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Otto von Bismarck (1815 - 1898) blickt in seiner Autobiographie auf ein erfolgreiches persönliches und politisches Leben zurück. Das Buch verfasste Otto von Bismarck nach seiner Entlassung als Reichskanzler durch Kaiser Wilhelm I. Bismarck erklärt seine zentrale Rolle bei der Entstehung des deutschen Nationalstaats und seine diplomatische Strategie zum Interessenausgleich zwischen den europäischen Staaten. Mit wenigen Federstrichen zeichnet Bismarck lebendige Porträts von Personen und Situationen. Die große Wirkung der »Gedanken und Erinnerungen« gründet in ihrer sprachlichen Brillanz und ihrem hintergründigen Humor.
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Seitenzahl: 845
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Autobiographie
Der Text folgt der "Volksausgabe" von 1905
Den Söhnen und Enkeln zum Verständnis der Vergangenheit und zur Lehre für die Zukunft
Fürst Bismarck begann die Aufzeichnungen seiner „Gedanken und Erinnerungen“, bald nachdem ihm durch die Entlassung aus seinen ruhmreich geführten Aemtern – wie er selbst wiederholt gesagt hat – das Spalier entzogen war, an dem sich sein Leben bisher emporgerankt hatte. Die erste Anregung gab ihm eine von einem Verlagsangebote begleitete Anfrage des Cotta'schen Hauses, – schon am 6. Juli 1890 wurde zwischen dem Fürsten und dem Vertreter der Cotta'schen Buchhandlung ein Abkommen getroffen, durch welches diesem Hause für den Fall, daß der Fürst Erinnerungen aus seinem Leben niederschriebe, das Verlagsrecht übertragen wurde. Lothar Bucher, der geschichtskundige Diplomat, der nach des Fürsten Entlassung Jahre lang mit kurzen Unterbrechungen in Friedrichsruh oder Varzin als stiller Hausgast weilte, hat das Verdienst, daß er den Fürsten Bismarck in seinem Entschlusse zur Niederschrift seiner Erinnerungen und seiner politischen Gedanken bestärkte und ihn in täglichen Gesprächen bei dem begonnenen Werke festhielt. Bucher's stenographische Nachschriften nach dem Dictate des Fürsten bildeten den Grundstock zu der ersten Ausarbeitung, mit der sich der Fürst Jahre lang eifrig beschäftigte, indem er die in Kapitel eingetheilten und systematisch geordneten Aufzeichnungen immer von neuem durchsah und durch eigenhändige Nachträge ergänzte. Um ihm diese Arbeit zu erleichtern, wurden die „Gedanken und Erinnerungen“ schon im Jahre 1893 als Manuskript gedruckt mit allen Aenderungen, die der Fürst an dem ersten Entwurf angebracht hatte. Dieses neue Manuskript hat Fürst Bismarck dann noch zwei- bis dreimal durchgearbeitet und sorgfältiger Nachprüfung unterzogen, in der ihn sein fast untrügliches Gedächtniß aufs beste unterstützte. Ganze Kapitel hat er noch in den letzten beiden Jahren in neue Formen umgegossen.
Die zunehmenden Leiden des Alters und eine gewisse Scheu vor der Mühe des Schreibens ließen die Arbeit zuweilen ins Stocken gerathen, aber ein großer Theil ist fertig geworden und bildet ein kostbares Erbe der deutschen Nation. Aus dieser reichfließenden Quelle werden auch noch in künftigen Jahrhunderten unsere Staatsmänner und Geschichtsschreiber Belehrung schöpfen, unser ganzes Volk aber wird sich noch bis in die fernsten Zeiten, wie an den Werken seiner Klassiker, an dem Buche erbauen, das sein Bismarck ihm hinterlassen hat.
Pflicht des Herausgebers, der hierin einem vom Fürsten Otto von Bismarck selbst herrührenden Auftrage nachkam, mußte es sein, die eingestreuten Schriftstücke, die oft aus mangelhaften Drucken übernommen worden waren, nach den Urschriften richtig zu stellen, kleine Irrthümer in der Angabe von Daten oder der Schreibung von Namen, die der Mangel an amtlichem Material verschuldete, zu bessern, in Fußnoten auf ähnliche Aeußerungen des Fürsten in seinen politischen Reden aufmerksam zu machen und literarische Nachweise zu geben. Nirgends aber ist der Text geändert oder gekürzt worden – die Pietät gebietet einem solchen Todten gegenüber doppelte Zurückhaltung.
Anmerkungen von der Hand des Fürsten sind durch Sternchen (*), solche des Herausgebers durch Ziffern kenntlich gemacht.
Chemnitz, 21. Oktober 1898.
Horst Kohl.
Es war ein dankenswerther Entschluß der Verlagsbuchhandlung, in einer Volksausgabe das nachgelassene Werk des Fürsten Bismarck den weitesten Kreisen zugänglich und damit zu einem Gemeingute des deutschen Volkes zu machen. In der That kann es ein besseres Buch für den deutschen Staatsbürger nicht geben als Bismarck's „Gedanken und Erinnerungen“. Was ihn selbst zur Abfassung trieb, das lehrt die Widmung, die dem Werke vorgesetzt ist. Sie wurde erst nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe unter den Papieren des Fürsten Bismarck gefunden und soll dem deutschen Volke nicht vorenthalten bleiben, denn sie zeigt, aus welchem Geiste das Werk geboren ist. Es sollte nicht eitler Selbstbespiegelung dienen und ruhmredigem Lobpreis errungener Erfolge, sondern durch die Erinnerung an die Vergangenheit, ihre Kämpfe und Siege die Enkel mahnen, das Erbe der Väter zu erhalten. Es ist zugleich ein Rechenschaftsbericht und ein politisches Testament, nach beiden Seiten hin will es gewürdigt sein und ist es gewürdigt worden. In der That hat sich eine an Nummern nicht unbeträchtliche Literatur an das Erscheinen der „Gedanken und Erinnerungen“ geknüpft, theils ernste historische Untersuchungen mit allem Rüstzeug wissenschaftlicher Kritik, theils Parteischriften voll Anmaßung und Ueberhebung, theils widerwärtige Pamphlets rein persönlichen Charakters, in denen nur Haß und Schmähsucht zu Worte kommen. Mit allen diesen mich auseinanderzusetzen, konnte ich nicht als meine Pflicht anerkennen. Es ist nun einmal deutsche Art, an dem Großen zu mäkeln und sich und andern den Genuß durch kleinmeisterliche Einzelkritik zu verderben; wo die wissenschaftliche Untersuchung auf Irrthümer der Darstellung oder auch der Auffassung aufmerksam gemacht hat, da habe ich meinerseits die erhobenen Einwände nachgeprüft und in längeren oder kürzeren Anmerkungen mich zur Sache geäußert. Daß auch das treueste Gedächtnis Irrungen unterworfen ist, wird jeder ohne Weiteres zugeben müssen; wunderbar bleibt trotz alledem, mit welcher Genauigkeit Fürst Bismarck sich oft der Einzelheiten einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu erinnern vermochte, wie ganze Gedankengänge sich in ihm wiederbelebten, so daß die gleichen Gedanken sich fast in die gleichen Worte kleideten. Wenn dagegen geltend gemacht worden ist, daß dieselben Erzählungen bei verschiedenen Berichterstattern verschieden lauteten, so darf dafür nicht Bismarck verantwortlich gemacht werden, sondern die geringe Fähigkeit der meisten Berichterstatter, Gehörtes richtig aufzufassen und in der richtigen Form zu Papier zu bringen. Mit aller Schärfe ist der Vorwurf abzuweisen, daß Fürst Bismarck absichtlich die Darstellung hier und da gefärbt habe, um die Meinung seiner Leser in gewisser Richtung zu beeinflussen, daß er – wie im Kapitel von der Emser Depesche – nicht überall der strengen Wahrheit die Ehre gegeben, sondern manches verschwiegen habe, um minder schuldig zu erscheinen. Wer das von Fürst Bismarck zu denken vermag, hat ihn nie verstanden und wird ihn nie verstehen. Er hat immer den Muth der Verantwortlichkeit gehabt und mit rücksichtsloser Offenheit sein Inneres erschlossen. Es ist auch unerfindlich, was ihn am Abende seines Lebens bestimmt haben sollte, seinen Antheil an den Dingen in einem unsicheren Lichte darzustellen, noch dazu, wo es sich um eine seiner größten Ruhmesthaten handelt. Gerade, daß er es ablehnt, die Hohenzollern'sche Candidatur darum gefördert zu haben, weil sie den französischen Grund zur Kriegserklärung geben konnte, beweist, wie wenig es ihm um Selbstlob zu thun war. Einen unvermeidlichen Krieg rechtzeitig herbeigeführt zu haben, ist noch immer als ein Ruhmestitel eines seiner Aufgabe bewußten Staatsmannes angesehen worden; Bismarck hielt den Krieg bei der Stimmung der Franzosen für wahrscheinlich, aber er hielt doch auch nicht für unmöglich, daß er vermieden werden könnte, und so hat er alles gethan, was in seinen Kräften stand, um den Franzosen nicht den Anlaß zu geben, nach dem sie suchten. Wen auch das nicht überzeugt, den könnte die lobenswerthe Offenheit der Geschichtsschreiber des französischen Generalstabswerkes belehren, die rückhaltlos zugeben, daß der Krieg von den maßgebenden Kreisen eifrig vorbereitet und zum Ausbruch gebracht wurde, als die spanische Frage willkommenen Vorwand bot.
Uebrigens sollte doch nie vergessen werden, daß der Fürst in den letzten Jahren nur noch schwer zu bewegen war, die durch Bucher's Tod unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Es fehlte seitdem die treibende Kraft; körperliches Unbehagen, gemüthliche Depressionen mancherlei Art, Abneigung gegen die Arbeit am Schreibtische, lebhafte Beschäftigung mit den Dingen der Gegenwart und eine fast ununterbrochene Wirksamkeit als politischer Redner, wie er sie bei den Massenempfängen in Friedrichsruh und Varzin, sowie auf seinen Reisen entwickelte, alles entfremdete den Fürsten Bismarck der stillen Arbeit des Geschichtsschreibers, die der Sammlung und Concentration der Gedanken bedarf. Daß er uns aber bei seinem hohen Alter gleichwohl so viel und manches Kapitel in geradezu meisterhafter Darstellung hinterlassen hat, bleibt ein Gewinn für unser Volk, den wir nicht hoch genug anschlagen können.
Den Text habe ich überall gewissenhaft nachgeprüft; an Stelle der Entwürfe, die dem Fürsten Bismarck in seinen Concepten vorlagen, konnten mehrfach die Redactionen letzter Hand eingesetzt werden, so das Schreiben vom 27. November 1870 an Ludwig von Bayern und der Brief an Graf Schuwalow vom 25. Februar 1877; andere Stücke, für die zur Zeit der Abfassung nur zum Theil recht fehlerhafte Abschriften vorlagen, konnte ich nach den inzwischen aufgefundenen Originalen berichtigen. So bietet die Volksausgabe an vielen Stellen einen besseren Text als die erste Ausgabe; sie wird darum auch vielen Besitzern dieser Ausgabe willkommen sein. Die in Bismarck's Briefen und sonstigen eigenhändigen Aufzeichnungen beobachtete Schreibung der Worte ist in der Volksausgabe einheitlich durchgeführt, auch in den Ueberschriften der Seiten. Sie ist ein Theil seines Wesens und in ihren Abweichungen vom Schulmäßigen so sehr ein Wiederspiel gewisser Eigenschaften seines Charakters und seiner Persönlichkeit, daß der Herausgeber sich für berechtigt hielt, sie auch in denjenigen Abschnitten anzuwenden, die, weil sie im Entwurf nach Dictat von Bucher's oder Chrysander's Hand geschrieben sind, andere Schreibung aufweisen.
Mit besonderem Danke möchte ich der selbstlosen Hülfe gedenken, die mir Herr Professor Dr. A. Eigenbrodt in Kassel bei Durchsicht des Textes und der Erörterung der kritischen Fragen hat zu Theil werden lassen; er war der Einzige, der meiner Bitte gern und freudig entsprach.
Leipzig, 13. Juli 1905.
Horst Kohl.
Als normales Product unsres staatlichen Unterrichts verließ ich Ostern 1832 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Ueberzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei, und mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, Einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachsenen manche bittre oder geringschätzige Kritik über die Herrscher hören konnte. Dazu hatte ich von der turnerischen Vorschule mit Jahn'schen Traditionen (Plamann), in der ich vom sechsten bis zum zwölften Jahre gelebt, deutsch-nationale Eindrücke mitgebracht. Diese blieben im Stadium theoretischer Betrachtungen und waren nicht stark genug, um angeborne preußisch-monarchische Gefühle auszutilgen. Meine geschichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Harmodius und Aristogiton sowohl wie Brutus waren für mein kindliches Rechtsgefühl Verbrecher und Tell ein Rebell und Mörder. Jeder deutsche Fürst, der vor dem 30jährigen Kriege dem Kaiser widerstrebte, ärgerte mich; vom Großen Kurfürsten an aber war ich parteiisch genug, antikaiserlich zu urtheilen und natürlich zu finden, daß der siebenjährige Krieg sich vorbereitete. Doch blieb mein deutsches Nationalgefühl so stark, daß ich im Anfang der Universitätszeit zunächst zur Burschenschaft in Beziehung gerieth, welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete. Aber bei persönlicher Bekanntschaft mit ihren Mitgliedern mißfielen mir ihre Weigerung, Satisfaction zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntniß der vorhandnen, historisch gewordnen Lebensverhältnisse beruhte, von denen ich bei meinen siebzehn Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte als die meisten jener durchschnittlich ältern Studenten. Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung. Gleichwohl bewahrte ich innerlich meine nationalen Empfindungen und den Glauben, daß die Entwicklung der nächsten Zukunft uns zur deutschen Einheit führen werde; ich ging mit meinem amerikanischen Freunde Coffin die Wette darauf ein, daß dieses Ziel in zwanzig Jahren erreicht sein werde.
In mein erstes Semester fiel die Hambacher Feier (27. Mai 1832), deren Festgesang mir in der Erinnrung geblieben ist, in mein drittes der Frankfurter Putsch (3. April 1833). Diese Erscheinungen stießen mich ab, meiner preußischen Schulung widerstrebten tumultuarische Eingriffe in die staatliche Ordnung; ich kam nach Berlin mit weniger liberaler Gesinnung zurück, als ich es verlassen hatte, eine Reaction, die sich wieder abschwächte, nachdem ich mit dem staatlichen Räderwerke in unmittelbare Beziehung getreten war. Was ich etwa über auswärtige Politik dachte, mit der das Publikum sich damals wenig beschäftigte, war im Sinne der Freiheitskriege, vom preußischen Offizierstandpunkt gesehn. Beim Blick auf die Landkarte ärgerte mich der französische Besitz von Straßburg, und der Besuch von Heidelberg, Speier und der Pfalz stimmte mich rachsüchtig und kriegslustig. In der Zeit vor 1848 war für einen Kammergerichts-Auscultator und Regirungs-Referendar, dem jede Beziehung zu ministeriellen und höhern amtlichen Kreisen fehlte, kaum eine Aussicht zu einer Betheiligung an der preußischen Politik vorhanden, so lange er nicht den einförmigen Weg zurückgelegt hatte, der durch die Stufen der bürokratischen Laufbahn nach Jahrzehnten dahin führen konnte, an den höhern Stellen bemerkt und herangezogen zu werden. Als mustergültige Vordermänner auf diesem Wege wurden mir im Familienkreise damals Männer wie Pommer-Esche und Delbrück vorgehalten, und als einzuschlagende Richtung die Arbeit an und in dem Zollvereine empfohlen. Ich hatte, so lange ich in dem damaligen Alter an eine Beamtenlaufbahn ernstlich dachte, die diplomatische im Auge, auch nachdem ich von Seiten des Ministers Ancillon bei meiner Meldung dazu wenig Ermuthigung gefunden hatte. Derselbe bezeichnete nicht mir, aber hohen Kreisen gegenüber als Musterbild dessen, was unsrer Diplomatie fehle, den Fürsten Felix Lichnowski, obschon man hätte vermuthen sollen, daß diese Persönlichkeit, wie sie sich damals in Berlin zur Anschauung brachte, der anerkennenden Würdigung eines der evangelischen Geistlichkeit entstammenden Ministers nicht grade nahe stände.
Der Minister hatte den Eindruck, daß die Kategorie unsres hausbacknen preußischen Landadels für unsre Diplomatie den ihm wünschenswerthen Ersatz nicht lieferte und die Mängel, welche er an der Gewandheit des Personalbestandes dieses Dienstzweiges fand, zu decken nicht geeignet war. Dieser Eindruck war nicht ganz ohne Berechtigung. Ich habe als Minister stets ein landsmannschaftliches Wohlwollen für eingeborne preußische Diplomaten gehabt, aber im dienstlichen Pflichtgefühle nur selten diese Vorliebe bethätigen können, in der Regel nur dann, wenn die Betheiligten aus einer militärischen Stellung in die diplomatische übergingen. Bei den rein preußischen Civil-Diplomaten, welche der Wirkung militärischer Disciplin garnicht oder unzureichend unterlegen hatten, habe ich in der Regel eine zu starke Neigung zur Kritik, zum Besserwissen, zur Opposition und zu persönlichen Empfindlichkeiten gefunden, verstärkt durch die Unzufriedenheit, welche das Gleichheitsgefühl des alten preußischen Edelmanns empfindet, wenn ein Standesgenosse ihm über den Kopf wächst oder außerhalb der militärischen Verhältnisse sein Vorgesetzter wird. In der Armee sind diese Kreise seit Jahrhunderten daran gewöhnt, daß das geschieht, und geben den Bodensatz ihrer Verstimmung gegen frühere Vorgesetzte an ihre spätern Untergebenen weiter, sobald sie selbst in höhere Stellen gelangt sind. In der Diplomatie kommt dazu, daß diejenigen unter den Aspiranten, welche Vermögen oder die zufällige Kenntniß fremder Sprachen, namentlich der französischen, besitzen, schon darin einen Grund zur Bevorzugung sehn und deshalb der obern Leitung noch anspruchsvoller und zur Kritik geneigter gegenübertreten als Andre. Sprachkenntnisse, wie auch Oberkellner sie besitzen, bildeten bei uns leicht die Unterlage des eignen Glaubens an den Beruf zur Diplomatie, namentlich so lange unsre gesandschaftlichen Berichte, besonders die ad Regem, französisch sein mußten, wie es die nicht immer befolgte, aber bis ich Minister wurde amtlich in Kraft stehende Vorschrift war. Ich habe manche unter unsern ältern Gesandten gekannt, die, ohne Verständniß für Politik, lediglich durch Sicherheit im Französischen in die höchsten Stellen aufrückten; und auch sie sagten in ihren Berichten doch nur das, was sie französisch geläufig zur Verfügung hatten. Ich habe noch 1862 von Petersburg französisch amtlich zu berichten gehabt, und die Gesandten, welche auch ihre Privatbriefe an den Minister französisch schrieben, empfahlen sich dadurch als besonders berufen zur Diplomatie, auch wenn sie politisch als urtheilslos bekannt waren.
Außerdem kann ich Ancillon nicht Unrecht geben, wenn er von den meisten Aspiranten aus unserm Landadel den Eindruck hatte, daß sie sich aus dem engen Gesichtskreise ihrer damaligen Berliner, man könnte sagen provinziellen Anschauungen schwer loslösen ließen, und daß es ihnen nicht leicht gelingen würde, den specifischpreußischen Bürokraten in der Diplomatie mit dem Firniß deseuropäischen zu übertünchen. Die Wirkung dieser Wahrnehmungen zeigt sich deutlich, wenn man die Rangliste unsrer Diplomaten aus damaliger Zeit durchgeht; man wird erstaunt sein, so wenig geborne Preußen darin zu finden. Die Eigenschaft, der Sohn eines in Berlin accreditirten fremden Gesandten zu sein, gab an sich einen Vorzug. Die an den kleinen Höfen erwachsenen, in den preußischen Dienst übernommnen Diplomaten hatten nicht selten den Vortheil größrer assurance in höfischen Kreisen und eines größern Mangels an Blödigkeit vor den eingebornen. Ein Beispiel dieser Richtung war namentlich Herr von Schleinitz. Dann finden sich in der Liste Mitglieder standesherrlicher Häuser, bei denen die Abstammung die Begabung ersetzte. Aus der Zeit, als ich nach Frankfurt ernannt wurde, ist mir außer mir, dem Freiherrn Karl von Werther, Canitz und dem französisch verheiratheten Grafen Max Hatzfeldt kaum der Chef einer ansehnlichen Mission preußischer Abstammung erinnerlich. Ausländische Namen standen höher im Kurse: Brassier, Perponcher, Savigny, Oriola. Man setzte bei ihnen größre Geläufigkeit im Französischen voraus, und sie waren „weiter her“, dazu trat [bei den Diplomaten preußischer Abkunft] der Mangel an Bereitwilligkeit zur Uebernahme eigner Verantwortlichkeit bei fehlender Deckung durch zweifellose Instruction, ähnlich wie im Militär 1806 bei der alten Schule aus Friedericianischer Zeit. Wir züchteten schon damals das Offiziersmaterial bis zum Regiments-Commandeur in einer Vollkommenheit wie kein andrer Staat, aber darüber hinaus war das eingeborne preußische Blut nicht mehr fruchtbar an Begabungen wie zur Zeit Friedrich's des Großen selbst. Unsre erfolgreichsten Feldherrn, Blücher, Gneisenau, Moltke, Goeben, waren keine preußischen Urproducte, ebensowenig im Civildienste Stein, Hardenberg, Motz und Grolman. Es ist, als ob unsre Staatsmänner wie die Bäume in den Baumschulen zu voller Wurzelbildung der Versetzung bedürften.
Ancillon rieth mir, zunächst das Examen als Regirungs-Assessor zu machen und dann auf dem Umwege durch die Zollvereinsgeschäfte Eintritt in die deutscheDiplomatie Preußens zu suchen; einen Beruf für die europäische erwartete er also bei einem Sprößlinge des einheimischen Landadels nicht. Ich nahm mir seine Andeutung zu Herzen und beabsichtigte, zunächst das Examen als Regirungs-Assessor zu machen.
Die Personen und Einrichtungen unsrer Justiz, in der ich zunächst beschäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffassung mehr Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktische Ausbildung des Auscultators begann damit, daß man auf dem Criminalgericht das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rathe, dem ich zugewiesen war, Herrn von Brauchitsch, über die Gebühr herangezogen wurde, weil ich damals über den Durchschnitt schnell und lesbar schrieb. Von den „Untersuchungen“, wie die Kriminalprozesse bei dem damals geltenden Inquisitionsverfahren genannt wurden, hat mir eine den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen, welche eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatürlichen Laster betraf. Die Klubeinrichtungen der Betheiligten, die Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinschaftlichen Betreibens des Verbotnen durch alle Stände hindurch – alles das bewies schon 1835 eine Demoralisation, welche hinter den Ergebnissen des Prozesses gegen die Heinzeschen Eheleute (October 1891) nicht zurückstand. Die Verzweigungen dieser Gesellschaft reichten bis in hohe Kreise hinauf. Es wurde dem Einflusse des Fürsten Wittgenstein zugeschrieben, daß die Akten von dem Justizministerium eingefordert und, wenigstens während meiner Thätigkeit an dem Criminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.
Nachdem ich vier Monate protokollirt hatte, wurde ich zu dem Stadtgerichte, vor das die Civilsachen gehörten, versetzt und aus der mechanischen Beschäftigung des Schreibens unter Dictat plötzlich zu einer selbständigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit und mein Gefühl mir die Stellung erschwerten. Das erste Stadium, in welchem der juristische Neuling damals zu einer selbständigen Thätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Ehescheidungen. Offenbar als das Unwichtigste betrachtet, waren sie dem unfähigsten Rathe, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Bearbeitung der ganz grünen Auscultatoren überlassen worden, die damit in corpore vili ihre ersten Experimente in der Richterrolle zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit des Herrn Prätorius, der jedoch ihren Verhandlungen nicht beiwohnte. Zur Charakterisirung dieses Herrn wurde uns jungen Leuten erzählt, daß er in den Sitzungen, wenn behufs der Abstimmung aus einem leichten Schlummer geweckt, zu sagen pflegte: „Ich stimme wie der College Tempelhof“, und gelegentlich darauf aufmerksam gemacht werden mußte, daß Herr Tempelhof nicht anwesend sei.
Ich trug ihm einmal meine Verlegenheit vor, daß ich, wenige Monate über 20 Jahre alt, mit einem aufgeregten Ehepaare den Sühneversuch vornehmen solle, der für meine Auffassung einen gewissen kirchlichen und sittlichen Nimbus hatte, dem ich mich in meiner Seelenstimmung nicht adäquat fühlte. Ich fand Prätorius in der verdrießlichen Stimmung eines zur Unzeit geweckten ältern Herrn, der außerdem die Abneigung mancher alten Bürokraten gegen einen jungen Edelmann hegte. Er sagte mit geringschätzigem Lächeln: „Es ist verdrießlich, Herr Referendarius, wenn man sich auch nicht ein bischen zu helfen weiß; ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.“ Ich kehrte mit ihm in das Terminszimmer zurück. Der Fall lag so, daß der Mann geschieden sein wollte, die Frau nicht, der Mann sie des Ehebruchs beschuldigte, die Frau mit thränenreichen Declamationen ihre Unschuld betheuerte und trotz aller Mißhandlung von Seiten des Mannes bei ihm bleiben wollte. Mit seinem lispelnden Zungenanschlage sprach Prätorius die Frau also an: „Aber Frau, sei sie doch nicht so dumm; was hat sie denn davon? Wenn sie nach Hause kommt, schlägt ihr der Mann die Jacke voll, bis sie es nicht mehr aushalten kann. Sage sie doch einfach Ja, dann ist sie mit dem Säufer kurzer Hand auseinander.“ Darauf die Frau weinend und schreiend: „Ich bin eine ehrliche Frau, kann die Schande nicht auf mich nehmen, will nicht geschieden sein.“ Nach mehrfacher Replik und Duplik in dieser Tonart wandte sich Prätorius zu mir mit den Worten: „Da sie nicht Vernunft annehmen will, so schreiben Sie, Herr Referendarius,“ und dictirte mir die Worte, die ich wegen des tiefen Eindrucks, welchen sie mir machten, noch heut auswendig weiß: „Nachdem der Sühneversuch angestellt und die dafür dem Gebiete der Moral und Religion entnommnen Gründe erfolglos geblieben waren, wurde wie folgt weiter verhandelt.“ Mein Vorgesetzter erhob sich und sagte: „Nun merken Sie sich, wie man das macht, und lassen Sie mich künftig mit dergleichen in Ruhe.“ Ich begleitete ihn zur Thüre und setzte die Verhandlung fort. Die Station der Ehescheidungen dauerte, so viel ich mich erinnre, vier bis sechs Wochen, ein Sühneversuch kam mir nicht wieder vor. Es war ein gewisses Bedürfniß vorhanden für die Verordnung über das Verfahren in Ehescheidungen, auf welche Friedrich Wilhelm IV. sich beschränken mußte, nachdem sein Versuch, ein Gesetz über Aenderung des materiellen Eherechts zu Stande zu bringen, an dem Widerstande des Staatsrats gescheitert war. Dabei mag erwähnt werden, daß durch jene Verordnung zuerst in den Provinzen des Allgemeinen Landrechts der Staatsanwalt eingeführt worden ist als defensor matrimonii und zur Verhütung von Collusionen der Parteien.
Ansprechender war das folgende Stadium der Bagatellprozesse, wo der ungeschulte junge Jurist wenigstens eine Uebung im Aufnehmen von Klagen und Vernehmen von Zeugen gewann, wo man ihn im Ganzen aber doch mehr als Hülfsarbeiter ausnutzte, als mit Belehrung förderte. Das Local und die Procedur hatten etwas von dem unruhigen Verkehre an einem Eisenbahnschalter. Der Raum, wo der leitende Rath und die drei oder vier Auscultatoren mit dem Rücken gegen das Publikum saßen, war von hölzernen Gittern umgeben, und die dadurch gebildete viereckige Bucht war von der wechselnden und mehr oder weniger lärmenden Menge der Parteien rings umfluthet.
Mein Eindruck von Institutionen und Personen wurde nicht wesentlich modificirt, nachdem ich zur Verwaltung übergegangen war. Um den Umweg zur Diplomatie abzukürzen, wandte ich mich einer rheinischen Regirung, der Aachner, zu, deren Cursus sich in zwei Jahren abmachen ließ, während bei den altländischen wenigstens drei erforderlich waren.
Ich kann mir denken, daß bei Besetzung der rheinischen Regirungscollegien 1816 ähnlich verfahren worden war, wie 1871 bei der Organisation von Elsaß-Lothringen. Die Behörden, welche einen Theil ihres Personals abzugeben hatten, werden nicht auf das staatliche Bedürfnis gehört haben, für die schwierige Aufgabe der Assimilirung einer neu erworbenen Bevölkerung den besten Fuß vorzusetzen, sondern diejenigen Mitglieder gewählt haben, deren Abgang von ihren Vorgesetzten oder von ihnen selbst gewünscht wurde; in den Collegien fanden sich frühere Präfektur-Sekretäre und andre Reste der französischen Verwaltung. Die Persönlichkeiten entsprachen nicht alle dem unberechtigten Ideale, das mir in dem Alter von 21 Jahren vorschwebte, und noch weniger that dies der Inhalt der laufenden Geschäfte. Ich erinnre mich, daß ich bei vielen Meinungsverschiedenheiten zwischen Beamten und Regirten oder innerhalb jeder dieser beiden Kategorien, Meinungsverschiedenheiten, deren polemische Vertretung jahrelang die Akten anschwellen machte, gewöhnlich unter dem Eindrucke stand, „ja, so kann man es auch machen,“ und daß Fragen, deren Entscheidung in dem einen oder dem andern Sinne das verbrauchte Papier nicht werth war, eine Geschäftslast erzeugten, die ein einzelner Präfekt mit dem vierten Theile der aufgewandten Arbeitskraft hätte erledigen können. Nichtsdestoweniger war, abgesehn von den subalternen Beamten, das tägliche Arbeitspensum ein geringes und besonders für die Abtheilungs-Dirigenten eine reine Sinecure. Ich verließ Aachen mit einer, abgesehn von dem begabten Präsidenten Grafen Arnim-Boitzenburg, geringen Meinung von unsrer Bürokratie im Einzelnen und in der Gesammtheit. Im Einzelnen wurde meine Meinung günstiger durch meine demnächstige Erfahrung bei der Regirung in Potsdam, zu der ich mich im Jahre 1837 versetzen ließ, weil dort abweichend von den andern Provinzen die indirecten Steuern zum Ressort der Regirung gehörten und grade diese wichtig waren, wenn ich die Zollpolitik zur Basis meiner Zukunft nehmen wollte.
Die Mitglieder des Kollegiums machten mir einen würdigern Eindruck als die Aachner, aber doch in ihrer Gesammtheit den Eindruck von Zopf und Perrücke, in welche Kategorie meine jugendliche Ueberhebung auch den väterlich-würdigen Oberpräsidenten von Bassewitz stellte, während der Aachner Regirungspräsident Graf Arnim zwar die generelle Staatsperrücke, aber doch keinen geistigen Zopf trug. Als ich dann aus dem Staatsdienste in das Landleben überging, brachte ich in die Berührungen, welche ich als Gutsbesitzer mit den Behörden hatte, eine nach meinem heutigen Urtheil zu geringe Meinung von dem Werthe unsrer Bürokratie, eine vielleicht zu große Neigung zur Kritik mit. Ich erinnre mich, daß ich als stellvertretender Landrath über den Plan, die Wahl der Landräthe abzuschaffen, gutachtlich zu berichten hatte und mich so aussprach, die Bürokratie sinke in der Achtung vom Landrath aufwärts; sie habe dieselbe nur in der Person des Landraths bewahrt, der einen Januskopf trage, ein Gesicht in der Bürokratie, eins im Lande habe.
Die Neigung zu befremdendem Eingreifen in die verschiedensten Lebensverhältnisse war unter dem damaligen väterlichen Regimente vielleicht größer als heut, aber dieOrgane zum Eingreifen waren weniger zahlreich und standen an Bildung und Erziehung höher als ein Theil der heutigen. Die Beamten der Königlichen hochlöblichen Regirung waren ehrliche, studirte und gut erzogne Beamte, aber ihre wohlwollende Thätigkeit fand nicht immer Anerkennung, weil sie sich ohne locale Sachkunde auf Details zersplitterte, in Betreff deren die Ansichten des gelehrten Stadtbewohners am grünen Tische nicht immer der Kritik des bäuerlichen gesunden Menschenverstandes überlegen waren. Die Mitglieder der Regirungs-Collegien hatten damals multa, nicht multum zu thun, und der Mangel an höhern Aufgaben brachte es mit sich, daß sie kein ausreichendes Quantum wichtiger Geschäfte fanden und in ihrem Pflichteifer sich über das Bedürfniß der Regirten hinaus zu thun machten, in die Neigung zur Reglementirerei, zu dem, was der Schweizer „Befehlerle“ nennt, geriethen.
Man hatte, um einen vergleichenden Blick auf die Gegenwart zu werfen, gehofft, daß die Staatsbehörden durch die Einführung der heutigen localen Selbstverwaltung an Geschäften und an Beamten würden entbürdet werden; aber im Gegentheile, die Zahl der Beamten und ihre Geschäftslast sind durch Korrespondenzen und Frictionen mit den Organen der Selbstverwaltung von dem Provinzialrathe bis zu der ländlichen Gemeindeverwaltung erheblich gesteigert worden. Es muß früher oder später der wunde Punkt eintreten, wo wir von der Last der Schreiberei und besonders der subalternen Bürokratie erdrückt werden. Daneben ist der bürokratische Druck auf das Privatleben durch die Art der Ausführung der „Selbstverwaltung“ verstärkt worden und greift in die ländlichen Gemeinden schärfer als früher ein. Vorher bildete der der Bevölkerung ebenso nahe als dem Staate stehende Landrath den Abschluß der staatlichen Bürokratie nach unten; unter ihm standen locale Verwaltungen, die wohl der Controlle, aber nicht in gleichem Maße wie heut der Disciplinargewalt der Bezirks- oder Ministerial-Bürokratie unterlagen. Die ländliche Bevölkerung erfreut sich heut vermöge der ihr gewährten Selbstregirung nicht etwa einer ähnlichen Autonomie wie seit lange die der Städte, sondern sie hat in Gestalt des Amtsvorstehers einen Vorstand erhalten, der durch Befehle von oben, vom Landrathe, unter Androhung von Ordnungsstrafen disciplinarisch angehalten wird, im Sinne der staatlichen Hierarchie seine Mitbürger in seinem Bezirke mit Listen, Meldungen und Zumuthungen zu belästigen. Die regirte contribuens plebs hat in der landräthlichen Instanz ungeschickten Eingriffen gegenüber nicht mehr die Garantie, welche früher in dem Verhältniß lag, daß die Kreiseingesessenen, die Landräthe wurden, dies in ihrem Kreise lebenslänglich zu bleiben in der Regel entschlossen waren und die Leiden und Freuden des Kreises mitfühlten. Heut ist der Landrathsposten die unterste Stufe der höhern Verwaltungslaufbahn, gesucht von jungen Assessoren, die den berechtigten Ehrgeiz haben, Carrière zu machen; dazu bedürfen sie der ministeriellen Gunst mehr als des Wohlwollens der Kreisbevölkerung und suchen erstre durch hervorragenden Eifer und Anspannung der Amtsvorsteher der angeblichen Selbstverwaltung bei Durchführung auch minderwerthiger bürokratischer Versuche zu gewinnen. Darin liegt zum großen Theil der Anlaß zur Ueberlastung ihrer Untergebenen in der localen „Selbstverwaltung“. Die „Selbstverwaltung“ ist also Verschärfung der Bürokratie, Vermehrung der Beamten, ihrer Macht und ihrer Einmischung in's Privatleben.
Es liegt in der menschlichen Natur, daß man von jeder Einrichtung die Dornen stärker empfindet als die Rosen, und daß die erstern gegen das zur Zeit Bestehende verstimmen. Die alten Regirungsbeamten zeigten sich, wenn sie mit der regirten Bevölkerung in unmittelbare Berührung traten, pedantisch und durch ihre Beschäftigung am grünen Tische den Verhältnissen des praktischen Lebens entfremdet, hinterließen aber den Eindruck, daß sie ehrlich und gewissenhaft bemüht waren, gerecht zu sein. Dasselbe läßt sich von den Organen der heutigen Selbstverwaltung in Landstrichen, wo die Parteien einander schärfer gegenüberstehn, nicht in allen Stufen voraussetzen; das Wohlwollen für politische Freunde, die Stimmung bezüglich des Gegners werden leicht ein Hinderniß unparteiischer Handhabung der Einrichtungen. Nach meinen Erfahrungen aus jener und der spätern Zeit möchte ich übrigens den Vorzug der Unparteilichkeit im Vergleiche zwischen richterlichen und administrativen Entscheidungen nicht den erstern allein einräumen, wenigstens nicht durchgängig. Ich habe im Gegentheil den Eindruck behalten, daß Richter an den kleinen und localen Gerichten den starken Parteiströmungen leichter und hingebender unterliegen als Verwaltungsbeamte; und es ist auch kein psychologischer Grund dafür erfindlich, daß bei gleicher Bildung die letztern a priori für weniger gerecht und gewissenhaft in ihren amtlichen Entscheidungen gehalten werden sollten als die erstern. Wohl aber nehme ich an, daß die amtlichen Entschließungen an Ehrlichkeit und Angemessenheit dadurch nicht gewinnen, daß sie collegialisch gefaßt werden; abgesehn davon, daß Arithmetik und Zufall bei dem Majoritätsvotum an die Stelle logischer Begründung treten, geht das Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit, in welcher die wesentliche Bürgschaft für die Gewissenhaftigkeit der Entscheidung liegt, sofort verloren, wenn diese durch anonyme Majoritäten erfolgt.
Der Geschäftsgang in beiden Collegien, in Potsdam wie in Aachen, war für meine Strebsamkeit nicht ermuthigend gewesen. Ich fand die mir zugewiesene Beschäftigung kleinlich und langweilig, und meine Arbeiten auf dem Gebiete der Mahlsteuerprozesse und der Beitragspflicht zum Bau des Dammes in Rotzis bei Wusterhausen haben mir kein Heimweh nach meiner damaligen Thätigkeit hinterlassen. Dem Ehrgeiz der Beamtenlaufbahn entsagend, erfüllte ich gern den Wunsch meiner Eltern, in die festgefahrne Bewirtschaftung unsrer pommerschen Güter einzutreten. Auf dem Lande dachte ich zu leben und zu sterben, nachdem ich Erfolge in der Landwirthschaft erreicht haben würde, vielleicht auch im Kriege, wenn es einen gäbe. Soweit mir auf dem Lande Ehrgeiz verblieb, war es der des Landwehr-Lieutenants.
Die in meiner Kindheit empfangnen Eindrücke waren wenig dazu angethan, mich zu verjunkern. In der nach Pestalozzi'schen und Jahn'schen Grundsätzen eingerichteten Plamann'schen Erziehungsanstalt war das „von“ vor meinem Namen ein Nachtheil für mein kindliches Behagen im Verkehre mit Mitschülern und Lehrern. Auch auf dem Gymnasium zum Grauen Kloster habe ich einzelnen Lehrern gegenüber unter dem Adelshasse zu leiden gehabt, der sich in einem großen Theile des gebildeten Bürgerthums als Reminiscenz aus den Zeiten vor 1806 erhalten hatte. Aber selbst die aggressive Tendenz, die in bürgerlichen Kreisen unter Umständen zum Vorschein kam, hat mich niemals zu einem Vorstoße in entgegengesetzter Richtung veranlaßt. Mein Vater war vom aristokratischen Vorurtheile frei, und sein innres Gleichheitsgefühl war, wenn überhaupt, nur durch die Offizierseindrücke seiner Jugend, keineswegs aber durch Überschätzung des Geburtsstandes modificirt. Meine Mutter war die Tochter des in den damaligen Hofkreisen für liberal geltenden Cabinetsraths Friedrich's des Großen, Friedrich Wilhelm's II. und III. aus der Leipziger Professorenfamilie Mencken, welche in ihren letzten, mir vorhergehenden Generationen nach Preußen in den auswärtigen und den Hofdienst gerathen war. Der Freiherr vom Stein hat meinen Großvater Mencken als einen ehrlichen, stark liberalen Beamten bezeichnet. Unter diesen Umständen waren die Auffassungen, die ich mit der Muttermilch einsog, eher liberal als reactionär, und meine Mutter würde, wenn sie meine ministerielle Thätigkeit erlebt hätte, mit der Richtung derselben kaum einverstanden gewesen sein, wenn sie auch an den äußern Erfolgen meiner amtlichen Laufbahn große Freude empfunden haben würde. Sie war in bürokratischen und Hofkreisen groß geworden; Friedrich Wilhelm IV. sprach von ihr als „Mienchen“ im Andenken an Kinderspiele. Ich darf es darnach für eine ungerechte Einschätzung meiner Auffassung in jüngern Jahren erklären, wenn mir „die Vorurtheile meines Standes“ angeheftet werden und behauptet wird, daß Erinnrung an Bevorrechtigung des Adels der Ausgangspunkt meiner innern Politik gewesen wäre.
Auch die unumschränkte Autorität der alten preußischen Königsmacht war und ist nicht das letzte Wort meiner Ueberzeugung. Für letztre war allerdings auf dem Ersten Vereinigten Landtage diese Autorität des Monarchen staatsrechtlich vorhanden, aber mit dem Wunsche und dem Zukunftsgedanken, daß die unumschränkte Macht des Königs selber ohne Ueberstürzung das Maß ihrer Beschränkung zu bestimmen habe. Der Absolutismus bedarf in erster Linie Unparteilichkeit, Ehrlichkeit, Pflichttreue, Arbeitskraft und innre Demuth des Regirenden; sind sie vorhanden, so werden doch männliche oder weibliche Günstlinge, im besten Falle die legitime Frau, die eigne Eitelkeit und Empfänglichkeit für Schmeicheleien dem Staate die Früchte des Königlichen Wohlwollens verkürzen, da der Monarch nicht allwissend ist und nicht für alle Zweige seiner Aufgabe gleiches Verständnis haben kann. Ich bin schon 1847 dafür gewesen, daß die Möglichkeit öffentlicher Kritik der Regirung im Parlamente und in der Presse erstrebt werde, um den Monarchen vor der Gefahr zu behüten, daß Weiber, Höflinge, Streber und Phantasten ihm Scheuklappen anlegten, die ihn hinderten, seine monarchischen Aufgaben zu übersehn und Mißgriffe zu vermeiden oder zu corrigiren. Diese meine Auffassung hat sich um so schärfer ausgeprägt, je nachdem ich mit den Hofkreisen mehr vertraut wurde und gegen ihre Strömungen und gegen die Opposition des Ressortpatriotismus das Staatsinteresse zu vertreten hatte. Letztres allein hat mich geleitet, und es ist eine Verleumdung, wenn selbst wohlwollende Publizisten mich beschuldigen, daß ich je für ein Adelsregiment eingetreten sei. Die Geburt hat mir niemals als Ersatz für Mangel an Tüchtigkeit gegolten; wenn ich für den Grundbesitz eingetreten bin, so habe ich das nicht im Interesse besitzender Standesgenossen gethan, sondern weil ich im Verfall der Landwirthschaft eine der größten Gefahren für unsern staatlichen Bestand sehe. Mir hat immer als Ideal eine monarchische Gewalt vorgeschwebt, welche durch eine unabhängige, nach meiner Meinung ständische oder berufsgenossenschaftliche Landesvertretung soweit controllirt wäre, daß Monarch oder Parlament den bestehenden gesetzlichen Rechtszustand nicht einseitig, sondern nur communi consensu ändern können, bei Oeffentlichkeit und öffentlicher Kritik aller staatlichen Vorgänge durch Presse und Landtag.
Die Ueberzeugung, daß der uncontrollirte Absolutismus, wie er durch Louis XIV. zuerst in Scene gesetzt wurde, die richtigste Regirungsform für deutsche Unterthanen sei, verliert auch der, welcher sie hat, durch Specialstudien in den Hofgeschichten und durch kritische Beobachtungen, wie ich sie am Hofe des von mir persönlich geliebten und verehrten Königs Friedrich Wilhelm's IV. zur Zeit Manteuffel's anstellen konnte. Der König war gläubiger, gottberufner Absolutist, und die Minister nach Brandenburg in der Regel zufrieden, wenn sie durch Königliche Unterschrift gedeckt waren, auch wenn sie persönlich den Inhalt des Unterschriebenen nicht hätten verantworten mögen. Ich erlebte damals, daß ein hoher und absolutistisch gesinnter Hofbeamter in meiner und mehrer seiner Collegen Gegenwart auf die Nachricht von dem Neufchâteler Aufstand der Royalisten in einer gewissen Verblüffung sagte: „Das ist ein Royalismus, den man heut zu Tage doch nur noch sehr fern vom Hofe erlebt.“ Sarkasmen lagen sonst nicht in der Gewohnheit dieses alten Herrn.
Wahrnehmungen, welche ich auf dem Lande über Bestechlichkeit und Chicane von Bezirksfeldwebeln und subalternen Beamten machte, und kleine Conflicte, in welche ich als Kreisdeputirter und Stellvertreter des Landraths mit der Regirung in Stettin gerieth, steigerten meine Abneigung gegen die Herrschaft der Bürokratie. Von diesen Conflicten mag der eine erwähnt sein. Während ich den beurlaubten Landrath vertrat, erhielt ich von der Regirung den Auftrag, den Patron von Külz, der ich selbst war, zur Uebernahme gewisser Lasten zu bewegen. Ich ließ den Auftrag liegen, um ihn dem Landrathe bei seiner Rückkehr zu übergeben, wurde wiederholt excitirt, und eine Ordnungsstrafe von einem Thaler wurde mir durch Postvorschuß auferlegt. Ich setzte nun ein Protokoll auf, in welchem ich erstens als stellvertretender Landrath, zweitens als Patron von Külz als erschienen aufgeführt war. Comparent machte in seiner Eigenschaft ad 1 sich die vorgeschriebene Vorhaltung; entwickelte dagegen in der ad 2 die Gründe, aus denen er die Zumuthung ablehnen müsse; worauf das Protokoll von ihm doppelt genehmigt und unterschrieben wurde. Die Regirung verstand Scherz und ließ mir die Ordnungsstrafe zurückzahlen. In andern Fällen kam es zu unangenehmern Schraubereien. Ich wurde zur Kritik geneigt, also „liberal“ in dem Sinne, in welchem man das Wort damals in Kreisen von Gutsbesitzern anwandte zur Bezeichnung der Unzufriedenheit mit der Bürokratie, die ihrerseits in der Mehrzahl ihrer Glieder liberaler als ich war, aber in andrem Sinne.
Aus meiner ständisch-liberalen Stimmung, für die ich in Pommern kaum Verständniß und Theilnahme, in Schönhausen aber die Zustimmung von Kreisgenossen wie Graf Wartensleben-Karow, Schierstädt-Dahlen und Andern fand, denselben Elementen, die zum Theil zu den später unter der neuen Aera gerichtlich verurtheilten Kirchen-Patronen gehörten, aus dieser Stimmung wurde ich wieder entgleist durch die mir unsympathische Art der Opposition des Ersten Vereinigten Landtags, zu dem ich erst für die letzten sechs Wochen der Session wegen Erkrankung des Abgeordneten von Brauchitsch als dessen Stellvertreter einberufen wurde.Die Reden der Ostpreußen Saucken-Tarputschen, Alfred Auerswald, die Sentimentalität von Beckerath, der rheinisch-französische Liberalismus von Heydt und Mevissen und die polternde Heftigkeit der Vincke'schen Reden waren mir widerlich, und auch wenn ich die Verhandlungen heut lese, so machen sie mir den Eindruck von importirter Phrasen-Schablone. Ich hatte das Gefühl, daß der König auf dem richtigen Wege sei und den Anspruch darauf habe, daß man ihm Zeit lasse und ihn in seiner eignen Entwicklung schone.
Ich gerieth mit der Opposition in Conflict, als ich das erste Mal zu längrer Ausführung das Wort nahm, am 17. Mai 1847, indem ich die Legende bekämpfte, daß die Preußen 1813 in den Krieg gegangen wären, um eine Verfassung zu erlangen, und meiner naturwüchsigen Entrüstung darüber Ausdruck gab, daß die Fremdherrschaft an sich kein genügender Grund zum Kampfe gewesen sein solle.Mir schien es unwürdig, daß die Nation dafür, daß sie sich selbst befreit habe, dem Könige eine in Verfassungsparagraphen zahlbare Rechnung überreichen wolle. Meine Ausführung rief einen Sturm hervor. Ich blieb auf der Tribüne, blätterte in einer dort liegenden Zeitung und brachte, nachdem der Lärm sich ausgetobt hatte, meine Rede zu Ende.
Bei den Hoffestlichkeiten, die während des Vereinigten Landtags stattfanden, wurde ich von dem Könige und der Prinzessin von Preußen in augenfälliger Weise gemieden, jedoch aus verschiednen Gründen, von der letztern, weil ich weder liberal noch populär war, von dem erstern aus einem Grunde, der mir erst später klar wurde. Wenn er bei Empfang der Mitglieder vermied, mit mir zu sprechen, wenn er im Cercle, nachdem er der Reihe nach jeden angeredet hatte, abbrach, sobald er an mich kam, umkehrte oder quer durch den Saal abschwenkte: so glaubte ich annehmen zu müssen, daß meine Haltung als royalistischer Heißsporn die Grenzen überschritt, die er sich gesteckt hatte. Daß diese Auslegung unrichtig, erkannte ich erst einige Monate später, als ich auf meiner Hochzeitsreise Venedig berührte. Der König, der mich im Theater erkannt hatte, befahl mich folgenden Tags zur Audienz und zur Tafel, mir so unerwartet, daß mein leichtes Reisegepäck und die Unfähigkeit der Schneider des Ortes mir nicht die Möglichkeit gewährten, in correctem Anzuge zu erscheinen. Mein Empfang war ein so wohlwollender und die Unterhaltung auch auf politischem Gebiete derart, daß ich eine aufmunternde Billigung meiner Haltung im Landtage daraus entnehmen konnte. Der König befahl mir, mich im Laufe des Winters bei ihm zu melden, was geschah. Bei dieser Gelegenheit und bei kleinern Diners im Schlosse überzeugte ich mich, daß ich bei beiden allerhöchsten Herrschaften in voller Gnade stand, und daß der König, wenn er zur Zeit der Landtagssitzungen vermieden hatte, öffentlich mit mir zu reden, damit nicht eine Kritik meines politischen Verhaltens geben, sondern nur seine Billigung den Andern zur Zeit nicht zeigen wollte.
Die erste Kunde von den Ereignissen des 18. und 19. März 1848 erhielt ich im Hause meines Gutsnachbarn, des Grafen von Wartensleben auf Karow, zu dem sich Berliner Damen geflüchtet hatten. Für die politische Tragweite der Vorgänge war ich im ersten Augenblick nicht so empfänglich wie für die Erbittrung über die Ermordung unsrer Soldaten in den Straßen. Politisch, dachte ich, würde der König bald Herr der Sache werden, wenn er nur frei wäre; ich sah die nächste Aufgabe in der Befreiung des Königs, der in der Gewalt der Aufständischen sein sollte.
Am 20. meldeten mir die Bauern in Schönhausen, es seien Deputirte aus dem dreiviertel Meilen entfernten Tangermünde angekommen, mit der Aufforderung, wie in der genannten Stadt geschehn war, auf dem Thurme die schwarz-roth-goldne Fahne aufzuziehn, und mit der Drohung, im Weigerungsfalle mit Verstärkung wiederzukommen. Ich fragte die Bauern, ob sie sich wehren wollten: sie antworteten mit einem einstimmigen und lebhaften „Ja“, und ich empfahl ihnen, die Städter aus dem Dorfe zu treiben, was unter eifriger Betheiligung der Weiber besorgt wurde. Ich ließ dann eine in der Kirche vorhandne weiße Fahne mit schwarzem Kreuz, in Form des eisernen, auf dem Thurme aufziehn und ermittelte, was an Gewehren und Schießbedarf im Dorfe vorhanden war, wobei etwa fünfzig bäuerliche Jagdgewehre zum Vorschein kamen. Ich selbst besaß mit Einrechnung der alterthümlichen einige zwanzig und ließ Pulver durch reitende Boten von Jerichow und Rathenow holen.
Dann fuhr ich mit meiner Frau auf umliegende Dörfer und fand die Bauern eifrig bereit, dem Könige nach Berlin zu Hülfe zu ziehn, besonders begeistert einen alten Deichschulzen Krause in Neuermark, der in meines Vaters Regiment „Carabiniers“ Wachtmeister gewesen war. Nur mein nächster Nachbar sympathisirte mit der Berliner Bewegung, warf mir vor, eine Brandfackel in das Land zu schleudern, und erklärte, wenn die Bauern sich wirklich zum Abmarsch anschicken sollten, so werde er auftreten und abwiegeln. Ich erwiderte: „Sie kennen mich als einen ruhigen Mann, aber wenn Sie das thun, so schieße ich Sie nieder.“ – „Das werden Sie nicht,“ meinte er. – „Ich gebe mein Ehrenwort darauf,“ versetzte ich, „und Sie wissen, daß ich das halte, also lassen Sie das.“
Ich fuhr zunächst allein nach Potsdam, wo ich am Bahnhofe Herrn von Bodelschwingh sah, der bis zum 19. Minister des Innern gewesen war. Es war ihm offenbar unerwünscht, im Gespräch mit mir, dem „Reactionär“, gesehn zu werden; er erwiderte meine Begrüßung mit den Worten: “Ne me parlez pas.“ – „Les paysans se lèvent chez nous,“ erwiderte ich. “Pour le Roi?“ – „Oui.“ – „Dieser Seiltänzer,“ sagte er, die Hände auf die thränenden Augen drückend. In der Stadt fand ich auf der Plantage an der Garnisonkirche ein Bivouak der Garde-Infanterie; ich sprach mit den Leuten und fand Erbittrung über den befohlnen Rückzug und Verlangen nach neuem Kampfe. Auf dem Rückwege längs des Kanals folgten mir spionartige Civilisten, welche Verkehr mit der Truppe gesucht hatten und drohende Reden gegen mich führten. Ich hatte vier Schuß in der Tasche, bedurfte ihrer aber nicht. Ich stieg bei meinem Freunde Roon ab, der als Mentor des Prinzen Friedrich Karl einige Zimmer in dem Stadtschlosse bewohnte, und besuchte im „Deutschen Hause“ den General von Möllendorf, noch steif von den Mißhandlungen, die er erlitten, als er mit den Aufständischen unterhandelte, und General von Prittwitz, der in Berlin commandirt hatte. Ich schilderte ihnen die Stimmung des Landvolks; sie gaben mir dagegen Einzelheiten über die Vorgänge bis zum 19. Morgens. Was sie zu berichten hatten und was an spätern Nachrichten aus Berlin hergelangt war, konnte mich nur in dem Glauben bestärken, daß der König nicht frei sei.
Prittwitz, der älter als ich war und ruhiger urtheilte, sagte: „Schicken Sie uns keine Bauern, wir brauchen sie nicht, haben Soldaten genug; schicken Sie uns lieber Kartoffeln und Korn, vielleicht auch Geld, denn ich weiß nicht, ob für die Verpflegung und Löhnung der Truppen ausreichend gesorgt werden wird. Wenn Zuzug käme, würde ich aus Berlin den Befehl erhalten und ausführen müssen, denselben zurückzuschlagen.“ – „So holen Sie den König heraus!“ sagte ich. Er erwiderte: „Das würde keine große Schwierigkeit haben; ich bin stark genug, Berlin zu nehmen, aber dann haben wir wieder Gefecht, was können wir thun, nachdem der König uns befohlen hat, die Rolle des Besiegten anzunehmen? Ohne Befehl kann ich nicht angreifen.“
Bei diesem Zustand der Dinge kam ich auf den Gedanken, einen Befehl zum Handeln, der von dem unfreien Könige nicht zu erwarten war, von einer andern Seite zu beschaffen, und suchte zu dem Prinzen von Preußen zu gelangen. An die Prinzessin verwiesen, deren Einwilligung dazu nöthig sei, ließ ich mich bei ihr melden, um den Aufenthalt ihres Gemals zu erfahren (der, wie ich später erfuhr, auf der Pfaueninsel war). Sie empfing mich in einem Dienerzimmer im Entresol, auf einem fichtnen Stuhle sitzend, verweigerte die erbetne Auskunft und erklärte in lebhafter Erregung, daß es ihre Pflicht sei, die Rechte ihres Sohnes zu wahren. Was sie sagte, beruhte auf der Voraussetzung, daß der König und ihr Gemal sich nicht halten könnten, und lies auf den Gedanken schließen, während der Minderjährigkeit ihres Sohnes die Regentschaftzu führen. Um für diesen Zweck die Mitwirkung der Rechten in den Kammern zu gewinnen, sind mir formelle Eröffnungen durch Georg von Vincke gemacht worden. Da ich zum Prinzen von Preußen nicht gelangen konnte, machte ich einen Versuch mit dem Prinzen Friedrich Karl, stellte ihm vor, wie nöthig es sei, daß das Königshaus Fühlung mit der Armee behalte, und wenn Se. Majestät unfrei sei, auch ohne Befehl des Königs für die Sache desselben handle. Er erwiderte in lebhafter Gemüthsbewegung, so sehr ihm mein Gedanke zusage, so fühle er sich doch zu jung, ihn auszuführen, und könne dem Beispiel der Studenten, die sich in die Politik mischten, nicht folgen, er sei auch nicht älter als die. Ich entschloß mich dann zu dem Versuche, zu dem Könige zu gelangen.
Prinz Karl gab mir im Potsdamer Schlosse als Legitimation und Paß das nachstehende offne Schreiben:
Ueberbringer – mir wohlbekannt – hat den Auftrag, sich bei Sr. Majestät meinem Allergnädigsten Bruder persönlich nach Höchstdessen Gesundheit zu erkundigen und mir Nachricht zu bringen, aus welchem Grunde mir seit 30 Stunden auf meine wiederholten eigenh. Anfragen „ob ich nicht nach Berlin kommen dürfe“ keine Antwort ward.
Potsdam 21. Maerz 1848 1 Uhr N. M.
Carl Prinz v. Preußen.
Ich fuhr nach Berlin. Vom Vereinigten Landtage her vielen Leuten von Ansehn bekannt, hatte ich für rathsam gehalten, meinen Bart abzuscheeren und einen breiten Hut mit bunter Kokarde aufzusetzen. Wegen der gehofften Audienz war ich im Frack. Am Ausgange des Bahnhofes war eine Schüssel mit einer Aufforderung zu Spenden für die Barrikadenkämpfer aufgestellt, daneben ein baumlanger Bürgerwehrmann mit der Muskete auf der Schulter. Ein Vetter von mir, mit dem ich beim Aussteigen zusammengetroffen war, zog die Börse. „Du wirst doch für die Mörder nichts geben,“ sagte ich, und auf einen warnenden Blick, den er mir zuwarf, „und Dich vor dem Kuhfuß nicht fürchten?“ Ich hatte in dem Posten schon den mir befreundeten Kammergerichtsrath Meier erkannt, der sich auf den „Kuhfuß“ zornig umwandte und dann ausrief: „I Jotte doch, Bismarck! wie sehn Sie aus! Schöne Schweinerei hier!“
Die Bürgerwache im Schlosse fragte mich, was ich dort wolle. Auf meine Antwort, ich hätte einen Brief des Prinzen Karl an den König abzugeben, sagte der Posten, mich mit mißtrauischen Blicken betrachtend, das könne nicht sein; der Prinz befinde sich eben beim Könige. Erstrer mußte also noch vor mir von Potsdam abgereist sein. Die Wache verlangte den Brief zu sehn, den ich hätte; ich zeigte ihn, da er offen und der Inhalt unverfänglich war, und man ließ mich gehn, aber nicht in's Schloß. Im Gasthof Meinhard, parterre, lag ein mir bekannter Arzt im Fenster, zu dem ich eintrat. Dort schrieb ich dem Könige, was ich ihm zu sagen beabsichtigt hatte. Ich ging mit dem Briefe zum Fürsten Boguslaw Radziwill, der freien Verkehr hatte und ihn dem Könige übergeben konnte. Es stand darin u. A., die Revolution beschränke sich auf die großen Städte, und der König sei Herr im Lande, sobald er Berlin verlasse. Der König antwortete nicht, hat mir aber später gesagt, er habe den auf schlechtem Papier schlecht geschriebenen Brief als das erste Zeichen von Sympathie, das er damals erhalten, sorgfältig aufbewahrt.
Auf meinen Gängen durch die Straßen, um die Spuren des Kampfes anzusehn, raunte ein Unbekannter mir zu: „Wissen Sie, daß Sie verfolgt werden?“ Ein andrer Unbekannter flüsterte mir unter den Linden zu: „Kommen Sie mit“; ich folgte ihm in die Kleine Mauerstraße, wo er sagte: „Reisen Sie ab, oder Sie werden verhaftet.“ „Kennen Sie mich?“ fragte ich. „Ja,“ antwortete er, „Sie sind Herr von Bismarck.“ Von welcher Seite mir die Gefahr drohn sollte, von welcher die Warnung kam, habe ich nie erfahren. Der Unbekannte verließ mich schnell. Ein Straßenjunge rief mir nach: „Kiek, det is och en Franzos,“ eine Aeußrung, an die ich durch manche spätre Ermittlung erinnert worden bin. Mein allein unrasirter langer Kinnbart, der Schlapphut und Frack hatten dem Jungen einen exotischen Eindruck gemacht. Die Straßen waren leer, kein Wagen sichtbar; zu Fuß nur einige Trupps in Blusen und mit Fahnen, deren einer in der Friedrichstraße einen lorbeerbekränzten Barrikadenhelden zu irgend welcher Ovation geleitete.
Nicht wegen der Warnung, sondern weil ich in Berlin keinen Boden für eine Thätigkeit fand, kehrte ich an demselben Tage nach Potsdam zurück und besprach mit den beiden Generalen Möllendorf und Prittwitz noch einmal die Möglichkeit eines selbständigen Handelns. „Wie sollen wir das anfangen?“ sagte Prittwitz. Ich klimperte auf dem geöffneten Klavier, neben dem ich saß, den Infanteriemarsch zum Angriff. Möllendorf fiel mir in Thränen und vor Wundschmerzen steif um den Hals und rief: „Wenn Sie uns das besorgen könnten!“ „Kann ich nicht,“ erwiderte ich; „aber wenn Sie es ohne Befehl thun, was kann Ihnen denn geschehn? Das Land wird Ihnen danken und der König schließlich auch.“ Prittwitz: „Können Sie mir Gewißheit schaffen, ob Wrangel und Hedemann mitgehn werden? wir können zur Insubordination nicht noch Zwist in die Armee bringen.“ Ich versprach das zu ermitteln, selbst nach Magdeburg zu gehn und einen Vertrauten nach Stettin zu schicken, und die beiden kommandirenden Generale zu sondiren. Von Stettin kam der Bescheid des Generals von Wrangel: „Was Prittwitz thut, thue ich auch.“ Ich selbst war in Magdeburg weniger glücklich. Ich gelangte zunächst nur an den Adjutanten des Generals von Hedemann, einen jungen Major, dem ich mich eröffnete und der mir seine Sympathie ausdrückte. Nach kurzer Zeit aber kam er zu mir in den Gasthof und bat mich, sofort abzureisen, um mir eine Unannehmlichkeit und dem alten General eine Lächerlichkeit zu ersparen; derselbe beabsichtige, mich als Hochverräther festnehmen zu lassen. Der damalige Oberpräsident von Bonin, die höchste politische Autorität der Provinz, hatte eine Proclamation erlassen des Inhalts: „In Berlin ist eine Revolution ausgebrochen; ich werde eine Stellung über den Parteien nehmen.“ Diese „Stütze des Thrones“ war später Minister und Inhaber hoher und einflußreicher Aemter. General Hedemann gehörte dem Humboldt'schen Kreise an.
Nach Schönhausen zurückgekehrt, suchte ich den Bauern begreiflich zu machen, daß der bewaffnete Zug nach Berlin nicht thunlich sei, gerieth aber dadurch in den Verdacht, in Berlin von dem revolutionären Schwindel angesteckt zu sein. Ich machte ihnen daher den Vorschlag, der angenommen wurde, daß Deputirte aus Schönhausen und andern Dörfern mit mir nach Potsdam reisen sollten, um selbst zu sehn und den General von Prittwitz, vielleicht den Prinzen von Preußen zu sprechen. Als wir am 25. den Bahnhof von Potsdam erreichten, war der König eben dort eingetroffen und von einer großen Menschenmenge in wohlwollender Stimmung empfangen worden. Ich sagte meinen bäuerlichen Begleitern: „Da ist der König, ich werde Euch ihm vorstellen, sprecht mit ihm.“ Das lehnten sie aber ängstlich ab und verzogen sich schnell in die hintersten Reihen. Ich begrüßte den König ehrfurchtsvoll, er dankte, ohne mich zu erkennen, und fuhr nach dem Schlosse. Ich folgte ihm und hörte dort die Anrede, welche er im Marmorsaale an die Offiziere des Gardecorps richtete.Bei den Worten: „Ich bin niemals freier und sichrer gewesen als unter dem Schutze meiner Bürger“ erhob sich ein Murren und Aufstoßen von Säbelscheiden, wie es ein König von Preußen in Mitten seiner Offiziere nie gehört haben wird und hoffentlich nie wieder hören wird.Mit verwundetem Gefühl kehrte ich nach Schönhausen zurück.
Die Erinnrung an das Gespräch, welches ich in Potsdam mit dem General-Lieutenant von Prittwitz gehabt hatte, veranlaßte mich, im Mai folgendes, von meinen Freunden in der Schönhauser Gegend mitunterzeichnetes Schreiben an ihn zu richten:
„Jeder, dem ein preußisches Herz in der Brust schlägt, hat gewiß gleich uns Unterzeichneten mit Entrüstung die Angriffe der Presse gelesen, welchen in den ersten Wochen nach dem 19. März die Königlichen Truppen zum Lohn dafür ausgesetzt waren, daß sie ihre Pflicht im Kampfe treu erfüllt und auf ihrem befohlnen Rückzuge ein unübertroffnes Beispiel militärischer Disciplin und Selbstverleugnung gegeben hatten. Wenn die Presse seit einiger Zeit eine schicklichere Haltung beobachtet, so liegt der Grund davon bei der dieselbe beherrschenden Partei weniger in einer ihr seither gewordnen richtigen Erkenntniß des Sachverhältnisses, als darin, daß die schnelle Bewegung der neuern Ereignisse den Eindruck der ältern in den Hintergrund drängt, und man sich das Ansehn giebt, den Truppen wegen ihrer neuesten Thaten die frühern verzeihn zu wollen. Sogar bei dem Landvolk, welches die ersten Nachrichten von den Berliner Ereignissen mit kaum zu zügelnder Erbittrung aufnahm, fangen die Entstellungen an Consistenz zu gewinnen, welche von allen Seiten und ohne irgend erheblichen Widerspruch, theils durch die Presse, theils durch die bei Gelegenheit der Wahlen das Volk bearbeitenden Emissäre verbreitet worden sind, so daß die wohlgesinnten Leute unter dem Landvolk bereits glauben, es könne doch nicht ohne allen Grund sein, daß der Berliner Straßenkampf von den Truppen, mit oder ohne Wissen und Willen des vielverleumdeten Thronerben, vorbedachter Weise herbeigeführt sei, um dem Volke die Concessionen, welche der König gemacht hatte, zu entreißen. An eine Vorbereitung auf der andern Seite, an eine systematische Bearbeitung des Volkes, will kaum einer mehr glauben. Wir fürchten, daß diese Lüge, wenigstens im Bewußtsein der untern Volksschichten, auf lange Zeit hin zu Geschichte werde, wenn ihr nicht durch ausführliche, mit Beweisen belegte Darstellungen des wahren Hergangs der Sache entgegengetreten wird, und zwar sobald als möglich, da bei dem außer aller Berechnung liegenden Lauf der Zeit heut und morgen neue Ereignisse eintreten könnten, welche die Aufmerksamkeit des Publikums durch ihre Wichtigkeit dergestalt in Anspruch nahmen, daß Erklärungen über die Vergangenheit keinen Anklang mehr fanden.
Es würde unsrer Meinung nach von dem erheblichsten Einfluß auf die politischen Ansichten der Bevölkerung sein, wenn sie über die unlautre Quelle der Berliner Bewegung einigermaßen aufgeklärt werden könnte, sowie darüber, daß der Kampf der Märzhelden zur Erreichung des vorgeschützten Zweckes, nämlich der Verteidigung der von Sr. Majestät versprochnen constitutionellen Institutionen, ein unnöthiger war. Ew. Excellenz als Befehlshaber der ruhmwürdigen Truppen, welche bei jenen Ereignissen thätig waren, sind unsres Erachtens vorzugsweise berufen und im Stande, die Wahrheit über dieselben auf überzeugende Weise ans Licht zu bringen. Die Ueberzeugung, wie wichtig dies für unser Vaterland sein und wie sehr der Ruhm der Armee dabei gewinnen würde, muß uns zur Entschuldigung dienen, wenn wir Ew. Excellenz so dringend als ehrerbietig bitten, eine, insoweit die dienstlichen Rücksichten es gestatten, genaue und mit Beweisstücken versehne Darstellung der Berliner Ereignisse vom militärischen Standpunkt so bald als möglich der Oeffentlichkeit übergeben zu lassen.“
Der General von Prittwitz ist auf diese Anregung nicht eingegangen. Erst am 18. März 1891 hat der General-Lieutenant z. D. von Meyerinck in dem Beiheft des “Militär-Wochenblatts“ eine Darstellung zu dem von mir bezeichneten Zwecke geliefert, leider so spät, daß grade die wichtigsten Zeugen, namentlich die Flügeladjutanten Edwin von Manteuffel und Graf Oriola, inzwischen verstorben waren.
Als Beitrag zu der Geschichte der Märztage seien hier Gespräche aufgezeichnet, welche ich einige Wochen danach mit Personen hatte, die mich, den sie als Vertrauensmann der Conservativen betrachteten, aufsuchten, die einen, um sich über ihr Verhalten vor und an dem 18. März rechtfertigend auszusprechen, die andern, um mir die gemachten Wahrnehmungen mitzutheilen. Der Polizeipräsident von Minutoli beklagte sich dabei, daß ihm der Vorwurf gemacht werde, er habe den Aufstand vorausgesehn und nichts zur Verhinderung desselben gethan, und bestritt, daß irgend welche auffallende Symptome zu seiner Kenntniß gekommen wären. Auf meine Entgegnung, mir sei in Genthin von Augenzeugen gesagt worden, daß während der Tage vor dem 18. März fremdländisch aussehende Männer, meistens polnisch sprechend, einige offen Waffen mit sich führend, die andern mit schweren Gepäckstücken, in der Richtung nach Berlin passirt wären, erzählte Minutoli, der Minister von Bodelschwingh habe ihn Mitte März kommen lassen und Besorgniß über die herrschende Gährung geäußert; darauf habe er denselben in eine Versammlung vor den Zelten geführt. Nachdem Bodelschwingh die dort gehaltnen Reden angehört, habe er gesagt: „Die Leute sprechen ja ganz verständig, ich danke Ihnen, Sie haben mich vor einer Thorheit bewahrt.“ Bedenklich für die Beurtheilung Minutoli's war seine Popularität in den nächsten Tagen nach dem Straßenkampfe. Sie war für einen Polizeipräsidenten als Ergebniß eines Aufruhrs unnatürlich.
Auch der General von Prittwitz, der die Truppen um das Schloß befehligt hatte, suchte mich auf und erzählte mir, mit ihrem Abzuge sei es so zugegangen: Nachdem ihm die Proclamation „An meine lieben Berliner“ bekannt geworden, habe er das Gefecht abgebrochen, aber den Schloßplatz, das Zeughaus und die einmündenden Straßen zum Schutze des Schlosses besetzt gehalten. Da sei Bodelschwingh an ihn mit der Fordrung herangetreten: „Der Schloßplatz muß geräumt werden.“ „Das ist unmöglich,“ habe er geantwortet, „damit gebe ich den König preis.“ Darauf Bodelschwingh: „Der König hat in seiner Proclamation befohlen, daß alle öffentlichen Plätzegeräumt werden sollen; ist der Schloßplatz ein öffentlicher Platz oder nicht? Noch bin ich Minister, und ich habe es wohl auswendig gelernt, was ich als solcher zu thun habe. Ich fordre Sie auf, den Schloßplatz zu räumen.“
„Was,“ so schloß Prittwitz seine Mittheilung, „was hatte ich darauf anders thun sollen, als abmarschiren?“ „Ich würde,“ antwortete ich, „es für das Zweckmäßigste gehalten haben, einem Unteroffizier zu befehlen: ›Nehmen Sie diesen Civlisten in Verwahrung.‹“ Prittwitz erwiderte: „Wenn man vom Rathhause kommt, ist man immer klüger. Sie urtheilen als Politiker, ich handelte ausschließlich als Soldat auf Weisung des auf eine unterschriebene allerhöchste Proclamation sich stützenden dirigirenden Ministers.“ – Von andrer Seite habe ich gehört, Prittwitz habe diese seine letzte im Freien stattfindende Unterredung mit Bodelschwingh damit abgebrochen, daß er blauroth vor Zorn den Degen in die Scheide gestoßen und die Auffordrung gemurmelt habe, die Götz von Berlichingen dem Reichscommissar durch das Fenster zuruft. Dann habe er sein Pferd links gedreht und sei durch die Schloßfreiheit schweigend und im Schritt abgeritten. Durch einen vom Schlosse gesendeten Offizier nach dem Verbleib der Truppen gefragt, habe er bissig geantwortet: „Die sind mir durch die Finger gegangen, wo Alle mitreden.“
Von Offizieren aus der nächsten Umgebung Sr. Majestät habe ich Folgendes gehört. Sie suchten den König auf, der momentan nicht zu finden war, weil er aus natürlichen Gründen sich zurückgezogen hatte. Als er wieder zum Vorschein kam und gefragt wurde: „Haben Ew. Majestät befohlen, daß die Truppen abmarschiren?“ erwiderte der König: „Nein.“ – „Sie sind aber schon auf dem Abmarsch,“ sagte der Adjutant und führte den König an ein Fenster. Der Schloßplatz war schwarz von Civilisten, hinter denen noch die letzten Bajonette der abziehenden Soldaten zu sehn waren. „Das habe ich nicht befohlen, das kann nicht sein,“ rief der König aus und hatte den Ausdruck der Bestürzung und Entrüstung.
Ueber den Fürsten Lichnowski wurde mir erzählt, daß er abwechselnd oben im Schlosse einschüchternde Nachrichten über Schwäche der Truppen, Mangel an Lebensmitteln und Munition verbreitet und unten auf dem Platze den Aufständischen deutsch und polnisch zugeredet habe auszuhalten, oben habe man den Muth verloren.
In der kurzen Session des Zweiten Vereinigten Landtags sagte ich am 2. April:
„Ich bin einer der wenigen, welche gegen die Adresse stimmen werden, und ich habe um das Wort nur deshalb gebeten, um diese Abstimmung zu motiviren und Ihnen zu erklären, daß ich die Adresse, insoweit sie ein Programm der Zukunft ist, ohne Weitres acceptire, aber aus dem alleinigen Grunde, weil ich mir nicht anders helfen kann.
Nicht freiwillig, sondern durch den Drang der Umstände getrieben, thue ich es; denn ich habe meine Ansicht seit den sechs Monaten nicht gewechselt; ich glaube, daß dies Ministerium das einzige ist, welches uns aus der gegenwärtigen Lage einem geordneten und gesetzmäßigen Zustande zuführen kann, und aus diesem Grunde werde ich demselben meine geringe Unterstützung überall widmen, wo es mir möglich ist. Was mich aber veranlaßt, gegen die Adresse zu stimmen, sind die Aeußerungen von Freude und Dank für das, was in den letzten Tagen geschehn ist. Die Vergangenheit ist begraben, und ich bedaure es schmerzlicher als Viele von Ihnen, daß keine menschliche Macht im Stande ist, sie wieder zu erwecken, nachdem die Krone selbst die Erde auf ihren Sarg geworfen hat. Aber wenn ich dies, durch die Gewalt der Umstände gezwungen, acceptire, so kann ich doch nicht aus meiner Wirksamkeit auf dem Vereinigten Landtage mit der Lüge scheiden, daß ich für das danken und mich freuen soll über das, was ich mindestens für einen irrthümlichen Weg halten muß. Wenn es wirklich gelingt, auf dem neuen Wege, der jetzt eingeschlagen ist, ein einiges deutsches Vaterland, einen glücklichen oder auch nur gesetzmäßig geordneten Zustand zu erlangen, dann wird der Augenblick gekommen sein, wo ich dem Urheber der neuen Ordnung der Dinge meinen Dank aussprechen kann, jetzt aber ist es mir nicht möglich.“
Ich wollte mehr sagen, war aber durch innre Bewegung in die Unmöglichkeit versetzt, weiter zu sprechen, und verfiel in einen Weinkrampf, der mich zwang, die Tribüne zu verlassen.
Wenige Tage zuvor hatte mir ein Angriff einer Magdeburger Zeitung Anlaß gegeben, an die Redaction das nachstehende Schreiben zu richten, in welchem ich eine der Errungenschaften, das stürmisch geforderte und durch die Aufhebung der Censur gewahrte „Recht der freien Meinungsäußerung“, auch für mich in Anspruch nahm, nicht ahnend, daß mir dasselbe 42 Jahre später würde bestritten werden.
„Eure Wohlgeboren
haben in die heutige Nummer Ihrer Zeitung einen ›Aus der Altmark‹ datirten Artikel aufgenommen, der einzelne Persönlichkeiten verdächtigt, indirect auch mich, und ichstelle daher Ihrem Gerechtigkeitsgefühl anheim, ob Sie nachstehende Erwiderung aufnehmen wollen. Ich bin zwar nicht der in jenem Artikel bezeichnete Herr, welcher von Potsdam nach Stendal gekommen sein soll, aber ich habe ebenfalls in der vorigen Woche den mir benachbarten Gemeinden erklärt, daß ich den König in Berlin nicht für frei hielte, und dieselben zur Absendung einer Deputation an die geeignete Stelle aufgefordert, ohne daß ich mir deshalb die selbstsüchtigen Motive, welche Ihr Correspondent anführt, unterschieben lassen möchte. Es ist 1) sehr erklärlich, daß jemand, dem alle mit der Person des Königs nach dem Abzug der Truppen vorgegangen Ereignisse bekannt waren, die Meinung fassen konnte, der König sei nicht Herr, zu thun und zu lassen, was er wollte: 2) halte ich jeden Bürger eines freien Staates für berechtigt, seine Meinung gegen seine Mitbürger selbst dann zu äußern, wenn sie der augenblicklichen öffentlichen Meinung widerspricht: ja nach den neusten Vorgängen möchte es schwer sein, jemand das Recht zu bestreiten, seine politischen Ansichten durch Volksaufregung zu unterstützen; 3) wenn alle Handlungen Sr. Majestät in den letzten 14 Tagen durchaus freiwillig gewesen sind, was weder Ihr Correspondent noch ich mit Sicherheit wissen können, was hatten dann die Berliner erkämpft? Dann wäre der Kampf am 18. und 19. mindestens ein überflüssiger und zweckloser gewesen und alles Blutvergießen ohne Veranlassung und ohne Erfolg; 4) glaube ich die Gesinnung der großen Mehrzahl der Ritterschaft dahin aussprechen zu können, daß in einer Zeit, wo es sich um das sociale und politische Fortbestehn Preußens handelt, wo Deutschland von Spaltungen in mehr als einer Richtung bedroht ist, wir weder Zeit noch Neigung haben, unsre Kräfte an reactionäre Versuche, oder an Vertheidigung der unbedeutenden uns bisher verbliebenen gutsherrlichen Rechte zu vergeuden, sondern gern bereit sind, diese auf Würdigere zu übertragen, indem wir dieses als untergeordnete Frage, die Herstellung rechtlicher Ordnung in Deutschland, die Erhaltung der Ehre und Unverletzlichkeit unsres Vaterlandes aber als die für jetzt alleinige Aufgabe eines jeden betrachten, dessen Blick auf unsre politische Lage nicht durch Parteiansichten getrübt ist.
Gegen die Veröffentlichung meines Namens habe ich, falls Sie Vorstehendes aufnehmen wollen, nichts einzuwenden. Genehmigen Sie die Versicherung der größten Hochachtung, mit der ich bin
Schönhausen bei Jerichow, 30. März 1848
Eurer WohlgeborenergebensterBismarck.“
Ich bemerke dazu, daß ich mich von Jugend auf ohne „v“ unterschrieben und meine heutige Unterzeichnung v. B. erst aus Widerspruch gegen die Anträge auf Abschaffung des Adels 1848 angenommen habe.
Der nachstehende Artikel, dessen Concept in meiner Handschrift sich erhalten hat, ist, wie der Inhalt ergiebt, in der Zeit zwischen dem Zweiten Vereinigten Landtage und den Wahlen zur Nationalversammlung geschrieben. In welcher Zeitung er erschienen ist, hat sich nicht ermitteln lassen.
„Aus der Altmark.