Kommt Oma auf den Kompost, wenn sie tot ist? - Mark Spörrle - E-Book

Kommt Oma auf den Kompost, wenn sie tot ist? E-Book

Mark Spörrle

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mama und Papa gehen arbeiten, die Kleine in den Kindergarten. Das perfekte Familienglück ist nur eine Frage der Organisation - oder? Doch dann drängt die Tochter den Vater nachts aus dem Bett, treibt ihn in den Wahnsinn mit der Suche nach ihrem Kuscheltier und in die Enge mit der Frage, warum Oma und Opa nicht tot sind, obwohl Michael Jackson doch viel jünger starb. Die besten Geschichten aus Mark Spörrles Kolumne Familienglück über die Absurditäten des Elternseins. Umwerfend komisch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96264-3

© 2013 Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG

Umschlaggestaltung: Eisele Grafidesign, München

Umschlagmotiv: Isabel Klett

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Warum wir immer zu spät im Kindergarten sind

Es ist wie verhext, aber wir kommen oft zu spät in den Kindergarten. Jedenfalls an den Tagen, an denen der Morgenkreis pünktlich um 9 Uhr beginnt. Es gibt auch Tage, da kommen wir pünktlich, und prompt findet der Morgenkreis später statt. Weil eine Betreuerin krank und für Ersatz kein Geld da ist. Oder weil die Betreuerinnen darüber schimpfen, dass für Ersatz kein Geld da ist. Sie schimpfen so lange, bis ich atemlos mit Luise eintreffe. Also zu spät.

Neulich lief fast alles gut: Wir betraten den Kindergarten geduckt, das kann Luise schon ganz hervorragend, huschten den Flur entlang zu den Kleiderfächern, und noch im Laufen riss ich Luise Fahrradhelm, Jacke und Schuhe herunter. Gerade wollte ich die Tür öffnen, hinter der die anderen Kinder sangen, und meine Tochter in den Raum schieben. Da stand ein Schatten vor uns. Martha, die Erzieherin. Ich richtete mich hastig auf.

»Können Sie nicht ein einziges Mal früher kommen?« Keine Frage. Ein Vorwurf.

»Doch«, wollte ich die Sache abtun, »leider klappt es nicht immer.«

»Warum nicht?«, beharrte sie.

»Ich würde ja gerne«, wand ich mich, »aber Luise ...«

Ihr Blick glich dem einer Lehrerin, der man erzählt, das Heft mit den Matheaufgaben sei eben einer unerklärlichen Selbstentzündung zum Opfer gefallen.

»Warum«, sie betonte jedes Wort, »gehen Sie nicht einmal früher los? Ihrem Kind zuliebe?«

Ich schwieg. Erstens glaube ich, dass Erzieherinnen wissen sollten, dass Erwachsene wissen, dass man pünktlich sein sollte. Dass Erwachsene also nur zu spät kommen, wenn es nicht anders geht und sei es jeden Tag. Zweitens, und das war peinlich, hatte sie recht.

Nachdem das Ganze etliche Male passiert war, rief mich Martha an und fragte, ob ich nur den Morgenkreis boykottieren wolle oder in einer persönlichen Krise sei.

»Es liegt an Luise«, sagte ich, sonst rede ich nie so über meine Tochter. »Am Wochenende, in den Ferien steht sie alleine früh um sechs auf und weckt uns. An Morgenkreis-Tagen denkt sie nicht daran.«

Martha lachte, offenbar dachte sie, ich mache einen Witz.

»Sie denkt auch nicht daran, ins Bad zu gehen oder sich anzuziehen«, fuhr ich fort. »Sie trödelt. Egal, ob wir sie bitten, schmeicheln, kuscheln, ob wir sie ermahnen, ihr drohen ...«

»Kein Wunder«, rief Martha. »Ihr dürft nicht drängen. Drängen provoziert unselbstständiges Verhalten. Euer Kind braucht Zeit. Ihr müsst mehr Zeit einplanen.«

Am nächsten Morgen planten wir mehr Zeit ein und stellten den Wecker 60 Minuten früher. Wir kamen eine Stunde zu spät. Marthas Blick war vernichtend.

In der Mittagspause bat ich erfahrene Väter um Hilfe. »Wir machen immer einen Wettbewerb aus dem Angeziehe«, verriet ein Kollege, der offenbar ganz erfolgreich vier Kinder mit mehreren Frauen hat. »Und wenn das nicht klappt: Zieh dich einfach an und tue, als ob du gehst. Was meinst du, wie schnell deine Kleine hinterhergelaufen kommt.«

Also machten wir einen Wettbewerb. Luise ließ es allerdings völlig kalt, dass meine Liebste und ich zuerst angezogen waren. Während wir triumphierend, weil ausgehfertig um ihr Bett tanzten, gähnte sie ausgiebig. Erst als wir uns feierlichst von ihr verabschiedet hatten, die Wohnungstür angeblich hinter uns zugeschlagen war und wir uns mit angehaltenem Atem im Gästebad versteckten, hörten wir ein Kichern aus ihrem Zimmer. »Mama, Papa«, rief sie. »Kommt wieder raahauus!«

»Versucht es doch mal mit einem Belohnungssystem«, sagte unser Nachbar, den ich vor dem Fahrstuhl traf. »Ist zwar eigentlich für Ältere wie unseren Jonas. Aber ganz einfach.«

Jonas bekam für jeden Tag, an dem er sich gut führte, eine Sonne. Für jeden Tag, der so na ja lief, eine Wolke. Und für jeden miesen Tag einen Blitz. Zwei Sonnen entsprachen einem Belohnungspunkt, eine Wolke gab null Punkte, ein Blitz einen Punkt Abzug. Drei Wolken ergaben allerdings wieder einen Blitz. Waren drei Belohnungspunkte zusammen, wusste Jonas zwar nicht genau, warum, aber er bekam eine Packung Fußballerbilder oder ein Eis und für fünf Punkte eine tolle Überraschung.

Als ich versuchte, Luise abends das System zu erklären, schlief sie ein.

Meine Liebste vertiefte sich ins Internet.

»Ich hab’s«, rief sie dann, »hier in diesem Forum steht, man solle hartnäckige Trödelkinder die Konsequenzen ihres Tuns spüren lassen.«

»Und«, fragte ich, »was heißt das?«

»Es klingt ziemlich hart«, sie stockte, »aber wenn sie nicht freiwillig mitmacht, müsstest du sie eigentlich ungewaschen und nackt im Kindergarten abgeben.«

»Sag mal«, fiel mir ein, »ich müsste morgen früher in die Arbeit. Könntest nicht wieder mal du ...?«

»Leider nicht«, sagte meine Liebste. »Wir haben in der Firma ein Personalproblem ...« Sie las weiter. »Aber wenn man sieht, was mit anderen Kindern so los ist, ADHS, Fettleibigkeit, Vaterphobie ...«

»Vaterphobie?«

» ... ja, wenn ein Kind ständig vor seinem Vater flieht ... Also, da sind wir mit dem bisschen Zuspätkommen noch gut dran.«

Ich werde das Martha erklären.

Kind niest, Eltern in Panik

Es gibt ein Thema, das bei uns tabu ist. Über das wir ganz bewusst nicht sprechen. Vor dem wir Angst haben. Vor allem im Herbst, wenn es kühler wird, zugiger. Oder im Winter. Manchmal auch im Frühling. Selbst im Sommer – also: ziemlich oft.

Eines Abends saßen meine Liebste und ich im Wohnzimmer, Luise lag im Bett und schlief, der Gespenster wegen bei offener Tür. Deshalb hörten wir es deutlich: Sie begann zu niesen.

Meine Liebste riss die Fernbedienung hoch, stellte Marietta Slomka leise und lauschte. Wir beide zählten.

Luise nieste einmal, zweimal, dreimal. Machte eine kurze Pause. Und nieste dann wieder. Ein-, zwei-, drei-, viermal.

Es wurde plötzlich sehr kalt bei uns im Wohnzimmer.

»Es fängt wieder an.« Die Stimme der Liebsten zitterte leicht.

»Nicht unbedingt«, sagte ich, »vielleicht hat sie auch nur ein Stäubchen in der Nase. Ach, guck doch mal, was Marietta Slomka für ein Schnäuzchen macht!«

»Lenk nicht ab«, sagte meine Liebste. »Die nächste Husten-, Schnupfen- und Erkältungswelle ist im Anrollen. Und unsere Tochter ist dabei. Pass auf, gleich wird sie wieder niesen: drei, zwei, eins ...«

Luise nieste. Fünfmal.

Meine Liebste griff zu ihrem Kalender, ich zu meinem iPhone.

»Wenn sie morgen Fieber bekommt«, begann sie, »kann ich unmöglich bei ihr bleiben. Ich muss jede Menge Themen absprechen und habe wichtige Kundengespräche.«

»Ich habe wichtige Termine«, befand ich. »Hochwichtige Termine.«

»Ich kann bei mir nichts verschieben«, sagte meine Liebste, »völlig ausgeschlossen. Es geht um viel Geld.«

»Ich auch nicht«, sagte ich. »Alles würde zusammenbrechen. Die Euro-Krise würde sich verschärfen. Wenn Luise am Mittwoch in acht Tagen krank würde, das ließe sich einrichten. Aber so ...«

Meine Liebste starrte mich an. Ich starrte zurück.

Luise ist in einer Phase, die Kindergärtnerinnen als »Das ist ganz normal, da muss jedes Kind durch, das stärkt die Abwehr« bezeichnen. Eine Phase, die für Haushalte mit streng konservativer Rollenverteilung nicht tragisch sein mag. Für zwei Berufstätige schon.

Wir schlichen ins Kinderzimmer und prüften, ob Luise sich heiß anfühlte. Ich war der Ansicht nein. Meine Liebste glaubte ja, und sicherlich hatte sie recht. Morgen früh würden wir messen, und insgeheim tippte ich auf 38,8.

Wir schlichen zurück ins Wohnzimmer und führten unsere Verhandlungen fort.

»Können wir den Tag aufteilen?«, fragte meine Liebste. »Morgens du, nachmittags ich?«

Ich checkte nochmals meine To-do-Liste und dachte an meine Kollegen. »Unmöglich. Geht es nicht andersrum?«, fragte ich.

Meine Liebste schüttelte den Kopf. »Wer geht mit ihr zum Kinderarzt und holt die Krankenbescheinigung? Kannst du das mal machen?«

»Mal?«, fragte ich zurück. »Ich war schon öfter mit ihr beim Arzt ...«

»Ich etwa nicht?«, fragte meine Liebste.

Wir reden sonst nicht so miteinander, aber wir hatten schon viele Gespräche zu diesem Thema und haben dabei zumindest eins gelernt: uns nicht mehr anzuschreien.

»Können wir nicht einfach eine der Babysitterinnen holen«, fiel mir ein. »Oder deine Mutter?«

»Du weißt, dass Mama wieder krank ist«, sagte meine Liebste. »Außerdem: Wenn Luise krank ist, braucht sie uns. Wenigstens einen von uns.«

Ich nickte. »Und du könntest wirklich nicht ausnahmsweise ...?«

Um ein Haar hätte meine Liebste vergessen, dass wir gelernt hatten, uns nicht mehr anzuschreien.

»Wo hat sich Luise eigentlich schon wieder angesteckt?«, lenkte ich schnell ab.

»Wahrscheinlich bei Mia. Die läuft schon seit Tagen so komisch rum.«

»Und ihre Eltern schicken sie trotzdem in den Kindergarten, damit sie alle anderen Kinder anstecken kann?«

Meine Liebste zuckte die Schultern. »Klaus arbeitet rund um die Uhr, weil alle seine Kollegen schon mit Fieber im Bett liegen. Sabine hat ein wichtiges Projekt. Und ihr Chef hält Eltern mit kleinen Kindern sowieso für Minderleister.« Ich kannte Sabines Chef, er war in der Kommunalpolitik, hielt schöne Reden zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und seine Frau passte zu Hause auf die Kinder auf.

Luise bekam wieder einen Niesanfall. Es klang nach mindestens fünf Werktagen krankes Kind. Ich setzte mich an meinen Computer und versuchte, einen Text über die heimtückischen Jahreszeiten fertig zu schreiben, solange ich noch konnte. Meine Liebste rief ihre Kolleginnen an und bat sie, in den nächsten Tagen früher anzufangen und so viel wie möglich vorzuarbeiten, damit sie, wenn auch sie krank war, von daheim weiterarbeiten konnte. Anschließend legten wir das Fieberthermometer bereit, bereiteten einen Streptokokkentest vor und baten Freunde per SMS, Luise im Kindergarten zu entschuldigen. Die Freunde smsten zurück, sie könnten das nicht garantieren, ihre Kinder seien vermutlich gerade dabei, krank zu werden.

Wir gingen spät ins Bett, und ich träumte, Luise habe weit über 39 Fieber.

Morgens weckten wir sie und maßen.

Sie hatte keins.

Meike Säckdschen kauft drei dicke Damen

Eigentlich wollten wir mit Luise am Samstag in den Wildpark fahren, wo in diesen Tagen die Hirsche röhren, aber wir ließen es dann doch. Luise ist gerade in einer extremen Warum-Phase, und irgendwie fürchteten wir, dass ein Mädchen in ihrem Alter noch zu klein ist, um am Beispiel brünftiger Hirsche und williger Hirschkühe aufgeklärt zu werden.

Während wir noch frühstückten und nach Alternativen suchten, begann Luise ein Lied zu singen: »Meike Säckdschen fliegt nach Spanien/ kauft sich dort drei dicke Damen/ die eine machte Hula hula/ die andere machte pingpengpong/ die andere sagte: Meiiike Säckdschen ...«

Wir sind hart arbeitende, chronisch übermüdete Eltern, aber nach der fünften identischen Wiederholung erwachte unsere Neugier doch. Wir fragten Luise, woher das Lied stamme. »Aus dem Kindergarten«, sagte sie.

»Und wer ist Meike Säckdschen?«, fragte ich. »Eine neue Praktikantin?«

Meine Liebste verdrehte milde die Augen. Es stimmte, die Praktikantinnen in unserem Kindergarten verdienen zu wenig für solche Ausflüge.

Luise dagegen grinste nur geheimnisvoll, ich hatte gar nicht gewusst, dass sie das schon konnte.

Meine Liebste sagte auf Englisch, damit Luise es nicht verstand, sie werde wegen der käuflichen Damen mal lieber bei anderen Eltern nachfragen, was für ein Typ dieser Kita-Musikpädagoge sei.

Als sie telefoniert hatte, kam sie kichernd zurück. 

»Du wirst es nicht glauben, wer Meike Säckdschen ist: Michael Jackson! Dieses Lied ist so etwas wie ein Abzählreim.« Und zu Luise sagte sie: »Michael Jackson hat Musik gemacht, guck mal, wir haben noch eine alte Platte mit ihm drauf!«

Luise betrachtete fasziniert das Plattencover von Thriller.

»Macht der jetzt keine Musik mehr?«, fragte sie dann.

»Nein«, sagte meine Liebste und stockte, denn auf diese Art Frage war sie nicht vorbereitet. Ich war auf diese Art Frage erst recht nicht vorbereitet. Meine Liebste entschloss sich, die Wahrheit zu sagen.

»Er kann keine Musik mehr machen, weil er gestorben ist«, sagte sie.

»Gestorben?«, fragte Luise.

»Er ist tot«, half ich. »Er ist nicht mehr da.«

»Wo ist er?«, fragte Luise. »In Spanien?«

»Nein, wenn man tot ist, ist man ganz weg«, sagte meine Liebste.

»Wo denn?«, fragte Luise unerbittlich.

»Man weiß es nicht genau«, wand sich meine Liebste, »wahrscheinlich im Himmel.« Vermutlich war das pädagogisch nicht ganz astrein, aber Luise nickte beeindruckt und sah aus dem Fenster nach oben. »Können wir ihn sehen, wenn wir zu Tina und Alex nach München fliegen?«

»Nein«, half ich wieder aus, »er ist noch höher oben.«

»So hoch wie die Sterne?«, fragte Luise.

»Noch höher«, ächzte ich. Gott sei Dank fragte Luise nicht nach, ob Michael Jackson dort oben denn nicht kalt werde. Und ob denn wirklich sicher sei, dass er dort oben sei, wenn man ihn nicht sehen könne.

»Warum ist er gestorben?«, fragte sie stattdessen.

Meine Liebste erklärte, Michael Jackson sei sehr krank gewesen und dass man manchmal sterben müsse, wenn man sehr krank sei. »Oder«, fügte sie leider hinzu, »oder sehr alt.«

»Wie alt?«, fragte Luise. »Wie Oma und Opa?«

»Neiiin«, sagte ich schnell, »viel, viel älter!«

Luise sah mich an, dann das Plattencover, und in ihrem Kopf arbeitete es sichtlich.

»Aber«, begann sie dann, »aber, Meike Säckdschen ...«

»... Jackson!«, warf meine Liebste ein, bemüht abzulenken, »Jackson, sag mal Jackson! Jackson!«

Luise dachte nicht daran. »Meike Säckdschen war aber nicht so alt wie Oma und Opa!«

»Nein«, musste ich zugeben. »Aber das hat nichts zu sagen ...«

Ganz in Gedanken ging unsere Tochter zum Bücherregal. Meine Liebste und ich wechselten erleichterte Blicke. Aber nur ganz kurz, denn in der Zwischenzeit hatte Luise sich das Telefon ge-schnappt und eine Kurzwahltaste gedrückt.

»Oma«, begann sie das Gespräch, bevor ich ihr den Hörer entreißen konnte, »wann stirbst du? Papa hat gesagt, du bist schon alt genug ...«

Beim nächsten Mal fahren wir in den Wildpark.

Papa hat gepupst

Mit einem kleinen Kind verschieben sich die Gesprächsthemen im Familienkreis. Körperausscheidungen aller Art etwa faszinierten unsere Tochter, seit sie merkte, dass sie ohne Windeln zurechtkam. Damals verbrachten wir einige Tage in einem Ferienclub und saßen abends mit vielen anderen Urlaubern im Restaurant. Dann kam Luise von der Toilette zurück und schrie mir durch den ganzen Raum stolz entgegen: »Papa, ich hab ein ganz großes A-a gemacht!« Meine Antwort ging in allgemeinem Gelächter unter.

Diese anale Phase ist offenbar ungemein wichtig für die kindliche Entwicklung, und Experten raten davon ab, sie mit Verboten zu überfrachten. Also haben Kinder auch danach bei gewissen Körperäußerungen noch nicht die Skrupel, die Erwachsene haben.

Neulich flogen wir mit Luise von Hamburg nach München. Warum, das wurde schnell zweitrangig, denn unsere Tochter hatte heftige Blähungen. Als wir die Reiseflughöhe erreicht hatten, wartete Luise, bis es gerade schön still im Flugzeug war. Dann gab sie einen lauten, unmissverständlichen Ton von sich.

Die ältere Frau in der Sitzreihe vor uns zuckte zusammen. Der Mann links von uns sah von seinem Laptop auf.

Meine Liebste und ich verständigten uns wortlos zu tun, was selbst die höflichsten Eltern in solchen Fällen erst einmal tun: so, als sei nichts.

Kaum hatten sich die Frau wieder in ihr Klatschblatt vertieft und arbeitete der Laptopmann weiter, tönte es wieder von Luises Fensterplatz. Noch lauter als zuvor.

Die Frau von vorn fuhr zusammen, als habe sie etwas gestochen, und sah nach hinten. Für den Laptopmann hingegen war die Sache klar. Er sah mich kopfschüttelnd an.

Ich setzte ein väterlich entschuldigendes Lächeln auf und wollte verbindliche Worte folgen lassen: dass ein kleines Mädchen halt ab und zu noch vergesse, dass das geräuschvolle Erleichtern des Darms zwar allein oder in Anwesenheit eines verschwiegenen Elternteils in Ordnung sei. Aber in voll besetzten Flugzeugen gar nicht gehe.

Doch da zog mir schon die Geruchswolke in die Nase. Eine enorme Geruchswolke. Ich versuchte verzweifelt, sie mithilfe der Belüftungsdüsen über meinem Kopf zu stoppen, zu zerstreuen oder wenigstens unter Kontrolle zu halten. Umsonst. Ich wedelte mit zwei Bordzeitschriften – wieder umsonst.

Mister Laptop sog die Luft durch die Nase, verzog angewidert den Mund. Sah her und sagte zu mir: »Können Sie sich nicht beherrschen?«

Wie gesagt: Er sagte es – zu mir! Er dachte tatsächlich, dass ich, ein erwachsener Mann, ich trug obendrein Sakko ...

»Es tut mir wirklich leid«, stellte ich richtig. »Unsere Tochter hat starke Bauchschmerzen. Es war keine böse Absicht ...«

Er beugte sich überrascht vor, offenbar hatte er Luise noch gar nicht gesehen. Sein Gesicht wurde freundlicher.

»Komm, Luise«, sagte meine Liebste, »wir gehen auf die Toilette!« Hinter uns erhob sich ein Mann im Anzug, murmelte etwas von »schnell noch frische Luft schnappen« und lief hastig auf die WC-Kabine zu.

»Komm, Luise«, wiederholte meine Liebste.

»Nein!«, krähte Luise, laut und mit der glockenhellen Stimme eines unschuldigen Kindes. »Papa hat gepupst!«

Spätestens jetzt gehörte uns die Aufmerksamkeit sämtlicher Fluggäste.

»Luise«, lächelte ich, »das stimmt nicht.«

»Papa hat gepupst!«, beharrte meine Tochter. Sie ist mal wieder in einer Phase. Ihre Kindergartenfreundinnen auch. Sie alle lieben es, vehement das Gegenteil der Wahrheit zu behaupten und zu beobachten, was dann passiert. Auch das ist sicher ungemein wichtig für die kindliche Entwicklung.

Aber davon wussten die Leute in diesem Flugzeug nichts. Sie begannen zu kichern und zu tuscheln. Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.

»Luise«, begann ich, »du sollst nicht schwindeln ...!«

Ende der Leseprobe