Ist der Herd wirklich aus? - Mark Spörrle - E-Book

Ist der Herd wirklich aus? E-Book

Mark Spörrle

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Beschreibung

Kommt Ihnen das nicht irgendwie bekannt vor? Das Leben könnte so einfach sein – aber es ist tückisch, gemein und kompliziert. Zum Beispiel, wenn man Urlaub nehmen muss, um dem Paketzusteller aufzulauern, man wegen einer Suppenphobie fast seine Freunde verliert oder schnäppchengeile Verkäufer einem den Unterhosenkauf zur Hölle machen. Und wenn man am Ende nicht mehr weiß: Ist der Herd wirklich aus? «Ein Geschenktipp für alle, die die Kunst beherrschen, über sich selbst zu lachen.» (Saarländischer Rundfunk) «Man glaubt ja gar nicht, wie gefährlich es in Kneipe, Straßengewirr und Lebensdingen zugeht. Spörrle hat bisher nur knapp überlebt. Rettet ihn – durch den Kauf des Buches.» (Lübecker Nachrichten) «Ganz normal verrückt.» (Stern) «Ich habe gebrüllt vor Lachen … Einfach superklasse.» (Steffi von Wolff)

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Seitenzahl: 145

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Mark Spörrle

Ist der Herd wirklich aus?

Irrwitzige Geschichten aus dem wahren Leben

Mit Illustrationen von Sabine Völkers

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Retour-Kutsche

Hemdenasyl

Fit im Gummikorsett

Es hat geschmeckt! Ehrlich!

Sakkoservice spezial

Ist der Herd wirklich aus?

Und ewig grüßt der Teamleiter

Kalter Krieg

Es ist ein Kloß entsprungen

Irgendein dämlicher Passant

Total verbohrt

Es führt kein Weg zu Dr. Flimmich

Härtetest

Hungerstrecke

Ja mei!

Sieh sie nicht an, niemals!

Nichts gegen Kinder

Das Heck

Oh, là là – das lustige Foto-Urinal

Meine Unterhose ist kein Schnäppchen

Für Sabeth

Retour-Kutsche

Unlängstklingelte das Telefon, und sie war dran. Das Paket, sagte sie, mit meinen Sachen, die sie mir vor längerer Zeit geschickt habe, es sei schon wieder zurückgekommen, und was ich ihr damit sagen wolle. «Nichts», sagte ich, «ich wollte dir nichts sagen.» – «Und was», fragte sie, «hat das sonst zu bedeuten?» – «Die Post», sagte ich. «Das ist alles?», rief sie. «Ein halbes Jahr geht das schon, und du behauptest, dass es nur an der Post liegt?» – «Ich schwöre», stammelte ich, «es ist nur die Post, nichts als die Post, ich bin längst wieder in einer anderen Beziehung, ich bin glücklich, bitte, kannst du es mir noch mal, ein letztes Mal…» – «Ja!», schrie sie und legte auf.

Ich warf mich aufs Sofa und dachte nach. Ich hatte kein bisschen gelogen, ich war gefangen in einem Teufelskreis: Irgendwann, wenn ich aus dem Büro kam, lag im Briefkasten diese Benachrichtigungskarte, der Zusteller habe mich nicht angetroffen, aber ich könne die Paketsendung gerne persönlich abholen. Natürlich war die angegebene Abholstelle die abgelegenste aller infrage kommenden Filialen, und sie hatte bestenfalls arbeitslosenfreundliche Öffnungszeiten. Nach Eintreffen der letzten Benachrichtigungskarte hatte ich mich an fünf Tagen hintereinander vorzeitig aus dem Büro geschlichen. Zweimal hatte eine S-Bahn-Verspätung alles zunichte gemacht, einmal war ich beim Endspurt durch die Fußgängerzone mit einem Currywurstesser zusammengeprallt. Ein weiteres Mal erreichte ich die Postfiliale fünf Minuten vor dem angegebenen Öffnungsschluss, aber die Tür war trotzdem schon abgesperrt und blieb es, sosehr ich mich auch dagegen warf, zum Amüsement der Postleute, die mich durch die Glasscheiben beobachteten. Einmal fing mich mein Chef ab und verwickelte mich in ein unangenehmes Gespräch. Dann war die Lagerfrist von sieben Werktagen abgelaufen, und das Paket ging zurück. An sie. Ausgerechnet.

Es gibt Situationen im Leben, da zählt nicht mehr der Aufwand, der erforderlich ist, um ein Ziel zu erreichen.

Zwei Abende lang befragte ich Nachbarn zum Lieferverhalten der Paketboten. Ich würde es vielleicht nicht glauben, sagte die frühpensionierte Frau Schmidtke aus dem zweiten Stock, aber sie habe vom Fenster aus beobachtet, wie die Paketmänner in ihrem Fahrzeug säßen und das Haus observierten, rauchend und mit laufendem Motor. Plötzlich stiegen sie aus, ohne Paket, wohlgemerkt, schlenderten zum Eingang, sähen sich verstohlen um, berührten kurz den Klingelknopf, sprinteten zum Wagen zurück und rasten mit Vollgas davon. «Sie wollen niemanden antreffen. Die Pakete sind schwer», sagte sie in heiserem Flüsterton. «Wer im Erdgeschoss wohnt, der hat vielleicht eine Chance, wenn er schnell, jung und tagsüber zu Hause ist. Aber Sie, Sie wohnen doch im vierten Stock…»

Ich nahm ein paar Tage Urlaub, meine Liebste erklärte mich für verrückt, kaufte ausreichend Vorräte und entwarf einen strikten Tagesplan. Morgens ab sechs trainierte ich eine halbe Stunde Treppenlaufen, anschließend öffnete ich das Fenster zur Straße und übte so lange Rufe, die ich aus Polizei- und Actionfilmen kannte, bis ich allein durch Stimmeinsatz tief unter mir auf dem Bürgersteig fahrende Radfahrer zur Vollbremsung bringen konnte. Von acht bis achtzehn Uhr postierte ich mich am Fenster.

Nach ein paar Tagen kannte ich die Arbeitszeiten der Bewohner der umliegenden Häuser auswendig und hatte außerdem herausgefunden, dass schräg gegenüber jemand ein illegales Bordell betrieb. Am Donnerstag, eben hatte ich meinen Urlaub «aus wichtigem privatem Grund» verlängert, machte mich Frau Schmidtke telefonisch auf einen verdächtigen Transporter aufmerksam, der sich als der des Gemüsehändlers entpuppte. Nachmittags um 14.12Uhr näherte sich erstmals ein langsam fahrendes Postfahrzeug. Ein Mann stieg aus, ohne Paket. Er sah sich nach allen Seiten um und schlich verstohlen auf das Haus zu.

Ich schnellte hoch, bewältigte die Treppen in Rekordzeit, riss die Haustür auf, donnerte: «Halt! Stehen bleiben!», und sah, wie der Mann in den Blumenbottich an der Ecke pinkelte. Bevor ich mich entschuldigen konnte, löste er sich aus seiner Erstarrung und floh.

Am Freitag verfolgte ich einen heftigen Ehekrach schräg gegenüber und verständigte Polizei und Krankenwagen.

Am Montag um 11.02Uhr hielt wieder ein Postwagen vor dem Haus. Ein Gelbgekleideter stieg aus.

Er hielt etwas in der Hand. Es war ein Päckchen. Ich polterte nach unten und stieß die Haustür mit einem gellenden Schrei auf. Der Paketlieferant, den Finger gerade auf halbem Weg zum Klingelschild, starrte mich mit geweiteten Augen an. Ich entriss ihm das Päckchen und knallte die Tür zu. Es war an meinen Nachbarn Peter adressiert.

Der dankte mir abends gerührt und erzählte mir von einem dummen Gerücht, die Postwagen seien in Wirklichkeit Fahrzeuge des Verfassungsschutzes, voll gestopft mit modernster Überwachungselektronik, mit der als Auslieferer getarnte Agenten Wohnungen scannten und sich einen teuflischen Spaß daraus machten, immer dort zu klingeln, wo gerade niemand öffnen könne. Nur ein dummes Gerücht, sagte Peter, aber sei nicht an jedem Gerücht etwas dran?

Am Tag darauf, ich saß wieder am Fenster, spürte ich den Druck. Vielleicht war es die einseitige Ernährung der vergangenen Zeit oder die dauernde Anspannung; der Schmerz in meinem Unterbauch nahm ständig zu. Gegen 13Uhr begann ich mit Yoga-Übungen. Gegen 14Uhr entschloss ich mich, leise zu wimmern. Gegen 14.25Uhr konnte nicht mehr. Es gibt Helden, mutterseelenallein in einem Ballon auf dem Weg zum Nordpol, die Windeln tragen oder sich in einer solchen Lage, das Ziel vor Augen, nicht um ihre Unterwäsche scheren. Ich bin kein Held, und außerdem, was würde meine Liebste denken?

Um 14.37Uhr verließ ich meinen Posten schmerzgekrümmt und für höchstens drei Minuten. Um 14.39Uhr klingelte es. Kurz und flüchtig. Es war das Klingeln von einem, der niemanden antreffen möchte.

Bevor ich nachdenken konnte, reagierten meine Reflexe. Mit ein paar Sprüngen war ich im Treppenhaus, ich nahm die erste Treppe im Sturm, auf der zweiten entglitt die offene Hose meinen Händen, wickelte sich um meine Fußknöchel, ich stürzte, hörte, wie im Treppenhaus Türen aufgerissen wurden, kam wieder auf die Füße, hörte die anfeuernden Rufe meiner Nachbarn, ignorierte die Schmerzen im Knöchel, nahm die restlichen Treppen, erreichte humpelnd die Tür, riss sie auf und sah den gelben Postwagen gerade noch mit Vollgas um die Ecke biegen.

Am nächsten Tag rief ich sie an. «Ich habe es mir überlegt», sagte ich. «Du kannst meine Sachen behalten. Als Erinnerung, als was auch immer.»

Sie seufzte. «Ich habe es gewusst. Die ganze Zeit schon. Gestern habe ich dir auch etwas geschickt. Ein kleines Paket. Zur Erinnerung…» – «Nein!», schrie ich. «Nein!»

Aber sie hatte schon aufgelegt.

Hemdenasyl

Ich liebe mein rotbraunes Hemd. Ich habe es schon lange Jahre, wir haben zusammen so viel erlebt, und ich würde es niemals im Stich lassen, auch wenn manche das gerne hätten.

Zum Beispiel meine Liebste.

Neulich, es war gegen Morgen, hatte ich den Traum, ein schwarz maskiertes Spezialkommando würde unsere Wohnungstür aufsprengen, um mich zu kidnappen. Ich fuhr hoch, und sie stand vor mir, in der Hand mein rotbraunes Hemd.

«Glaubst du nicht», sagte sie, «es wird langsam Zeit, dass du dich von diesem Fetzen verabschiedest?»

«Warum?», stotterte ich mühsam. «Das Hemd ist doch noch völlig in Ordnung.»

Meine Liebste prustete. «Völlig in Ordnung? Der Kragen ist abgeschabt, überall sind Flecken, und die Farbe – was ist das überhaupt für eine Farbe?»

«Rotbraun», erklärte ich, «große dunkelbraune Karos auf rotem Untergrund.»

«Karos?», fragte sie. «Ich sehe keine Karos.»

Ich sagte, das liege an den schlechten Lichtverhältnissen in unserem Schlafzimmer. Sie deutete auf eine Stelle am Hemdrücken und wollte wissen, ob diese rot oder braun sei. Ich konnte es nicht mit letztgültiger Sicherheit sagen, tippte aber auf Rot. Sie zeigte auf den Kragen. Hier vermutete ich eher Braun. Dann zeigte sie auf eine etwas ausgeblichene Stelle an der Brust, bei der es schon schwieriger war.

Ich fragte, ob sie mich ärgern wolle.

«Du willst mich ärgern», sagte sie. «Dieses Ding hängt seit Ewigkeiten in unserem Kleiderschrank und nimmt Platz weg, ohne dass du es noch tragen würdest, aber jedes Mal, wenn ich etwas sage, behauptest du, du könnest dich nicht von ihm trennen.»

«Ich kann mich nicht von diesem Hemd trennen», sagte ich mit fester Stimme.

«Warum nur?», rief sie. «Warum?»

Ich hätte sagen können, dass Frauen keine Ahnung haben, wie das mit einem Lieblingshemd ist, das man vor über zwanzig Jahren gekauft hat, um zum ersten Mal in eine Disco zu gehen, das man später bei denkwürdigen Ereignissen in der Kneipe und im Biergarten getragen hat, mit aufgekrempelten Ärmeln, damit es noch passte, ein Hemd, in dem man fast in eine Schlägerei geriet (weil jemand es böswillig mit Rotwein überschüttet hatte), ein Trennungsgespräch erlebte (nicht wegen des Hemdes!) und das man bei zwei für die Karriere wichtigen Umzügen trug. Ich hätte sagen können, dass es ein solches Hemd nicht verdient, behandelt zu werden, als sei es irgendein dahergelaufenes Hemd.

Aber meine Liebste hätte es nicht verstanden. Für eine Frau zählen in einem solchen Fall nur rationale Argumente.

«Wer sagt denn, dass ich es nicht mehr tragen kann?», fragte ich.

Meine Liebste wurde blass.

Am folgenden Tag stellte ich fest, dass meine Arbeitskollegen für ihr Alter noch ziemlich kindisch waren.

Gegen zehn Uhr, kurz nachdem ich durch den Flur zum Kopierer gegangen war (um die Arme richtig bewegen zu können, musste ich die drei obersten Knöpfe des Hemdes offen lassen), begannen die Ersten von ihnen unter erbärmlichen Vorwänden mein Zimmer zu betreten, mich wortlos anzustarren und dann schnell und mit zuckenden Lippen wieder zu verschwinden. Gegen elf Uhr gingen sie dazu über, sich im Flur zusammenzurotten, im Fünf-Minuten-Takt meine Tür aufzureißen und in haltloses Gelächter auszubrechen. Gegen elf Uhr dreißig kaufte ich im Kaufhaus nebenan ein Ersatzhemd (als er sah, dass ich wirklich bezahlen konnte, entschuldigte sich der Verkäufer für seine anfängliche Reserviertheit).

Auch die Lippen meiner Liebsten zuckten, als ich abends zu Hause von meinem Tag erzählte.

Von nun an trug ich mein Lieblingshemd im Haus. Nach zwei Tagen zuckten die Lippen meiner Liebsten nicht mehr, nach vier Tagen erteilte sie mir die Auflage, das Hemd zu wechseln, bevor wir Besuch bekämen, und sei es nur der Briefträger. Nach fünf Tagen versuchte sie, es nach dem Waschen im Müll verschwinden zu lassen, ich zerrte es gerade noch rechtzeitig wieder heraus.

«Bitte!», sagte sie, als ich mich hineinzwängte, «ich möchte dieses Hemd nicht mehr zu Gesicht bekommen! Trag es, wann du willst, nur nicht in meiner Gegenwart!»

Im Leben ist alles eine Frage der Organisation. In jeder noch so guten Partnerschaft ist man hin und wieder so allein, dass man schnell in sein Lieblingshemd schlüpfen kann: auf der Toilette, beim ausführlichen Suchen nach etwas sehr Wichtigem im Keller oder morgens um sechs, eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln, wenn Zeit genug ist, sich im Hemd vor den großen Spiegel im Flur zu setzen, über die Flecken und abgeschabten Stellen zu streichen und seinen Erinnerungen nachzuhängen. Bis man dort einmal vom Schlaf überrascht wird, die Liebste nach dem Weckerklingeln aus dem Schlafzimmer tappt und aufschreiend über einen stürzt.

Nach zähen Verhandlungen einigten wir uns darauf, dass ich das Hemd vorläufig nicht mehr tragen würde. Im Gegenzug sollte es einen speziellen Kleiderbügel ganz vorn im Schrank erhalten, wo ich es bei jedem Öffnen der Schranktür betrachten konnte.

«Ich hoffe, du kommt nicht auf die Idee, dabei noch Kerzen anzuzünden», sagte meine Liebste.

Aber schon nach einigen Wochen fiel mir auf, dass ich immer seltener mit meinem Hemd sprach. Nach zwei Monaten ertappte ich mich dabei, wie ich die Schranktür zum ersten Mal öffnete und schloss, ohne es andächtig berührt zu haben. Nach drei Monaten wollte meine Liebste mit mir in aller Ruhe und mit einem Erwachsenen über den künftigen Verbleib des rotbraunen Hemdes sprechen, das ich schon seit Wochen keines Blickes mehr gewürdigt hätte.

Ich argumentierte, das habe nichts zu sagen, und das Hemd könne bei der einen oder anderen Gelegenheit immer noch gute Dienste leisten, beim nächsten Umzug oder notfalls in ein paar Jahren beim Streichen der Küchenwände.

Meine Liebste schüttelte langsam den Kopf. «Würdest du deinem treuen alten Hemd so etwas Schmutziges wirklich antun?»

Ich starrte sie an und verneinte gerührt. Ich weiß, warum ich meine Frau liebe.

«Gib es ab», sagte sie. «Gib es jemandem, der es wirklich brauchen kann und der es in Ehren hält.»

Es war nicht leicht.

Mein Vater lehnte es ab, das Hemd auch nur anzuprobieren, mein Bruder ebenso. Der Mann im Secondhandladen brach in höhnisches Gelächter aus, als ich es auspackte, und die Frau von der Caritas wollte mir nicht garantieren, dass dieses Hemd nur in wirklich gute Hände abgegeben werde. Blieb noch unser Nachbar Peter, der über viel Platz im Kleiderschrank verfügt und der bereit war, meinem Hemd Asyl zu gewähren.

Nur so lange, bis meine Liebste die ganze Sache vergessen hat.

Fit im Gummikorsett

Eines Morgens, ich stand im Aufzug, um ins Büro hochzufahren, drückte jemand von außen die Türflügel auf und zwängte sich hinein. Es war mein Kollege Michael. Lächelnd bohrte er mir den Zeigefinger in den Bauch und fragte: «Wie lange?»

Ich starrte ihn fragend an.

Er holte ostentativ geduldig Luft. «Na, wie lange bist du heute Morgen gelaufen?»

Ich starrte ihn weiter an, denn genau das war das Problem. Man kann auch als Nichtläufer gesund, belastbar und kreativ sein, nur das wusste Michael nicht. Was nicht schlimm gewesen wäre, hätte man ihn nicht in der Firma für den kommenden Mann gehalten.

«Oh, ich bin einige Zeit nicht gelaufen, ausnahmsweise», sagte ich, unauffällig die Bauchmuskeln anspannend, «die Affäre Sommer übrigens…»

«Wann läufst du sonst immer?», unterbrach Michael ungeduldig. Mir fiel auf, dass er von einem Fuß auf den anderen trat, als könne er es nicht erwarten, gleich loszulaufen, notfalls hier im Fahrstuhl.

«Oh, das ist unterschiedlich…», begann ich zögernd, aber da hielt der Fahrstuhl endlich. Ich rief: «Wichtiges Telefonat», und stürmte los, aber ich wusste, Michael würde wieder fragen. Heutzutage kann es das berufliche Aus bedeuten, wenn man nicht das tut, was andere für angesagt halten.

In der Mittagspause schlich ich an den Kollegen vorbei, die im Gang in kleinen Grüppchen zusammenstanden, Eiweißdrinks schlürften und breit grinsend über den nächsten Stadtmarathon redeten, kaufte in der Buchhandlung eine Auswahl Laufbücher und ließ sie als Geschenk verpacken. «Für meinen Neffen», raunte ich, als ich ins Büro zurückkam, für den Fall, dass mir jemand heimlich gefolgt war, «er ist drei, allerhöchste Zeit, mit dem Laufen anzufangen.»

Am nächsten Morgen war ich todmüde, aber hatte alles gelesen über die richtige Laufkleidung, die richtigen Schuhe und die richtige Lauftechnik; ich hatte außerdem ein paar Freunde angerufen und mir anhand ihrer Laufzeiten im Stadtpark eine fiktive eigene Laufzeit ausgerechnet, die einigermaßen respektabel klang, aber deutlich unter der lag, die ich bei Michael vermutete – möglicherweise wäre er sonst auf die Idee gekommen, sich morgens um sechs mit mir messen zu wollen.

In der Mittagspause stellte ich mich zu den Kollegen in den Flur. Obwohl ich mir alle Mühe gab, dynamisch von einem Bein aufs andere zu treten, waren sie nicht übermäßig angetan von meinem Fachwissen, ja, einige Schlüsselstellen über Glücksbotenstoffe im Hirn und Laufen mit und ohne Sauerstoff, die ich noch im Morgengrauen auswendig gelernt hatte, waren offenbar unter Läufern so bekannt, dass die anderen sie im Chor mitsprechen konnten.

Um Leute wie Michael zu beeindrucken, brauchte ich bessere Informationen. Am Abend klickte ich mich durch Laufforen im Internet, bis ich auf die spannende Frage stieß, wie man es schafft, bei schnellem Lauf ausschließlich durch die Nase zu atmen (es ist unmöglich, gestand ein Sportmediziner). Am nächsten Morgen passte ich Michael wie zufällig vor dem Fahrstuhl ab und verwickelte ihn beim Hochfahren in ein Gespräch zu ebendiesem Thema.

«Wie trittst du eigentlich auf?», unterbrach Michael meinen Redefluss mitten im Satz.

«Na, mit den Füßen», erwiderte ich verständnislos. Er sah mich ebenso verständnislos an, bis sich die Fahrstuhltüren öffneten. Später, beim zufälligen Zusammentreffen in der Kaffeeküche (ich tat, als kaute ich etwas und hätte es zudem sehr eilig), warf er mir einen skeptischen Blick zu. Ich musste deutlichere Hinweise auf meine Laufkompetenz geben.

Ich begann, mit einer Sporttasche zur Arbeit zu kommen, entspannt grinsend (ich brauchte nur dran zu denken, dass die Kollegen vor Stunden aufgestanden waren, um im Halbdunkeln zwischen Hundehaufen Slalom zu laufen). Ich übte vor dem Spiegel einen kraftvoll-federnden Gang. Und als eine Besprechung mit Michael anstand, kaufte ich im Laufshop grell gefärbte Profi-Laufsocken, wusch sie zehnmal hintereinander, bis sie gebraucht aussahen, und zog sie zum Anzug an.

Es lief nach Plan. Als ich Michael gegenübersaß und die Beine so übereinander schlug, dass die Socken zu sehen waren, unterbrach er sofort das Gespräch, zog seinerseits die Anzughose hoch und zeigte mir seine Laufsocken. Es war dieselbe Marke.

Ich verließ sein Zimmer mit dem guten Gefühl, jede Menge wettgemacht zu haben.

In den kommenden Tagen perfektionierte ich das Erscheinungsbild eines passionierten Läufers.

Ich begann, im Büro zu trinken, viel, sehr viel, mindestens drei Liter Wasser am Tag. Auf meinem Schreibtisch stand immer eine angebrochene Flasche, auch in Konferenzen und Besprechungen nahm ich spätestens jede dritte Minute einen gurgelnden Schluck. Zudem kaufte ich im Erotikfachgeschäft ein schnürbares Gummikorsett, das sich unauffällig unter dem Hemd tragen und mich so schlank wie einen echten Läufer erscheinen ließ.

Dann traf ich Michael am Kopierer.