Gebrauchsanweisung für Finnland - Roman Schatz - E-Book

Gebrauchsanweisung für Finnland E-Book

Roman Schatz

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Beschreibung

»Wenn Schnaps, Teer und Sauna nicht helfen, dann ist die Krankheit tödlich«, so ein finnisches Sprichwort. Der Deutsche Roman Schatz, in Finnland bekannt wie ein bunter Hund, erklärt uns seine Wahlheimat, deren bekannteste Exportgüter Schwitzkästen und Angry Birds sind. Die seit Jahren als glücklichstes Land der Welt den »World Happiness Report« anführt. Die ein Paradies für Winterbaden, Kanu- und Langlauftouren, Fliegenfischen und Hundeschlittenfahren ist. Deren Fläche zu siebzig Prozent aus Wald besteht. Mit Bewohnern, die als wortkarg und dauermelancholisch gelten – und einer Sprache, die neben »Honigpfote« noch elf Wörter für »Bär« kennt. »Höchste Zeit, hinzufahren und sich Suomi (so heißt Finnland in der Landessprache) mal anzuschauen! Diese Gebrauchsanweisung ist dafür die passende Reiselektüre.« Bild Der Autor verrät, was es mit dem Ertüchtigungswahn der Finnen und mit ihrer Schwäche für Ahnenforschung auf sich hat. Wo man sich eine ofenfrische »Ohrfeige« holen kann und wie Erlebnisgastronomie auf Finnisch geht. Wie ein typisch finnischer Mord aussieht. Und warum manche Rentiere nachts leuchten. »Dank seiner satirischen Sendungen ist er wohl der bekannteste Deutsche Finnlands – und seine humorvolle Bissigkeit kommt auch dem Buch zugute. Unterhaltsam, kenntnisreich, lesenswert!« Nordis

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Für Oskar, Lili und Bella

Aktualisierte Neuausgabe 2022

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2010, 2014 und 2022

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Noemi Santucci/EyeEm/Getty Images (Inari, Finnland)

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Rakkaudestahan se hevonenkin potkii.

Auch ein Pferd schlägt ja nur aus Liebe aus.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte von Finnland

Vorwort

Auf der Suche nach sich selbst – Die finnische Identität

Finnland – die Wiege der Zivilisation

Freunde und Feinde kann man sich aussuchen …

Kalevala – das Buch der Bücher

Unabhängig

Winter- und Fortsetzungskrieg

Von der Finnlandisierung zur EU

Die politische Landschaft

Der Ball im Schloss

Niemand hasst die Finnen

Die echte finnische Sauna – Wenn Schnaps, Teer und Sauna nicht helfen …

Feuer oder elektrisch?

Die Kraft des Gewittervolks

Politik der heißen Luft

Die echte deutsche finnische Sauna

Lockruf der Wildnis – Die finnische Natur

Zurück zu den Wurzeln

Ringelrobbe, Wolf und Rentier

Eins mit der Honigpfote

Elche haben Vorfahrt

Finnlands ekelhaftestes Tier

Rowdymöwen und Citykaninchen

Abenteuer im Alltag – Finnische Alltagskultur

Weiches Wasser und Allergien

Wohnen um fast jeden Preis

Schuhe aus und Finger weg

So viel verdient der Nachbar

Selbstbedienung

Anders trinken – Volksdroge Alkohol

Sind wir hier, um zu reden oder um zu trinken?

Der Stoff, aus dem die Träume sind

Erlebnisgastronomie

Unfreiwillige Selbstkontrolle

Alternativ benebelt

Was blubbert im Schlafzimmer?

Wie Gott in Finnland – Die finnische Küche

Nichts als Schelte

Bleibe im Norden und nähre dich redlich

Fische und Brote

Spezielle Spezialitäten

Bitte kein Pilsner!

Noch ein Tässchen?

Kaugummi statt Zähneputzen

Sport- und andere Abarten – Der Ertüchtigungswahn der Finnen

Auf Kufen, Skiern und Klappstühlen

Ab ins Eisloch!

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

Angst vor der eigenen Courage

Ein traumatisches Fußballspiel

Vollgas voraus

Wichtig ist, dass Schweden verliert

Kugelgrill und Kurbelweitwurf

Von Regionen und Migranten – Mehr- und Minderheiten in Finnland

Genetische Kluft

Helsinki und der Rest der Welt

Pohjanmaa

Turku und Tampere

Lappland

Der arktische Röstigraben

Aus- und Einwanderer

Tausend Jahre Harmonie – Finnland und Deutschland

Die Draufhauer

Carl Ludwig Engel

Friedrich Pacius

Die Jäger

Der König, der nicht kam

Bertolt Brecht und die Harmony-Sisters

Kurt Gustav Otto Jäger

Ribbentrop und Risto Ryti

Doppelt hält besser

Spiegel und Fliegerasse

Deutsche Subkultur

Romantisch, skurril, national – Kunst und Kultur in Finnland

Nationalromantik

Lesen und Lesen lassen

Big Brother isn’t watching you – you’re watching Big Brother

Beinahe einen Oscar

Die schlechteste Band der Welt

Suomirock, Schwermetall und Humppa

Großmachtambitionen

Im Tango-Märchenland

Tom of Finland

Nichts Altes wird neu geboren

Die dunkle Seite – Die finnische Depression

Die im Dunkeln sieht man nicht

Mord und Totschlag

Steine, Birkenklötze, Feuerwaffen

Das Ende der Unschuld

Mobbing

Wenn alle Stricke reißen

Kein Geschlecht, keine Zukunft – Die finnische(n) Sprache(n)

Ugrisch für Anfänger

No sex, no future

Synthetisch – praktisch – kurz

ABC-Schützenhilfe

Schweigen in mehreren Sprachen

Derb ist geil

So kann man sich missverstehen – Kommunizieren mit Finnen

Messbare Unterschiede

In der Leere liegt die Kraft

Pingpong oder Kegeln?

Her mit dem Salz!

Kontrolle ist schlecht, Vertrauen ist besser

Wie die Schweine

Der kleine Unterschied – Frauen, Männer und andere in Finnland

Der Euro der Frau

Natürliche Autorität

Wissen ist weiblich

Liebe macht blind, Ehe öffnet die Augen

Sachliche Romanzen

Die amtlich schönste Frau …

LGBTQIA –

Mars und Venus in Finnland

Nokia und wütende Vögel – Finnlands Wirtschaft

Das finnisch-sowjetische Wirtschaftswunder

Und dann kam Nokia

Der Absturz

Gelbes Licht am Ende des Tunnels

Tummelplatz der Oligopole

Schluss

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Karte von Finnland

Vorwort

»Die Finnen sind bedächtig und sanftmütig, sanftmütiger als alle anderen Bewohner der nordischen Länder. Kein Volk gerät langsamer in Wut als sie, aber auch kein anderes Volk rächt sich hitziger als sie. Sie sind Hitzköpfe und schnell bei der Hand mit ihrer Rache, aber sie versöhnen sich danach auch wieder schnell. Alle Menschen der nordischen Länder sind bekannt für ihre Gastfreundschaft, und besonders die Finnen sind sehr freigebig, sodass man in einem guten Jahr durch das ganze Land reisen kann, ohne für Proviant oder für das Futter seines Pferdes zu bezahlen. (…) Die Finnen sind tüchtig, geduldig und in ihrer rechtschaffenen Armut unschlagbar.«

So herzlich beschreibt der junge Gelehrte Daniel Juslenius (1676–1752) im Jahr 1700 auf Lateinisch in seiner Doktorarbeit Aboa vetus et nova (Das alte und neue Turku) seine Landsleute.

Viel hat sich in den letzten dreihundert Jahren geändert. Die Finnen sind nicht mehr rechtschaffen arm, und es ist auch in einem guten Jahr nicht mehr möglich, durchs Land zu reisen, ohne für seinen Proviant zu bezahlen, von den Spritkosten für das Pferd ganz zu schweigen.

Manches hat sich dagegen überhaupt nicht geändert: Die Finnen sind immer noch bedächtig und sanftmütig, gleichzeitig aber auch Hitzköpfe und schnell bei der Hand mit ihrer Rache. Und sie beruhigen sich auch wieder rasch.

Die meisten Finninnen und Finnen werden in Finnland geboren und wachsen hier auf. Mangels Kontrasten sind für sie dieses Land, diese Sprache, dieses Klima, diese Wertewelt und dieser Lebensstil nicht nur normal, sondern nachgerade alltäglich.

Der Autor dieses Buches kam als junger Mann vor nunmehr fast vierzig Jahren auf den Spuren der Liebe aus einer Stadt namens Berlin (West) nach Finnland. Inzwischen hat er drei Kinder und zusätzlich zum deutschen auch einen finnischen Pass.

Auch nach so langer Zeit ist Finnland für ihn immer noch voll von Mysterien, Rätseln und offenen Fragen. Manche dieser offenen Fragen werden wohl für immer unbeantwortet bleiben, so zum Beispiel diese:

Warum fangen ungefähr drei von zehn Finnen beim Zählen mit den Fingern nicht mit dem Daumen an, sondern mit dem kleinen Finger?

Achten Sie mal darauf. Es stimmt.

Roman SchatzHelsinki, im März 2022

Auf der Suche nach sich selbst – Die finnische Identität

Eines haben die meisten Finninnen und Finnen gemeinsam, ganz egal, ob sie jung oder alt sind, Rechtskonservative oder Ökorevolutionäre, Feministinnen oder Patriarchen, Bauern oder Professorinnen, religiöse Pietisten oder linientreue Kommunisten: Sie sind fast alle wirklich gerne Finnen und sind, jede und jeder auf eigene Art, mächtig stolz darauf, diesem exotischen kleinen Volk anzugehören.

Wenn man vor meiner Haustür auf die hübsche grüne Helsinkier Straßenbahn wartet und gerade einer der etwa zwei Dutzend amtlichen Beflaggungstage des Jahres ist, kann man, wenn man sich einmal um die eigene Achse dreht, mindestens siebenundvierzig blaue Kreuze auf weißem Grund flattern sehen. Dann kommt die Straßenbahn.

Beflaggt wird unter anderem am Tag der Kriegsveteranen, am Tag der finnischen Sprache, am Tag des Gedichts und des Sommers (dem Geburtstag des Poeten Eino Leino), am Tag der Gefallenen, am Tag der Gleichberechtigung (dem Geburtstag der Schriftstellerin Minna Canth), am Tag der finnischen Literatur, am Tag des Finnentums, am Tag des Nationaldichters Johan Ludvig Runeberg und am Vatertag. Letzterer findet hier am zweiten Sonntag im November statt, vermutlich, damit finnische Väter nicht auf die Idee kommen, sich mit einer Kiste Bier und ihren Söhnen in die sommerliche Natur zu verdrücken. Der Muttertag ist am zweiten Sonntag im Mai, wie auch im Rest der Welt.

Stolz auf sich selbst als Nation, als Kultur, als Sprache und als Volk zu sein ist für Finnen etwas völlig Selbstverständliches. Für jemanden, der in Deutschland aufgewachsen ist, ist dieser überbordende, ungehemmte Patriotismus anfangs etwas gewöhnungsbedürftig. Das Wort suomalaisuus, Finnentum, ist allgegenwärtig im täglichen Sprachgebrauch, die eigene Identität ist Gegenstand unzähliger Bücher, Thema vieler Talkshows und Podiumsdiskussionen, etwas, worüber man gern und viel spricht.

In Deutschland ist schon die Vokabel problematisch. Deutschtum, das tümelt eben und erinnert sofort an die Sünden und Verbrechen, die sich Deutschland in den letzten Jahrhunderten zuschulden kommen ließ.

Hier aber denkt man gern und intensiv über die eigene Nation nach und schämt sich nicht für die eigene Vergangenheit, denn im Gegensatz zu fast allen anderen sogenannten zivilisierten europäischen Staaten hat Finnland nie versucht, die gesamte bekannte Welt oder wenigstens seine Nachbarn zu erobern. Hier ging es nie darum, aggressive oder expansive Außenpolitik zu betreiben, Finnland hatte nie Kolonien. Die Priorität lag immer im eigenen Überleben, im Entwickeln der eigenen Sprache und Identität, im Etablieren einer eigenständigen finnischen Kultur und Nation in Europa.

Finnland – die Wiege der Zivilisation

Vielleicht ist die hartnäckige Nabelschau der Finnen dadurch zu erklären, dass sie gar nicht wissen, wo sie herkommen. Der Ursprung dessen, was man ein finnisches Volk oder eine finnische Kultur nennen könnte, liegt nämlich im Dunkel der Geschichte. Es hat die verschiedensten Ansätze gegeben, Licht in dieses Dunkel zu bringen: Man hat die Bibel interpretiert und glaubte lange Zeit, die Finnen seien ein Stamm, der sich nach der babylonischen Sprachverwirrung in den Norden Europas verirrt habe. Man hat kraniologische Studien betrieben, also die Schädelknochen verschiedener Stämme vergleichend vermessen, und ist zu dem Schluss gekommen, dass finnische Jochbeine denen der Mongolen ähneln. Man hat die heutige finnische Sprache mit anderen, ähnlichen Sprachen verglichen und ein Dutzend verwandter Dialekte entlang der Wolga in Sibirien gefunden, man hat mitochondrische DNS untersucht und überraschenderweise entdeckt, dass die Vorfahren der meisten Finnen aus Mitteleuropa stammen, sich aber Ostfinnen und Westfinnen genetisch weit mehr voneinander unterscheiden als beispielsweise Deutsche von Briten.

Bisher gibt es also widersprüchliche Indizien, aber keine Erklärung für die große Frage, die die Finnen umtreibt: Woher kommen wir? Sicher ist nur: Die Finnen sind eine echte Rarität.

Der römische Historiker Tacitus schreibt im Jahr 98 am Schluss seines Werkes Germania auch über den Stamm der Fennen: »Die Tierähnlichkeit der Fennen ist erstaunlich, ihre Armut abschreckend. Sie haben keine Waffen, keine Pferde, kein Haus. Ihre Nahrung besteht aus Kräutern, ihre Kleidung aus Tierhäuten, ihre Lagerstätte ist der Erdboden; ihre einzige Hoffnung sind die Pfeile, die sie aus Mangel an Eisen mit spitzen Knochen versehen. Dieselbe Jagd gibt Männern und Frauen in gleicher Weise ihren Lebensunterhalt, denn die Frauen kommen überall mit hin und beanspruchen ihren Anteil an der Beute. Auch die kleinen Kinder haben keine andere Zufluchtsstätte vor wilden Tieren und vor dem Regen als den Unterschlupf unter irgendein Geflecht von Zweigen; hierhin kehren die jungen Männer zurück, und es ist auch das Asyl der Greise. Aber sie meinen, man sei glücklicher, als wenn man über schwerer Ackerarbeit seufze, mühsam Häuser baue, eigenes und fremdes Hab und Gut in Furcht und Hoffnung umzusetzen suche. Ohne sich um die Menschen und ohne sich um die Götter zu kümmern, haben sie das Schwerste von allem erreicht: wunschlos zufrieden und glücklich zu sein.«

Allerdings kann Tacitus mit dieser Beschreibung gar nicht die heutigen Finnen gemeint haben, denn erstens sind die nicht wunschlos zufrieden und glücklich und zweitens waren sie vor knapp zweitausend Jahren nachweislich noch gar nicht in Finnland. Nur der Name, den Tacitus verwendet, ist bis auf den heutigen Tag an ihnen hängen geblieben. In Tacitus’ Text geht es ziemlich sicher um die Samen, die Ureinwohner der nordischen Länder, die auch heute noch in der sogenannten Kalotte leben, dem Teil von Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, der nördlich des Polarkreises liegt.

Für ein kleines Volk mit einer seltenen Sprache ist es natürlich äußerst ärgerlich, keinen klaren Stammbaum zu haben, und so erfreuen sich in Finnland Ahnenforschung, Regional- und Lokalgeschichte, Heimatmuseen, Dialektpflege, Folklore, Sippentreffen, Trachten und dergleichen großer Beliebtheit.

Die finnische Sehnsucht nach einer glorreichen Vergangenheit hat bisweilen auch sehr amüsante Blüten getrieben. Der Künstler und Hobby-Ägyptologe Sigurd Wettenhovi-Aspa, seines Zeichens »Fennomane«, wie man sich damals als glühender Patriot nannte, stellte 1935 die Theorie auf, dass sämtliche Bildung und Zivilisation der Welt eigentlich aus Finnland stamme. Die ägyptische Hochkultur habe sich vor mehreren Tausend Jahren gebildet, weil damals Finnen via Indonesien und Indien an den Nil ausgewandert seien. Alle indoeuropäischen Sprachen – so der Freizeitlinguist, der Tausende von Wörtern miteinander verglich – stammten von einer finnisch-ägyptischen Ursprache ab. Seine Theorie nannte er »Fenno-Ägyptologie«, und ihr zufolge sind auch die Deutschen ein altes ugrisches Volk, das im Lauf der Zeit die deutsche Sprache anstelle der finnischen angenommen hat.

Mag auch der Ursprung der Finnen im Ungewissen liegen, Wettenhovi-Aspa muss als blinder Passagier mit einem Meteoriten auf die Erde gekommen sein. Oder aber er widmete sein Leben einer groß angelegten Wissenschaftsparodie – bis heute ist nicht sicher, ob er es mit seiner waghalsigen Theorie wirklich ganz ernst meinte. Bei Finnen weiß man so etwas eben nie.

Freunde und Feinde kann man sich aussuchen …

… die Nachbarn aber kriegt man von Gott. Finnland, sein Bedürfnis nach Nation und den trotzigen Stolz auf seine Unabhängigkeit kann man nur verstehen, wenn man das Verhältnis der Finnen zu Schweden und Russland kennt. Zwar hat Finnland noch ein drittes Grenzland, im nördlichsten Zipfel gibt es eine gemeinsame Grenze mit Norwegen, aber dort wachsen nur noch Moose und Flechten, weshalb Finnlands Nordgrenze selten von historischer Bedeutung war. Umso stärker aber haben Schweden und Russland das Land geprägt, schon von Anbeginn der modernen Geschichte.

Schweden und Finnland sind sich nicht nur von der Topografie her sehr ähnlich – viele Seen, Granit, Schären, rote Holzhäuschen mit weißen Randbalken, schweigsame Fernsehkommissare –, sondern auch von der Gesellschaftsordnung her. Das folkhemmet, das Volksheim, wie der skandinavische Wohlfahrtsstaat heißt, gibt es auch in Finnland. Manche Institutionen in Finnland erinnern verblüffend an Schweden, so etwa die staatliche Alkoholmonopolhandelskette.

Die Schweden hatten das heidnische, dünn besiedelte Finnland im Mittelalter kolonisiert und durch Kreuzzüge mit den Segnungen des Christentums vertraut gemacht. Finnland wurde dadurch an das westliche, zivilisierte Europa angebunden und bekam von den Schweden eine Ständegesellschaft, eine organisierte Verwaltung, Gesetze und ein funktionierendes Wirtschafts- und Handelssystem aufgestülpt. Besonders bei der Alphabetisierung der Finnen waren die Kolonialherren aus Schweden kreativ: Heiraten durfte nur noch, wer nachweislich lesen und schreiben konnte. Aus diesem Grund quälen sich auch die Sieben Brüder (die Hauptfiguren des gleichnamigen Romans von Aleksis Kivi, einem zentralen Wälzer der finnischen Literatur) noch als Erwachsene mühsam auf der Schulbank. Erst wenn sie nachweislich lesen und schreiben können, können sie die Konfirmation empfangen und somit vor dem Gesetz zu mündigen Erwachsenen werden.

Böse Zungen behaupten, die Schweden hätten bei ihrem Vordringen von der finnischen Westküste ins bewaldete Hinterland die Finnen von den Bäumen geschüttelt, ihnen Kleider angezogen, lesen und schreiben beigebracht und sie anschließend als Soldaten in die königlich schwedische Armee gesteckt.

Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts blieb Finnland Kolonie der schwedischen Krone. 1809 mussten die Schweden, nachdem sie einen ihrer zahlreichen Kriege gegen das Zarenreich verloren hatten, Finnland an die Russen abgeben, deshalb trägt dieser Krieg den Namen Finnlandkrieg. Die Gebietsabtretung wurde bei einer Zeremonie im Küstenstädtchen Porvoo, etwa fünfzig Kilometer östlich von Helsinki, vollzogen, und ab sofort war Zar Alexander I., der persönlich über das Treffen präsidierte, nicht nur Kaiser von Russland, sondern im Nebenberuf auch noch Großfürst des autonomen russischen Großfürstentums Finnland.

Unter ihren neuen Herren ging es mit den Finnen zunächst deutlich bergauf. Die Russen räumten den Finnen viele Freiheiten ein, vermutlich, um sich bei der Bevölkerung beliebter zu machen, als es die alten Besatzer gewesen waren. Ab 1841 durfte die finnische Sprache an Schulen unterrichtet werden, 1860 bekam Finnland eine eigene Währung, die markka, deren Name durch einen Ideenwettbewerb in Anlehnung an die in Teilen von Mitteleuropa benutzte Mark festgelegt wurde. Die Freizügigkeit, also das Recht zur freien Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts, wurde eingeführt, körperliche Bestrafungen abgeschafft, Kirche und Verwaltung wurden getrennt und ein eigenes Schul- und Bildungswesen aufgebaut. 1881 trat sogar ein Wehrgesetz in Kraft, das es Finnland erlaubte, eigene Streitkräfte zu unterhalten. Zu allem Überfluss wurde diese liberale Periode von einem stetigen wirtschaftlichen Aufschwung begleitet.

Kein Wunder, dass bei so viel Autonomie in den Finnen das leidenschaftliche Bedürfnis nach Freiheit, Unabhängigkeit und einem eigenen, souveränen Staat entstand. Sie nutzten die Jahrzehnte der Toleranz, um ihre Sprache und Kultur zu stärken. Sämtliche finnischen Künstler und Intellektuelle waren fiebernd damit beschäftigt, eine eigene Nation zu erschaffen. Architekten begannen, im sogenannten nationalromantischen Stil zu bauen, Maler konzentrierten sich auf einheimische Landschaften und auf Motive aus der nationalen Mythologie. Zeitungen und Literatur in finnischer Sprache verbreiteten sich – der Slogan war: »Schweden sind wir nicht mehr, Russen wollen wir nicht werden, lasst uns also Finnen sein!«

Die Personifikation Finnlands war die sogenannte Suomi-neito, die Finnland-Jungfer. In der Kunst stellte man sie meist als junge Frau mit langen blonden Haaren dar, für die Fennomanen des 19. Jahrhunderts war sie das romantische Symbol für die Nation. Auch Finnlands Landkarte sah damals noch einer weiblichen Gestalt ähnlich. Nordlappland mit Utsjoki und Inari waren der Kopf, Mittelfinnland der Bauch. Inzwischen fehlen der Dame allerdings der linke Arm und der linke Rockzipfel: Der Arm war die Gegend um Petsamo im Norden und Finnlands einziger Zugang zum Eismeer, der Rockzipfel waren der Großteil von Karelien und die Hälfte des Ladogasees, beides Gebiete, die Finnland nach dem Zweiten Weltkrieg an die UdSSR abtreten musste.

Kalevala – das Buch der Bücher

So viel Nationalgefühl kam natürlich nicht ohne ein Nationalepos aus. Und so machte sich der Arzt, Naturwissenschaftler und Sprachforscher Elias Lönnrot aus Sammatti in der Nähe von Helsinki auf die Reise. Er unternahm insgesamt zehn lange, strapaziöse Wanderungen in die verschiedenen entlegenen Ecken des Landes und sammelte Volkslieder, Geschichten und Moritaten, die ihm meist gesungen und in gereimter Form vorgetragen wurden.

Aus diesen Volksgesängen schmiedete Lönnrot ab 1828 das Kalevala, das offizielle Nationalepos. Er kombinierte und arrangierte die gesammelten Heldenlieder zu einem durchlaufenden Text, und wo etwas fehlte oder nicht richtig passte, dichtete er kurzerhand selbst weiter, und zwar im sogenannten Kalevala-Versmaß.

Die Sagensammlung erzählt von der Entstehung der Welt aus einem Enten-Ei, von Raubzügen und Rache und vom Sampo, einer im wahrsten Sinne des Wortes sagenhaften Maschine, einer magischen Zaubermühle, die ohne Unterlass Korn, Salz und edles Metall mahlt und ihren jeweiligen Besitzer reich macht.

Dieser Sampo wird aus den Klauen der bösen Hexe Louhi befreit, aber die kühnen Helden lassen ihn auf ihrer Flucht dummerweise ins Wasser fallen, wo er bis auf den heutigen Tag Reichtümer produziert. Die Fische sind lebende Zeugen hiervon, sogar die kleinsten von ihnen sind ganz in Silber gekleidet.

Die Hauptperson des Kalevala ist der knorrige Väinämöinen, der schon bei seiner Geburt ein bärtiger alter Mann ist. Er ist im Gegensatz zu den Protagonisten anderer Nationalepen kein Serienmörder, sondern ein weiser Sänger, ein Schamane. Er spielt ein Instrument, das aus dem Unterkiefer eines kapitalen Hechts gemacht ist – die finnische Nationalharfe, die kantele. Trotz seines epischen Alters interessiert er sich für ein junges Mädchen namens Aino. In einer der Schlüsselszenen fordert der Bruder der Schönen den alten Freier zum Wettsingen auf, und Väinämöinen singt den Bruder schnurstracks bis zum Hals in einen Sumpf.

Ein Happy End für den Alten gibt es trotzdem nicht – die junge Aino geht lieber ins Wasser, als einen Mann zu heiraten, der so alt ist wie ein Baum. Die Szene, in der das Mädchen sich ertränkt, ist das Motiv eines berühmten Triptychons von Akseli Gallén-Kallela, dem bekanntesten finnischen Maler aus der Zeit der Nationalromantik.

Das Kalevala beeinflusste alle Disziplinen der finnischen Kunst, also die bildende Kunst, die Literatur und die Musik. Nicht nur die einheimischen Künstler lasen das Buch mit Begeisterung, das Werk erreichte auch über die Landesgrenzen hinaus Bekanntheit: Der Poet Henry Longfellow kannte das Epos und imitierte den Stil, J. R. R. Tolkien wurde davon inspiriert, und sogar bei Micky Maus finden sich Verweise darauf. Das Kalevala ist für die Finnen das Buch der Bücher, der Mythos der eigenen Herkunft, die Saga der eigenen Wurzeln, und die Figuren und Begebenheiten sind Allgemeingut. Die Story ist keineswegs historisch verstaubt: Mehr als ein Dutzend finnische Heavy-Metal-Bands sind erklärterweise vom Kalevala beflügelt, es gibt Kalevala-Schmuck, der bei Männern und Frauen und bei Jung und Alt beliebt ist, und im ostfinnischen Ort Kuhmo, wo jährlich ein internationales Kammermusikfestival stattfindet, gibt es sogar ein ganzes Kalevala-Dorf.

Ein hübsches Detail: In einem der fünfzig Gesänge erfährt man, wie man besonders starkes Bier braut. Elias Lönnrot war zwar auch der Begründer des ersten Abstinenzlervereins in Finnland, aber dieses wichtige volkskundliche Detail hat er seinen Lesern dann doch nicht vorenthalten.

Unabhängig

Ende des 19. Jahrhunderts begann Zar Nikolaus II., Druck auf Finnland auszuüben. Er hatte kein Verständnis für den finnischen Separatismus, sondern verfolgte seinerseits eine großartige panslawistische Vision. Er kassierte die Sonderrechte und Freiheiten seines autonomen Großfürstentums und begann mit der »Russifizierung« der Finnen.

Damals kam es zu etwas, das in der finnischen Geschichte Seltenheitswert hat: zu einem politischen Mord. Am 17. Juni 1904 erschoss der Nationalist Eugen Schauman den russischen Generalgouverneur Nikolai Bobrikow, der die neuen Regeln des Zaren in Finnland mit harter Hand durchsetzte und als schlimmer Unterdrücker empfunden wurde. Und es scheint in Finnland Leute zu geben, die auf diesen Herrn Schauman auch heute noch stolz sind. Mehr als hundert Jahre nach der Tat findet man auf seinem Grab in Porvoo noch immer frische Blumen.

Bis 1917 mussten die Finnen warten, dann entließ Russlands neuer Herrscher Wladimir Iljitsch Lenin sie in die Unabhängigkeit, weil er mit seiner Oktoberrevolution alle Hände voll zu tun hatte und sich nicht auch noch um das aufmüpfige ehemalige Großfürstentum im Westen kümmern konnte.

Lenin hatte sich, als es in Russland für ihn zu heiß wurde, mehrfach für längere Zeit in Finnland aufgehalten. Im Arbeiterhaus der Stadt Tampere lernte er bei einem geheimen Treffen der Bolschewisten im Dezember 1905 u. a. Josef Stalin kennen. Deshalb ist dieses Arbeiterhaus heute das einzige Lenin-Museum in der westlichen Welt.

Anfang 1918 kam es zum Bürgerkrieg. Die Roten, die Kommunisten, kämpften gegen die Weißen, die Regierungstruppen – die Roten wurden dabei von den russischen Kommunisten unterstützt, die Weißen von den kaiserlichen Deutschen. Beide Seiten zeichneten sich durch besondere Brutalität aus, politischer Terror und Massenhinrichtungen waren an der Tagesordnung. Innerhalb von wenigen Monaten ließen 37 000 Finninnen und Finnen ihr Leben, drei Viertel davon Kommunisten. Der Bürgerkrieg endete mit einem Sieg der Weißen, und man muss noch heute aufpassen, wie man ihn nennt, es gibt verschiedene Bezeichnungen wie Bruderkrieg, Freiheitskrieg, Rotenrevolte oder Klassenkrieg.

1919 wurde die Republik Finnland gegründet, die sich an Skandinavien und Westeuropa orientierte. Und wie man weiß, gibt es diese bis auf den heutigen Tag.

Winter- und Fortsetzungskrieg

1938 begann die Sowjetunion, von Finnland Gebietsabtretungen zu verlangen. Damals verlief die finnisch-sowjetische Staatsgrenze nur etwa dreißig Kilometer von Leningrad entfernt. Finnland weigerte sich, die geforderten Teile der karelischen Landenge südwestlich des Ladogasees abzugeben.

Als der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, wurden die sowjetischen Forderungen nach Stützpunkten in Finnland lauter, und als Finnland sich erneut weigerte, Territorium abzutreten, griffen Stalins Soldaten an. Der Krieg dauerte von Dezember 1939 bis März 1940 und heißt deshalb Winterkrieg. Gekämpft wurde unter extremen Bedingungen, da sich dieser Winter zu einem der kältesten des Jahrhunderts entwickelte. Der Krieg endete damit, dass die Finnen Gebiete in Karelien und in Ostlappland verloren und die Bewohner ins verbleibende Staatsgebiet umgesiedelt werden mussten.

Es folgte ein unstabiler, nervöser Interimsfriede. Finnlands Beziehung zur UdSSR wurde nicht besser dadurch, dass Finnland nicht den sowjetischen, sondern den deutschen Truppen das Durchmarschrecht sowie den Zugang zu den Nickelminen in Petsamo am Eismeer gewährte und obendrein von den Deutschen Waffen kaufte.

Deutschland und Finnland wurden zu »Waffenbrüdern«. Als die deutschen Truppen 1941 die Grenzen zur Sowjetunion überschritten, griff auch Finnland an. In diesem sogenannten Fortsetzungskrieg gelang es den Finnen zunächst, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern und über die ehemaligen Landesgrenzen hinaus auch Ostkarelien zu besetzen. Als Folge des sowjetischen Großangriffs im Sommer 1944 verschob sich die Front aber wieder nach Westen, in die Nähe der nach dem Winterkrieg gezogenen Grenzen.

Als der politischen Führung Finnlands klar wurde, dass man aufs falsche Pferd gesetzt hatte und dass die Deutschen nicht als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgehen würden, wechselte sie im September 1944 die Seiten und schloss einen Separatfrieden mit der Sowjetunion.

Die Sowjets verlangten von den Finnen, den Kontakt mit Deutschland sofort abzubrechen, die deutschen Truppen aus Finnland zu vertreiben, sämtliches deutsches Kriegsgerät und anderes Eigentum abzuliefern, 300 Millionen Golddollar an Reparationen zu bezahlen und etwa zehn Prozent ihrer Staatsfläche abzutreten.

Zunächst versuchten die ehemaligen Waffenbrüder, sich auf einen unblutigen Rückzug zu verständigen, aber die Sowjets wollten Leichen sehen und verlangten von den Finnen, bei der Vertreibung der Deutschen hart vorzugehen. Die Deutschen wiederum zogen sich nach Nordnorwegen zurück und wandten dabei die Taktik der verbrannten Erde an. Noch heute bekommt man als Deutscher in Finnland ab und an zu hören: »Ihr habt Lappland verbrannt!«

Es gab nie eine offizielle Kriegserklärung zwischen Deutschland und Finnland, und erst 1954 erklärte die finnische Regierung diesen Krieg für beendet.

Von der Finnlandisierung zur EU

Finnland bezahlte als einziger Verliererstaat die ihm auferlegten Reparationen in vollem Umfang. Der letzte Güterzug passierte am 18. September 1953 die Ostgrenze. Immerhin hatten die Forderungen der UdSSR die Finnen dazu gezwungen, sich eine Metallindustrie aufzubauen, die jetzt nach Bezahlung der Kriegsschulden für die Produktion von Exportgütern zur Verfügung stand.

Langsam, aber sicher rappelte sich die finnische Volkswirtschaft auf, und man war froh darüber, zwar in den Einflussbereich der UdSSR geraten, aber nicht wie Estland, Lettland oder Litauen annektiert worden zu sein.