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Wenn sich der scharfsinnige Kosmopolit Ilija Trojanow seinen Gedankenspielen über die Neugier widmet, dann ist am Ende eines klar: Ich will die Welt erfahren und meine Neugier an der Neugier ist geweckt. In der Tradition der alten Rhetoriker erschafft Trojanow die Figuren Herr und Frau Gier, anhand derer er fallbeispielartig die Neugier der Leser*innen herauskitzelt. Zudem lässt er uns an seinem großen Wissensschatz teilhaben, zieht Wörterbücher aus dem 18. Jahrhundert heran, um anhand etymologischer Herleitungen aufschlussreiche Erkenntnisse abzuleiten. Trojanows große Kunst dabei ist, Wissen unterhaltend zu vermitteln und die Leserschaft gierig auf die Neugier werden zu lassen. "Wenn ich Interesse habe an dem, was existiert, habe ich Interesse an dem, was sein könnte. Vorwitzig kann ich mir mehr Schönheit und Gerechtigkeit, mehr Erhaltung und Freiheit herbeisehnen. Mir die bessere Welt in allen geläufigen sowie selbst gemischten Farben ausmalen. Neugier ist das Salz des Tagtraums, ein Vektor, der in die Zukunft weist, in Richtung Utopie …"
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Seitenzahl: 33
Ilija Trojanow
Gedankenspiele über die
Neugier
Literaturverlag Droschl
Für Dževad, Thomas und Vidya, die drei Neugierigen Weisen.
Eines Tages wird Nasreddin Hodscha von drei Priestern aufgesucht. Sie haben den weiten Weg aus Europa auf sich genommen, in die unerschöpflichen Weiten des Orients. Ihnen ist zugetragen worden, der Hodscha sei ein weiser Mann (ein weiser Narr, auch diese Meinung haben sie gehört). Sie wollen ihm einige Fragen stellen, die sie seit längerem umtreiben.
»Verehrter Hodscha, wo befindet sich der Mittelpunkt der Erde?«, möchte der erste Priester wissen.
Was für eine einfache Frage, denkt sich der Hodscha und antwortet:
»Der Mittelpunkt der Erde ist genau unter dem linken Vorderhuf meines Esels.«
Die Priester blicken auf den linken Vorderhuf des Esels.
Dort soll der Mittelpunkt der Erde sein?
Wie kann der Hodscha das wissen?
»Hodscha, woher weißt du das? Kannst du das beweisen?«
»Beweisen?«, der Hodscha ist empört. »Warum soll ich’s beweisen? Ich bin mir dessen sicher. Aber wenn ihr Beweise sehen wollt, nur zu. Ihr könnt es jeder Zeit nachmessen.«
Der zweite Priester ist nun an der Reihe.
»Hodscha, wie viele Sterne leuchten am nächtlichen Firmament?«
Was für eine einfache Frage, denkt sich der Hodscha und antwortet: »Es sind genauso viele Sterne am Himmel wie Haare in der Mähne meines Esels.«
»Hodscha, woher willst du das wissen?«
»Zählt nur nach, wenn ihr mir nicht glaubt«, erwidert der Hodscha.
»Aber Hodscha, das ist unmöglich!«
»Warum denn? Die Haare in der Mähne meines Esels zu zählen ist einfacher als die Sterne am Himmel.«
Der dritte Priester ist an der Reihe.
»Hodscha, wie viele Haare hat der Schwanz deines Esels?«
»Ach, das weiß ich ganz genau!«, lacht der Hodscha, »so viele wie dein Bart.«
Auch der dritte Priester ist skeptisch.
»Hodscha, kannst du das beweisen?«
»Fangen wir gleich an damit, wenn ihr wollt. Du ziehst ein Haar aus dem Schwanz meines Esels und ich ziehe ein Haar aus deinem Bart.
Das tun wir so lange, bis alle Schwanzhaare verschwunden sind. Wenn du dann noch ein Haar übrighaben solltest, habe ich mich vertan.«
◊◊◊
Stellen Sie sich vor, Ihre neuen Nachbarn heißen Gier, Herr und Frau Gier. Sie sind gerade in die Wohnung nebenan eingezogen, in die Wohnung unter oder über Ihnen. Die neuen Nachbarn verhalten sich unauffällig, zunächst. Ihr Kleinwagen, weiß und ohne Aufkleber, ist ordentlich geparkt. Ebenso ihr schwarzer SUV. Der Name auf dem Briefkasten ist einfach gehalten, in Großbuchstaben, keine Farbe, kein Schnickschnack. Bald nach dem Einzug stellen sich Herr und Frau Gier vor, im Treppenhaus, am späteren Nachmittag, mit Einkaufstüten in allen Händen. Der erste Eindruck, der bekanntlich nie täuscht, ist durchaus positiv, ein aufgeschlossenes, zugängliches Paar.
Wie es die Tradition gebietet, bringen Sie am Wochenende ein Brett mit Brot und Salz vorbei. Sie klingeln, stehen etwas verlegen vor der Tür, bis diese aufgeht und sie begrüßt werden von zwei freundlichen Gesichtern. Sie kommen sofort und geradezu mühelos ins Gespräch, weil die neuen Nachbarn Interesse zeigen, an Ihnen, an Ihrer Arbeit, an allem.
– Ach, Sie sind Arzt, sagt Frau Gier, und bohrt gleich nach.
– Oh, Sie sind Architekt, sagt Herr Gier, und vertieft sogleich das Gespräch.
– Wie schön, Sie spielen auch Tennis. Auf welchem Belag am liebsten?
– Bogenschießen? Wie faszinierend. Recurve oder Instinkt?
Nicht aufdringlich. Charmant geradezu.
Nach dem Austausch einiger Lebensdaten, Restauranttipps und Hinweisen auf die Sondermüllentsorgung verabschieden Sie sich – der Höflichkeit wurde genüge getan.