Weg da, das ist mein Handtuch - Mark Spörrle - E-Book

Weg da, das ist mein Handtuch E-Book

Mark Spörrle

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Beschreibung

Willkommen auf dieser ziemlich deutschen spanischen Insel! Im Clubhotel mit allen Schikanen und Gästen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Oliver, der mit Frau und Zwillingen im Ersatzzimmer mit Ameisen und hauchdünnen Wänden einquartiert und im Pool mit Schwimmnudeln attackiert wird, bis er die Abendshow sprengt. Susan, die ihrem Leben ein Ende setzen will, es aber ums Verrecken nicht schafft. Moritz, Schauspieler und Star, der sich lieber als sein Doppelgänger ausgibt. Jessica, die auch in den Ferien durcharbeitet, zwei SMS verwechselt und am Ende ohne Job und ohne Freund dasteht. Und Mario, Profi-Liegen-Reservierer und ausgekochter Pauschalurlauber, der jedes All-inclusive-Angebot mitnimmt …

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Titelei

Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de Für Sabeth und Stella Alle in diesem Buch vorkommenden Personen und Einrichtungen sind frei erfunden. Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1.Auflage 2011 ISBN 978-3-492-95286-6 © Piper Verlag GmbH, München 2011 Umschlag: Birgit Kohlhaas, Egling

Samstag

PETE

Es war dumm. Idiotisch. Unverzeihlich.

Wieso hatte er unbedingt duschen wollen?

Und wenn es schon sein musste: Warum hatte er die Badezimmertür geschlossen?

Nun stand er da. Nackt. Den Hohlgriff in der Hand. Die andere Hälfte der Klinke lag nebenan im Hotelzimmer. Und so sehr Pete an dieser Tür rüttelte: Sie bewegte sich nicht.

Wie gesagt: Das war mindestens dumm. Auf Island machte Vulkan Katla Anstalten auszubrechen, und darauf wartete Pete, seit er seine revolutionäre Theorie der kreuzweisen Vorbeben entwickelt hatte– zuerst im Waschkeller des Instituts, dann im Vulkansimulator in Kalifornien. Seither litt Pete unter Ohrensausen und einem kleinen Knalltrauma. Aber seine Theorie würde ihn zur weltweiten Vulkankoryphäe Numero Uno machen.

Nur der Praxisbeweis fehlte noch. Sein Flug hier von der Insel mit Umsteigen in Frankfurt und Oslo ging in zwei Stunden.

Pete öffnete das Fenster. Vier Stockwerke unter ihm lag der Pool. Obwohl es früh am Morgen war, hüpften im Wasser ein paar Leute in Badezeug wie aufgezogen auf der Stelle. Aus den Lautsprechern dröhnte es: »Hey, das geht ab. Wir feiern die ganze Nacht, die ganze Nacht. Hey, das geht ab. Wir feiern die ganze Nacht!«

Pete blieb keine Wahl.

»Help«, rief er. »Help! Help! Help me!«

Pete hatte eine ungeübte Stimme; der Forschung wegen beschränkte er seine Auftritte im Hörsaal auf ein Minimum. Auch privat gab es nie Anlass zum Schreien, er war Single.

Das rächte sich nun. Keiner hob den Kopf, so sehr er auch rief.

OLIVER

Dr.Obernhöffler war stärker als er. Er drückte ihn gegen den Schreibtisch, packte ihn mit einer Hand an der Kehle. Und schrie, es sei nichts Persönliches, aber er müsse Oliver nun leider in Stücke hacken, um den viel zu niedrigen Fleischanteil des neu entwickelten Welpenfutters zu erhöhen. »Aufwachen«, schrie Obernhöffler mit Schaum vor dem Mund. »Aufwachen Oliver! Steh sofort auf! Wir sind viel zu spät! Wegen dir!«

Sein grausamer Chef sprach mit der Stimme von Anna, seiner Frau. Es WAR Anna. »Du hast den Wecker zu spät gestellt«, rief sie. »Oliver, was ist denn los mit dir? Wie sollen wir das noch schaffen?«

Oliver taumelte aus dem Bett wie ein angeschossenes Nilpferd.

Es folgte der ganz normale Wahnsinn: Die Kinder wecken. Die Kinder anziehen, Waschen fiel aus, weil sie so schlechte Laune hatten, dass sie kein bisschen mitmachten. Frühstück fiel aus. Den Müll mit runternehmen fiel erst recht aus; der Taxifahrer klingelte schon zum zweiten Mal. Auf halbem Weg zum Flughafen fiel Anna dann ein, wo die Tickets waren: In ihrer braunen Handtasche– leider hielt sie die schwarze auf dem Schoß. Auch der Fahrer machte kein bisschen mit: Er weigerte sich, schneller als erlaubt oder auch nur über eine einzige rote Ampel zu fahren. »Was habe ich davon, Familien geben sowieso nie Trinkgeld«, brummte er. Er hatte sich nicht getäuscht.

Beim Einchecken verschlechterte sich Annas ohnehin angespannte Laune rapide, als Oliver ihr euphorisch den Grund für das Übergepäck gestand.

»Die Boulekugeln!« Sie sah ihn an, als habe er heimlich die Mülltonne eingepackt.

Oliver hatte gehofft, sie würde ihm um den Hals fallen. Immerhin hatten sie die Boulekugeln in allen Urlauben vor der Geburt der Kinder dabeigehabt. In lauschigen Hotels, in die ihre vierjährigen Zwillinge jetzt eingefallen wären wie die Hunnen. Weshalb sie seit vier Jahren im Urlaub lieber daheimblieben. Bis heute.

Die Schwiegereltern warteten nicht wie verabredet vor der Sicherheitskontrolle. Und übers Handy waren sie nicht zu erreichen. Sie waren aber auch nicht einfach daheimgeblieben, wie Oliver schon insgeheim hoffte. Nein, sie saßen am Gate und sahen ihnen mit ostentativem Kopfschütteln entgegen.

»Über eine Stunde sitzen wir schon hier!« Die Schwiegermutter sprach mit ihnen, als habe sie Schwachsinnige vor sich. »Hättet ihr nicht ein einziges Mal früher losfahren können? Und warum habt ihr nicht wenigstens Bescheid gesagt, dass ihr so spät kommt?«

»Ihr wolltet doch vor der Sicherheitskontrolle warten«, sagte Anna.

»Ach Kind«, die Schwiegermutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Da ist es doch viel zu ungemütlich. Nirgendwo was zum Kaffeetrinken!«

»Und warum habt ihr euer Handy nicht an?«

»Handy?«, fragte der Schwiegervater gedehnt. »Das haben wir zu Hause gelassen. Das Ladegerät war zu schwer.«

»Zu schwer?«, echote Oliver.

»Ja, Oliver«, sagte die Schwiegermutter spitz. »Wir haben unser Gepäck genau gewogen. Mehrfach. Mit Ladegerät wären es zwanzig Gramm über dem erlaubten Gewicht gewesen. Und was sollen wir mit einem Handy ohne Ladegerät?«

JESSICA

Als sie sofort nach dem Abheben ihr Notebook hochfuhr, huschte eine Flugbegleiterin herbei und brachte das Sprüchlein von den bösen elektronischen Geräten. Aber dann schrillte irgendwo ein Handy, eine Frau begann laut zu telefonieren– »Woooo? Im Fliejah? Mensch, ick ooch! Ick seh dir!«– und die Begleiterin verschwand mit zuckendem Mund.

Gut so, Jessica hatte keine Zeit zu verlieren. Die Präsentation musste fertig werden, damit sie zu dieser Spielzeughersteller-Übernahme kam. Die übliche Kiste: Ein belgischer Investor kaufte eine Traditionsfirma, des Namens wegen. Er würde abspalten, auslagern, kündigen, wo ging, und den Rest in ein Billiglohnland verlagern. Ihr Job war, alles in der Öffentlichkeit rundum positiv klingen zu lassen. Statt Übernahme: Aufbruch zu neuen Märkten. Statt Investor: Synergien. Jessica würde erzählen, dass die belgischen Spielzeugautos Räder hatten, die wie in alten Zeiten nach echtem Gummi rochen. Sie würde den Teufel tun zu erzählen, dass die Räder so stanken, weil sie in Fernost aus minderwertigem Material hergestellt wurden.

Eine Mission für ein echtes Bond-Girl, hatte Julian gesagt und gelacht. Na ja. Wenn’s so schwer wäre, hätte der Big Boss sein Krisenteam drangesetzt, wie bei diesem Großbahnhofprojekt, das nur die Baumafia wollte. Im Krisenteam beiin verba veritasarbeiteten die Besten der Besten. Und bald würde sie dazugehören. Kaum vier Jahre, nachdem sie als Praktikantin im coolsten Laden der Branche angefangen hatte. Das hieß: noch mehr Kohle. Cayenne oder Q6 als Dienstwagen. Demütige Anrufe von Headhuntern. Extrem lässig.

Sie konzentrierte sich. Versuchte, die Typen zu ignorieren, die im Gang rumstanden und Alkohol tranken, als seien sie auf dem Weihnachtsmarkt. Auch den Typen da, schräg gegenüber von ihr, der sich mit seinem Lockenkopf und der Kassenkombisonnenbrille extrem toll vorkam und sie die ganze Zeit angrinste wie ein Kürbis an Halloween. Dabei fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, die Bambusse im Dachgarten zu gießen. Wenn sie heimkam, würde sie neue brauchen, das dritte Mal in diesem Jahr.

MARIO

Wenn man die Bräute hier anguckte, hatte er echt Schwein gehabt, dass das mit Ägypten nichts geworden war. Die paar Toten hätten ihm nichts ausgemacht, solange sie nicht im Pool schwammen, schließlich stimmte der Preis. Aber der Veranstalter kniff dann doch, weil es nicht lohne, das Hotel für einen einzigen Urlauber zu öffnen. Was konnte er denn dafür! Mario hatte dann gleich eine Woche Insel-Urlaub gebucht. Da konnte es keine doofen Überraschungen geben, stabile Regierung, Deutsch fast Amtssprache, dreißig Grad im Schatten. Bermudas, T-Shirt und Schlappen reichten völlig, und auf dem Weg zum Flughafen konnte man sich mit Bier wärmen.

449Euronen all inclusive hatte er bezahlt, und die würde er wieder reinholen. Mindestens. Sonne, Sand und Meer kamen als Goodie obendrauf. Und die Weiber als Extra-Goodie. Er ging mal davon aus, dass die meisten Bräute hier in seinem Hotel wohnten, und einigen war schon anzusehen, wie easy man bei ihnen landen konnte.

Also, er musste sich ranhalten.

Mario orderte Kaffee, Bier, belegte Käsestange, alles inklusive. Das war das Frühstück. Und dann orderte er das Gleiche noch mal. Das war das Extra-Frühstück. Das er vom Reisepreis abziehen konnte. Beim Bäcker an der Ecke kosteten Kaffee, Bier und Käsestange 6,45Euro. 449 minus 6,45: Blieben noch 442,55Euronen Miese, die er extra verfuttern und versaufen musste.

Und jetzt: Showtime, ihr Perlhühner, hier kommt Super Mario!

Zwei Reihen weiter saß eine Braunhaarige, an den nackten Armen Silberringe, tief ausgeschnittenes T-Shirt, schwarze Lederweste. Sie saß allein, Mario änderte das sofort. »Hey, ich bin Mario. Mann, endlich Urlaub! Bin ich froh. Da denken andere, einer mit meinem Job kann auch mal den Faulen machen. Vergiss es. Was ich zu koordinieren habe…«

Sie drehte den Kopf und sah an ihm vorbei.

Neben ihm stand eine kurzhaarige Frau in Lederjacke, zwei Bier in den Händen. Sehr dicht neben ihm.

»Sorry«, sagte er und rappelte sich hoch. »Sorry, äh… Ich hab gedacht, das ist Bea. Mit der ich früher zusammen auf der Schule war. Aber du bist nicht Bea, oder?«

»ICH bin Bea«, sagte die Lederjackenfrau.

»Mann!«, sagt Mario, »WIR waren zusammen auf der Schule? Ludwig-Kösl-Zitzewitz-Gesamtschule Köln-Pforz-Süd?«

»Genau«, sagte die Lederjackenfrau. »Genau so war’s!«

Scheiße.

»Ja, jetzt erkenne ich dich«, sagte die Lederjackenfrau und beugte sich zu ihm herunter, »bist du nicht der Wicht, der immer hinter die Tafel gepinkelt hat?«

So eine Scheißfrechheit. Mario war erstens nicht klein, er war ganz normal groß, 1,71, wenn die Locken gut standen, sogar 1,77 oder 1,78. Und die Locken standen gut!

Mario ließ die Lederjacke stehen, es gab hier noch jede Menge Weiber, die keine Kampflesben waren.

Und dann, bingo! Dunkler Pferdeschwanz, schlanker weißer Nacken. Sie drehte kurz den Kopf. Süße, blaue, leicht geschwollene Hinguckeraugen. Kaum gestylt, aber das hatte sie auch nicht nötig. Sie bewegte die Lippen. Betete sie?

Hey, vielleicht betete sie um einen Mann? Sie war Mitte dreißig, er hatte einen Blick dafür; alleinreisende Mädels in dem Alter hatten furchtbar Schiss, dass sie keinen mehr abkriegten. Kriegten sie auch nicht. Aber das musste man ihnen ja nicht sagen.

Mario organisierte schnell zwei neue Biere; Zwischenstand 436,95Euro, ließ sich neben die Braut auf den Sitz plumpsen und hielt ihr eins davon unter die Nase.

»Hey!«, rief er. »Prösterchen! Ich bin Mario!«

Sie vergaß vor Überraschung, mitzutrinken. Also trank er allein. Auf ex, da konnte er länger über seine nächsten Sätze nachdenken: »Hey, keinen Bock zu quatschen? Versteh ich. Voll. Bei mir ist es oft genauso: Das ganze Managen, die Verantwortung, das frisst. Und du, Honey, was machst du im normalen Leben?«

Honey, seit er diesen Ausdruck in einem Film gehört hatte, in dem die Männer weiße Anzüge trugen und mit Motorbooten herumfuhren, hielt er ihn für cool.

Sie sagte immer noch nichts. Bingo, sein Auftritt musste sie einfach umgehauen haben. Jetzt nur keine peinliche Pause entstehen lassen, einfach weiterreden, dann gehörte sie ihm.

»Okay«, sagte er. »Was liegt heute Abend an? Schwimmen, essen, Leibesübungen zu zweit?«

In ihren Augen tauchte etwas wie Fassungslosigkeit auf. Scheiße, der Spruch kam zu früh. Jetzt schnell die Stimmung wieder auflockern.

»Ä Tännschen«, rief er mit quäkender Lautsprecherstimme, »dies ist ein Notfall, bitte die Schwimmwesten bereithalten und nach dem Benutzen der Notrutsche mit Schwimmbewegungen beginnen. Vergessen Sie nicht, vorher die Ablagen zu putzen und die Zeitungen Ihres Nachbarn zu entsorgen…«

Sie lachte kein bisschen. Verstand sie kein Deutsch?

»This is an emergency«, rief er schnell. »Please prepare for landing! Attention, in case of any complications with the aircraft…«

»Hallo!«, sagte eine zuckersüße Stimme dicht an seinem Ohr. Es war eine Flugbegleiterin. »Das ist mein Text. Okay?« Ihr Parfüm roch gut, und ihre Augen machten Lust auf mehr.

»Sorry«, sagte Mario.

Die Braut neben ihm hob die Hand.

»Sie spricht kein Deutsch«, sagte Mario zur Flugbegleiterin, »aber ich kann kurz dolmetschen: Yes, please?«

»Ich möchte einen anderen Platz.«

»She will another place«, sagte Mario.

»Weit weg von dem Kerl!«

»Hey!«, sagte Mario. »Okay, ich kapier’s schon. Okay! Aber wir wohnen ja sicher im selben Hotel. Club Playa y Paraiso, oder?«

Sie zuckte zusammen. Bingo!

»Wenn du willst, lade ich dich in den nächsten Tagen zu einem Drink ein. Okay, Honey?« Mario stemmte sich hoch und schenkte auch der Flugbegleiterin ein vielversprechendes Grinsen. Dann fielen ihm die Karten ein. Seine Joker aus der Gesäßtasche, Tipp von seinem Kumpel Fredi, 100Stück 4,99 im Internet. Sahen aus wie Visitenkarten, drauf stand aber was viel Besseres: »Wenn Sie heute Nacht mit mir schlafen wollen, dann lächeln Sie jetzt. Wenn Sie lieber morgen Nacht mit mir schlafen wollen, dann gucken Sie jetzt richtig böse.« Mario drückte eine Karte der Dunkelhaarigen und eine der Flugbegleiterin in die Hand.

Lustig, wie sie erst lasen und dann gar nicht wussten, wie sie gucken sollten!

Zeit für Schritt zwei. Er zog aus der anderen Gesäßtasche zwei Karten mit nichts als seiner Handynummer (100Stück 2,99Euro). Die Dunkelhaarige fing gleich an, auch etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Ihre Visitenkarte! Dann machte es »pffft!«.

Er rang nach Luft. Es roch süß. Pfefferspray– nein: Parfüm! Die Kuh hatte ihn mit Parfüm eingenebelt! Fluchend sprang er auf, seine Augen tränten, er tastete sich zur Toilette.

Das Waschbecken war scheißklein, das ganze Flugzeugklo scheißeng. Mario rieb jeden Quadratzentimeter seines Gesichts mit Seife ein, aber es war, als ob das Scheißparfüm an ihm klebte. Und die Leute hier hatten echt keine Geduld. Sie fingen glatt an zu klopfen. Mario rief, sie sollten das lassen, sonst würde er rauskommen, und dann würde es gewaltig krachen.

Das wirkte. Einen Moment. Dann klopfte es wieder. Und einer schrie, er solle sofort aufmachen, er sei der »Pörsser«.

Mario rief zurück, dafür könne er doch nichts.

»Öffnen Sie«, brüllte der Typ. »Öffnen Sie sofort, sonst öffne ich. Ich bin befugt dazu! Das ist die LETZTE Warnung!«

Scheiße. Das klang offiziell. Was war ein »Pörsser«? Ihm fiel ein, dass er »krachen« gesagt hatte: Nicht dass da jetzt so ein Sheriff mit Knarre stand. Scheiße, und er war halbnackt und eingeseift.

»Schon gut«, brüllte er und spülte sich ab, »ich bin gleich fertig!«

»Öffnen Sie SOFORT«, brüllte der Mann, fast schon hysterisch, »öffnen Sie sofort, oder wir kommen rein!«

Eher er sich’s versah, packte ihn einer im blauen Hemd und schrie weiter: »Lassen Sie die Hände oben! Haben Sie Sprengstoff? Giftige Tiere? In den Schuhen? Im After? Am Körper? Antworten Sie! Verstehen Sie mich? Antworten Sie! Welche Sprache sprechen Sie?«

So ein Pörsser musste echt Stress haben. Schon riss er Mario die Schlappen von den Füßen, nichts Besonderes, 4,99 im Schlussverkauf. Der Typ schien enttäuscht. Er griff an Marios Beinen herum. Und dann an seinen Bermudas.

»Hey«, sagte Mario, »hey, was soll das? Finger weg. Und komm ja nicht auf die Idee, deine Finger in meinen Arsch…«

»Pfui, wie riecht der denn?«, sagte der Mann. »Parfüm«, sagte Mario. »Ich wollte es abwaschen. Und jetzt Schluss mit dem Rumgefummel! Ich bin nicht schwul!«

Er fand sich auf einem Sitz ganz hinten wieder, bewacht von einer Flugbegleiterin. Sie sagte, er könne saufroh sein, dass der Pilot nicht umgedreht sei, vorhin, als man ihn noch für verdächtig hielt. Und nein, sie wohne nicht im Club Playa y Paraiso.

Mario vermisste seine Kippen. Und: Das Bier kam langsam hoch.

Aber so heftig er in den Sitzfächern vor sich herumfingerte– er fand keine Kotztüte. Also versuchte er, wenigstens genau in ein Fach zu treffen, aber das war viel zu schmal. Scheiße, bei der Flugbegleiterin hatte er jetzt keine Chance mehr. Das sah er genau.

SUSAN

Jetzt hatte sie ein Drittel von Roberts Parfüm an diesen Primaten verschwendet. Aber der Rest reichte immer noch für die letzten Stunden und um es in der Hand zu halten, wenn sie starb. Das konnte sehr schnell gehen, man kennt das aus Filmen. Im Handumdrehen landen Flugzeuge falsch und rasen in irgendetwas: in einen Hügel am Ende der Landebahn, in ein Haus, einen Tankwagen. Wer dann weiter hinten sitzt, hat noch eine Chance, wird nicht pulverisiert, aber die vorne: gute Nacht.

Sie hatte sich nach vorne gesetzt. Sie wollte keine Chance. Und wenn es nicht von alleine geschah, würde sie es selber erledigen. Mit siebenunddreißig hatte sie genug Krisen hinter sich. Beruflich, beziehungstechnisch, auf der Waage bei den Weight Watchers. Sie konnte ganz eindeutig beurteilen, dass sie sich in einem Teufelskreis ohne Ausweg befand. Dass es ihr Schicksal war, nur an Männer zu geraten, die schlecht für sie waren. Sie unglücklich machten. Ihr Leben zerstörten, ihren Job.

Mangelndes Selbstbewusstsein war gar nicht gut für einen Coach. Einmal ließ sie einen Klienten in dessen Büro sitzen, stürmte nach nebenan in einen leeren Konferenzraum und bekam einen hysterischen Weinkrampf. Und dann hatte sie plötzlich das Gefühl, dass ihr jemand zusah. Es waren zehn, zwölf Chinesen, die sie von einem Plasmabildschirm herab anstarrten und auf den Beginn einer Videokonferenz mit dem Vorstand warteten. Man habe sich bedankt, das Unterhaltungsprogramm sei sehr anrührend gewesen, schrieb ihr Klient später.

Ein andermal, in ihrer Praxis, hatte sie einen langjährigen Kunden da. Und als der fragte, wie es ihr gehe, tat sie, was sie sonst niemals machte: Sie erzählte kurz von Robert dem Schwein und dem, was er ihr angetan hatte.

Der Kerl sagte kein Wort, stand auf und ging. Dann kam seine Rechnung. Honorar für eine therapeutische Sitzung mit Anfahrt und Zuschlägen für Hausbesuch und Akutkrisenbewältigung. Er war Psychiater. Und ein Arschloch. Ein Mann halt.

Susan verließ kaum noch ihre Wohnung. Sie nahm acht Kilo ab, worüber sie sich früher gefreut hätte, vielleicht hätten sie die Weight Watchers sogar zum Mitglied des Monats gemacht– »ihr Erfolgsgeheimnis: Sie wurde sitzengelassen. Applaus!« Schließlich beschloss sie, Schluss zu machen. Und zwar richtig. Irgendwo, wo weder Freundinnen noch Eltern sie finden würden. Sie ging ins nächstbeste Reisebüro. Und hatte wieder Pech. Die Frau dort gab sich richtig Mühe. War total hilfsbereit. Hätte sie sagen sollen: »Bitte nur einmal one way nach Afghanistan, Hotel lohnt nicht, ich will mich eh umbringen«? Also ließ sie sich irgendein Pauschalangebot geben. Sie würde es ja nicht lange aushalten müssen.

OLIVER

Kaum waren sie auf Reisehöhe, wurden Carlotta und Elias unruhig und wollten sich abschnallen. Denn genau vor ihnen sprangen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, beide etwas älter, wie Gummibälle auf ihren Sitzen herum. Und stopften aus einem großen Rucksack Schokolade, Schaumwaffeln und Gummitiere in sich hinein, als ginge es um ihr Leben.

Ihre Kinder waren gut erzogen, ganz anders als diese hemmungslosen Schragen, aber sie schluckten schwer. Anna versuchte hastig, sie mit einem Buch von Pippi Langstrumpf abzulenken. Oliver fing an, mit ihnen Wolken zu zählen, ziemlich laut, um sein eigenes Magenknurren zu übertönen.

Aber schon fragte Carlotta mit Kleinkindquengelstimme, ob sie auch Süßigkeiten haben könne. Und noch während Anna antwortete, nein, sie wüssten doch, das sei nicht gesund und außerdem schlecht für die Zähne, ging das große Geheule los.

Na super. Das passierte, wenn man beim Einkaufen eine Urlaubsreise buchte.

Vor ein paar Wochen hatten sie im Großmarkt neben der Reisebüroecke das »Topangebot für Familien« gesehen: »Vier-Sterne-Hotel direkt am Strand, Pool, Halbpension mit Snackline am Nachmittag, Kinderbetreuung, eine Woche, all inclusive.« Oliver und Anna hatten noch nie im Großmarkt eine Reise gebucht. Sie hatten überhaupt noch nie eine Pauschalreise gemacht. Aber in diesem Saftladen gab es mal wieder kein frisches Gemüse, Carlotta wollte ein Kinderfahrrad mit Hilfsmotor mitnehmen, Elias hatte sich am Tiefkühlschrank die Finger geklemmt, und Anna und er waren so was von fällig, entnervt und durch, dass ihnen dieses Angebot vorkam wie das Ticket ins Paradies.

Zumindest der Flug war eher das Fegefeuer. Nun heulte auch Elias um Süßigkeiten.

Oliver wollte gerade in einem letzten verzweifelten Ablenkungsversuch Vollkornkäsebrötchen bestellen. Da drehte sich der Mann vor ihnen um und verzog das narbige Gesicht unter den kurzen Haaren zu einem hässlichen Grinsen. »Is okay, ihr könnt was abhaben. Eure Kiddys haben sicher auch massig Kohldampf. Heute früh hatte ja noch kein MacWürg auf!«

»Wie bitte… ach so, ja… vielen Dank«, stotterte Oliver.

Hätten sie abgelehnt, hätten Elias und Carlotta mindestens eine Stunde gebrüllt, zur hellen Freude aller Mitfliegenden. Also griffen die Zwillinge strahlend nach Gummibärchen und Schokolade. Anna gab ihnen Papiertücher und ermahnte sie, ihre Hände nur daran, keinesfalls an den Sitzen abzuwischen.

Fünf Minuten lang war alles gut. Dann drehte sich der Junge vor ihnen um, er trug eine grüne Plastikbrille, und begann mit Gummibärchen zu werfen.

»Könntest du bitte aufhören?«, fragte Oliver.

Der Junge schoss sich auf Oliver ein.

»Könntest du bitte aufhören, mich zu bewerfen!«, sagte Oliver.

Der Junge machte weiter.

»Hör bitte auf!«

Der Junge holte erneut aus.

»Entschuldigung…«, sagte Oliver zum Vater vor ihm.

Der lachte. »Is okay, wir haben genug davon! Auch’n Bier?«

Er winkte einer Flugbegleiterin.

O Gott!, dachte Oliver. Er raunte der Flugbegleiterin zu, er hätte gerne ein Alkoholfreies.

»Silke!«, rief die ihre Kollegin. »Hier will jemand ein ALKOHOLFREIES! Hast du zufälligerweise eins dabei?«

Es wurde still im Flugzeug. Irgendwo setzte leises Kichern ein.

»Quatsch! Ein richtiges bitte!«, sagte Oliver laut. »Haben Sie ein Pils?«

Die Schwiegereltern neben ihnen schüttelten ostentativ den Kopf.

Der Vater von vorn streckte ihm sein Bier entgegen.

»Sven!«, sagte er. »Schönen Urlaub! Ihr seid auch im Club Playa y Paraiso?«

»Ja«, krächzte Oliver, »äh… Oliver.«

Und er trank das Bier, es schmeckte scheußlich, so langsam es ging.

PETE

Er war heiser vom Schreien. Die Leute da unten hatten den Pool verlassen, ohne dass auch nur einer zu ihm hochgeguckt hätte. Petes Uhr lag unerreichbar im Nebenzimmer, aber seiner Schätzung nach gab es noch ein Zeitfenster von wenigen Minuten, um rechtzeitig zum Flughafen zu kommen.

Pete war für den Weltfrieden und hatte noch niemals vorsätzlich Gewalt angewendet. Er kämpfte lieber mit dem Geist, aber der war hier nicht gefragt. Zum Glück wusste er aus Fernsehkrimis, was zu tun war. Er ging einen Schritt zurück, zumindest so weit, bis sein Rücken an die Duschabtrennung stieß. Dann sammelte er alle Kraft, hob den rechten Fuß und trat mit voller Wucht gegen die Tür.

Gut, Pete war in körperlichen Dingen eher ungeübt. Und das Bad war zu winzig, um einem Fuß genügend Raum zum Ausholen zu geben. Es war also nicht erstaunlich, dass die Tür beim ersten Tritt hielt. Das Erstaunliche waren die Schmerzen in seinem Fuß. In jedem anderen Hotel hätten Petes Schreie ausgereicht, um jemanden herbeistürzen zu lassen.

OLIVER

Es war hier mindestens zehn Grad heißer als zu Hause, der Transfer zum Hotel ging schnell, und von außen sah das Hotel genauso gut aus wie auf den Fotos. Nur der Mann, der in der großen Lobby mit Marmorfußboden an der Rezeption stand, machte dumme Witze.

»Sie haben die Doppelzimmer268 und 297 im zweiten Stock«, sagte er in akzentfreiem Deutsch und legte die Schlüsselkarten vor Oliver. »Zimmer268 hat zusätzlich eine Doppelaufbettung für die Kinder. Der Fahrstuhl ist geradeaus, Frühstücksbüfett gibt es von 7.30Uhr bis 9.30Uhr. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt!«

»Moment«, sagte Oliver. »Wieso Doppelzimmer?«

»Zwei Doppelzimmer Standard, ja«

»Wir haben etwas ganz anderes gebucht!«

Der Rezeptionist seufzte. »Ich bin froh, Ihnen überhaupt etwas anbieten zu können! Wir sind völlig überbucht. Das hat Ihre Reiseleitung doch alles schon mit Ihnen besprochen!«

»Hören Sie«, sagte Oliver, »niemand hat mit uns gesprochen. Aber ich weiß, was wir gebucht und bezahlt haben: ein Familienzimmer der Exklusiv-Kategorie mit zwei Schlafräumen. Und zwei Einzelzimmer der Exklusiv-Kategorie für meine Schwiegereltern. Hier, sehen Sie!«

Er zeigte auf die Buchungsbestätigung.

Der Mann hinter dem Tresen warf keinen Blick darauf. »Wie gesagt: Wir haben nichts anderes mehr frei. Ich kann Ihnen als kleine Entschuldigung für jedes Familienmitglied aber einen Happy-Hour-Gutschein für die Poolbar anbieten. Dafür erhalten Sie einen Drink Ihrer Wahl zum halben Preis. Hier bitte, viel Spaß damit, und danke für Ihr Verständnis!«

Er wandte sich den nächsten Gästen zu.

»Wir haben kein Verständnis«, sagte Oliver. »Wir möchten die Zimmer haben, die wir bezahlt haben!«

Der Rezeptionist tat, als höre er ihn nicht.

»Hallo?«, rief Oliver etwas lauter. »Ich sagte: Wir haben dafür kein Verständnis!«

»Oliver, bitte!« Die Schwiegermutter lächelte den Leuten hinter ihnen so entschuldigend zu, als habe er verkündet, er bestehe darauf, hier in fünf Minuten Amok zu laufen.

Der Thekenmann warf ihm einen höhnischen Blick zu. »Wie gesagt: Das müssen Sie mit Ihrem Reiseleiter klären. Mit dem Rei-se-lei-ter.« Er sprach, als sei Oliver ein Trottel.

»Wo finde ich denn diesen Rei-se-lei-ter?«

»Dort hinten«, der Rezeptionist deutete zu einer Säule am anderen Ende der Halle.

Davor stand ein Schreibtisch. Ein unbesetzter Schreibtisch.

»Ich sehe ihn nicht«, sagte Oliver.

Der Rezeptionist zuckte die Schultern. »Er muss gleich wiederkommen.«

Oliver ging zu dem Tisch. Es lagen einige Zettel und Visitenkarten mit handgekritzelten Bitten um dringenden Rückruf darauf. Daneben riet ein mehrfach gerissenes und mit Tesa geklebtes Aufstellschild, sich bei extrem dringenden Angelegenheiten notfalls an den Hoteldirektor zu wenden. Oliver ging zurück.

»Oliver, so schlimm wird es schon nicht sein«, sagte seine Schwiegermutter wie zu einem trotziges Kleinkind. »Ich bin ja schon froh, dass wir hier nicht diese Plastikhandschellen tragen müssen, wie sonst in solchen Hotels. Kommt, lasst uns die Zimmer angucken. Vielleicht sind sie ja gar nicht so schlecht!«

JESSICA

Die anderthalb Zimmer– sie nannten das hier Superior-Suite und waren scheißfreundlich zu ihr– lagen im obersten Stock und waren ganz okay. Kein echtes Vier-Sterne-Superior, wie oft im Ausland, aber sie gaben sich Mühe: der Obstkorb mit Trauben, Datteln, Feigen und Schleife war frisch, die Minibar voll mit Mittelklasse-Alkohol, den sie nicht anrühren würde. Vom Schreibtisch sah sie über die Terrasse aufs Meer.

Alles nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte, als Julian sie in der Konferenz bat, zu fahren. Ein Extra-Dankeschön eines Reiseveranstalters, den sie kommunikativ aus der Scheiße geholt hatten: eine Woche Urlaub im Vier-Sterne-Hotel, Superior-Suite, all inclusive. Nun, nicht dort, wo sie die Haie zu Delfinen kommuniziert hatten, aber trotzdem: Ein solches Hotel war nicht unbedingt Jessicas Stil. Aber man konnte so was ja schlecht ablehnen, ohne den Kunden zu verärgern. Und Julian hatte gesagt, sie habe ja ewig keinen Urlaub gemacht. Ich brauche keinen Urlaub, hatte sie geantwortet, ich muss meine Projekte durchziehen.

Julian hatte nur gelacht, sein zähnefletschendes, lang anhaltendes Lachen.

Er war genauso wenig ein Freizeittyp wie sie, aber wenn er so lachte, sollte man ihm nicht zu sehr widersprechen. Wenigstens hatte sie sich vorher noch das Spielzeugprojekt gekrallt; für den Aufstieg ins Krisenteam brauchte sie jeden Pluspunkt, den sie kriegen konnte.

OLIVER

»Muss sich deine Mutter eigentlich immer einmischen?«, fragte Oliver, als sie mit den Kindern allein vor ihrem Zimmer standen. »Hast du gemerkt, wie sie mir an der Rezeption in den Rücken gefallen ist?«

Anna sah ihn mit jener latenten Genervtheit an, die bei ihr seit Monaten schon fast Normalzustand war: »Oliver! Hör endlich auf, auf meinen Eltern herumzuhacken! Sie sind extra mitgekommen, um uns im Urlaub mal die Kinder abzunehmen. Damit wir endlich auch mal Zeit für uns haben. Und du erinnerst dich: Auch du fandest das gut.«

Ja, es war ein großer Fehler gewesen, nicht gleich »Nein! Nur über meine Leiche!« zu schreien.

Oliver schloss die Zimmertür auf. Warme Luft schlug ihnen entgegen. »Die Klimaanlage geht nicht«, sagte Anna, Alarm in der Stimme. »Und hier hat jemand geraucht! Das geht gar nicht!«

Sie riss die Balkontür auf und rannte nach draußen. Oliver hielt die Kinder fest und sah sich im Zimmer um. Es war einfacher eingerichtet als auf den Bildern. Es gab keine Vorhänge, keinen Tisch und keine Stühle. Die hätten auch nicht mehr hier hereingepasst, denn mit den beiden Campingbetten am Fußende des Doppelbetts war das Zimmer schon voll. Oliver konnte jetzt schon wetten, dass sämtliche Matratzen durchgelegen waren.

»Ich sehe kein Meer«, Anna kam vom Balkon wieder herein. »Kein bisschen! Im Prospekt steht, man hat von jedem Doppelzimmer aus Meerblick… Was machst du?«

»Ich rufe die Rezeption an«, sagte Oliver.

»Musst du dich wieder mit denen anlegen? Können wir uns nach dem anstrengenden Flug nicht erst mal erholen?«

Die Kinder begannen juchzend, auf den Campingbetten hin und her zu hüpfen.

»Was mache ich?«, fragte Oliver. »DU hast doch gesagt, du könntest das Meer nicht sehen!«

Anna verdrehte die Augen. Typisch. Sie regte sich gerne stundenlang über alles Mögliche auf. Aber statt zu versuchen, das zu ändern, verkroch sie sich dann doch lieber hinter Büchern, die von Wanderhuren oder Werwölfen handelten.

Oliver rief die Rezeption an: Das Zimmer sei unbewohnbar.

Es kam der arrogante Kerl von gerade eben und bügelte alles ab. Die Klimaanlage funktioniere einwandfrei, so lange man nicht die Balkontür öffne, wie sie es getan hätten. Das mit dem Rauch könne nicht sein, denn alle Zimmer seien Nichtraucherzimmer. »Und Vorhänge sind in den Standard-Doppelzimmern nicht vorgesehen. Sie wurden von den Gästen zu häufig heruntergerissen. Aber Sie werden froh sein: Wir haben einen herrlichen Sonnenaufgang. Andere bezahlen viel Geld dafür, so geweckt zu werden. Und wenn Sie früh dran sind, ist am Büfett auch noch genug von allem da.«

Der Kerl war nicht arrogant; er war schweinefrech.

»Und der Meerblick?«, fragte Oliver scharf.

»Selbstverständlich«, der Rezeptionist lächelte. »Gehen Sie auf den Balkon. Etwas nach rechts. Nach rechts! Noch mehr. Halt! Und nun gucken Sie nach schräg links. Machen Sie sich etwas größer. Größer, GRÖSSER! So! Der Streifen da hinten zwischen den zwei Gebäuden– DAS ist das Meer! Zufrieden? Na sehen Sie!«

»Das ist alles?«, fragte Oliver und kehrte vom Balkon zurück.

»Mehr ist in dieser Zimmerkategorie nicht drin! Ich kann Ihnen empfehlen, beim nächsten Aufenthalt eine höherwertigere Kategorie zu buchen. Beispielsweise unsere Exklusiv-Zimmer. Sie haben eine Ausstattung für sehr hohe Ansprüche und liegen im vierten Stock.«

»Wir haben Exklusiv-Kategorie gebucht«, erinnerte Oliver. »Wir sprachen vorhin darüber…«

Plötzlich rumste es hinter der Wand zum Nebenzimmer. Dann begann eine Frau zu schimpfen: »Es war deine Idee, hierherzufahren. Denkst du, ich habe Bock auf so was? Überhaupt keinen Bock! Nicht die Scheiße Bock!«

Der Kerl vom Empfang wollte gehen.

»Augenblick«, sagte Oliver. »Ist solcher Lärm in dieser Kategorie auch normal?«

»Welcher Lärm?« Unglaublich!

Nebenan stieß die Frau einen schrillen Heuler aus: »Alles musst du immer kaputt machen!«

»Ich, ICH?«, rief eine heisere männliche Stimme. »Du machst alles kaputt! DU! Denkst du, darauf hab ich Bock? Denkst du, das macht mich an?«

Nebenan wurde eine Zimmertür aufgerissen und wieder zugeschlagen.

Oliver hätte nun wirklich Lust gehabt, den Kerl vom Empfang wenn nicht zu teeren und zu federn, dann zumindest zu grillen.

MORITZ

Es war wie immer. Als er an die Rezeption trat, sah ihn die Empfangsdame beiläufig an. Guckte wieder weg. Versteinerte. Guckte mit aufgerissenen Augen wieder zu ihm. Wurde rot. Und stammelte: »Guten Tag, Herr Palmer, so eine Überraschung, das ist ja wunderschön, dass Sie bei uns sind. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Fast schade, dass er sie enttäuschen musste.

»Es tut mir leid«, sagte Moritz, »mein Name ist Stefan Schmidt.«

»Stefan Schmidt?«, wiederholte die Rezeptionistin.

»Genau, Stefan Schmidt«, sagte Moritz. »Aus Darmstadt.« Ein leicht negativ besetzter Städtename, der den Namen Stefan Schmidt noch belangloser klingen ließ. Ilka hatte zuerst Pforzheim vorgeschlagen, aber so weit wollte Moritz dann doch nicht gehen.

»Sie sind NICHT Herr Palmer?«

»Wie gesagt, leider nicht«, sagte Moritz. »Es passiert mir aber öfter, dass ich mit ihm verwechselt werde, ich bin sozusagen sein Double. Ohne auch nur einen Euro dafür zu bekommen, leider. Trotzdem habe ich bei Ihnen eine Suite gebucht.«

»Eine Suite? Bei welchem Reiseveranstalter?«

»Bei keinem. Ich reise privat.«

Sehr skeptisch sah sie in den Buchungscomputer. »Ja«, sagte sie dann, überrascht und Ilka sei Dank. »Eine Suite für Herrn Schmidt. Willkommen in unserem Haus, Herr Schmidt, und bitte entschuldigen Sie die– Verwechslung. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns!«

Das hoffte er auch. Es gab bessere Unterkünfte auf der Insel. Bis heute früh hatte Moritz noch in Steffens Haus gewohnt. Das man ohne Übertreibung Schloss nennen konnte, mit seinem Hubschrauberlandeplatz und dem Pool in Seegröße. Steffen kam aus der Finanzbranche und hatte wohl das Gefühl, viel nachholen zu müssen. Aber langsam übertrieb er. Nicht nur, dass er seine Yacht gerade zum zweiten Mal verlängern ließ. Auch mit seinen Partys.

Die aktuelle lief seit geschlagenen zweiundsiebzig Stunden. Als Moritz am ersten Abend in sein Gästeapartment kam, war sein Bett besetzt von einem alten Italiener und zwei sehr jungen Marokkanerinnen. Am nächsten Abend lag da ein schluchzendes Model aus Sofia, auf der Wohnzimmercouch schnarchte ein Comedian, auf dem Badfußboden war weißes Pulver, und in der Dusche benutzte ein faltiger Landesbankchef sein Shampoo.

Irgendwann ist man nicht mehr ganz in dem Alter für so etwas. Da will man auch mal schlafen, vor allem, wenn man in ein paar Wochen drehen muss und dafür noch jede Menge Text zu lernen hat.

Moritz rief Ilka an, und die tat ihr Bestes, ein Zimmer aufzutreiben. Aber es war Hauptsaison, die Top-Hotels waren unrettbar ausgebucht, alles, was noch klappte, war die beste Suite in diesem Hotel.

»Achtung, es gibt da Pauschalurlauber«, hatte sie ihn gewarnt.

»Ja und?«, hatte Moritz erwidert. »Die liegen wenigstens nicht in meinem Bett.«

SUSAN

Sie hatte es schon immer gehasst, Koffer auszupacken, aber diesmal hätte sie wirklich jeden Grund gehabt, sich den Mist zu sparen. Obwohl ihr Zimmer– es hatte sogar etwas Meerblick– hell und freundlich war und keineswegs zum Suizid einlud. Es gab nur Wand- statt Pendelleuchten und weder Vorhänge noch Vorhangstangen. Die Kleiderhaken hinter der Tür waren lächerlich niedrig; wer schaffte es schon, sich aufzuhängen und dabei die Beine bis ans Kinn hochzuziehen? Der Föhn im Bad hatte ein so kurzes Kabel, dass er sich nicht in die Nähe der Wanne bringen ließ, ja, noch nicht mal in die Nähe des Waschbeckens. Diese gerissenen Hoteliers passten gut auf, dass sich niemand mit ihrem Inventar selbst aus dem Leben befördern konnte.

Obwohl: Es durfte sowieso nicht so aussehen. Ihre Eltern würden es leichter ertragen, wenn sie es für einen Unfall hielten. Deshalb hatte sie die Schlaftabletten zu Hause gelassen. Außerdem hatte sie beim letzten Besuch daheim extra einen Streit um die angeblich frauenfeindliche Farbe der Garage vom Zaun gebrochen. Den Eltern fiel der Abschied sicher leichter, wenn sie ihre Tochter für eine durchgedrehte Fanatikerin hielten.

Sie ging auf den Balkon. Auch hier Fehlanzeige. Dies war nur der dritte Stock, und direkt unter ihrem Zimmer standen Palmen: Was, wenn sie sprang und danach nur gelähmt und/oder willenlos war? So gelähmt und/oder willenlos, dass sie sich nicht mehr ordentlich umbringen konnte?

Susan rief bei der Rezeption an und fragte nach einem Zimmer in einem höheren Stockwerk. Ohne Erfolg.

Sie fuhr mit dem Fahrstuhl hoch und sah sich die obersten zwei Stockwerke an. Die gleichen fensterlosen Flure, nirgends eine Tür, die aufs Dach führte. Warum gab es in Hotels kein Selbstmörderzimmer, stundenweise zu buchen, mit einem kleinen Sprungturm und einer Auswahl an Musik und Drogen?

Sie fuhr ins Erdgeschoss und ging nach draußen. Puh, war das heiß. An der Poolbar lungerten wampige Männer und schluckten Bier. Ein paar andere schlenderten um den Pool herum, taten, als führten sie hochwichtige Gespräche auf dem Handy, und starrten gierig nach den Frauen, die auf den Liegen ringsum lagen. Es war wie auf dem Affenfelsen im Zoo. Und Susan war sicher, sie hätte sich hier vor aller Augen seelenruhig im Pool ertränken können, bevor auch nur einer begriffen hätte, was los war. Aber das fiel aus: Nicht mal zum Sterben würde sie in die Brühe steigen, in die diese fleischgewordenen Durchlauferhitzer den ganzen Tag pinkelten.

Ende der Leseprobe