In Nürnberg lud ein Bierbrauer zwei Fässer Bier in einen Drittklasswagen, und tatsächlich: In Fürth ließ es sich immer noch trinken! Schon für das Jahr 1836 steckten die Investoren der Eisenbahngesellschaft nicht mehr nur zwölf, sondern zwanzig Prozent Rendite ein.

Danach ging alles sehr sehr schnell. Überall in Deutschland wollte man die starken Dampfrösser haben. Bald standen sie auf der ganzen Welt für Fortschritt, Moderne und den Glauben an die Allmacht der Technik. Das neu anbrechende Zeitalter der Industrialisierung wäre undenkbar gewesen ohne die Eisenbahn, die sehr schnell zum unentbehrlichen Transportmittel wurde für Menschen, Waren und Hoffnungen. Und tatsächlich, die Visionäre behielten recht: Das »Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage«, so definierte das Deutsche Reichsgericht 1879 die Eisenbahn noch trocken, ließ auch die Städte zusammenrücken. Endlich gab es die Möglichkeit, einen anderen Ort komfortabel, zuverlässig und in berechenbarer Zeit zu erreichen, unabhängig davon, ob Pferde müde wurden oder stürzten, ob Wege überflutet oder schlammig waren. Auf den Schienen rumpelte es längst nicht so wie bei der Fahrt mit der Postkutsche, und mit Kohle, Holz und Wasser erreichten die Loks, ganz ohne Einsatz der Peitsche, eine drei Mal höhere Durchschnitts-und vor allem Dauergeschwindigkeit als die Kutschen.

Gut, das störte anfangs manche in ihrem Raum- und Zeitgefühl. Bahnfahrer der ersten Stunde fühlten sich »wie mit einem Projektil durch die Landschaft geschossen«. Der Schriftsteller Heinrich Heine empfand 1843 in Paris ein »unheimliches Grauen«: »Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt.« (»Lutetia«, zweiter Teil.) Andere frühe Bahnreisende fürchteten Unfälle, Katastrophen und Überfälle: In den frühen Zügen fehlte ein Verbindungsgang zwischen den Waggons, und stieg an einem Bahnhof jemand zu, war man auf Gedeih und Verderb gezwungen, mit ihm die Zeit bis zur nächsten Station zu verbringen. Damals tauchte die Frage auf, warum die Reisenden in den Abteilen erster und zweiter Klasse eigentlich nicht mehr miteinander redeten wie früher noch in den Postkutschen, sondern sich hinter ihrer Reiselektüre verschanzten; die Dritt- und Viertklässler dagegen gackerten so lustig wie ihre mitreisenden Hühner.

Schon bevor 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, wuchsen die Schienennetze der einzelnen Staaten zusammen. Bald wollten auch die Europäer so komfortable Züge, wie sie George Mortimer Pullman in Nordamerika eingeführt hatte. 1883 ratterte zum ersten Mal der Orient-Express von Paris nach Konstantinopel, schnell fuhren weitere Luxuszüge aus Frankreich gen Osten: Reisen per Eisenbahn war schick geworden. Wer etwas auf sich hielt, ging im Salonwagen auf große Tour, Könige und Kaiser fuhren samt Hofstaat im Luxuswaggon – es war das »Goldene Eisenbahnzeitalter«. Die New York Grand Central Station oder der 1888 eröffnete Frankfurter »Centralbahnhof«, errichtet als »Kathedralen des Fortschritts«, spiegeln die Bedeutung wider, die die Eisenbahn damals hatte. Kein Wunder, dass der Geist jener Jahre dafür sorgte, dass Lokomotivführer zum Traumberuf von Generationen von Jungen wurde und die Modelleisenbahn zum Inbegriff des Spielzeugs geriet.

Diese Faszination für die Eisenbahn, ja: diese Liebe, sie überdauerte die Instrumentalisierung der Züge in den Kriegen und durch die Nationalsozialisten. Den Transport unzähliger Soldaten, den Vernichtungskrieg im Osten, die Deportationen von Millionen Menschen in die Konzentrations- und Vernichtungslager, was, so schreibt die Deutsche Bahn heute auf deutschebahn.com, »ohne die Reichsbahn nicht möglich gewesen« wäre. Sie überdauerte die Teilung Deutschlands, den Neubeginn und Wiederaufbau. Noch in den 50er-Jahren verreisten die meisten Deutschen mit der Bahn. Die »Helden von Bern«, sie kehrten 1954 nicht im geschmückten Flugzeug, sondern selbstverständlich – und wortwörtlich – im »Triumph-Zug« heim. Den Mythos Bahn komplettierte die Bundesbahn 1966 mit ihrem Slogan: »Alle reden vom Wetter. Wir nicht«; eine Kampagne, die so gut war, dass dieser Spruch bis heute in vielen Köpfen hängenblieb.

Das Bild der Bahn als Inbegriff überragender Technik erlitt im Jahr 1998 beim tragischen Zugunglück von Eschede einen herben Rückschlag. Am 3. Juni brach dort beim ICE »Wilhelm Conrad Röntgen« aufgrund von Materialermüdung ein Radreifen und löste eine Kettenreaktion aus. Der Zug entgleiste und brachte mit einer Geschwindigkeit von 198 Stundenkilometern eine Autobrücke zum Einsturz, die einen Teil des Zuges unter sich begrub. 101 Menschen starben, 105 wurden teils schwer verletzt. Überlebende Beteiligte und Angehörige leiden immer noch unter den Spätfolgen dieser Katastrophe.

Aber noch mehr als dieser beispiellose schreckliche Unfall schadeten die Sparmaßnahmen für den lange Jahre geplanten Börsengang dem Image der Bahn. Bahnchef Hartmut Mehdorn sollte die im Jahr 1994 aus der Behörde Bundesbahn und der Reichsbahn der DDR hervorgegangene Deutsche Bahn für die Bundesregierung zum börsenfähigen Weltkonzern trimmen.

Mehdorns Methode: expandieren, rationalisieren, sparen.

Im Schienenverkehr erwirtschaftet das Unternehmen heute nur noch etwa die Hälfte des Gesamtumsatzes von etwa vierzig Milliarden Euro. Die andere Hälfte des operativen Geschäfts machen das weitere Transport- und Logistikgeschäft in aller Welt sowie verschiedene Dienstleister aus.

Mehdorn sparte dort ein, wo immer weniger Zugverkehr stattfindet – vorrangig im ländlichen Raum. Seit der Bahnreform 1994 wurden in Deutschland rund ein Drittel der Bahnhöfe geschlossen und das Schienennetz um etwa siebzehn Prozent reduziert. Die Zahl der Bahnmitarbeiter schrumpfte auf 200000; vor Beginn der Reform war sie fast doppelt so hoch gewesen.