Gedanken und Erinnerungen - Otto von Bismarck - E-Book

Gedanken und Erinnerungen E-Book

Otto von Bismarck

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Beschreibung

Die Autobiografie des ersten Reichskanzlers des Deutschen Reiches, dessen Gründung er maßgeblich voran getrieben hatte.

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Gedanken und Erinnerungen

Otto von Bismarck

Inhalt:

Otto Eduard Leopold von Bismarck – Lexikalische Biografie

Gedanken und Erinnerungen

Erstes Buch

Bis zum ersten vereinigten Landtage

Das Jahr 1848

Erfurt, Olmütz, Dresden

Diplomat

Krimkrieg. Wochenblattspartei

Sanssouci und Coblenz

Unterwegs zwischen Frankfurt und Berlin

Besuch in Paris

Reisen. Regentschaft

Petersburg

Zwischenzustand

Zweites Buch

Rückblick auf die Preussische Politik

Dynastien und Stämme

Conflicts-Ministerium

Die Alvensleben'sche Convention

Danziger Episode

Der Frankfurter Fürstencongress

König Ludwig II. von Bayern

Schleswig-Holstein

Nikolsburg

Der Norddeutsche Bund

Die Emser Depesche

Versailles

Culturkampf

Bruch mit den Conservativen

Intriguen

Die Ressorts

Berliner Congreß

Der Dreibund

Zukünftige Politik Rußlands

Der Staatsrath

Kaiser Wilhelm I.

Kaiser Friedrich

Drittes Buch

Erinnerung und Gedanke

Prinz Wilhelm

Grossherzog von Baden

Boetticher

Herrfurth

Der Kronrath vom 24. Januar

Die Kaiserlichen erlasse vom 4. Februar 1890

Wandlungen

Meine Entlassung

Graf Caprivi

Kaiser Wilhelm II.

Vertrag über Helgoland und Sansibar

Handelsvertrag mit Österreich

Anlagen zu Buch III

Kronprinz Friedrich Wilhelm an Bismarck

Protokoll der Ministersitzung vom 17. Maerz 1890

Fluegeladjutant v. Bissing an

Graf Herbert Bismarck

Gedanken und Erinnerungen , Otto von Bismarck

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849638122

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Otto Eduard Leopold von Bismarck – Lexikalische Biografie

Herzog von Lauenburg, der erste Kanzler des neuen Deutschen Reiches, geb. 1. April 1815 in Schönhausen, gest. 30. Juli 1898 in Friedrichsruh. Sein Vater Ferdinand v. B. (geb. 13. Nov. 1771, gest. 22. Nov. 1845), preußischer Rittmeister, bewirtschaftete seine Güter Schönhausen, Kniephof, Külz und Jarchelin in Pommern, vermählte sich 1806 mit Wilhelmine Luise, der geistig bedeutenden Tochter des Kabinettsrats Mencken (geb. 24. Febr. 1790, gest. 1. Jan. 1839), welcher Ehe sechs Kinder entsprossen, von denen B. das vierte war. B. besuchte 1821–27 die Plamannsche Erziehungsanstalt, 1827–30 das Friedrich Wilhelms-Gymnasium, 1830–32 das Graue Kloster in Berlin und bezog Ostern 1832 die Universität Göttingen. Er bestand Ostern 1835 das Auskultatorexamen, arbeitete am Berliner Stadtgericht, wurde aber, 1836 zur Verwaltung übergehend, nach Aachen versetzt. Nachdem er die zweite Prüfung abgelegt, war er 1837 als Referendar bei der Potsdamer Regierung beschäftigt, trat Ostern 1838 bei dem Gardejägerbataillon als Einjährig-Freiwilliger ein, ließ sich aber im Herbst zum 2. Jägerbataillon nach Greifswald versetzen, um zugleich in Eldena Landwirtschaft zu studieren; denn da sich sein Vater nach dem Tode der Mutter nach Schönhausen zurückzog, sollte er mit seinem Bruder Bernhard gemeinschaftlich die Verwaltung der etwas in Verfall geratenen und verschuldeten pommerschen Güter übernehmen. Als der Vater starb, erhielt B. Kniephof und das sehr verkleinerte Gut Schönhausen, wo er fortan lebte und zum Deichhauptmann und zum Abgeordneten im sächsischen Provinziallandtag gewählt wurde. In dieser letzteren Eigenschaft ward er auch 1847 Mitglied des Vereinigten Landtags, wo er die landläufigen liberalen Ansichten und Forderungen entschieden bekämpfte, die unabhängige Stellung des Königtums und die Freiwilligkeit seiner Zugeständnisse betonte, sich gegen die Zulassung von Juden zu öffentlichen Ämtern erklärte. Den Ruf eines ultrakonservativen Junkers befestigte er noch durch sein Auftreten im April 1848, wo er, die Niederlage des preußischen Königtums und der bisher herrschenden Stände beklagend, gegen die vom Landtag beschlossene Dankadresse stimmte und auch sonst sein Missbehagen nicht verbarg. Er war Mitarbeiter der »Kreuzzeitung« und erstrebte, 1849 in das Abgeordnetenhaus gewählt, die Bildung einer starken königstreuen Partei. Die Wiederherstellung eines kräftigen preußischen Königtums betrachtete er als Vorbedingung für die Lösung der deutschen Frage und hielt bis dahin ein Einvernehmen mit Österreich für nötig. Er bekämpfte daher die Radowitzsche Unionspolitik im Erfurter Parlament und verteidigte 3. Dez. 1850 in der preußischen Zweiten Kammer sogar die Olmützer Übereinkunft.

König Friedrich Wilhelm IV. ernannte ihn im Mai 1851 zum Legationsrat bei der Bundestagsgesandtschaft in Frankfurt a. M. und 18. Aug. zum Bundestagsgesandten. Hier lernte B. die Kläglichkeit und Unverbesserlichkeit des Deutschen Bundes kennen und sah ein, dass Preußen bei den Mittel- und Kleinstaaten nie auf aufrichtige Freundschaft rechnen könne, dass es seine deutschen Bundesgenossen aber auch nicht zu fürchten habe. 1859 schien ihm der Augenblick gekommen, um Preußen von der Bevormundung Österreichs zu befreien, aber das neue Ministerium Hohenzollern-Schleinitz wollte sich den Bundespflichten nicht ohne weiteres entziehen: B. ward 5. März 1859 von Frankfurt abberufen und als Gesandter nach Petersburg versetzt. In Petersburg blieb B. drei Jahre, beobachtete aber die Entwickelung der Dinge in Preußen und Deutschland mit scharfem Blick und überreichte 1861 in Baden-Baden dem König Wilhelm I. eine Denkschrift über die deutsche Verfassungsfrage. Doch erst nachdem B. 24. Mai 1862 zum Gesandten in Paris ernannt worden war, wurde er im September von Biarritz nach Berlin berufen und 24. Sept. 1862 als Staatsminister mit dem interimistischen Vorsitz im Ministerium beauftragt.

B. übernahm die Aufgabe, die Reorganisation des Heeres gegenüber dem auf sein Budgetrecht pochenden Abgeordnetenhause zu sichern, und hoffte sein Ziel durch Hinweis auf die Notwendigkeit eines starken preußischen Heeres zu erreichen. Indessen die »Blut- und Eisenpolitik« begegnete spöttischem Misstrauen. Man sah in B. nur den beschränkten Junker von 1848 und das gefügige Werkzeug der Reaktion, welche die konstitutionelle Verfassung vernichten und im Bunde mit Österreich Deutschland knechten wolle. Die überwiegende Mehrheit des Hauses konnte sich ein Preußen, das für Deutschlands Einheit kämpfen würde, unmöglich vorstellen und wollte daher von der Anerkennung der Heeresorganisation nichts wissen. B., 8. Okt. zum Ministerpräsidenten und Minister des Auswärtigen ernannt, verzichtete auf jeden weitern Versöhnungsversuch und regierte ohne Budget, indem er auf Überwindung des Widerstandes dadurch hoffte, dass er die angekündigte deutsche Politik ohne Unterstützung der Volksvertretung verwirklichte. Dem Abgeordnetenhaus, das nach Bismarcks Ansicht durch einseitiges Festhalten an seiner Auffassung den Konflikt heraufbeschworen hatte, trat er fortan rücksichtslos offen entgegen. Parlamentarische Streitpunkte, so über die von B. bestrittene Ausdehnung der Disziplinargewalt des Präsidenten auf die Minister, erweiterten die Kluft zwischen dem Ministerium und dem Abgeordnetenhaus; kurz, überall gab es eine Spannung.

Inzwischen hatte B. die Lösung der deutschen Frage in Angriff genommen. Bereits im Januar 1863 teilte er Österreich mit, dass es entweder die Leitung der deutschen Angelegenheiten mit Preußen freundschaftlich teilen, oder eines offenen Bruches gewärtig sein müsse. Österreichs Versuch, die deutsche Frage auf dem Frankfurter Fürstenkongreß (August 1863) in seinem Sinne zu lösen, vereitelte B. dadurch, dass König Wilhelm fernblieb, während er 15. Sept. als positiven Vorschlag seinerseits die Berufung einer deutschen Volksvertretung in Aussicht stellte. Dass es ihm gelingen würde, die getäuschten Hoffnungen von 1849 zu erfüllen, glaubte niemand, ebenso wenig fand B. bei den Liberalen Verständnis für seine schleswig-holsteinische Politik 1863–64. Als der Wiener Friede und die Zurückdrängung des Augustenburgers zeigten, dass B. Preußens Machtstellung vortrefflich gewahrt habe, erneuerte die Vertagung des Konfliktes mit Österreich durch den Gasteiner Vertrag, den B., der Friedensliebe des Königs nachgebend, schloss und wofür er 15. Sept. 1865 zum Grafen erhoben wurde, wiederum das Misstrauen gegen seine auswärtige Politik, und der Verfassungskampf brach 1866 mit verschärfter Heftigkeit aus. Indes täuschte dieser innere Zwist Österreich und die Mittelstaaten über Preußens Streitkraft; auch Napoleon III. blieb im Entscheidungskampf wohl nur deswegen neutral, weil ihm Preußens Niederlage gewiss schien. Einen Bundesgenossen gewann B. 8. April 1866 in Italien. Im Volke fand seine Politik heftige Anfeindung, und 7. Mai 1866 machte ein Student Cohen, ein Stiefsohn K. Blinds, in Berlin ein erfolgloses Attentat auf B. Nur mit Mühe konnte er den König zum Kriege mit Österreich bestimmen, aber alle Vermittlungsversuche, die B. nicht hindern konnte, scheiterten an der Hartnäckigkeit der Gegner, die an den Ernst Preußens nicht glauben mochten. Am 9. April legte B. dem Bundestag den Antrag auf Berufung eines deutschen Parlaments vor, am 10. Juni die Grundzüge einer neuen Bundesverfassung. Die Annahme des österreichischen Antrags auf Mobilisierung der nichtpreußischen Bundeskorps gegen Preußen wegen Verletzung des Bundesrechts in Holstein beantwortete B. 14. Juni mit der Erklärung des Austritts aus dem Bund. Am Krieg nahm B. im Gefolge des Königs teil, und nach dem Siege setzte er gegen den König und dessen militärische Umgebung den Abschluss des Waffenstillstandes, die Integrität des österreichischen Gebietes (außer Venetien) sowie die Schonung der süddeutschen Staaten durch, rundete das preußische Gebiet durch die Annexion Schleswig-Holsteins, Hannovers, Kurhessens, Nassaus und Frankfurts ab und begründete zugleich Preußens Vormachtstellung m Norddeutschland. Auch den Paragraphen über die Volksabstimmung in Schleswig im Prager Frieden gestand er auf Verlangen Frankreichs zu. Dagegen wies er dessen Kompensationsforderungen von Rheingebiet entschieden zurück und verband die süddeutschen Staaten durch geheime Schutz- und Trutzbündnisse mit Norddeutschland.

Die Neuwahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus 3. Juli 1866 vermehrten die Anhänger der Regierung, und die militärischen und diplomatischen Erfolge wandelten die Volksmeinung so vollständig, dass sich B. durch Nachsuchung der Indemnitätsbewilligung für die budgetlose Verwaltung 1862–66 mit der Volksvertretung aussöhnen konnte. Fortan fand er in der bisher oppositionellen nationalliberalen Partei eine wirksame Unterstützung. Von der ihm bewilligten Dotation kaufte er die Blumenthalsche Herrschaft Varzin in Hinterpommern an. Bei der Beratung der Verfassung des Norddeutschen Bundes erwarb er sich durch Entgegenkommen gegen die kleineren Staaten das Vertrauen der Fürsten und verteidigte ihre Bestimmungen im konstituierenden Reichstag 1867 mit großem Eifer und meist mit Erfolg, namentlich das allgemeine direkte Wahlrecht für den Reichstag und die alleinige Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers. Der Welt gab er in der Luxemburger Frage 1867 einen unzweideutigen Beweis seiner Friedfertigkeit. Wohl sah er den Krieg mit Frankreich voraus, das ihn fortwährend mit Anträgen eines Bündnisses und gemeinschaftlicher Annexionen behelligte. So schob er den Kampf hinaus, bis die französischen Politiker endlich die spanische Thronkandidatur zum Vorwand einer Kriegserklärung nahmen, sich dadurch als Angreifer ins Unrecht setzten und sich ihrer Verbündeten beraubten. B. begleitete wieder den König in den Krieg und leitete die auswärtige Politik vom Hauptquartier aus. Zur rechten Zeit verkündete er in den Rundschreiben vom 13. und 16. Sept. die Absicht, Deutschland gegen künftige französische Angriffe durch Verlegung der schutzlosen süddeutschen Grenze nach Westen und den Besitz der eroberten Rhein- und Moselfestungen zu sichern. Fremde Einmischung in die Friedensverhandlungen wehrte er ab: Deutschland habe den Krieg allein ausgekämpft und wolle allein Frieden schließen. Die Verträge über den Eintritt der süddeutschen Staaten in das Deutsche Reich brachte er in Versailles zum Abschluss, indem er Bayern beträchtliche Sonderzugeständnisse machte. Den Frieden von Frankfurt a. M. 10. Mai 1871 schloss er persönlich ab. Mit der Errichtung des Deutschen Reiches ward er zum Reichskanzler ernannt, 21. März 1871 in den in Primogenitur erblichen Fürstenstand erhoben und erhielt eine große Domäne in Lauenburg mit dem Sachsenwald.

Nach dem deutsch-französischen Kriege beschäftigte B. vornehmlich der sogen. Kulturkampf, den er mit der ganzen ihm eigentümlichen Kraft ausfocht, sobald die Zentrumspartei ihn durch Mobilmachung aller reichsfeindlichen Elemente unter klerikaler Fahne eröffnet hatte. In den ersten Jahren trat er im Landtag mit mehreren bedeutenden Reden für die Sicherung des Staates gegen die päpstliche Anmaßung ein und zog sich dadurch die heftigsten Angriffe seitens der Ultramontanen zu; 13. Juli 1874 machte sogar der fanatisierte Böttchergeselle Kullmann in Kissingen einen Mordanfall auf ihn. Die Last der Geschäfte und die unaufhörlichen Anfeindungen auch von früheren Parteigenossen, besonders seit dem Fall Arnim, erschütterten seine Gesundheit so, dass er sich 21. Nov. 1872 bis 10. Nov. 1873 vom preußischen Ministerpräsidium entbinden und 1878 eine geregelte Stellvertretung einsetzen ließ. Wiederholt bat er um seine Entlassung, die der König aber nicht bewilligte; seine Aufenthalte in Varzin und Friedrichsruh zur Erholung dehnten sich daher oft auf mehrere Monate aus; im Sommer gebrauchte er meist in Kissingen die Kur. Sein unermüdlicher Geist schuf sich immer neue Aufgaben zur Verwirklichung seines Zieles, der Macht und Größe seines Vaterlandes, so das Reichseisenbahnprojekt, nach dessen Scheitern er den Ankauf der Bahnen in Preußen durch den Staat durchsetzte, und 1879 die neue Zoll- und Wirtschaftspolitik, in deren weiterer Verfolgung er mit den Nationalliberalen brach, worauf er, um die Ultramontanen zu gewinnen, den Kulturkampf aufhören ließ. An die neue Zollgesetzgebung, welche die Einnahmen des Reiches steigerte und manche Zweige der Industrie hob, schlossen sich soziale Reformen, die den Arbeiterstand durch Befriedigung seiner berechtigt erscheinenden Forderungen vor dem Einfluss der Sozialdemokratie bewahren sollten. Hierbei stieß B. auf den Widerstand der Liberalen, förderte nun deren Schwächung und Spaltung, konnte aber keine konservative Mehrheit im Reichstage zustande bringen und musste sich wegen der schroff oppositionellen Haltung der Fortschrittspartei auf das Zentrum stützen und diesem manche Zugeständnisse machen. Nur mit Mühe und nach langen Verhandlungen wurden das Krankenkassen-, das Unfallversicherungs- und das Alters- und Invalidenversicherungsgesetz im Reichstag angenommen, das Tabakmonopol aber abgelehnt und bloß eine hohe Branntweinsteuer bewilligt.

In der auswärtigen Politik bildete sein Ziel die Erhaltung des Friedens; seine Bemühungen während des russisch-türkischen Krieges wurden dadurch anerkannt, dass Berlin 1878 zum Sitz des Friedenskongresses und B. zum Präsidenten desselben erwählt wurde. Von Russland wendete er sich mehr und mehr ab und Österreich zu, mit dem er im September 1879 ein 1883 erneuertes Schutzbündnis schloss. Italien trat ihm bei, so dass der Dreibund zum Schutz des europäischen Friedens entstand. Gestützt auf das gute Verhältnis des Deutschen Reiches zu den Kontinentalmächten, unternahm B. 1884 den Erwerb deutscher Kolonien; den Widerstand Englands wusste er mit großer diplomatischer Kunst zu bewältigen, und seine Reichstagsreden 1885 über seine auswärtige und Kolonialpolitik fanden im Volk einen mächtigen Widerhall. Sein 70. Geburtstag wurde daher 1. April 1885 unter glänzenden Ovationen aus allen Teilen Deutschlands und allen Schichten der Bevölkerung gefeiert. Aus den Erträgen der »Bismarckspende« (2,750,000 Mk.) wurde dem Reichskanzler das 1830 der Familie verloren gegangene Hauptgut Schönhausen geschenkt; den Überschuss (1,230,000 Mk.) bestimmte B. zu einer »Schönhausen-Stiftung«, aus der Kandidaten des höheren Lehramts Stipendien von 1000 Mk. erhalten. Einen glänzenden Sieg trug B. 1887 nach der Auflösung des Reichstags wegen Ablehnung des sogen. Septennats bei den Neuwahlen (21. Febr.) davon. Die konservativ-nationalliberale Mehrheit bewilligte nach der Rede vom 6. Febr. 1888, wo B. das Wort sprach: »Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt«, alle Forderungen für die erhöhte Wehrkraft des Reiches.

Nach dem Tode Kaiser Wilhelms I. (9. März 1888) blieb B. unter Kaiser Friedrich III. im Amt; auch Wilhelm II. schien anfangs ganz in Bismarcks Bahnen zu wandeln. Doch bald trat ein Zwiespalt sowohl über die Haltung gegen Russland und England wie über die innere Politik ein. Der Kaiser ließ das Sozialistengesetz fallen und berief die internationale Konferenz über den Arbeiterschutz. Aus Anlass einer Meinungsverschiedenheit über die Rechte des preußischen Ministerpräsidenten reichte B. 18. März seine wiederholt geforderte Entlassung ein und erhielt sie 20. März 1890 unter Ernennung zum Herzog von Lauenburg und Generalobersten der Kavallerie. Nur schwer fügte sich B. in die wohlverdiente Muße zu Friedrichsruh; er ließ sich 1891 in den Reichstag wählen, erschien aber nie im Haus. In der Presse und in Gesprächen mit zahlreichen Besuchern bekämpfte er die Politik des »neuen Kurses«. Die Spannung zwischen ihm und den leitenden Kreisen in Berlin erreichte ihren Höhepunkt durch die schroffe Haltung seines Nachfolgers Caprivi, als B. aus Anlass der Vermählung seines Sohnes Herbert 1892 in Wien weilte. Die Meinung des Volkes darüber wurde aber ebenso offenbar durch die stürmischen Huldigungen, die man B. in Dresden, München, Kissingen, Jena u. a. O. darbrachte. Nachdem Kaiser Wilhelm schon 20. Sept. 1893 dem in Kissingen erkrankten Fürsten telegraphisch seine Teilnahme ausgesprochen, lud er ihn im Januar 1894 zu seinem Geburtstag nach Berlin. B. kam, ward fürstlich empfangen, und das Volk jubelte über die Aussöhnung. Bismarcks 80 Geburtstag veranlasste wieder lebhafte Kundgebungen, welche die von der Reichstagsmehrheit 23. März verweigerte Beglückwünschung noch steigerte; 26. März brachte der Kaiser, der über den Beschluss des Reichstags seine tiefste Entrüstung aussprach, seine Glückwünsche persönlich dar. Eine Beeinträchtigung der guten Beziehungen zwischen B. und dem Kaiser brachte die Mitteilung der »Hamburger Nachrichten« vom 24. Okt. 1836, dass 1887–90 ein geheimes Abkommen zwischen Russland und Deutschland bestanden habe, der sogen. Rückversicherungsvertrag, wonach jede der beiden Mächte eine wohlwollende Neutralität beobachten solle, wenn die andre, ohne provoziert zu haben, angegriffen werde. Erst dadurch, dass Caprivi diesen Vertrag nicht erneuert habe, sei Russland zu einem so engen Anschluss an Frankreich, wie er sich beim Besuch des Zarenpaars daselbst zeigte, gezwungen worden; und B. machte die deutsche Politik für alle sich etwa künftig für Deutschland aus diesem Bündnis ergebenden Unannehmlichkeiten verantwortlich. Auch diese Missstimmung ging vorüber; und wenn auch bei der Enthüllung des Nationaldenkmals für Kaiser Wilhelm I., 22. März 1897, Bismarcks offiziell überhaupt nicht gedacht wurde, so bot doch der Kaiser unmittelbar nach Bismarcks Tode die Beisetzung in der Fürstengruft des neuen Donis zu Berlin an. Aber die Familie erfüllte des Toten Wunsch, im Parke von Friedrichsruh zu ruhen; nach Vollendung des neuen Mausoleums wurde er dort 16. März 1899 beigesetzt.

Bismarcks militärische Laufbahn veranschaulicht folgende Zusammenstellung:

25. 3. 1838 Einjährig-Freiwilliger im Gardejäger-Bataillon, – 10. 1838 zur 2. Jägerabteilung versetzt,

28. 3. 1839 zur Reserve entlassen,

12. 8. 1841 Sekondleutnant der Landwehrinfanterie,

14. 8. 1842 von der Infanterie zur Kavallerie versetzt,

13. 4. 1850 zur Kavallerie des 1. Bat. 26. Landwehrregiments,

29. 4. 1852 zum 7. schweren Landwehr-Reiterregiment versetzt,

18. 11. 1854 zum Premierleutnant befördert,

28. 10. 1859 den Charakter als Rittmeister,

18. 10. 1861 den Charakter als Major verliehen,

20. 9. 1866 unter Beförderung zum Generalmajor zum Chef des 7. schweren Landwehr-Reiterregiments ernannt,

18. 10. 1868 zum Chef des 1. Magdeburgischen Landwehrregiments Nr. 26 ernannt und à la suite des Magdeburgischen Kürassierregiments Nr. 7 gestellt,

18. 1. 1871 zum Generalleutnant befördert,

1. 9. 1873 die Auszeichnung verliehen, dass das Fort Nr. 6. von Straßburg den Namen »Fort Bismarck« erhält,

22. 3. 1876 zum General der Kavallerie befördert,

16. 8. 1888 infolge veränderter Landwehreinteilung das Verhältnis als Chef des Landwehrregiments Nr. 26 gelöst und fortan à la suite des 2. Garde-Landwehrregiments zu führen,

20. 3. 1890 zum Generalobersten der Kavallerie mit dem Range eines Generallfeldmarschalls befördert,

26. 1. 1894 unter Belassung à la suite des 2.Garde-Landwehrregiments zum Chef des Kürassierregiments v. Seydlitz (Magdeburgisches) Nr. 7 ernannt.

Vermählt war B. seit 28. Juli 1847 mit Johanne, geb. von Puttkamer (geb. 11. April 1824, gest. 27. Nov. 1894 in Varzin). Aus dieser Ehe entsprossen drei Kinder: Gräfin Marie, geb. 21. Aug. 1848, ist seit 1878 vermählt mit Graf Kuno Rantzau; seine beiden Söhne sind Herbert und Wilhelm. Das Wappen des Fürsten: Im blauen Schild ein goldenes, mit drei silbernen Eichenblättern in den Winkeln bestecktes Kleeblatt, bei der Erhebung in den Grafenstand 1865 vermehrt durch zwei Schildhalter, den preußischen und den brandenburgischen Adler, und das Spruchband mit dem Wahlspruch »In trinitate robur«, bei der Erhebung in den Fürstenstand 1871 durch neue Ehrenstücke (beim preußischen Adler die Standarte mit dem Wappen von Lothringen, beim brandenburgischen die Standarte mit dem Wappen von Elsass).

Bismarcks volkstümliche Gestalt ist in zahlreichen und teilweise künstlerisch bedeutenden Bildnissen festgehalten worden: die bekanntesten sind die von A. v. Werner, Lenbach und Allers. Eine Sammlung von 90 Originalphotographien Bismarcks veröffentlichte Graf Yorck von Wartenburg (»Bismarcks äußere Erscheinung«, Berl. 1900). Mehrere plastische Darstellungen hat Begas geschaffen. Eine eigenartige Ehrung regte die deutsche Studentenschaft an: nach dem von W. Kreis in Dresden geschaffenen Muster sollen an möglichst vielen Orten Bismarcksäulen errichtet werden, auf deren oberen Plattformen an Bismarcks Geburtstag und bei sonstigen vaterländischen Festen Freudenfeuer abgebrannt werden. Von den geplanten 150 Säulen waren bis Oktober 1902 schon 91 vollendet und eingeweiht, 24 im Bau begriffen. Die Gesamtzahl aller bekannten Standbilder, Gedenksteine, Obelisken, Säulen, Türme etc. betrug 309. Am 4. Febr. 1899 wurde zur Sammlung des auf B. bezüglichen Stoffes die Errichtung eines Bismarck-Archivs aus freiwilligen Beiträgen beschlossen. Zuerst war Leipzig als Sitz dafür in Aussicht genommen, später Stendal.

Wenn B. auch nicht als Schriftsteller hervorgetreten ist, so sind doch die aus seiner amtlichen Tätigkeit herausgewachsenen Schriftstücke nicht nur als Quellen für die Zeitgeschichte, sondern auch als Literaturdenkmäler des persönlichen Stiles wegen von Bedeutung. Briefe und Berichte aus der frühesten Zeit seiner diplomatischen Tätigkeit gab Poschinger in »Preußen im Bundestag 1851–1859« (2. Aufl., Leipz. 1882 bis 1885, 4 Bde.) heraus; andre Staatsschriften neben Reden und sonstigen Kundgebungen enthält Hahn, Fürst B., sein politisches Leben und Wirken (Berl. 1878–91, 5 Bde.). Aus dem »Briefwechsel des Generals L. v. Gerlach mit dem Bundestagsgesandten v. B.« (3. Aufl., Berl. 1893) gab Horst Kohl die von B. herrührenden 125 Briefe (das. 1896) neu heraus. Ferner erschienen »Bismarckbriefe 1844–1870« (8. Aufl., Bielef. 1899) und »Politische Briefe aus den Jahren 1849–1899« (2. Aufl., Berl. 1890, 3 Tle.). »Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin« veröffentlichte sein Sohn Herbert (Stuttg. 1900). – Bismarcks Reden erschienen zuerst in einer französischen Sammlung (Berl. 1870–89, 15 Bde.), es folgten verschiedene kleinere Sammlungen, die aber nach dem Erscheinen der von H. Kohl besorgten historisch-kritischen Gesamtausgabe: »Die politischen Reden des Fürsten Bismarck« (Stuttg. 1892–94, 12 Bde.) veraltet sind. Ergänzungen dazu bieten die von Poschinger herausgegebenen »Ansprachen des Fürsten B. 1849–1894« (2. Aufl., Stuttg. 1895) und desselben »Fürst B., neue Tischgespräche und Interviews« (das. 1895–99, 2 Bde.). – Bald nach Bismarcks Tod erschienen die »Gedanken und Erinnerungen« (Stuttg. 1898, 2 Bde.), die Lothar Bucher 1890–92 teils nach mündlichen Mitteilungen, teils nach Diktat Bismarcks niedergeschrieben und B. selbst durchgesehen, geändert und ergänzt hat. Von Politikern äußerten sich zur Berichtigung von Einzelheiten darin bald danach Bamberger und Diest-Daber; als Historiker beschäftigten sich mit ihrer Glaubwürdigkeit Q. Kaemmel (Leipz. 1899) sowie M. Lenz und E. Marcks (beide Berl. 1899). H. Kohl verfaßte den »Wegweiser durch Bismarcks Gedanken und Erinnerungen« (Leipz. 1899) und 1900 ein Register dazu. Als »Anhang zu den. Gedanken und Erinnerungen'« gab derselbe Briefe, die B. 1852–87 mit Kaiser Wilhelm I. gewechselt hat, heraus (Bd. 1, Stuttg. 1901); im 2. Bande (das. 1901) folgten Briefe Bismarcks an verschiedene Personen 1848–88.

Die Literatur über B. ist schon bei seinen Lebzeiten, noch mehr nach seinem Tod ins Ungemessene angeschwollen. Über die bis 1895 erschienenen Bücher gibt die recht nützliche Bibliographie von Paul Schulze und Otto Koller: »B.-Literatur« (Leipz. 1896) Auskunft. Die unmittelbar nach Bismarcks Tod erschienene Literatur, besonders die »Tagebuchblätter« von Moritz Busch, kritisierte Marcks im April- und Maiheft der »Deutschen Rundschau« 1899. Den Versuch, den Stoff möglichst vollständig zu bringen, machte das »Bismarck-Jahrbuch« (Berl. 1894–96 u. Stuttg. 1897–99, 6 Bde.). Die vollständigste Sammlung aller für B. wichtigen Ereignisse bietet Kohl in »Fürst B., Regesten zu einer wissenschaftlichen Biographie« (Leipz. 1891–92, 2 Bde.). Eine Darstellung versuchte noch bei Bismarcks Lebzeiten H. Blum, Fürst B. und seine Zeit (Münch. 1894–1895, 6 Bde.; Anhangs- und Registerband 1898). Nach Bismarcks Tod erschien: Heyck, Bismarck (Bielef. 1898); Kreutzer, Otto v. B., sein Leben und sein Werk (Leipz. 1900, 2 Bde.); Klein-Hattingen, B. und seine Welt 1815–1871 (Verl. 1902, Bd 1); Lenz, Geschichte Bismarcks (Leipz. 1902). Nur mit dem Exkanzler befassen sich Penzler, Fürst B. nach seiner Entlassung (Leipz. 1897–98, 7 Bde.); Liman, Fürst B. nach seiner Entlassung (das. 1901). Sehr groß ist die Zahl derer, die persönliche Erinnerungen an B. mitgeteilt haben (Hans Blum, W. v. Bülow, v. Wilmowski, Sidney Whitman). Auch wird bereits damit begonnen, Bismarcks Persönlichkeit zu zergliedern und dadurch dem Verständnis näher zu bringen; es seien hier genannt: Brodnitz, Bismarcks nationalökonomische Anschauungen (Jena 1902), Zeitlin, Fürst Bismarcks sozial-, wirtschafts- und steuerpolitische Anschauungen (Leipz. 1902), und v. Roëll und Epstein, Bismarcks Staatsrecht (Berl. 1903).

Auch die außerdeutsche Literatur hat zahlreiche Werke über B. aufzuweisen. Von solchen in französischer Sprache seien genannt: Vilbort, L'œuvre de M. de B. 1863–1866 (Par. 1869; deutsch, Berl. 1870); Ed. Simon, Histoire du prince de B. 1847–1887 (das. 1887; deutsch, Berl. 1888), und Charles Andler, Le prince de B. (Par. 1899); in englischer Sprache sind von Belang: Charles Lowe, Prince B., historical biography (Lond. 1885 u. ö.; deutsch, Leipz.1894), und Stearns, The life of Prince Otto v. B. (Philad.1900); in italienischer Sprache G. Negri, B., saggio storico (1884).

Gedanken und Erinnerungen

Den Söhnen und Enkeln zum Verständnis der Vergangenheitund zur Lehre für die Zukunft

Erstes Buch

Erstes Kapitel

Bis zum ersten vereinigten Landtage

I

Als normales Produkt unsres stattlichen Unterrichts verließ ich 1832 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Ueberzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei, und mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, Einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachsenen manche bittre oder geringschätzige Kritik über die Herrscher hören konnte. Dazu hatte ich von der turnerischen Vorschule mit Jahn'schen Traditionen (Plamann), in der ich vom sechsten bis zum zwölften Jahre gelebt, deutsch-nationale Eindrücke mitgebracht. Dieselben blieben im Stadium theoretischer Betrachtungen und waren nicht stark genug, um angeborene preußisch-monarchische Gefühle auszutilgen. Meine geschichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Harmodius und Aristogiton sowohl wie Brutus waren für mein kindliches Rechtsgefühl Verbrecher und Tell ein Rebell und Mörder. Jeder deutsche Fürst, der vor dem 30jährigen Kriege dem Kaiser widerstrebte, ärgerte mich; vom Großen Kurfürsten an aber war ich parteiisch genug, antikaiserlich zu urtheilen und natürlich zu finden, daß der siebenjährige Krieg sich vorbereitete. Doch blieb mein deutsches Nationalgefühl so stark, daß ich im Anfang der Universitätszeit zunächst zur Burschenschaft in Beziehung gerieth, welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete. Aber bei persönlicher Bekanntschaft mit den Mitgliedern derselben mißfiel mir ihre Weigerung, Satisfaction zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntniß der vorhandnen, historisch gewordnen Lebensverhältnisse beruhte, von denen ich bei meinen siebzehn Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte als die meisten jener durchschnittlich älteren Studenten. Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung. Gleichwohl bewahrte ich innerlich meine nationalen Empfindungen und den Glauben, daß die Entwicklung der nächsten Zukunft uns zur deutschen Einheit führen werde; ich ging mit meinem amerikanischen Freunde Coffin die Wette darauf ein, daß dieses Ziel in zwanzig Jahren erreicht sein werde.

In mein drittes Semester fielen der Frankfurter Putsch und die Hambacher Feier, deren Festgesang mir in der Erinnerung geblieben ist. Diese Erscheinungen stießen mich ab, meiner preußischen Schulung widerstrebten tumultuarische Eingriffe in die staatliche Ordnung; ich kam nach Berlin mit weniger liberaler Gesinnung zurück, als ich es verlassen hatte, eine Reaction, die sich wieder abschwächte, nachdem ich mit dem staatlichen Räderwerke in unmittelbare Beziehung getreten war. Was ich etwa über auswärtige Politik dachte, mit der das Publikum sich damals wenig beschäftigte, war im Sinne der Freiheitskriege, vom preußischen Offizierstandpunkt gesehen. Beim Blick auf die Landkarte ärgerte mich der französische Besitz von Straßburg, und der Besuch von Heidelberg, Speier und der Pfalz stimmte mich rachsüchtig und kriegslustig.

In der Zeit vor 1848 war für einen Kammergerichts-Auscultator und Regierungs-Referendar, dem jede Beziehung zu ministeriellen und höheren amtlichen Kreisen fehlte, kaum eine Aussicht zu einer Betheiligung an der preußischen Politik vorhanden, so lange er nicht den einförmigen Weg zurückgelegt hatte, der durch die Stufen der bureaukratischen Laufbahn nach Jahrzehnten dahin führen konnte, an den höheren Stellen bemerkt und herangezogen zu werden. Als mustergültige Vordermänner auf diesem Wege wurden mir im Familienkreise damals Männer wie Pommer-Esche und Delbrück vorgehalten, und als einzuschlagende Richtung die Arbeit an und in dem Zollvereine empfohlen. Ich hatte, so lange ich in dem damaligen Alter an eine Beamtenlaufbahn ernstlich dachte, die diplomatische im Auge, auch nachdem ich von Seiten des Ministers Ancillon bei meiner Meldung dazu wenig Ermuthigung gefunden hatte. Derselbe bezeichnete nicht mir, aber hohen Kreisen gegenüber als Musterbild dessen, was unserer Diplomatie fehle, den Fürsten Felix Lichnowski, obschon man hätte vermuthen sollen, daß diese Persönlichkeit, wie sie sich damals in Berlin zur Anschauung brachte, der anerkennenden Würdigung eines der evangelischen Geistlichkeit entstammenden Ministers nicht gerade nahe stände.

Der Minister hatte den Eindruck, daß die Kategorie unsres hausbacknen preußischen Landadels für unsre Diplomatie den ihm wünschenswerthen Ersatz nicht lieferte und die Mängel, welche er an der Gewandtheit des Personalbestandes dieses Dienstzweiges fand, zu decken nicht geeignet war. Dieser Eindruck war nicht ganz ohne Berechtigung. Ich habe als Minister stets ein landsmannschaftliches Wohlwollen für eingeborne preußische Diplomaten gehabt, aber im dienstlichen Pflichtgefühle nur selten diese Vorliebe bethätigen können, in der Regel nur dann, wenn die Betheiligten aus einer militärischen Stellung in die diplomatische übergingen. Bei den rein preußischen Civil-Diplomaten, welche der Wirkung militärischer Disziplin garnicht oder unzureichend unterlegen hatten, habe ich in der Regel eine zu starke Neigung zur Kritik, zum Besserwissen, zur Opposition und zu persönlichen Empfindlichkeiten gefunden, verstärkt durch die Unzufriedenheit, welche das Gleichheitsgefühl des alten preußischen Edelmanns empfindet, wenn ein Standesgenosse ihm über den Kopf wächst oder außerhalb der militärischen Verhältnisse sein Vorgesetzter wird. In der Armee sind diese Kreise seit Jahrhunderten daran gewöhnt, daß das geschieht, und geben den Bodensatz ihrer Verstimmung gegen frühere Vorgesetzte an ihre spätern Untergebenen weiter, sobald sie selbst in höhere Stellen gelangt sind. In der Diplomatie kommt dazu, daß diejenigen unter den Aspiranten, welche Vermögen oder die zufällige Kenntniß fremder Sprachen, namentlich der französischen besitzen, schon darin einen Grund zur Bevorzugung sehen und deshalb der oberen Leitung noch anspruchsvoller und zur Kritik geneigter gegenübertreten als Andre. Sprachkenntnisse, wie auch Oberkellner sie besitzen, bildeten bei uns leicht die Unterlage des eignen Glaubens an den Beruf zur Diplomatie, namentlich so lange unsre gesandtschaftlichen Berichte, besonders die ad Regem, französisch sein mußten, wie es die nicht immer befolgte, aber bis ich Minister wurde amtlich in Kraft stehende Vorschrift war. Ich habe manche unter unsern ältern Gesandten gekannt, die, ohne Verständniß für Politik, lediglich durch Sicherheit im Französischen in die höchsten Stellen aufrückten; und auch sie sagten in ihren Berichten doch nur das, was sie französisch geläufig zur Verfügung hatten. Ich habe noch 1862 von Petersburg französisch amtlich zu berichten gehabt, und die Gesandten, welche auch ihre Privatbriefe an den Minister französisch schrieben, empfahlen sich dadurch als besonders berufen zur Diplomatie, auch wenn sie politisch als urteilslos bekannt waren.

Außerdem kann ich Ancillon nicht Unrecht geben, wenn er von den meisten Aspiranten aus unsrem Landadel den Eindruck hatte, daß sie sich aus dem engen Gesichtskreise ihrer damaligen Berliner, man könnte sagen provinziellen Anschauungen schwer loslösen ließen, und daß es ihnen nicht leicht gelingen würde, den specifisch preußischen Bureaukraten in der Diplomatie mit dem Firniß des europäischen zu übertünchen. Die Wirkung dieser Wahrnehmungen zeigt sich deutlich, wenn man die Rangliste unsrer Diplomaten aus damaliger Zeit durchgeht; man wird erstaunt sein, so wenig geborne Preußen darin zu finden. Die Eigenschaft, der Sohn eines in Berlin accreditirten fremden Gesandten zu sein, gab an sich einen Vorzug. Die an den kleinen Höfen erwachsenen, in den preußischen Dienst übernommenen Diplomaten hatten nicht selten den Vortheil größerer assurance in höfischen Kreisen und eines größeren Mangels an Blödigkeit vor den eingeborenen. Ein Beispiel dieser Richtung war namentlich Herr von Schleinitz. Dann finden sich in der Liste Mitglieder standesherrlicher Häuser, bei denen die Abstammung die Begabung ersetzte. Aus der Zeit, als ich nach Frankfurt ernannt wurde, ist mir außer mir, dem Freiherrn Karl von Werther, Canitz und dem französisch verheirateten Grafen Max Hatzfeldt kaum der Chef einer ansehnlichen Mission preußischer Abstammung erinnerlich. Ausländische Namen standen höher im Kurse: Brassier, Perponcher, Savigny, Oriola. Man setzte bei ihnen größere Geläufigkeit im Französischen voraus, und sie waren »weiter her«, dazu trat der Mangel an Bereitwilligkeit zur Uebernahme eigner Verantwortlichkeit bei fehlender Deckung durch zweifellose Instruction, ähnlich wie im Militär 1806 bei der alten Schule aus Friedericianischer Zeit. Wir züchteten schon damals das Offiziermaterial bis zum Regiments-Kommandeur in einer Vollkommenheit wie kein anderer Staat, aber darüber hinaus war das eingeborne preußische Blut nicht mehr fruchtbar an Begabungen wie zur Zeit Friedrichs des Großen selbst. Unsre erfolgreichsten Feldherren, Blücher, Moltke, Gneisenau, Goeben, waren keine preußischen Urproducte, so im Civildienste Stein, Hardenberg, Motz und Grolman. Es ist, als ob unsre Staatsmänner wie die Bäume in den Baumschulen zu voller Wurzelbildung der Versetzung bedürften.

Ancillon rieth mir, zunächst das Examen als Regierungs-Assessor zu machen und dann auf dem Umwege durch die Zollvereinsgeschäfte Eintritt in die deutsche Diplomatie Preußens zu suchen; einen Beruf für die europäische erwartete er also bei einem Sprößlinge des einheimischen Landadels nicht. Ich nahm mir seine Andeutung zu Herzen und beabsichtigte, zunächst das Examen als Regierungs-Assessor zu machen.

Die Personen und Einrichtungen unsrer Justiz, in der ich zunächst beschäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffassung mehr Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktische Ausbildung des Auscultators begann damit, daß man auf dem Criminalgericht das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rathe, dem ich zugewiesen war, Herrn von Brauchitsch, über die Gebühr herangezogen wurde, weil ich damals über den Durchschnitt schnell und lesbar schrieb. Von den »Untersuchungen«, wie die Criminalprozesse bei dem damals geltenden Inquisitionsverfahren genannt wurden, hat mir eine den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen, welche eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatürlichen Laster betraf. Die Klubeinrichtungen der Betheiligten, die Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinschaftlichen Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch – alles das bewies schon 1835 eine Demoralisation, welche hinter den Ergebnissen des Prozesses gegen die Heinze'schen Eheleute (October 1891) nicht zurückstand. Die Verzweigungen dieser Gesellschaft reichten bis in hohe Kreise hinauf. Es wurde dem Einflusse des Fürsten Wittgenstein zugeschrieben, daß die Akten von dem Justizministerium eingefordert und, wenigstens während meiner Thätigkeit an dem Criminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.

Nachdem ich vier Monate protokollirt hatte, wurde ich zu dem Stadtgerichte, vor das die Civilsachen gehörten, versetzt und aus der mechanischen Beschäftigung des Schreibens unter Dictat plötzlich zu einer selbstständigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit und mein Gefühl mir die Stellung erschwerten. Das erste Stadium, in welchem der juristische Neuling damals zu einer selbstständigen Thätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Ehescheidungen. Offenbar als das Unwichtigste betrachtet, waren sie dem unfähigsten Rathe, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Bearbeitung der ganz grünen Auscultatoren überlassen worden, welche damit in corpore vili ihre ersten Experimente in der Richterrolle zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit des Herrn Prätorius, der jedoch ihren Verhandlungen nicht beiwohnte. Zur Charakterisirung dieses Herrn wurde uns jungen Leuten erzählt, daß er in den Sitzungen, wenn behufs der Abstimmung aus einem leichten Schlummer geweckt, zu sagen pflegte: »Ich stimme wie der College Tempelhof«, und gelegentlich darauf aufmerksam gemacht werden mußte, daß Herr Tempelhof nicht anwesend sei.

Ich trug ihm einmal meine Verlegenheit vor, daß ich, wenige Monate über 20 Jahre alt, mit einem aufgeregten Ehepaare den Sühneversuch vornehmen solle, der für meine Auffassung einen gewissen kirchlichen und sittlichen Nimbus hatte, dem ich mich in meiner Seelenstimmung nicht adäquat fühlte. Ich fand Prätorius in der verdrießlichen Stimmung eines zur Unzeit geweckten ältern Herrn, der außerdem die Abneigung mancher alten Bureaukraten gegen einen jungen Edelmann hegte. Er sagte mit geringschätzigem Lächeln: »Es ist verdrießlich, Herr Referendarius, wenn man sich auch nicht ein bischen zu helfen weiß; ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.« Ich kehrte mit ihm in das Terminszimmer zurück. Der Fall lag so, daß der Mann geschieden sein wollte, die Frau nicht, der Mann sie des Ehebruchs beschuldigte, die Frau mit thränenreichen Declamationen ihre Unschuld betheuerte und trotz aller Mißhandlung von Seiten des Mannes bei ihm bleiben wollte. Mit seinem lispelnden Zungenanschlage sprach Prätorius die Frau also an: »Aber Frau, sei sie doch nicht so dumm; was hat sie denn davon? Wenn sie nach Hause kommt, schlägt ihr der Mann die Jacke voll, bis sie es nicht mehr aushalten kann. Sage sie doch einfach Ja, dann ist sie mit dem Säufer kurzer Hand auseinander.« Darauf die Frau weinend und schreiend: »Ich bin eine ehrliche Frau, kann die Schande nicht auf mich nehmen, will nicht geschieden sein.« Nach mehrfacher Replik und Duplik in dieser Tonart wandte sich Prätorius zu mir mit den Worten: »Da sie nicht Vernunft annehmen will, so schreiben Sie, Herr Referendarius«, und dictirte mir die Worte, die ich wegen des tiefen Eindrucks, welchen sie mir machten, noch heut auswendig weiß: »Nachdem der Sühneversuch angestellt und die dafür dem Gebiete der Moral und Religion entnommenen Gründe erfolglos geblieben waren, wurde wie folgt weiter verhandelt.« Mein Vorgesetzter erhob sich und sagte: »Nun merken Sie sich, wie man das macht, und lassen Sie mich künftig mit dergleichen in Ruhe.« Ich begleitete ihn zur Thüre und setzte die Verhandlung fort.

Die Station der Ehescheidungen dauerte, so viel ich mich erinnere, vier bis sechs Wochen, ein Sühneversuch kam mir nicht wieder vor. Es war ein gewisses Bedürfniß vorhanden für die Verordnung über das Verfahren in Ehescheidungen, auf welche Friedrich Wilhelm IV. sich beschränken mußte, nachdem sein Versuch, ein Gesetz über Aenderung des materiellen Eherechts zu Stande zu bringen, an dem Widerstande des Staatsraths gescheitert war. Dabei mag erwähnt werden, daß durch jene Verordnung zuerst in den Provinzen des Allgemeinen Landrechts der Staatsanwalt eingeführt worden ist als defensor matrimonii und zur Verhütung von Collusionen der Parteien.

Ansprechender war das folgende Stadium der Bagatellprozesse, wo der ungeschulte junge Jurist wenigstens eine Uebung im Aufnehmen von Klagen und Vernehmen von Zeugen gewann, wo man ihn im Ganzen aber doch mehr als Hülfsarbeiter ausnutzte, wie mit Belehrung förderte. Das Local und die Procedur hatten etwas von dem unruhigen Verkehre an einem Eisenbahnschalter. Der Raum, wo der leitende Rath und die drei oder vier Auscultatoren mit dem Rücken gegen das Publikum saßen, war von hölzernen Gittern umgeben, und die dadurch gebildete viereckige Bucht war von der wechselnden und mehr oder weniger lärmenden Menge der Parteien rings umfluthet.

Mein Eindruck von Institutionen und Personen wurde nicht wesentlich modificirt, nachdem ich zur Verwaltung übergegangen war. Um den Umweg zur Diplomatie abzukürzen, wandte ich mich einer rheinischen Regierung, der aachener zu, deren Cursus sich in zwei Jahren abmachen ließ, während bei den altländischen wenigstens drei erforderlich waren.

Ich kann mir denken, daß bei Besetzung der rheinischen Regierungscollegien 1816 ähnlich verfahren worden war wie 1871 bei der Organisation von Elsaß-Lothringen. Die Behörden, welche einen Theil ihres Personals abzugeben hatten, werden nicht auf das staatliche Bedürfniß gehört haben, für die schwierige Aufgabe der Assimilirung einer neu erworbnen Bevölkerung den besten Fuß vorzusetzen, sondern diejenigen Mitglieder gewählt haben, deren Abgang von ihren Vorgesetzten oder von ihnen selbst gewünscht wurde; in den Collegien fanden sich frühere Präfektur-Sekretäre und andere Reste der französischen Verwaltung. Die Persönlichkeiten entsprachen nicht alle dem unberechtigten Ideale, das mir in dem Alter von 21 Jahren vorschwebte, und noch weniger that dies der Inhalt der laufenden Geschäfte. Ich erinnere mich, daß bei vielen Meinungsverschiedenheiten zwischen Beamten und Regierten oder innerhalb jeder dieser beiden Kategorien, Meinungsverschiedenheiten, deren polemische Vertretung jahrelang die Akten anschwellen machte, ich gewöhnlich unter dem Eindrucke stand, »ja, so kann man es auch machen,« und daß Fragen, deren Entscheidung in dem einen oder dem andern Sinne das verbrauchte Papier nicht werth war, eine Geschäftslast erzeugten, die ein einzelner Präfekt mit dem vierten Theile der aufgewandten Arbeitskraft hätte erledigen können. Nichtdestoweniger war, abgesehen von den subalternen Beamten, das tägliche Arbeitspensum ein geringes und besonders für die Abtheilungs-Dirigenten eine reine Sinecure. Ich verließ Aachen mit einer, abgesehen von dem begabten Präsidenten Grafen Arnim von Boitzenburg, geringen Meinung von unsrer Bureaukratie im Einzelnen und in der Gesammtheit. Im Einzelnen wurde meine Meinung günstiger durch meine demnächstige Erfahrung bei der Regierung in Potsdam, zu der ich mich im Jahre 1837 versetzen ließ, weil dort abweichend von den andern Provinzen die indirecten Steuern zum Ressort der Regierung gehörten und gerade diese wichtig waren, wenn ich die Zollpolitik zur Basis meiner Zukunft nehmen wollte.

Die Mitglieder des Collegiums machten mir einen würdigeren Eindruck als die aachener, aber doch in ihrer Gesammtheit den Eindruck von Zopf und Perrücke, in welche Kategorie meine jugendliche Ueberhebung auch den väterlich-würdigen Oberpräsidenten von Bassewitz stellte, während der aachener Regierungspräsident Graf Arnim zwar die generelle Staatsperrücke, aber doch keinen geistigen Zopf trug. Als ich dann aus dem Staatsdienste in das Landleben überging, brachte ich in die Berührungen, welche ich als Gutsbesitzer mit den Behörden hatte, eine nach meinem heutigen Urtheil zu geringe Meinung von dem Werthe unsrer Bureaukratie, eine vielleicht zu große Neigung zur Kritik mit. Ich erinnere mich, daß ich als stellvertretender Landrath über den Plan, die Wahl der Landräthe abzuschaffen, gutachtlich zu berichten hatte und mich so aussprach, die Bureaukratie sinke in der Achtung, habe dieselbe nur in der Person des Landraths bewahrt, der einen Januskopf trage, ein Gesicht in der Bureaukratie, eins im Lande habe.

Die Neigung zu befremdendem Eingreifen in die verschiedensten Lebensverhältnisse war unter dem damaligen väterlichen Regimente vielleicht größer, aber die Organe zum Eingreifen waren weniger zahlreich und standen an Bildung und Erziehung höher als ein Theil der heutigen. Die Beamten der Königlichen hochlöblichen Regierung waren ehrliche, studirte und gut erzogene Beamte, aber ihre wohlwollende Thätigkeit fand nicht immer Anerkennung, weil sie sich ohne locale Sachkunde auf Details zersplitterte, in Betreff deren die Ansichten des gelehrten Stadtbewohners am grünen Tische nicht immer der Kritik des bäuerlichen gesunden Menschenverstandes überlegen waren. Die Mitglieder der Regierungs-Collegien hatten damals multa, nicht multum zu thun, und der Mangel an höheren Aufgaben brachte es mit sich, daß sie kein ausreichendes Quantum wichtiger Geschäfte fanden und in ihrem Pflichteifer sich über das Bedürfniß der Regierten hinaus zu thun machten, in die Neigung zur Reglementirerei, zu dem, was der Schweizer »Befehlerle« nennt, geriethen.

Man hatte, um einen vergleichenden Blick auf die Gegenwart zu werfen, gehofft, daß die Staatsbehörden durch die Einführung der heutigen localen Selbstverwaltung an Geschäften und an Beamten würden entbürdet werden; aber im Gegentheile, die Zahl der Beamten und die Geschäftslast derselben sind durch Correspondenzen und Frictionen mit den Organen der Selbstverwaltung von dem Provinzialrathe bis zu der ländlichen Gemeindeverwaltung erheblich gesteigert worden. Es muß früher oder später der wunde Punkt eintreten, wo wir von der Last der Schreiberei und besonders der subalternen Bureaukratie erdrückt werden. Daneben ist der bureaukratische Druck auf das Privatleben durch die Art der Ausführung der »Selbstverwaltung« verstärkt worden und greift in die ländlichen Gemeinden schärfer als früher ein. Vorher bildete der der Bevölkerung ebenso nahe als dem Staate stehende Landrath den Abschluß der staatlichen Bureaukratie nach unten; unter ihm standen locale Verwaltungen, die wohl der Controlle, aber nicht in gleichem Maße wie heut der Disciplinargewalt der Bezirks- oder Ministerial-Bureaukratie unterlagen. Die ländliche Bevölkerung erfreut sich heut vermöge der ihr gewährten Selbstregierung nicht etwa einer ähnlichen Autonomie wie seit lange die der Städte, sondern sie hat in Gestalt des Amtsvorstehers einen Vorstand erhalten, der durch Befehle von oben, vom Landrathe, unter Androhung von Ordnungsstrafen disciplinarisch angehalten wird, im Sinne der staatlichen Hierarchie seine Mitbürger in seinem Bezirke mit Listen, Meldungen und Zumuthungen zu belästigen. Die regierte contribuens plebs hat in der landräthlichen Instanz ungeschickten Eingriffen gegenüber nicht mehr die Garantie, welche früher in dem Verhältniß lag, daß die Kreiseingesessenen, welche Landräthe wurden, dies in ihrem Kreise lebenslänglich zu bleiben in der Regel entschlossen waren und die Leiden und Freuden des Kreises mitfühlten. Heut ist der Landrathsposten die unterste Stufe der höheren Verwaltungslaufbahn, gesucht von jungen Assessoren, welche den berechtigten Ehrgeiz haben, Carrière zu machen; dazu bedürfen sie der ministeriellen Gunst mehr als des Wohlwollens der Kreisbevölkerung und suchen erstere durch hervorragenden Eifer und Anspannung der Amtsvorsteher der angeblichen Selbstverwaltung bei Durchführung auch minderwerthiger bureaukratischer Versuche zu gewinnen. Darin liegt zum großen Theil der Anlaß zur Ueberlastung ihrer Untergebenen in der localen »Selbstverwaltung«. Die »Selbstverwaltung« ist also Verschärfung der Bureaukratie, Vermehrung der Beamten, ihrer Macht und ihrer Einmischung in's Privatleben.

Es liegt in der menschlichen Natur, daß man von jeder Einrichtung die Dornen stärker empfindet als die Rosen und daß die ersteren gegen das zur Zeit bestehende verstimmen. Die alten Regierungsbeamten zeigten sich, wenn sie mit der regierten Bevölkerung in unmittelbare Berührung traten, pedantisch und durch ihre Beschäftigung am grünen Tische den Verhältnissen des praktischen Lebens entfremdet, hinterließen aber den Eindruck, daß sie ehrlich und gewissenhaft bemüht waren, gerecht zu sein. Dasselbe läßt sich von den Organen der heutigen Selbstverwaltung in Landstrichen, wo die Parteien einander schärfer gegenüberstehen, nicht in allen Stufen voraussetzen; das Wohlwollen für politische Freunde, die Stimmung bezüglich des Gegners werden leicht ein Hinderniß unparteiischer Handhabung der Einrichtungen. Nach meinen Erfahrungen aus jener und der späteren Zeit möchte ich übrigens den Vorzug der Unparteilichkeit im Vergleiche zwischen richterlichen und administrativen Entscheidungen nicht den ersteren allein einräumen, wenigstens nicht durchgängig. Ich habe im Gegenteil den Eindruck behalten, daß Richter an den kleinen und localen Gerichten den starken Parteiströmungen leichter und hingebender unterliegen als Verwaltungsbeamte; und es ist auch kein psychologischer Grund dafür erfindlich, daß bei gleicher Bildung die Letzteren a priori für weniger gerecht und gewissenhaft in ihren amtlichen Entscheidungen gehalten werden sollten als die Ersteren. Wohl aber nehme ich an, daß die amtlichen Entschließungen an Ehrlichkeit und Angemessenheit dadurch nicht gewinnen, daß sie collegialisch gefaßt werden; abgesehen davon, daß Arithmetik und Zufall bei dem Majoritätsvotum an die Stelle logischer Begründung treten, geht das Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit, in welcher die wesentliche Bürgschaft für die Gewissenhaftigkeit der Entscheidung liegt, sofort verloren, wenn diese durch anonyme Majoritäten erfolgt.

Der Geschäftsgang der beiden Collegien, in Potsdam wie in Aachen, war für meine Strebsamkeit nicht ermuthigend gewesen. Ich fand die mir zugewiesene Beschäftigung kleinlich und langweilig, und meine Arbeiten auf dem Gebiete der Mahlsteuerprozesse und der Beitragspflicht zum Bau des Dammes in Rotzis bei Wusterhausen haben mir kein Heimweh nach meiner damaligen Tätigkeit hinterlassen. Dem Ehrgeiz der Beamtenlaufbahn entsagend, erfüllte ich gerne den Wunsch meiner Eltern, in die festgefahrene Bewirthschaftung unsrer pommerschen Güter einzutreten. Auf dem Lande dachte ich zu leben und zu sterben, nachdem ich Erfolge in der Landwirthschaft erreicht haben würde, vielleicht auch im Kriege, wenn es einen gäbe. Soweit mir auf dem Lande Ehrgeiz verblieb, war es der des Landwehr-Lieutenants.

II

Die in meiner Kindheit empfangenen Eindrücke waren wenig dazu angethan, mich zu verjunkern. In der nach Pestalozzi'schen und Jahn'schen Grundsätzen eingerichteten Plamann'schen Erziehungsanstalt war das »von« vor meinem Namen ein Nachtheil für mein kindliches Behagen im Verkehre mit Mitschülern und Lehrern. Auch auf dem Gymnasium zum Grauen Kloster habe ich einzelnen Lehrern gegenüber unter dem Adelshasse zu leiden gehabt, der sich in einem großen Theile des gebildeten Bürgerthums als Reminiscenz aus den Zeiten vor 1806 erhalten hatte. Aber selbst die aggressive Tendenz, die in bürgerlichen Kreisen unter Umständen zum Vorschein kam, hat mich niemals zu einem Vorstoße in entgegengesetzter Richtung veranlaßt. Mein Vater war vom aristokratischen Vorurtheile frei, und sein inneres Gleichheitsgefühl war, wenn überhaupt, nur durch die Offizierseindrücke seiner Jugend, keineswegs aber durch Ueberschätzung des Geburtsstandes modificirt. Meine Mutter war die Tochter des in den damaligen Hofkreisen für liberal geltenden Cabinetsraths Friedrich Wilhelms II. und III. aus der leipziger Professorenfamilie Mencken, welche in ihren letzten, mir vorhergehenden Generationen nach Preußen in den auswärtigen und den Hofdienst gerathen war. Der Freiherr vom Stein hat meinen Großvater Mencken als einen ehrlichen, stark liberalen Beamten bezeichnet. Unter diesen Umständen waren die Auffassungen, die ich mit der Muttermilch einsog, eher liberal als reactionär, und meine Mutter würde, wenn sie meine ministerielle Thätigkeit erlebt hätte, mit der Richtung derselben kaum einverstanden gewesen sein, wenn sie auch an den äußern Erfolgen meiner amtlichen Laufbahn große Freude empfunden haben würde. Sie war in bureaukratischen und Hofkreisen groß geworden; Friedrich Wilhelm IV. sprach von ihr als »Mienchen« im Andenken an Kinderspiele. Ich darf es darnach für eine ungerechte Einschätzung meiner Auffassung in jüngern Jahren erklären, wenn mir »die Vorurtheile meines Standes« angeheftet werden und behauptet wird, daß die Erinnerung an Bevorrechtigung des Adels der Ausgangspunkt meiner innern Politik gewesen wäre.

Auch die unumschränkte Autorität der alten preußischen Königsmacht war und ist nicht das letzte Wort meiner Ueberzeugung. Für letztere war allerdings auf dem Ersten Vereinigten Landtage diese Autorität des Monarchen staatsrechtlich vorhanden, aber mit dem Wunsche und dem Zukunftsgedanken, daß die unumschränkte Macht des Königs selber ohne Ueberstürzung das Maß ihrer Beschränkung zu bestimmen habe. Der Absolutismus bedarf in erster Linie Unparteilichkeit, Ehrlichkeit, Pflichttreue, Arbeitskraft und innere Demuth des Regierenden; sind sie vorhanden, so werden doch männliche oder weibliche Günstlinge, im besten Falle die legitime Frau, die eigne Eitelkeit und Empfänglichkeit für Schmeicheleien dem Staate die Früchte des Königlichen Wohlwollens verkürzen, da der Monarch nicht allwissend ist und nicht für alle Zweige seiner Aufgabe gleiches Verständniß haben kann. Ich bin schon 1847 dafür gewesen, daß die Möglichkeit öffentlicher Kritik der Regierung im Parlamente und in der Presse erstrebt werde, um den Monarchen vor der Gefahr zu behüten, daß Weiber, Höflinge, Streber und Phantasten ihm Scheuklappen anlegten, die ihn hinderten, seine monarchischen Aufgaben zu übersehn und Mißgriffe zu vermeiden oder zu corrigiren. Diese meine Auffassung hat sich um so schärfer ausgeprägt, je nachdem ich mit den Hofkreisen mehr vertraut wurde und gegen ihre Strömungen und gegen die Opposition des Ressortpatriotismus das Staatsinteresse zu vertreten hatte. Letzteres allein hat mich geleitet, und es ist eine Verleumdung, wenn selbst wohlwollende Publizisten mich beschuldigen, daß ich je für ein Adelsregiment eingetreten sei. Die Geburt hat mir niemals als Ersatz für Mangel an Tüchtigkeit gegolten; wenn ich für den Grundbesitz eingetreten bin, so habe ich das nicht im Interesse besitzender Standesgenossen gethan, sondern weil ich im Verfall der Landwirthschaft eine der größten Gefahren für unsern staatlichen Bestand sehe. Mir hat immer als Ideal eine monarchische Gewalt vorgeschwebt, welche durch eine unabhängige, nach meiner Meinung ständische oder berufsgenossenschaftliche Landesvertretung soweit controllirt wäre, daß Monarch oder Parlament den bestehenden gesetzlichen Rechtszustand nicht einseitig, sondern nur communi consensu ändern können, bei Öffentlichkeit und öffentlicher Kritik aller staatlichen Vorgänge durch Presse und Landtag.

Die Ueberzeugung, daß der uncontrollirte Absolutismus, wie er durch Louis XIV. zuerst in Scene gesetzt wurde, die richtigste Regierungsform für deutsche Unterthanen sei, verliert auch der, welcher sie hat, durch Specialstudien in den Hofgeschichten und durch kritische Beobachtungen, wie ich sie am Hofe des von mir persönlich geliebten und verehrten Königs Friedrich Wilhelms IV. zur Zeit Manteuffel's anstellen konnte. Der König war gläubiger, gottberufener Absolutist, und die Minister nach Brandenburg in der Regel zufrieden, wenn sie durch Königliche Unterschrift gedeckt waren, auch wenn sie persönlich den Inhalt des Unterschriebenen nicht hätten verantworten mögen. Ich erlebte damals, daß ein hoher und absolutistisch gesinnter Hofbeamter in meiner und mehrerer seiner Collegen Gegenwart auf die Nachricht von dem Neuchâteler Aufstand der Royalisten in einer gewissen Verblüffung sagte: »Das ist ein Royalismus, den man heut zu Tage doch nur noch sehr fern vom Hofe erlebt.« Sarkasmen lagen sonst nicht in der Gewohnheit dieses alten Herrn.

Wahrnehmungen, welche ich auf dem Lande über Bestechlichkeit und Chicane von Bezirksfeldwebeln und subalternen Beamten machte, und kleine Conflicte, in welche ich als Kreisdeputirter und Stellvertreter des Landraths mit der Regierung in Stettin gerieth, steigerten meine Abneigung gegen die Herrschaft der Bureaukratie. Von diesen Conflicten mag der eine erwähnt sein. Während ich den beurlaubten Landrath vertrat, erhielt ich von der Regierung den Auftrag, den Patron von Külz, der ich selbst war, zur Uebernahme gewisser Lasten zu bewegen. Ich ließ den Auftrag liegen, um ihn dem Landrathe bei seiner Rückkehr zu übergeben, wurde wiederholt excitirt, und eine Ordnungsstrafe von einem Thaler wurde mir durch Postvorschuß auferlegt. Ich setzte nun ein Protocoll auf, in welchem ich erstens als stellvertretender Landrath, zweitens als Patron von Külz als erschienen aufgeführt war. Comparent machte in seiner Eigenschaft ad 1 sich die vorgeschriebene Vorhaltung; entwickelte dagegen in der ad 2 die Gründe, aus denen er die Zumuthung ablehnen müsse; worauf das Protocoll von ihm doppelt genehmigt und unterschrieben wurde. Die Regierung verstand Scherz und ließ die Ordnungsstrafe zurückzahlen. In anderen Fällen kam es zu unangenehmeren Schraubereien. Ich wurde zur Kritik geneigt, also »liberal« in dem Sinne, in welchem man das Wort damals in Kreisen von Gutsbesitzern anwandte zur Bezeichnung der Unzufriedenheit mit der Bureaukratie, die ihrerseits in der Mehrzahl ihrer Glieder liberaler als ich war, aber in andrem Sinne.

Aus meiner ständisch-liberalen Stimmung, für die ich in Pommern kaum Verständniß und Theilnahme, in Schönhausen aber die Zustimmung von Kreisgenossen wie Graf Wartensleben-Karow, Schierstädt-Dahlen und Andren fand, denselben Elementen, die zum Theil zu den später unter der neuen Aera gerichtlich verurtheilten Kirchen-Patronen gehörten, aus dieser Stimmung wurde ich wieder entgleist durch die mir unsympathische Art der Opposition des Ersten Vereinigten Landtags, zu dem ich erst für die letzten sechs Wochen der Session wegen Erkrankung des Abgeordneten von Brauchitsch als dessen Stellvertreter einberufen wurde. Die Reden der Ostpreußen Saucken-Tarputschen, Alfred Auerswald, die Sentimentalität von Beckerath, der rheinisch-französische Liberalismus von Heydt und Mevissen und die polternde Heftigkeit der Vincke'schen Reden waren mir widerlich, und auch wenn ich die Verhandlungen heut lese, so machen sie mir den Eindruck von importirter Phrasen-Schablone. Ich hatte das Gefühl, daß der König auf dem richtigen Wege sei und den Anspruch darauf habe, daß man ihm Zeit lasse und ihn in seiner eignen Entwicklung schone.

Ich gerieth mit der Opposition in Conflict, als ich das erste Mal das Wort nahm, am 17. Mai 1847, indem ich die Legende bekämpfte, daß die Preußen 1813 in den Krieg gegangen wären, um eine Verfassung zu erlangen, und meiner naturwüchsigen Entrüstung darüber Ausdruck gab, daß die Fremdherrschaft an sich kein genügender Grund zum Kampfe gewesen sein solle. Mir schien es unwürdig, daß die Nation dafür, daß sie sich selbst befreit habe, dem Könige eine in Verfassungsparagraphen zahlbare Rechnung überreichen wolle. Meine Ausführung rief einen Sturm hervor. Ich blieb auf der Tribüne, blätterte in einer dort liegenden Zeitung und brachte, nachdem der Lärm sich ausgetobt hatte, meine Rede zu Ende.

I

Die erste Kunde von den Ereignissen am 18. und 19. März 1848 erhielt ich im Hause meines Gutsnachbarn, des Grafen von Wartensleben auf Karow, zu dem sich Berliner Damen geflüchtet hatten. Für die politische Tragweite der Vorgänge war ich im ersten Augenblick nicht so empfänglich wie für die Erbitterung über Ermordung unsrer Soldaten in den Straßen. Politisch, dachte ich, würde der König bald Herr der Sache werden, wenn er nur frei wäre; ich sah die nächste Aufgabe in der Befreiung des Königs, der in der Gewalt der Aufständischen sein sollte.

Am 20. meldeten mir die Bauern in Schönhausen, es seien Deputirte aus dem dreiviertel Meilen entfernten Tangermünde angekommen, mit der Aufforderung, wie in der genannten Stadt geschehen war, auf dem Thurme die schwarz-roth-goldne Fahne aufzuziehn, und mit der Drohung, im Weigerungsfalle mit Verstärkung wiederzukommen. Ich fragte die Bauern, ob sie sich wehren wollten: sie antworteten mit einem einstimmigen und lebhaften »Ja«, und ich empfahl ihnen, die Städter aus dem Dorfe zu treiben, was unter eifriger Betheiligung der Weiber besorgt wurde. Ich ließ dann eine in der Kirche vorhandene weiße Fahne mit schwarzem Kreiz, in Form des eisernen, auf dem Thurme aufziehen und ermittelte, was an Gewehren und Schießbedarf im Dorfe vorhanden war, wobei etwa fünfzig bäuerliche Jagdgewehre zum Vorschein kamen. Ich selbst besaß mit Einrechnung der alterthümlichen einige zwanzig und ließ Pulver durch reitende Boten von Jerichow und Rathenow holen.

Dann fuhr ich mit meiner Frau auf umliegende Dörfer und fand die Bauern eifrig bereit, dem Könige nach Berlin zu Hülfe zu ziehen, besonders begeistert einen alten Deichschulzen Krause in Neuermark, der in meines Vaters Regiment »Carabiniers« Wachtmeister gewesen war. Nur mein nächster Nachbar sympathisirte mit der Berliner Bewegung, warf mir vor, eine Brandfackel in das Land zu schleudern, und erklärte, wenn die Bauern sich wirklich zum Abmarsch anschicken sollten, so werde er auftreten und abwiegeln. Ich erwiderte: »Sie kennen mich als einen ruhigen Mann, aber wenn Sie das thun, so schieße ich Sie nieder.« – »Das werden Sie nicht,« meinte er. – »Ich gebe mein Ehrenwort darauf,« versetzte ich, »und Sie wissen, daß ich das halte, also lassen Sie das.«

Ich fuhr zunächst allein nach Potsdam, wo ich am Bahnhofe Herrn von Bodelschwingh sah, der bis zum 19. Minister des Innern gewesen war. Es war ihm offenbar unerwünscht, im Gespräch mit mir, dem »Reaktionär«, gesehen zu werden; er erwiderte meine Begrüßung mit den Worten: »Ne me parlez pas.« – »Les paysans se lèvent chez nous,« erwiderte ich. »Pour le Roi?« – »Oui.« – »Dieser Seiltänzer,« sagte er, die Hände auf die thränenden Augen drückend. In der Stadt fand ich auf der Plantage an der Garnisonkirche ein Bivouak der Garde-Infanterie; ich sprach mit den Leuten und fand Erbitterung über den befohlenen Rückzug und Verlangen nach neuem Kampfe. Auf dem Rückwege längs des Kanals folgten mir spionartige Civilisten, welche Verkehr mit der Truppe gesucht hatten und drohende Reden gegen mich führten. Ich hatte vier Schuß in der Tasche, bedurfte ihrer aber nicht. Ich stieg bei meinem Freunde Roon ab, der als Mentor des Prinzen Friedrich Karl einige Zimmer in dem Stadtschlosse bewohnte, und besuchte im »Deutschen Hause« die Generale von Möllendorf, noch steif von den Mißhandlungen, die er erlitten, als er mit den Aufständischen unterhandelte, und von Prittwitz, der in Berlin commandirt hatte. Ich schilderte ihnen die Stimmung des Landvolks, sie gaben mir dagegen Einzelheiten über die Vorgänge bis zum 19. Morgens. Was sie zu berichten hatten und was an spätern Nachrichten aus Berlin hergelangt war, konnte mich nur in dem Glauben bestärken, daß der König nicht frei sei.

Prittwitz, der älter als ich war und ruhiger urtheilte, sagte: »Schicken Sie uns keine Bauern, wir brauchen sie nicht, haben Soldaten genug; schicken Sie uns lieber Kartoffeln und Korn, vielleicht auch Geld, denn ich weiß nicht, ob für die Verpflegung und Löhnung der Truppen ausreichend gesorgt werden wird. Wenn Zuzug käme, würde ich aus Berlin den Befehl erhalten und ausführen müssen, denselben zurückzuschlagen.« – »So holen Sie den König heraus!« sagte ich. Er erwiderte: »Das würde keine große Schwierigkeit haben; ich bin stark genug, Berlin zu nehmen, aber dann haben wir wieder Gefecht; was können wir thun, nachdem der König uns befohlen hat, die Rolle des Besiegten anzunehmen? Ohne Befehl kann ich nicht angreifen.«

Bei diesem Zustand der Dinge kam ich auf den Gedanken, einen Befehl zum Handeln, der von dem unfreien Könige nicht zu erwarten war, von einer andern Seite zu beschaffen, und suchte zu dem Prinzen von Preußen zu gelangen. An die Prinzessin verwiesen, deren Einwilligung dazu nöthig sei, ließ ich mich bei derselben melden, um den Aufenthalt ihres Gemahls zu erfahren (der, wie ich später erfuhr, auf der Pfaueninsel war). Sie empfing mich in einem Dienerzimmer im Entresol, auf einem fichtnen Stuhle sitzend, verweigerte die erbetene Auskunft und erklärte in lebhafter Erregung, daß es ihre Pflicht sei, die Rechte ihres Sohnes zu wahren. Was sie sagte, beruhte auf der Voraussetzung, daß der König und ihr Gemahl sich nicht halten könnten, und ließ auf den Gedanken schließen, während der Minderjährigkeit ihres Sohnes die Regentschaft zu führen. Um für diesen Zweck die Mitwirkung der Rechten in den Kammern zu gewinnen, sind mir formelle Eröffnungen durch Georg von Vincke gemacht worden. Da ich zum Prinzen von Preußen nicht gelangen konnte, machte ich einen Versuch mit dem Prinzen Friedrich Karl, stellte ihm vor, wie nöthig es sei, daß das Königshaus Fühlung mit der Armee behalte, und wenn Se. Majestät unfrei sei, auch ohne Befehl des Königs für die Sache desselben handle. Er erwiderte in lebhafter Gemüthsbewegung, so sehr ihm mein Gedanke zusage, so fühle er sich doch zu jung, ihn auszuführen, und könne dem Beispiel der Studenten, die sich in die Politik mischten, nicht folgen, er sei auch nicht älter als die. Ich entschloß mich dann zu dem Versuche, zu dem Könige zu gelangen.

Der Prinz Karl gab mir im Potsdamer Schlosse als Legitimation und Paß das nachstehende offne Schreiben:

Ueberbringer – mir wohlbekannt – hat den Auftrag, sich bei Sr. Majestät meinem Allergnädigsten Bruder persönlich nach Höchstdessen Gesundheit zu erkundigen und mir Nachricht zu bringen, aus welchem Grunde mir seit 30 Stunden auf meine wiederholten eigenh. Anfragen »ob ich nicht nach Berlin kommen dürfe« keine Antwort ward.

Potsdam 21. Maerz 1848

1 Uhr N.M.

Carl Prinz v. Preußen.