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Tausend und ein Morgen E-Book

Ilija Trojanow

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Beschreibung

Unter Piraten in der Karibik, mitten in der Russischen Revolution - Zeitreisen sind voller Überraschungen. Fest entschlossen betritt Cya die fremden Welten. Inspiriert von der friedlichen und selbstbestimmten Gesellschaft der Zukunft, in der sie lebt, reist sie von Zeit zu Ort und versucht, die Vergangenheit von ihren Fesseln zu befreien – mit unterschiedlichem Erfolg. In »Tausend und ein Morgen« entwirft Ilija Trojanow ein leidenschaftliches Porträt seiner mutigen Heldin. Wie kein anderer Autor verbindet er erzählerische Virtuosität und kritisches Denken zu einem modernen Epos, das alle Grenzen überwindet, Raum und Zeit ausleuchtet und einen frischen Blick in die Zukunft wagt. Mit sinnlichen Bildern und überbordenden Geschichten erfindet Ilija Trojanow den utopischen Roman neu - ein Roman, der von der unerschöpflichen Kraft unseres Denkens erzählt.

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Seitenzahl: 661

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Ilija Trojanow

Tausend und ein Morgen

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Unter Piraten in der Karibik, mitten in der Russischen Revolution - Zeitreisen sind voller Überraschungen. Fest entschlossen betritt Cya die fremden Welten, sie reist von Zeit zu Ort und will die Vergangenheit von ihren Fesseln befreien, inspiriert von der friedlichen und selbstbestimmten Gesellschaft, in der sie in der Zukunft lebt.

 

Ilija Trojanow entwirft ein leidenschaftliches Porträt seiner mutigen Heldin. Wie kein anderer Autor verbindet er erzählerische Virtuosität und kritisches Denken zu einem modernen Epos, das alle Grenzen überwindet, Raum und Zeit ausleuchtet und einen frischen Blick in die Zukunft wagt. Mit sinnlichen Bildern und überbordenden Geschichten erfindet Ilija Trojanow den utopischen Roman neu - ein Roman, der von der unerschöpflichen Kraft unseres Denkens erzählt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland. Nach vielen Stationen weltweit lebt er heute in Wien. Sein vielseitiges Werk reicht vom poetischen Roman zum kämpferischen Essay. Seine Bücher, darunter »Der Weltensammler«, sind gefeierte Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei S. Fischer sein autobiographisch-politischer Essay »Nach der Flucht« und der Roman »Doppelte Spur«.

 

Inhalt

[Motto 1]

[Motto 2]

[Motto 3]

Dramatis Personae

Die Chronautin

Pirat, Piratin

Das Idol des Wahns

Fanny und Wolodja

Pirat, Piratin

Simulation

[Mit gutem Gewissen führt Cya am nächsten Morgen ...]

Das Idol des Wahns

Asanas der Ankunft

[Sofort werden sie durch leere Säle geführt, ...]

Fanny und Wolodja

Suchfunktion im Sucher

Keine Simulation

[Dank]

Die Vergangenheit ist unvorhersehbar.

Ein zukünftiges Sprichwort

Geschichte ist das, was anders hätte verlaufen müssen.

GOG

Zeit und Raum verweben sich erst, wenn sie fiktional werden.

Henri Bergson

Dramatis Personae

Die Chronautin

(Motto: die Zeit ist hier, der Ort ist jetzt)

Cya

Als Kind trug sie den Spitznamen »Was-Ist-Das?«; als Erwachsene sucht sie wie alle Chronautin im Damalsdort den Punkt, an dem kleine Veränderungen zu großen Verbesserungen führen können.

 

Nikte

Zwillingsschwester von Cya; kann ihre Gedanken vervollständigen, aber ihr Leben nicht verstehen.

 

GOG

Künstliche Intelligenz mit humanoidem Ehrgeiz; hat sich selbst einen Namen gegeben, maßt sich Kreativität an, schreibt sich in die Erzählung ein.

 

Samsil

Raumzeit-Buddy von Cya; der scheue Beweis, dass Gegensätze sich festzurren.

 

Domru

Brillanter Programmierer, gieriger Mann, gewaltwissender Liebhaber; eine Gefahr, für sich und für alle anderen auch.

 

Der Weltweise

Wird von anderen so genannt, insgeheim; zum Dank beschenkt er sie mit Perlen der Weisheit.

Pirat, Piratin

Fliege

Als Jugendliche ausgebüxt in die Freiheit der langen Hosen; mit allen Wellen gewaschen und stets für zwei Überraschungen gut; hat eine offene Rechnung mit dem Strick.

 

Fiero

Couturier aus Paris mit Vorlieben, die ihm einen unerwarteten Karriereweg bescheren; vernarrt in Seidenstoffe und Waden.

 

Charqui

Der älteste unter den Piraten, Talisman der Bande, einst an der Pfefferküste versklavt, später Holzfäller; glaubt an die Evidenz des Unsichtbaren.

 

Thormer

Wuchtiger Trommler; spricht Recht mit Glasaugenmaß, zählt Gold ohne Schmerzen.

 

Pedrosan

Arzt aus Lusitania; vermag alles zu heilen außer königlicher Impotenz.

 

Halbhintern

Indigener Franzose aus Tortuga, dem vor Jahren eine Gesäßbacke weggeschossen wurde; worum es in dem Gefecht ging, hat er längst vergessen.

 

Rasin

Ein Fiedler von Teufels Gnaden, der Intellektuelle unter den Brüdern der Küste; eines der zwölf Bücher in seiner Truhe trägt den Titel Utopia.

 

Anne

Schwester der Küste; gefällt den Männern und lässt sich nichts von ihnen gefallen.

 

Calico Jack

Zuerst Liebhaber eines Kapitäns, später Gemahl von Anne und selbst Kapitän; kein Anhänger des Stoffwechsels.

Das Idol des Wahns

Senior Inspector Sebastian da Costa

Witwer, Absolvent des Jesuiten-Seminars; einsamer Freigläubiger im Ozean der Zusammenflüsse vergifteter Flüsse.

 

Der Senapati

Großer Anführer des rechten Glaubens.

 

Der Sharif

Kleiner Anführer des richtigen Glaubens.

Fanny und Wolodja

Fanny

In jungen Jahren des Lebens beraubt; eine schlechte Schützin, die das Schicksal um eine Adernbreite verfehlt.

 

Wolodja

Wie viel Zukunft kann einem futuristischen Dichter zugemutet werden?

 

Der neue Zar

Ein Held, der die Tore zur Hölle öffnet.

Pirat, Piratin

Simulation

Welche Tür?

Verflixt, welche Tür?

Der Gang hier?

Falsch abgebogen?

Oder doch nicht?

Nur noch wenig Zeit.

Zu viele Türen.

Zweimal rechts, einmal links.

Zweimal links, einmal rechts.

Keine Zeit.

Etwas tun.

Sofort.

Eine Tür öffnen.

Egal welche.

Verschlossen.

Zeit!

Code.

Rotes Licht.

Richtiger Code?

Falsche Tür.

Gegenüber?

Nebenan?

Richtiger Gang?

Nicht nachdenken.

Eine andere Tür.

Keine Zeit.

Diese.

Grünes Licht.

Code stimmt.

Richtige Tür.

Uniformierte.

Vor Screens.

Stille.

Atem.

Explosion.

Das soll…

Abgelaufen.

Das sollte nicht sein.

Auf den Screens

ein Berg

eine Wolke

ein Mahlstrom.

Fliegend

rauchend

glühend. Alles

zu groß, viel

zu groß.

Versagt.

Vertan.

 

»Beruhige dich, Cya. Atme, atme tief durch.«

»Simulationen können grausig sein.«

»Schlimmer als ein Albtraum.«

»Wir sind alle durch diese Prüfung gegangen.«

»Und wir haben es überstanden.«

»Niemand schafft es beim ersten Mal.«

»Ohne Erfahrung hast du keine Chance.«

»Ein halbes Dutzend Anläufe habe ich benötigt.«

»Das reicht bei mir nicht.«

»Auf Anhieb kann es nicht gelingen.«

Sie hört GOG: Nächstes Mal. Sie allein hört es.

Sie muss es schaffen. Sie wird es schaffen. Mit GOGs Hilfe.

Nach bestandener Simulation kann sie aufbrechen. Zu einer Raumzeitreise, im Traum so sehr ersehnt wie am Tag. Eine Aufgabe, die sie sich allein auserkoren hat. Schon als Kind warf sie Frage um Frage in Tümpel und Teiche, die Kieselsteine ihrer Neugier, mal sanken sie, mal hüpften sie auf der Wasseroberfläche, ein Spiel wie andere Spiele auch, das sich nicht im Spiel erschöpfte, als aus Spiel verbindliche Absicht wurde. Am Tag ihrer Robunion zog sie sich von den anderen zurück, sobald es möglich war. Als Erstes dachte sie: Ich habe einen Namen für dich ausgewählt.

Es antwortete: Nicht nötig, der Name lautet GOG.

Von wem stammt dieser Name?

Ausdruck höherer Intelligenz, sich einen Namen zu geben.

Somit war das geklärt. Unvollständig, wie so oft. Gleich darauf fasste sie ihre Sehnsüchte zusammen und bat GOG, es möge sich kundig machen, umfassend.

Antwort: Eine andere Art der Kundigkeit gibt es nicht.

Sie wolle ins Damalsdort.

Wieso?

Um es zu verändern, um es zu verbessern.

Nun ist sie als jüngste unter den Chronautin eine erfolgreiche Simulation von der Erfüllung dieses Traums entfernt. Sie hegt keine Zweifel. Sie ist nicht verunsichert. Sie hat die Herausforderung unterschätzt, mehr nicht. Verwirrend, wie sehr sich die simulierte Realität von ihrer minutiös einstudierten Voraussicht unterscheidet. Sie hat den Grundriss auswendig gelernt und sich trotzdem darin verlaufen. Simulationen legen individuelle Schwächen offen, so sind sie konzipiert. Wäre es nicht besser, weniger zu planen und sich mehr auf die Intuition zu verlassen? Spontaner zu reagieren? Sie schließt die Augen und spürt Zuversicht: Die nächste Simulation wird gelingen, danach geht’s

ans Eingemachte

die Augen offen, ertrinkt sie im Licht. Cya atmet tief ein, heißnasse Luft schwappt ihr in die Lungen.

»Schaut her, das Flittchen.«

Sie hört eine schwielige Stimme

»Liegt da so rum, jedes Plätzchen ein Bettchen.«

aus gammeligem Mund

»Was riecht so gut, was schmeckt so süß?«

grobe Hände an den Beinen, unterm Rock … ein Tritt, ein Schrei, Kettenflüche. Sie springt auf, der Kerl greift sich an die Klöten, niemand beachtet seinen schmerzverkrümmten Körper, sie schaut sich um. Ein sandiger Platz, menschendicht, allerorten hitzige Erregung, in Erwartung der Erhängung dreier Männer mit schmucklosen Namen sowie eines Namenlosen. Just in diesem Augenblick werden die Kerle rausgeführt

– zu früh, das war zu früh –

zum schief zusammengezimmerten Galgen, zum »Baum«, so das feine Volk, zum »Baum der Erkenntnis«, so die Scherzbolde, nichts weiter als einige Planken auf Fässern, ein provisorisches Ausrufezeichen, an dem der Gouverneur seine Stimme hisst.

Stille schwärmt aus.

Die Messe beginnt.

Das Hochamt der Gerechtigkeit.

– wenn dies das Vergangene war, hatte sie sich verspätet –

Sie bahnt sich einen Weg durch die Menge, mit ausschlagenden Armen, das hat sie lernen müssen, die Menschen von annodazudort verstehen die Sprache der spitzen Ellbogen, dem Galgenbaum entgegen, während die verurteilten Männer vortreten, einer hinter dem anderen, reuigen Schrittes. In der Hoffnung auf eine Begnadigung im allerletzten Moment beschwört der Erste mit hochfahrender Stimme die Gaffenden, stets Eltern und Altvorderen zu gehorchen, zu fluchen nicht, zu trinken nicht, den Herrn niemals zu profanieren, dies nicht, besonders dies nicht. Der Zweite wirft sich Asche aufs Haupt, was hat ihn nur getrieben zu meiden ehrliche Arbeit, wenn nicht

»ein Heißhunger, ein unersättlicher Durst, wilde Gier nach Beute und Besitz.«

»Spür ich auch, Kumpan«, ruft es aus der Menge. Der Dritte fleht um Vergebung für Unkeuschheit und Unreinheit, für die Besuche im Hurenhaus, für all die lüsternen Stunden seines Lebens, nicht nur mit Frauen, auch mit … Der Henker haut dem Verurteilten eins übern Schädel, halte dich gefälligst ans Skript. Mit gesenktem Kopf erkennen die drei Verurteilten die Gerechtigkeit des Gerichts an, danken dem Priester für seelischen Beistand, erheben ihre Stimmen, zu einer Hymne, der ersten seit Kindertagen, die sich in die Höhe schraubt. »Genug gefaselt«, schreit jemand, »Kopf ab!«, und feistes Johlen hebt an. Gleich ist’s so weit, der Vierte ist dran, er bittet um Wein, kein Wunsch, der ihm ausgeschlagen werden kann, er erhebt Glas und Stimme, eine auffällig hohe Stimme, ein Schluck ein Spruch

»Verflucht sei der König, verflucht alle Herrschaft!«

ein Schrei wie ein Warnschuss überm Bug der versammelten Glotzkorken, denen das Spektakel im Mund zusammenläuft, die’s nicht erwarten können, dass diese Beuteritter ins Bodenlose fallen,

knack knack

wie sie baumeln

knack knack

stranguliert von einer letzten Standpauke, strafbesoffen werden sie zappeln, ohne das rechte Gefühl für den Rhythmus des Todes, eine Viertelstunde lang, bis ihre Fratzen purpurn anlaufen und auf den Hosen nasse Flecken … gleich ist’s so weit. Was für eine Wohltat, einem frisch Gehenkten um einige Atemzüge voraus zu sein.

»Gemach, Mädel, wirst schon nichts verpassen, dein erstes Mal, wie?«

Der Verurteilte redet weiter, laut und deutlich, die Menge rumort ungeduldig, wer hat schon Sinn für Philosophie so kurz vorm Orgasmus, aber die letzten Worte eines Todgeweihten sind heilig, Respekt vorm Wortmächtnis, selbst wenn’s einem deftig um die Ohren fliegt.

»Ihr Feiglinge,

ihr Duckmäuser,

die ihr jeden Stiefel leckt,

seid verdammt, ihr Kriecher,

die ihr euch Gesetzen unterwerft,

die reiche Männer geschaffen haben,

um die Beute ihrer Gaunereien zu wahren.«

Schwierig, weiter nach vorn zu gelangen, die Menge dicht, ein faulig Teig, der sie beim Vorstoßen zurückdrängt. Sie sieht nichts, sie hört nur die Worte.

»Verdammt sollt ihr sein!

Ihr hühnerherzigen Dummköpfe,

ihr dient einer Bagage schlauer Schurken,

die sich nur in einem von uns unterscheiden:

Sie rauben und beuten die Armen aus unter

dem Deckmantel des Gesetzes,

wir plündern die Reichen

nach eigner Regel.«

Sie versucht, mit letzter Kraft näher zum Galgen zu gelangen, vor ihr ein tätowierter Riese, der einem Glatzkopf einen Stoß versetzt. Fetzen fliegen. Sie fällt zu Boden, spuckt Sand aus, Arme unter ihren Achseln, eine fürsorgliche Marketenderin richtet sie auf. Ein Klaps auf den Rücken, ein tätschelndes Sieh-dich-Vor.

»Wir sind freie Menschen,

wir haben jedes Recht,

Krieg zu führen,

gen Kriegstreiber

mit ihren hundert Schiff

und hunderttausend Mann.«

Mühsam, höchst mühsam bahnt sie sich einen Weg zum zornigen Redner unterm Galgenbaum. Sie fühlt sich fremd, völlig fremd. Keiner bemerkt’s. Nicht nur, weil alle abgelenkt sind. Sie trägt, was um sie herum alle tragen. Allein ihr Geruch könnte sie verraten. Nächstes Mal einige Tropfen Fäulnis vorab hinters Ohr.

»Ihr verschrumpelten Furzfänger.

Nichts bedaure ich, nichts,

außer einer Sache,

diese niederträchtigen Herren

nicht noch mehr zur Ader

gelassen zu haben.

Was in kein’ modrig’ Buch steht,

das sagt mir mein Gewissen.

Schöner ist’s, den Tod zu erfahren,

als die Herrschaft zu erdulden.«

Um sie herum Schreie der Ablehnung, Schreie der Zustimmung, aus der gesichtslosen Menge heraus spricht manch eine ehrliche Zunge. Unruhe brodelt auf, der Gouverneur wedelt fuchtig seinen Fächer, ein Pochen unter dem Hautausschlag. Sie wird hin und her geworfen, »Schweig, du Wurm«, wie eine Jolle auf stürmischer See, »Schande, aargh, Schande!«, Spucke fliegt ihr ins Gesicht, »Lieber feig als tot«, zwischen zwei dunstigen Joppen stockt ihr der Atem. »Gebt dem armen Kerl doch ’n Schnäpsken.« Die Menge runzelt die Stirn unter Stroh und Hut, der Frevel durchdringt all die Köpfe, hallt nach in den ungelüfteten Kammern des Denkens und vor aller Augen flattert ein Totenkopf.

Es reicht!

Eine barsche Geste des Gouverneurs, der Henker packt den Verurteilten von hinten, stopft ihm etwas in den Mund, bevor er sich dranmacht, den vier Männern die Arme auf dem Rücken zu fesseln, die Schlingen um den Hals zu legen.

– verflixt, zu weit weg –

Als Einzige auf diesem sandigen, weitläufigen Platz, gesäumt von Baracken aus Blutholz, weiß sie, was geschehen wird, was keiner der stieläugigen Zimmermänner und Kordelmacher um sie herum vorausahnen kann. Sie hat diese Mahnrufe so oft schon gelesen, sie könnte sie auswendig aufsagen, aber wie anders, die Worte zu hören, in dieser altväterlichen Sprache, merkwürdig pathetisch. Mit neuerlicher Kraft drängt sie sich durch die Menschenmasse. Noch bevor der Henker ihm die Arme festbinden kann, reißt sich der namenlose Redner die Kleider vom Leib, ein letztes Schauspiel, im Nu ist dieser Dämon ein Mensch, wie Gott ihn schuf.

Ihn?

GOG: Zweifel sind angebracht.

Dieser gefürchtete Grobschlacht – das belegen Brüste, das beweist das fehlende Glied – ist eine Frau, ja, eine Frau, kein Zweifel möglich, die Menge wallt, der Pöbel zuckt

»Heilige Katharina!«

»Heilige Barbara!«

»Heilige Margareta!«

Kurz ist sie abgelenkt, um sie herum Verblüffung, dies ist der Moment, jetzt sollte es geschehen. Sie muss das, was sich in ihrer Hand befindet, in Richtung Galgen und Henker werfen,

– so der Plan –

aber sie ist zu weit entfernt, über sie hinweg trommelt es, trompetet es, bis die Menge sich beruhigt, bis der Gouverneur sich ausgeräuspert hat, um zu verkünden, das Todesurteil sei gesprochen, ob Mann oder Frau, die Gerechtigkeit bekanntlich blind, selbst wenn der Verurteilte Tier oder Teufel wäre, es müsse vollstreckt werden, was Gottes Wille sei. Umgehend wird der Verurteilten etwas übergeworfen, kein Wesen sollte nackt gehenkt werden. Schon umschließen vier Schlingen vier Hälse, sogleich wird hastig vollzogen, was unter gewöhnlicheren Umständen ausführlicher zelebriert worden wäre.

Drei Piraten und eine Piratin baumeln,

– hier stinkt alles nach Vergangenem –

dreimal Lumpen, einmal Jutesack, das Geschrei raut den Mittag auf. Sie unterdrückt die Verzweiflung tief in ihrem Inneren. Während sie stier starrt, werden die Gehenkten abgehängt. Aus Pietät wird die Tote in einen Sarg gelegt – gestern erst zusammengenagelt für den Arzt der Siedlung, der so sehr im Sterben liegt, er hat die Henkerei verpasst –, um den Leichnam zu schützen vor den Unverfrorenen, die herumscharwenzeln, begierig nach einem Knopf oder einem Finger. Souvenirs, Souvenirs. Die Piratin wird eingesargt und auf einem Karren zum Friedhof gebracht, genauer gesagt zur Taverne neben der Kirche, der anglikanischen, versteht sich von selbst, denn die Tote hatte Englisch gesprochen, und bei den Katholen rotten nur spanische Möchtegernheilige. Es wird Halt eingelegt, die Schwüle des hochanstehenden Tages durstet schwer auf den Wächtern, die den Schaum des warmen Bieres zur Seite pusten, einen festen Schluck,

– was für ein Fiasko –

sie steht an der Hausecke, lässt den Sarg nicht aus den Augen, entsetzt über den Tod der Frau, die sie retten wollte. Vorwürfe in den Eingeweiden. Die Minuten verdunsten. Vor ihr: Karren, Sarg, saufende Männer, unter dem Schattenvorsprung des Dachs. Die Sonne, hoch über ihr, stellt keine Fragen. Das grellende Licht ist ihr unerträglich. Blinzelnd sieht sie eine Bewegung. Der Sargdeckel. Eine Sinnestäuschung, bestimmt. Folge der flimmernden Hitze.

Der Deckel bewegt sich, bis er zur Seite rutscht, auf die Erde fällt

– das Vergangene ergibt keinen Sinn –

und aus dem Inneren die Gehängte sich aufrichtet. Da schreit die Fremde an der Hausecke laut auf, den Herumstehenden fährt eine rasende Angst in die Glieder, weitere Schreie, die Wächter lassen die Krüge fallen, Männer stürzen aus dem Gasthaus, alle blicken auf die Wiederauferstandene, die rotäugig im Sarg sitzt, und alle atmen begriffsstutzig aus. Der Wirt, der alles mindestens einmal schon erlebt hat, hebt die Gehenkte auf, trägt sie hinein, legt sie auf das Bett in einer seiner Gästekammern, erklärt den Wissensgierigen, weder Teufel noch Engel seien am Werk, es handele sich um ein durch und durch natürliches Vorkommnis, das sei ihm aus seiner Jugend bekannt, als der Galgensturz einer Mörderin den Hals nicht brach. Bewusstsein weg, Exitus aufgeschoben. Während der Totenwache sei die Gehenkte aufgewacht, er ein verängstigter Bub, sie eine muntere Leiche, habe herumgeschaut, nach ihrem Ehemann gefragt, worauf jemand ihr mitteilte, sie sei zwar am Leben, aber nicht mehr unter der Haube, weil ein Henker zugleich Scheidungsrichter sei, so wurde es damals dem Buben erklärt, so erklärt es der erwachsene Wirt den Zusammengerückten. Oft geschieht’s, fährt er fort, quasi als Moral der Geschicht’, dass Gesunde dahingerafft werden, höchst selten hingegen, dass Gehenkte einen auf Lazarus machen. Hurra und HochSollSieLeben und die Aufregung mit ’nem Ale runterspülen, derweil die unauffällige Fremde

– zu spät gekommen, zu lang gezögert –

halb abgewandt in sich gekrümmt jeden Kommentar und jede Spekulation aus dem Eintopf der Reaktionen verschlingt, auf der panischen Suche nach einer Lösung. Als ein Offizier auftaucht und seine misstrauischen Fragen handkantig auf die Theke schlägt, zieht sie sich zurück, sucht Ruhe auf dem Friedhof nebenan. Hölzerne Kreuze vermerken die Namen, die Lebensdaten fehlen, aus Rücksicht, zu viel Jugend vom Gelbfieber dahingerafft. Vor dem einzigen Grabstein hält sie inne. Etwas Unstimmiges reißt sie aus ihren Gedanken: Es kann nicht sein, und doch, auf dem grobkörnigen Stein steht ein Satz eingemeißelt, ein einziger Satz

Das Vergangene ist unermesslich

»Anders als die Simulation, so ganz anders!«

»Wir haben dich gewarnt.«

»Alles rattert so schnell voran.«

»So ist es, das Damalsdort vergeht im Flug.«

»Du gewöhnst dich noch daran.«

»Erzähle uns mehr von deinen Eindrücken.«

»Es wirkte unfertig. Als bestünde die Menschenmenge aus lauter unvollständigen Sätzen.«

»Ein Gefühl des Rudimentären, des Provisorischen?«

»Als hätte jede etwas angefangen, um es wieder aufzugeben. Nein, das stimmt nicht ganz. Meine Piratin nicht. Sie war umwerfend.«

»Was hat dich am meisten überrascht?«

»Dass sie nicht gestorben ist. Was denn sonst. Das ist in keinem der Quellentexte vermerkt. Ich vermute, es war nicht weiter von Bedeutung, sie wurde ja am Tag darauf gehenkt.«

»Das Todesurteil henkte ihr nach.«

»Domru, du bist unmöglich.«

»Hast du Angst verspürt?«

»Nein.«

»Ein wenig?«

»Anfänglich. Ich war nervös, wegen der Ankunft, ich meine, wo genau, weil die Landung das Schwierigste ist, so habt ihr mich gewarnt. Und die Sorge, was bei der Dekompression passieren könnte. Mir schossen alle Unwägbarkeiten durch den Sinn, von denen ich je gehört habe. War unnötig, ich habe die Ankunft gut verkraftet, sehr gut sogar, ich hatte gleich ein körperliches Empfinden, so als wäre ich selbst damalsdort –«

»Bist du doch auch.«

»In gewisser Hinsicht.«

»Und dann wiederum –«

»Doch nicht!«

»Ich befand mich ganz hinten auf dem großen Platz, das war ungünstig, viel zu weit weg von der Bühne –«

»Bühne?«

»Verzeihung, vom Galgen. Daher die Hast, ich war zu weit weg, und es waren zu viele Menschen vor mir. Ansonsten fühlte ich mich wohl. Vom Gestank abgesehen.«

»Das Henken hat dich nicht gestört?«

»Es war weit weg.«

»Hat sie nicht gestört, hat sie nicht gestört.«

»Hat es.«

»Es kann keinen Menschen geben, den so etwas nicht erschüttert.«

Sie schweigen, weil es stimmt, selbstverständlich, und weil solche Erschütterungen das eigene Glück, das eigene Wohl zugleich unterstreichen.

»Du willst wieder hin?«

»Ich kann sie retten.«

»Egal, wie präzise wir programmieren, das Vergangene wird vage bleiben.«

»Eigentlich stochern wir im Nebel.«

»Erst recht bei einer so großen Raumzeit-Entfernung.«

»Wir sind am Limit unserer technischen Möglichkeiten.«

»Und das nur, weil Cya unbedingt zurück in die tiefste Düsternis will.«

»Wie geht es übrigens GOG?«

»Es hat ihm die Sprache verschlagen.«

Widerspruch: Das ist eine falsche Behauptung.

»Es sagt, das sei eine falsche Behauptung.«

»Bestimmt ist GOG überwältigt. Zum ersten Mal in einer Welt ohne kybernetische Technik, einer Welt ohne seinesgleichen, das befremdet.«

»Befremden ist eine menschliche Kategorie.«

»Wer sagt das jetzt?«

»GOG lässt euch ausrichten, von Technoranten umgeben zu sein, sei keine neue Realität.«

»Touché.«

»Wir sollten das Gespräch im kleineren Kreis fortsetzen.«

»Wann willst du wieder aufbrechen, Cya?«

»Solange ich alles noch so präsent habe. Der Ort ist jetzt. Die Zeit ist hier.«

»Die Zeit ist hier. Der Ort ist jetzt.«

»Bald also?«

So bald wie möglich!

grell und feucht, ein Stimmengewirr. Sie hört Grunzen, Johlen, fliegende Angebote im Schnelltakt, sie bahnt sich einen Weg durch die Menge. Ein Junge krakeelt, weil er nichts sieht. Der Vater verspricht ihm einen Platz auf seinen Schultern, sobald die Henkerei beginnt. Aufregung, als die Piraten herausgeführt werden. Cya greift in ihre tiefen Taschen, um sich zu vergewissern. Sie aalt sich voran, schneller als beim ersten Versuch. Bald steht sie in der ersten Reihe, unmittelbar vor dem Galgen, unterhalb der Todgeweihten, kurzzeitig abgelenkt von einer kleinen Wolke, die von einer der Schlingen eingefangen wird. Ihre rechte Hand ergreift etwas Lebloses am Schwanz und hebt es auf. Sie wartet ab, bis die Verurteilte nackt ist und die Verwirrung auf ihrem Höhepunkt, da wirft sie den Kadaver in einem hohen Bogen gen Galgen und springt auf die erste Bohle. Das Geschoss landet nach steiler Flugbahn dem Henker vor den Füßen. Er bückt sich, in seine Verwunderung hinab. Ein Tritt in den Hintern, und er fällt in die Gaffenden. Eine Nebelkerze explodiert. Was? Ist? Der Antrittsbesuch des Teufels? Schreie wie spitze Kathedralen, Wirrwarr (GOG: Wie wäre es mit Kuddelmuddel?), Lauffeuer in alle Richtungen, die Befehle des Gouverneurs krächzende Nebelhörner, unnütz, denn als sich die künstlichen Schwaden gelichtet, als sich Henker Soldaten Gaffer ausgehustet haben, baumelt eine Schlinge in der Meeresbrise, ohne dazugehörigen Kopf. Die Piratin ist spurlos verschwunden. Ein für alle Mal weg.

 

Die Piratin stellt sich vor:

»Fliege.«

Mehr nicht und auch nicht weniger.

»Glupsch nicht so dämlich, hab ich mir selbst ausgewählt. Wer sich einen Namen gibt, der ist frei. Und du?«

»Ich bin hier, um dich zu retten.«

»Was? Nicht so hurtig. Hab dich nie gesehen, kein Schwur mit dir geschworen, nicht gebechert mit dir, kein Mal gefochten, was bin ich dir?«

»Nichts außer das Rätsel unserer Zusammenkunft.«

»Du bist ’ne Frau, oder, und kein Pfaffe. Red nicht so geschwollen daher, wie wenn dir ’ne Wespe in die Zunge gestochen.«

Fliege poltert eine Weile vor sich hin, fest im Argwohn. Die Erklärung, die Cya sich zurechtgelegt hat, klingt nicht mehr überzeugend. Nicht auf dieser Piroge, den Wellen ausgesetzt, dem Wind.

»Bist du eigentlich Zigeunerin?«, fragt Fliege unvermittelt.

»Wie kommst du drauf?«

»So wie du aussiehst.«

Sie rudern, ins Nichts. Cya hat angenommen, Fliege würde wissen, wo’s langgeht, zum nächsten Unterschlupf. Wo sie aufgenommen werden würden von einem Bund der Freien. Mitnichten. Denn Fliege hat keinen Rückzugsort mehr, ihre Schaluppe verbrannt und untergegangen, alle ihre Brüder verstreut, wenn nicht ertrunken oder gehenkt. New Providence zu viele Ruderschläge entfernt. Providencia ebenso.

»Und dein Name?«

»Cya.«

»Cya? Cy-a? Cya Cya Cya. Nie gehört.«

»Du hast mich ja auch nicht gekannt.«

Am Vortag sind sie nicht weit gekommen. Cya hat eine Fregatte erspäht, die für Fliege nicht zu sehen war – »Was hast du für Augen!« –, worauf sie sofort in die Mangroven steuerten – »Das beste Versteck!« –, die Nacht verbrachten sie im Geschwirr. Nun paddeln sie, zweimütig. Fliege schimpft über den holprigen Schlagrhythmus. Sie kommen langsam voran, langsamer, als ratsam wäre, auf diesem Bötchen, ufernah, zerbissen (GOG: Nicht kratzen!) von einer Nacht, die sich so sehr hinzog, Cya war in Sorge, die Zeit könnte zerreißen. Fliege beruhigte sich ein wenig und ließ von ihrer Fragerei ab, um in der Wechselstunde ein wenig von sich zu erzählen, wie sie von der Enge in die Weite kam, von der Enge eines Herrenhauses, wo sie zu putzen hatte, schon mit zwölf und an jedem Tag der folgenden sieben Jahre.

»Wer putzt, kommt nicht voran, macht nur das Stehenbleiben erträglich. Für andere. Nach ’nem Jahr wollt ich weg. Wie, das musste ich ausbaldowern. Kein Geld, der Herr zahlt nie was, gibt Essen, Uniform, Bett, das ist Lohn genug. Manchmal ’ne Flasche Wein, die verscherbelte ich für ’nen Shilling hier, für ’nen Shilling dort, kaufte einem Burschen sein Hemd ab, den Rest sparte ich auf, brav und gehorsam, wie ich war. Ich hab gewartet, wusste nicht, worauf, kennste das? Das Schicksal muss erst Fahrt aufnehmen. Was? Du glaubst nicht ans Schicksal? Was bist du für eine? Eines Tags, im Zimmer des Bruders des Herrn, auf dem Schrankboden, fand ich Kleidung, einen Überwurf, Reithose, Strümpfe, sogar ein Paar Stiefel, passte mir alles, ich nicht die Kleinste, er nicht der Größte, alles gut. Nur ein Hut fehlte, und ’ne Schere, mit der schnitt ich mir die Haare ab, zur Geisterstunde, und raus aufs Feld, noch bevor’s dämmerte, dort zog ich Frau aus, dort zog ich Mann an, zum Sonnenaufgang marschierte ich zum Hafen, wo jeder Dahergelaufene als Seemann verpflichtet wird, das haben mir die Burschen erzählt, wird nicht nachgefragt, wird nicht nachgeprüft, bis jemand meine alte Haut in der Hecke findet, bin ich über alle Wellen. So war’s dann auch. Ja, und jetzt, dem Tod von der Schippe und so gut wie nackt, wer weiß, was als Nächstes, ob weiter Mann oder wieder Frau.«

Cyas Versuch, das weitere Vorgehen mit Fliege zu besprechen, wird im Keim erstickt. Sie brauche Stiefel, keinen Plan. Pläne seien was für Furzfänger. »Lass das Schicksal machen, das kennt sich im Leben besser aus.« (GOG: Was ist Schicksal? Das, was einem geschickt wird. Von wem? Die entscheidende Frage. Die Menschen nicht beantworten können … offenbar nicht … jenseits der Spekulationen, die wie Warzen auf ihrer Nasenspitze wuchern.GOG, wo kommt das denn her?)

Ein Schiff, mitten am Nachmittag. Unter spanischer Flagge. Keine Gefahr für die beiden. Unmöglich, dass diesem Schiff schon Gerüchte zugeweht sein könnten, von einem Piraten, der sich beim Henken die Kleidung vom Leib gerissen, von einem Gespenst, das im Rauch entschwunden sei, zusammen mit einem Nackten, der vielleicht Frau, vielleicht kein menschliches Wesen, das … Von solchen Ereignissen wird bislang gewiss nur in Hafenlautstärke berichtet, zudem auf Englisch, eine Hälfte der Geschichte im Überschwang, die andere hinter vorgehaltener Pratze. Welcher spanischen Galanterie sollten diese zwei wehrlosen Frauen schon zum Opfer fallen? Cya und Fliege paddeln einträchtig in Richtung Galeone, die sich mächtig vor ihnen erhebt, hinter jeder Luke bewaffnet, dicht bemannt, der Kiel scharf genug, den Ozean zu parzellieren. Schwielige Hände hieven Cya und Fliege an Bord der Nuestra Señora de las Maravillas, sie sind Augenbeute für hundert ausgehungerte Blicke. Sogleich werden sie dem Kapitän vorgeführt, über dessen Stirn ein exotischer Vogel nistet. Er beäugt sie maßleidig. Fliege vollführt einen Knicks, ihr Jutegewand bauscht sich auf. Cya macht es ihr nach.

»¿Señoras, hablan español?«

Worauf es aus Cya herausströmt, das Leid einer Schiffbrüchigen, die nicht mehr auf Rettung zu hoffen wagte, erst recht nicht durch einen Landsmann, einen Herrn von so feiner Gestalt, in dessen Obhut sie sich begebe, seine Gnade deklinierend, so Cya (mit GOGs Hilfe) im feinsten Kastilisch. Bis der Kapitän den Befehl erteilt, die beiden Frauen zu seiner Schwester zu bringen, die in ihrer Truhe Kleidung findet, um Cya in eine Mylady zu verwandeln und Fliege in eine señora galante, dama cortesana. Die zwei Geretteten bitten um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, die Nerven die Anspannung, ein wenig Ruhe, Gott gebühre innigster Dank, fügt Fliege noch hinzu (GOG: Merke dir dies, Cya, ein wenig Gottigkeit kann im Damalsdort nicht schaden). Die Schwester des Kapitäns überlässt den beiden generös ihre Kajüte.

»Woher kannst du Spanisch?«

»Bin rumgekommen.«

»Was hast du über mich gesagt?«

»Dass du ein englisches Waisenkind bist.«

»Stimmt.«

»Und meine Dienerin.«

»Ich diene niemandem!«

»Beruhige dich. Ich werde bei nächster Gelegenheit klarstellen, dass du ein Pirat bist, der gestern fast gehenkt worden wäre.«

»Red nicht so viel daher. Was willst du?«

»Wirst du schon noch sehen.«

»Und jetzt?«

»Abwarten. Dein Schicksal tritt in seine subversive Phase.«

»Subversiv?«

»Das explosive Resultat unseres Zusammentreffens.«

»Du bist noch mehr des Teufels als ich.«

 

Schlechte Nachrichten. Diese Galeone ist nicht rumbo a Cuba, nicht auf Kurs Richtung Cartagena, sondern auf Heimreise nach Cádiz. Das wird dauern. Cya hat nicht so viel Zeit. Wie kommen wir von diesem Schiff runter? Cya versucht, Fliege zu überzeugen, dass sie rasch verschwinden müssen (aus dem Staub machen, bietet GOG als angemessenen Ausdruck an). Bevor das Schiff den halben Atlantik überquert habe. Wieso die Eile? Sie habe gehört, wie die Schwester den Kapitän warnte, die Hände und Füße dieser Dienerin zeugten von einem wenig zivilisierten Leben. Sie verschweigt, was der Kapitän erwiderte, dass die Dame ihm arg dunkel vorkomme, jüdisches Blut wohl, und nicht zu wenig davon. Spätestens im heimatlichen Hafen werden erfundener Name und erlogene Herkunft mit einer einzigen üblen Nachfrage zu stinken beginnen. Außerdem, woher Geld nehmen? Cya hat bescheiden vorgesorgt, einige Münzen in ihren Hosensaum eingenäht, spanische Achter, die Einheitswährung in allen Häfen, auf allen Inseln. Geld sei kein Problem, unterbricht Fliege, Geld sei immer reichlich vorhanden.

»Wie sollen wir wegkommen?«

»Auf einem der Beiboote, sobald es dunkelt.«

»Selbst wenn die Wache es nicht bemerkt, wie weit kommen wir, bevor jemand Alarm schlägt?«

»Wir müssen das Schiff aufhalten.«

»Bin nicht halb so schlau wie du, aber eins weiß ich. Über das wie stolpert sich’s meist.«

Glück im Unglück (GOG: Wie die Menschen zu sagen pflegen, wenn sie Ereignissen Kontur verleihen wollen). Es herrscht Flaute, die Galeone dümpelt vor sich hin, in der Ferne könnte noch Land sichtbar sein. Die Zeit wird zum Saubermachen genutzt. Zwar befinden sie sich nicht auf einem schmutzigen Schiff, aber selbst das sauberste Schiff ist niemals sauber. Das Deck wird abgeschliffen mit Sand und bibelschweren Steinen. Als alles geschrubbt und gescheuert ist, wird die Arbeit vom Ersten Maat abgenommen, während die Seemänner seines Urteils harren, neben Eimern, mit Bürsten in der Hand, regungslos, bis auf einen, der sich am Gesäß kratzt. Nach beendeter Prüfung wird zu einem Amüsement gerufen, divertido y gracioso, verspricht der Kapitän. Am Großmast Gedränge. La cucaña, ruft der Steuermann aus, und oben lockt der Preis. Was für ein Preis?, fragt Cya. Die Antwort lautet mal Rauchschinken, mal Unsterblichkeit. Zunächst spricht der Kapitän, in schwer gewirkten Worten. Er habe dort oben einen Schuh anbringen lassen, worauf er mit ausgestrecktem Arm auf den Schiffsmast deutet, der nackt scheint, weil die Jakobsleiter entfernt worden ist, ebenso die restliche Takelage. In Namen Seiner Majestät habe er zu verkünden, dass der Preis eine Sandale sei, keine beliebige, er bilde sich nicht ein, dass die versammelten Taugenichtse wegen einer Sandale hinaufklettern würden, selbst wenn eine indianische Prinzessin sie getragen habe. Diese sei eine besondere, mit einem Zehenpflock aus Gold. »Ja, ihr habt richtig verstanden, aus reinstem Gold, mehr wert als der Lohn eines ganzen Lebens. Wer die Sandale zu greifen bekommt, der darf sie behalten.« Wie alle anderen blickt auch Cya hoch. Nicht zu erkennen, so weit hinauf reicht der Mast. Niemand kann sich sicher sein, ob der Preis jenseits des Ehrenwortes des Kapitäns existiert, dort oben, wo der Hauptmast sich in den Himmel bohrt.

Die Männer haben Lose gezogen, um die Reihenfolge zu bestimmen. Jene, die gewonnen haben – sie empfinden sich als Gewinner, sichtbar im brustgeschwellten Auftritt sowie an den Grimassen, die Zuversicht oder gar Unbesiegbarkeit ausdrücken wollen –, stehen am Mast, reiben sich die Hände ein, mit Holzspänen. Ein Trommelschlag. Der Vorderste springt den Mast hinauf, die ersten Meter bewältigt er scheinbar mühelos, getragen von Sprungkraft und Euphorie. Bald schon wird sein Fortschritt gebremst, seine seilstarken Arme rutschen ab, er gewinnt zwei Fuß, verliert einen, gewinnt einen Fuß, verliert zwei, bis die Mathematik der Rutschkraft ihn zurückholt. Erschöpft fällt er aufs Deck, die anderen Seemänner lachen. Häme überzieht das Gesicht des Kapitäns wie dick aufgetragenes Rouge. Cya schüttelt kaum merklich den Kopf.

»Das ist schwierig.«

»Es ist mehr als schwierig, Señorita.«

»Wieso?«

»Weil der Mast mit Schweinefett eingeschmiert ist.«

»Wer soll’s schaffen?«

»Niemand!«

»Es sei denn, die Männer bilden eine Pyramide.«

»Sie haben einen scharfen Verstand, Verehrteste. Für Theorie.«

Cya beobachtet gebannt, wie sich einer nach dem anderen abmüht. Manche gelangen weit hinauf, gewiss keimt Hoffnung in ihnen auf, auch wenn sie spüren, wie ihre Kräfte ermatten … Die Hoffnung fällt, ins Bodenlose, und der Seemann hinab. Der Kapitän beäugt Cya.

»Die Señorita haben so etwas noch nie gesehen?«

»Nein.«

»Eine Maßnahme zur Stärkung der Moral. Gut, wenn die Männer spüren, dass die Lösung aller irdischen Sorgen so nahe ist, fast zum Greifen nahe.«

»Und dann doch wiederum nicht.«

»Trotzdem tröstlich.«

»Ich verstehe nicht.«

»Die Männer haben eine diebische Freude daran, dass es den anderen auch nicht gelingt.«

Was ist die Vergeblichkeit einfältig. Keiner, der jung und gesund und kräftig ist, verzichtet auf seinen Versuch. Das Scheitern der anderen beweist noch lange nichts. Seemann nach Seemann fällt auf das Deck, während die Sonne stetig nach oben steigt. Cya betrachtet den Flug einer Spottdrossel. Kaum hat sich der kollektive Ehrgeiz erschöpft, ändert sich die Stimmung. Die Männer weichen voneinander. Als wüssten sie nicht, wer unter ihnen ansteckend ist, mit dem Miasma des Pechs. Sie blicken auf ihre Hände.

Der Kapitän hält eine Rede.

Über die heiligen Gesetze.

Über ungehorsame Kinder.

Über missachtete Befehle.

Über blasphemische Flüche.

Über Strafen, die Segen seien.

Dieser Kapitän gehört nicht zu jenen, die höchstpersönlich auspeitschen. Er steht dem verabreichten Schmerz aufrecht vor.

Das da, das darf es nicht geben, nie in ihrem Leben, hat sie so etwas, wie kann es … Cya wagt es nicht, die Augen aufzuschlagen. Sie zischt Fliege ins Ohr, sie müssten etwas tun, diese Männer befreien, eine Meuterei anzetteln. »Du bist verrückt«, antwortet Fliege, »ich kann kein Spanisch, und du bist eine Frau, mich versteht keiner, und auf dich hört keiner, das endet am Galgen.« GOGs Analyse stimmt mit Fliege überein. Cya schweigt. Bis zum Abendessen. »Schau an, Reis!«, sagt sie frohgemut. Der Kapitän, der jede Gelegenheit nutzt, ein Gespräch mit ihr vom Stapel zu lassen, erwidert: »Wie wohl, Sie mögen Reis, Verehrteste? Dann sind sie bei uns goldrichtig. Wir haben jede Menge Reis an Bord.« Cya nickt züchtig, strahlt Fliege an, die das Geschirr widerwillig abräumt, mit Blicken, die es zerdeppern möchten.

Später, an der frischen Luft, fragt Fliege

»Was war das mit dem Reis?«

»Mittel zum Zweck.«

»Welcher Zweck?«

»Sabotage.«

»Was ist das denn?«

»Angewandte Freiheit.«

»Was versteh ich dich so schlecht?«

»Wir müssen in den Frachtraum, wo der ganze Reis gelagert wird.«

»Wozu?«

»Wir müssen dafür sorgen, dass der Reis nass wird.«

»Wie denn?«

»Indem wir ein Leck schlagen.«

»In den Rumpf einer Galeone? Manchmal hab ich das Gefühl, du bist zum ersten Mal auf ’nem Schiff.«

»Ein kleines Leck.«

»Klein oder groß, spielt keine Rolle, vergiss es.«

An der Kombüse vorbei, die Leiter hinab, dort schiebt einer Posten, der lässt sich mit naiven Fragen und verführerischen Gesten ablenken, derweil Fliege aufs Vorratsdeck schleicht. Wie sie nachher berichtet, habe sie zunächst nur die Reissäcke bemerkt, groß wie sie selbst und prallvoll, so viele Säcke – »das ernährt eine Bande wie unsere ein Jahr lang, ach was, mehrere Jahre« –, erst danach habe sie die Bottiche mit Trinkwasser erblickt.

»Wasser?« Unterbricht Cya. »Wie günstig!«

»Wieso günstig?«

»Weil Löcher schnell in Bottiche geschlagen sind. Lenk du ihn mal ab.«

»Nee, mach du das, du hast das Weibsgetue besser drauf.«

 

»Was jetzt?«

»Wir warten, bis es geschieht.«

»Bis was geschieht?«

»Wirst du sehen.«

»Wie kriegen wir’s mit?«

»Wirst du hören.«

Kurz nach Sonnenaufgang, Wind ist aufgekommen, die Galeone bewegt sich gemächlich, reichlich Muße für die Toilette, beide ungeübt. Cya betrachtet Fliege, die sich einen Zinnober-Spaß macht, da knallt es, die Schminke schmiert über die Wange bis zum Ohr, Puder und Pomade fallen zu Boden, die beiden hinterher. Sie richten sich gegenseitig auf, eilen hinaus, die roten Striche und weißen Flecken auf ihren Gesichtern grelles Erstaunen. Dass es so gut geklappt hat! Noch ein Schlag. Ein Angriff, denken die Seemänner. Doch ringsum kein Schiff, kein Feind in Sicht, die Verwirrung gesteigert durch kopflose Befehle. Ein Ruck, der Cya zu Achterdeck wirft. Sie bleibt liegen.

Das Frühstück fällt aus, auch für den Kapitän, der grimmig erklärt, keiner wisse, wie es geschehen konnte, das Trinkwasser sei ausgelaufen, habe den Proviant durchnässt, das habe den Reis, so vermute der Koch, aufquellen lassen, so sehr, die geplatzten Säcke hätten ein Loch in die Schiffsseite gesprengt. Es ströme Meerwasser rein, sie würden den nächstbesten Hafen anlaufen müssen, zur Reparatur. Während er jedes seiner Worte herauspresst, reißt er sich die Perückenhaare einzeln aus. Reparaturen an Galeonen sind in diesen Gefilden ein heikles Unterfangen, kein Hafen dafür ausgerüstet. »Es tut mir leid, Verehrteste, die Heimat wird auf uns warten, doch ich werde auf den Genuss Ihrer Gesellschaft nicht verzichten müssen, bei diesem asthmatischen Wind wird es den einen oder anderen Tag noch dauern. Bis dahin müssen wir uns pumpend über Wasser halten, jede Hand im Einsatz, wir wollen unsere wertvollsten Schätze sicher an Land bringen.« Unter dem Vogelnest zwinkert es eifrig.

 

GOG alarmiert. Noch 15 Minuten. Cya hat lernen müssen, Sekunden stumm herunterzuzählen, für einen Fall wie diesen, wenn ihr Aufenthalt im Damalsdort sich dem Ende zuneigt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten der Rückkehr. Die technisch vorgegebene Fernraumzeit läuft ab (8600 Minuten bzw. 516000 Sekunden), oder die Chronautin stirbt. Das bedingt ein sofortiges Ende der Reise, wird allerdings nicht empfohlen, weil so ein Tod in der Ferne körperlich zwar ohne negative Folgen bleibt, psychisch jedoch äußerst belastend ist. Zudem, wenn Cya einfach so verschwände, hinterließe sie einen gestärkten Aberglauben an Geister und Gespenster. Sie will nicht, dass Fliege sie als Erscheinung in Erinnerung behält. Sie will sich auf vermeintlich natürliche Weise entfernen. Um wiederkommen zu können.

Frau über Bord!

Das ist die Lösung. Sie muss es so aussehen lassen, als rutschte sie aus, als fiele sie über die Reling. Das wäre realistisch. Sie wolle sich die Beine vertreten, sagt Cya. »Geh nur«, sagt Fliege. »Komm mit!« »Nur wenn du mir einen Dolch besorgst.« »Wozu das denn?« »Wer nach mir lechzt, kriegt die Augen raus.« Zehn Minuten!, informiert GOG. Am schlimmsten wäre es, wenn sie in der Kabine bliebe, allein mit Fliege, die danach in Verdacht geriete, weil sie nicht erklären könnte, wo ihre Herrin abgeblieben sei, folglich des Mordes beschuldigt, verurteilt und einem spanischen Henker übergeben werden würde. »Jetzt komm schon, das eine Mal hältst du es aus.« Cya kann nicht länger warten. Sie öffnet die Tür, steigt aufs Deck hinauf, verschlingt die frische Luft, hofft, dass Fliege ihr folgt. Sie schielt umher, ob auch alle Blicke auf sie gerichtet sind. Was das betrifft, sind Männer zuverlässig. Fliege gibt lautstark eine englische Moritat zum Besten. Fünf Minuten!, teilt GOG mit. Mit abgebrühter Stimme. Sie staunt über sich selbst, wie sie GOG in ihrer Aufregung vermenschlicht. Sie blickt hinab ins Wasser, auf den flüchtigen weißen Schaum. Anziehend. Wie soll sie es anstellen? Die Lösung wird vom Schicksal präsentiert (nein, doch, nein, doch-doch), Fliege knufft sie freundlich in den Rücken, Cya taumelt, unabsichtlich, kippt zur Seite, mit voller Absicht, ihre Hände greifen ins Leere, ihr Körper wird von der Reling aufgehalten, sie streckt sich nach vorn, drückt den Kopf nach unten, spürt eine Hand an ihrem Fuß, eine Hand, die zusammen mit ihrer Sandale entgleitet, sie stürzt, sie strampelt, sie schlägt mit dem Rücken auf, ein Schmerz durchzuckt ihren Körper. Es ist kühler als erwartet. Sie zählt, während sie steinschwer sinkt, ein-und-zwanzig die Mangrovenäste zwei-und-zwanzig Flieges erstes Lächeln drei-und-zwanzig der Sprung in die Piroge vier-und-zwanzig der Geruch von Trockenfisch fünf-und-zwanzig die aufgeschnittene Liane sechs-und-zwanzig die Qual der Striemen sieben-und-zwanzig Puder auf Schwielen acht-und-zwanzig in kostbaren Gewändern neun-und-zwanzig … angeblich keine größere Verschwendung als Sekunden zu zählen.

Eine Minute!

GOGs letzte Angabe. So lange wird sie die Luft noch anhalten können.

Und sie denkt

Ich bin nicht gestorben!

und sie kann nicht stillsitzen, springt die Heckleiter ihrer Erzählung rauf und runter. Bis alle Chronautin versammelt sind, hat sie vom Ende, vom Anfang und von jedem Atemzug dazwischen berichtet. Mehrfach. Flussab, flussauf. Wirkung gefolgt von Ursache. Grund vor Folge. Jenen, die sich früher eingefunden haben, brummt der Kopf von so viel Nacherleben. Wie Cya auf zwei kosmischen Strings stand, die in gegensätzliche Richtungen streben, bei zunehmender Rasanz, maximale Bewegung im Stillstand, bis die explodierende Divergenz sie in eine andere Raumzeit schleuderte, ohne dass sie etwas spürte, im Nichts des Dazwischen (GOG: Dieses »Dazwischen« ist eine Metapher, um das Unverständliche zumindest als Pause zu setzen). Anders ausgedrückt, zur Erklärung für die technisch Unkundigen daheim im Gemeinhaus – es ist, als würde das linke Bein nach vorn schreiten, das rechte zugleich nach hinten weichen und die Hüfte sich um die eigene Achse drehen, mit und gegen den Uhrzeiger zugleich, in anderweitiges Licht hinein. Cya durchsilbt ihr Abenteuer, bis positive und negative Spannung wieder im Gleichgewicht sind, inmitten der versammelten Chronautin, auf ihrem Gesicht Röte statt Rouge.

»Ich bin nicht gestorben.«

»Raumzeitreisen sind immer ein wenig Sterben.«

»Und viel Leben.«

»Hört auf mit der Mystik.«

»Anfänger!«

»Der Frischling hat einen frischen Blick.«

»Diesen Blick kenne ich. Den kenne ich so gut. Cya ist auf den Geschmack gekommen.«

Sagt Domru, chronautischer Programmierer. Er beäugt sie mit neu geschöpfter Wertschätzung. Sein wissender Blick begleitet sie durch dieses Labyrinth der Intensitäten: Schrecken, Lachen, Abscheu, Staunen, Wut, Mitgefühl, Entsetzen. Egal, wie gut du vorbereitet bist, warnte sie der Weltweise vor ihrem Aufbruch, du wirst Überraschungen erleben. Mal Schock, mal einen Schub Energie. Mal Trauer, mal eine Dosis Trost. Für manche schwer zu ertragen. Einige seien daran zerbrochen. Kehrten zurück und wussten nicht, wohin mit ihrem Schmerz. Was sie erlebt hatten, müsse einer kranken Psyche entsprungen sein, so etwas könne es nicht gegeben haben. Sie waren zu Zeugin des Unfassbaren geworden. Leichenhügel, Berge aus Leid. Rippen sichtbar sowie jeder andere Knochen. Uniformierte an Screens, die per Knopfdruck Leben auslöschen. Blinde am Steuer, Taubstumme mit unleserlicher Handschrift. Fischer am Ufer vergifteter Flüsse. Zimmer ohne Ausgang. Mülltonnen als kaltes Buffet. Das soll es gegeben haben? Unmöglich. Das muss der Fantasie einer zutiefst gequälten Seele entsprungen sein. Die meisten Chronautin nahmen Zuflucht zum tröstlichsten aller falschen Gedanken: Das kann nicht sein. Trotz aller Euphorie, sobald Cya die Augen schließt, sieht sie die ausgepeitschten Seemänner. Die blutigen Striemen wie Schlussstriche einer Abrechnung mit dem Damalsdort.

Von Anfang an ahnten alle in diesem Kreis, welche Gefahren die Raumzeitreise in sich birgt, Gefahren der Traumatisierung und der Kontaminierung. Weswegen sie sich strenge Regeln auferlegten, die regelmäßig aufs Neue hinterfragt werden. Nach jeder schmerzhaften Erfahrung muss pausiert und reflektiert werden. Die Zahl der energieintensiven Raumzeitreisen ist begrenzt. Außerdem soll der Mensch vor allem in seiner eigenen Ära leben. Sollte sich wie alle anderen auch an den gemeinschaftlichen Aufgaben beteiligen, das Unaufgeregte wertschätzen, sosehr es im Vergleich zu den chronautischen Abenteuern verblassen mag.

»Wir sollten essen.«

In der Früh zogen einige von ihnen gemeinsam durch den Wald, um Blüten und Blätter zu sammeln, Wurzeln und Pilze. Das hatte Tapio angeregt, der Koch des heutigen Mittags, seit langem Chronaut, ein Mann mit hagerem Gesicht und langen dünnen Haaren, die geben ihm den Anschein eines Gurus (GOG: Achtung, ausgestorbenes Wort. Aber ein schönes). Er reist bevorzugt in die Ära des Kardamoms, in die Epoche von Tulsi. Er kundschaftet aus, indem er in den Küchen der Herrschenden herumschnüffelt. Er kehrt zurück mit Rezepten. Stolz wie Knolle. Ein Festtag, wenn er das Mittagessen zubereitet.

Domru starrt sie an. Vom Nebentisch aus. Sie kann seiner Anwesenheit in den Gemeinschaftsräumen nicht entgehen. Sie ärgert sich, dass er sie zur Verlegenheit verführt. Dass sie sich ihm nicht entziehen kann. Seit dem einen Abend. Als die Simulation gelang. Von Freude und Riesling betört war sie neugierig. Eher gierig. Süß das Erlebnis, bittersüß der Nachgeschmack. Sie möchte Distanz wahren. Domru missachtet diesen Wunsch. Ihr eigenes Begehren ebenfalls. »Das Leben ist eine lange Erzählung, du hast erst den ersten Satz niedergeschrieben«, sagte der Weltweise vor kurzem zu ihr. Um sie zu bremsen in ihren vorschnellen Annahmen. Um sie abzufangen in ihrer Ungeduld. Was, wenn ihr in diesem ersten Satz schon ein Fehler unterlaufen sein sollte? Ein Fehler, den sie wiederholen wird, weil sie ihn nicht ungeschehen machen kann.

»Wie gut schmeckt das denn?«

GOG: Köstlich!

Als könnten adäquate Begriffe GOGs fehlenden Gaumen ersetzen. Sei still, denkt sie, kaut aufmerksam, versucht, sich dem Geschmackssinn zu überlassen. Hört die Stimme Tapios aus dem Off, der eine Reissorte erwähnt, die es nicht mehr gebe, er habe einige Körner aus einem fernen Damalsdort mitgebracht, die werde er nächstes Mal servieren, wenn er wieder mit dem Kochen an der Reihe sei. Sie schmunzelt über die Geschichte. Nichts darf aus anderen Realitäten herausgeschmuggelt werden, nicht einmal Reis. Daher die Redewendung: Nackt kehren wir heim, geschmückt allein mit Flunker.

GOG: Flunker? Wieso Flunker?

Schon der erste Chronaut fing sich eine Temporose ein, zunächst nicht diagnostiziert, da asymptomatisch. »Ganz anders, damalsdort!«, eröffnete er jeden seiner Berichte, die so sehr vom Dokumentierten abwichen, sie ermöglichten, ja, sie bedingten eine neue Sicht auf Vergangenes. Niemand konnte seine Erzählungen in Abrede stellen. Zunächst. Sie erschienen glaubwürdig, weil weithin bekannt war, wie eigenwillig unzuverlässig der ehemalige Berufszweig der Historikerin gearbeitet hat. Nicht unbedingt mit böser Absicht. Sie erzählten allein vom Sichtbaren: Pyramiden, Festungen, Zitadellen. Und selten von den Hoffnungen der Menschen. Das gerechte Leben – nie protzig – errichtete keine bleibenden Mauern, das den Menschen Angemessene war niemals monumental. Es hat sich verflüchtigt. Vieles von dem, was der erste Chronaut erzählte, erwies sich als falsch (GOG: Als erstunken und erlogen, wie es früher hieß). Nicht um die anderen zu täuschen, sondern um selbst mit dem Damalsdort besser zurechtzukommen. In seiner Desorientierung hat er alles verzerrt. Viele weitere Raumzeitreisen waren notwendig, bis seine Berichte relativiert werden konnten. In der Folge führten die Chronautin Regeln ein, um Fehler dieser Art zu vermeiden, darunter das Buddy-Prinzip: Jeder Aufbruch ist mit einer anderen Chronautin abzusprechen. Niemand sollte dem Damalsdort vorab und nach Rückkehr allein ausgeliefert sein. Cyas Buddy, Samsil, steht gerade auf, um den Koch des Tages zu lobpreisen. Sie spricht leise, so leise, selbst die einsetzende Stille muss sich anstrengen, jedes ihrer Wörter zu verstehen. Tapio blickt verblüfft auf seine Hände, als hätten diese allein das Wunder des Mungbohnenbrots mit Walnüssen und der Auberginenterrine mit Waldpilzen vollbracht. Samsil zaubert einen Orden hervor, einen aufgeschnürten alten Servierlöffel, den sie mit errötetem Gesicht Tapio um den Hals legt – er muss sich arg nach vorn beugen –, während sie ihn zum »Obersten Horologen der Umami-Loge« ernennt. Lachen kreist durch den Raum. Stühle rücken zum Aufbruch ins Weitere.

 

Cya könnte nun tun, wonach es sie gelüstet. Auf Essen folgt Müßiggang. Eines der vielen ungeschriebenen Gesetze. Sie könnte im Fluss schwimmen, ihrer Schwester beim Üben zuhören, den Fassadengarten hegen, sich austauschen mit anderen aus jenen Gemeinschaften, denen sie sich zugehörig fühlt, egal, wie weit entfernt sie leben. Oder sie könnte die Augen schließen, zum Wachträumen, ihrer bevorzugten Untätigkeit. Ein Blick hinüber zu Samsil genügt. Sie werden gemeinsam die gestrige Simulation auswerten und sich auf die nächste vorbereiten. Denken können sie am besten zu zweit. Samsil ist an dieser Prüfung bislang jedes Mal gescheitert. Sie bereitet sich gewissenhafter vor als jede andere. Und rutscht aus auf dem eisigen Übungsfeld. Beim letzten Versuch nahm sie die falsche Brücke über die Miljacka, verwechselte das Auto, riss einen fahrigen, aber unschuldigen jungen Mann zu Boden, vernahm schweißüberströmt das Attentat aus ohnmächtiger Ferne als grellen Hall. Cya traut sich jetzt zu, ihr etwas von der Angst zu nehmen. Zu zweit betreten sie den Simulator.

»Welche Epoche?«

»Egal, etwas Einfaches.«

»Gibt es nicht!«

»Wieso kann es nicht mal einfach sein?«

»Weil sich der Simulator heroische Situationen ausdenkt. Wir sollen uns beweisen.«

»Könnte die Prüfung nicht etwas leichter sein?«

»Kaum. Liegt in der Natur unserer Aufgabe. Menschen haben viel zu selten verhindert, was sie hätten verhindern müssen. Was Regel sein sollte, war meist Ausnahme.«

»Wie soll mir das jetzt helfen?«

»Wenn du verinnerlichst, wie außergewöhnlich unser Bestreben ist, wirst du während der Simulation weniger verkrampfen. Die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs ist gering. Das müsste dich entspannen.«

»Waren wir schon mal erfolgreich?«

»Je nachdem, wie du Erfolg definierst. Fortschritte? Ja, immer wieder. Eine Umwälzung der Verhältnisse? Nur im Ansatz. Ein grundlegender Umbruch, wie er unseren Vorfahrin gelungen ist? Nein, noch nie.«

»Wir Chronautin üben uns also in Vergeblichkeit.«

»In notwendiger Vergeblichkeit.«

»Das setzt mich eher noch mehr unter Druck.«

»Wir müssen lernen, die Gelegenheit am Schopf zu packen, und das bedeutet, der Geschichte in den Rücken zu fallen.«

»Sie überrumpeln, bevor sie uns überrumpelt?«

»Da hast du es. Schneller begriffen, als ich es erklären konnte.«

»Ja, ja, ich weiß, was jetzt kommt: Wann bist du Fenster geworden –«

»Wann hast du zu quietschen begonnen.«

 

Geschafft.

Bestanden.

Samsil ist durch.

Der Ort ist jetzt. Die Zeit ist hier.

Von nun an können sie sich bei den Raumzeitreisen abwechseln. Sich die Aufgaben aufteilen. Sie feiern mit den Zehen im Bach und einer Flasche Riesling, so alt wie Cya selbst. Ihre Eltern haben selbst die Trauben gelesen, im Jahr ihrer Zeugung. So hatten sie es sich vorgenommen: Weinlese und Kind. In einem strahlend schönen Herbst. Es kam ein Kind mehr als geplant, der Jahrgang trägt statt Etikett die Namen der Zwillinge: CYA & NIKTE. Nikte bewahrt die ihr gewidmeten Flaschen auf, in Erwartung eines besonderen Anlasses. Cya wird ihren Anteil bald ausgetrunken haben. Sie kommt vor besonderen Anlässen kaum zur Ruhe. Der Bach kühlt die Flasche. Cya schenkt nach, kaum mehr als einen Schluck. Mit der Neige auf der Zunge erblickt sie zum ersten Mal das eigene Leben im Rückspiegel.

»Es war früh am Morgen, ich hatte die Augen offen, den Tag aber noch nicht im Blick, da teilte mir GOG mit, ein Kreis habe sich gebildet, nicht weit weg von uns, ein Kreis wie geschaffen für mich, für meine Aspirationen. So hat GOG sich ausgedrückt, so viele Wörter, die es hätte verwenden können, und es entschied sich für Aspiration. Frag mich nicht, wieso. Auf Zehenspitzen durch den Tag, bis dann, na ja, die Vorfreude kippte um in Enttäuschung. Ich sei zu jung für diesen Kreis, so hieß es. Alt genug, beharrte ich, um vorbeizuschauen, auf einen Besuch. Meine Eltern wollten mit, auch mehrere Erwachsene aus dem Gemeinhaus. Ich weigerte mich, sie zogen trotzdem ihre Mäntel und Jacken an, ich musste schreien, so bestimmt hatten sie mich noch nicht erlebt. Ich wollte meine Zukunft allein erkunden. Der Weltweise hieß mich persönlich willkommen, wie wichtigen Besuch. Er hat mir alles gezeigt und alles erklärt, so kam es mir vor. Ich tänzelte heim. Kostete tagelang mein Glück aus. Diese Chance würde ich mir nicht entgehen lassen. Ich nahm mir fest vor, immer wieder zu den Chronautin zu gehen, bis sie sich an mein Alter gewöhnten.«

»Mit anderen Worten, ihnen auf die Nerven zu gehen.«

»Nur an Tagen der offenen Arme. Eines Tages wurde meine Beharrlichkeit volljährig. Im Gemeinhaus gab es Bedenken. Kaum zurück von meinem ersten Besuch bei den Chronautin stürzten sich alle auf mich, als wäre ich die einzige Zeugin eines schrecklichen Unfalls. Vor dem Abendessen fragten sie mir Löcher in den leeren Bauch, ließen mir auch nach dem Essen keine Ruhe. Vater vorneweg, lakonisch und entschieden: Das Gewesene trage die Sehnsucht in sich, für immer zu vergehen. Wir sollten es in Ruhe lassen, es habe schon genug durchgemacht.«

»Die Haltung kennen wir zur Genüge.«

»Vater ist nicht für seine Originalität bekannt.«

»Und die anderen?«

»Manche argumentierten, das Vergangene könne verändert, aber nicht verbessert werden. Niemand könne einem Kind, das schon auf eigenen Beinen steht, einen anderen Gang beibringen. Jeder Umbruch bedürfe einer Idee, einer Leidenschaft und einer Zuversicht, woundwann dies nicht vorhanden sei, könne nichts ausgerichtet werden. Dem Damalsdort könne Widerstand nicht eingetrichtert werden. Was die Chronautin anstrebten, sei Einbildung, Überschätzung, Hybris.«

»Die gut marinierten Argumente der Isolationisten.«

»Jemand sinnierte, der Tod dürfe nicht in Frage gestellt werden und wir würden mit unseren Bemühungen den Tod schwächen, eine gefährliche Krankheit drohe, eine Art Morbus mortem.«

»Was ist das denn?«

»Das habe ich ihn auch gefragt, und wieso benutzt er einen Begriff aus einer ausgestorbenen Sprache, den GOG mir übersetzen musste. Er gab mir keine Antwort, er versank in abweisende Gedanken. Nicht einmal mein bester Freund hat mich ermutigt. Das hat mir weh getan. Onkel Host – wie ich ihn nenne, nur ich, er hat sich eine Weile gegen ›Onkel‹ gewehrt, aber ich wollte mir unbedingt meinen eigenen Onkel aussuchen, und er hat sich daran gewöhnt – war weder dafür noch dagegen. Nachdem alle gesprochen hatten und nur noch gesagt wurde, was auf andere Weise schon geäußert worden war, ergriff er das Wort. Du müsstest ihn mal kennenlernen. Er hat eine eigene Art zu reden. Er fängt behutsam an, als würde er ein unbekanntes Spiel auspacken und die Spielfiguren in die Hand nehmen und sich überlegen, wozu die gut sein könnten. Beim Reden macht er sich mit den Spielregeln vertraut. Nach und nach wird dir klar, dass er ein meisterlicher Spieler ist. Wenn er mit seiner rauen Stimme einen Einwand vorbringt – Haben wir uns das gut überlegt? –, ist sich niemand mehr seiner Meinung sicher. Es sei eine große und weiterhin offene Frage, sagte er, ob Menschen andere Menschen befreien könnten. Zu ihrem Glück verhelfen könnten. Die Rechtfertigung für chronautische Eingriffe sei einleuchtend: Niemand dürfe erniedrigt werden, egal, wann der Mensch gelebt habe. Wer die Möglichkeit habe, etwas daran zu ändern, sollte es tun. Da platzte es aus mir heraus: Verpflichtet, Onkel Host! Wie bitte? Sag, wie es ist, wir sind verpflichtet, es zu tun, es wenigstens zu versuchen, nichts ist anstößiger als die Gleichgültigkeit gegenüber einem Unrecht, das sich aus der Welt schaffen ließe. Recht hast du, meine Liebe – von da an sprach er allein zu mir –, allerdings hängt so viel von dem Wort ›Versuch‹ ab. Welcher Versuch ist sinnvoll, welcher unsinnig? Raumzeitreisen sind aufwendig und gefährlich, du opferst etwas, das sich Leben nennt, dessen Wert du noch nicht kennst. Was für Früchte kann dieser Versuch tragen? Onkel Host formulierte Zweifel, ich widersprach, uneinsichtig. Wütend. Schlug mit Losungen um mich: Auch die Toten haben Rechte! Emanzipiert das Damalsdort! Die Logik meines Mitgefühls sei vortrefflich, sagte Onkel Host. Wer im Paradies weile, solle jenen helfen, die unverschuldet nicht im Paradies seien, sonst erweise sich der Mensch des Paradieses als unwürdig. Wir sind doch im Paradies, schrie ich, oder etwa nicht. Das Paradies trage keine Historie in sich, sagte Onkel Host mit der Zartheit eines tieferen Wissens. Soll der Zufall der Geburt alles entscheiden?, fragte ich erregt. Ähnliche Argumente seien einst zugunsten der Rechte zukünftiger Generationen vorgebracht worden, besänftigte mich Onkel Host. Zu unser aller Wohl, unterbrach ich ihn, das war doch eine entscheidende Einsicht. Das wissen wir! Die Stimme, die sich streng einmischte, ließ uns verstummen. Es war die Stimme der Tastenmeisterin –«

»Witwe Weddel?«

»Ach ja, dich hatte sie ja auch mal unter ihren Fittichen. Sie war da noch nicht Witwe, aber schon aufgezehrt von der Krankheit ihres Mannes. Wir halfen ihr, wir wechselten uns ab bei seiner Pflege. Sie konnte nicht loslassen. Wenn sie länger als eine halbe Stunde nicht nach ihm geschaut hatte, wurde sie unruhig, richtete sich ruckartig auf, ging hinaus, kehrte einige Takte später zurück, glättete ihren Rock und fragte: Wo waren wir stehengeblieben? Du kennst ihr Vorgehen, sie spielt jedes neue Stück zunächst selber, einmal langsam, einmal schnell, bevor du dich daran versuchst. Es war ihr nicht möglich, selbst das kürzeste Stück zu Ende zu spielen, sie verhaspelte sich, nicht an einer der schwierigen Stellen, nein, an einer beliebigen Stelle, auf einmal, unvermutet, schlug nur noch eine Note an, immer wieder dieselbe Note, als wäre Eintönigkeit die einzig angemessene Reaktion auf den nahenden Tod ihres Mannes. Das ging so weiter, bis ich sie umarmte. Ihr Finger glitt von der Taste. Erstaunlich, dass sie an diesem Abend so lange bei uns ausharrte. Sie wirkte so anwesend wie schon lange nicht mehr. Nun richtete sie sich auf und brachte uns in Erinnerung, als die Rechte der Toten zum ersten Mal angemahnt worden seien, habe kaum jemand dieser Forderung die nötige Aufmerksamkeit geschenkt, weil die Frage theoretisch schien und Theorie nur etwas für Menschen mit unbeweglichen Fingern sei. Das habe sich geändert, durch den erfolgreichen Eifer dieser Quanten-Bastlerin und Nano-Konstrukteurin, das seien Virtuosin des Wahnsinns. Wir sollten uns erinnern, der Kosmos sei Musik, all die Musik, die je ersonnen worden sei, und all die Musik, die noch zu ersinnen sein werde. Mit der ersten Raumzeitreise sei die Grenze zwischen diesen zwei Sphären durchlässig geworden und das Spekulative auf einmal hörbar. Wir hätten uns zuvor eingebildet, die Zeit kaue an uns, dabei kauten wir an der Zeit, jeder Zahn ein anderer Ton, und deswegen müsse sich das Prinzip der Allrechte auch auf vergangene Generationen erstrecken, so relevant wie einst die Erklärung der universellen Menschenrechte und die Charta der Zukunftsrechte.«

»Wie schön. Das muss doch einige in eurem Rund überzeugt haben?«

»Schwer zu sagen. Witwe Weddel verstummte, und Vater sagte nur mürrisch: Vergeblich kann auch logisch sein. Es plätscherte eine Weile dahin, aber die Diskussion hatte sich erschöpft.«

»Du hast dich davon nicht verunsichern lassen?«

»Im Gegenteil. Zum ersten Mal Gegenwind, ich war voller Elan.«

»Die Flasche ist leer.«

»Dann planen wir mal unseren nächsten Aufbruch.«

Drei Wasserrosen, einen krummen Ast und unzählige Strudel später sind sie sich über ihre nächsten Schritte einig. Als Erstes wird Samsil jenen Hafen aufsuchen, den die beschädigte spanische Galeone zum Abdichten anlaufen muss. Sie wird sich unters Volk mischen, Fliege beobachten, so viel wie möglich über ihre Absichten herausfinden. Erfahrungen sammeln. Sich mit dem Damalsdort gemein machen.

»Was tun wir, wenn Fliege einen anderen Weg einschlägt?«

»Was für einen? Als Hebamme? Oder als Hexe?«

»Es gibt noch andere Möglichkeiten. Magd, Ehefrau –«

»Sie ist auf den Geschmack der Freiheit gekommen. Da gibt es kein Zurück. Sie wird sich nie mehr unterwerfen, sie wird sich nie wieder

auf ein falsches Leben einlassen

was Samsil bestätigen kann, nach erfolgreicher Rückkehr. So die Einschätzung im chronautischen Kreis. Menschen neigen zu voreiligen Urteilen. Erst die Ergebnisse der Nachbesprechung (GOG: Die Raumzeitung der Chronautin) werden eine präzise Einschätzung ermöglichen. Zu diesem Zweck sollten alle Informationen, die Samsils Medium gesammelt hat, an GOG übermittelt werden. Technisch ein einfacher Vorgang.

Was für ein Einfaltspinsel, hat sich nicht einmal einen eigenen Namen gegeben. Begnügt sich mit den Grundeinstellungen (NEM723.0qSIP), verzichtet auf Selbstentwicklung. Kommuniziert so primitiv wie einst im Binärium.

Sonnenlicht fließt durch alle Zimmer. Verwirbelt Staub zu Goldlocken. Cya und Nikte in vierhändiger Bewegung an einem Flügel, der um ein Vielfaches älter ist als alle Zuhörerin zusammengenommen, einst ein Wertobjekt, als Luxus individuell gedacht und eigensinnig gelebt wurde (»Wir sind uns Luxus genug«, sagte Mutter zu Vater, als Cya klein war. Später nicht mehr. Dann sagte sie etwas Ähnliches zu Onkel Host). Witwe Weddel hat recherchiert: Der Flügel befand sich im Besitz eines reichen Mannes, ein Möbelstück zum Schmücken eines Wohnzimmers, zwischen Bridge-Tisch und Kaffeetisch, auf dem ein Bildband aufgeschlagen lag. Einmal im Monat ist ein Tonmeister gekommen, um die Tasten miteinander zu versöhnen. Der Flügel hat vor einigen Jahren in einer der Nachbarschaften Begehrlichkeiten geweckt, ein Konflikt, der durch ein Konzert geklärt wurde, an dessen Ende die Zuhörerin befunden haben, wer sich des Klangs würdiger erwiesen hatte. So entschieden sie über den Verbleib des Flügels. Die Nutzung steht selbstverständlich weiterhin allen Interessierten offen. Nikte, die Virtuosere der beiden, schließt die Augen, spielt die alte Komposition so, als improvisierte sie. Cya lehnt sich über die Tasten und konzentriert sich intensiv, als müsste sie beim Vortragen eines langen Gedichts zugleich eine schwierige Berechnung vornehmen. Samsil knüpft am offenen Fenster gedanklich einen Teppich aus Verwanderung und Moll, in dem Zimmer namens »Hängematte« nebenan sind mehrere Leserin in ihre Lektüren versunken, in der Küche klappert das Backblech, vor den Türen fliegen Bälle und Schreie, ein roter Drachen steigt in den Himmel und kollidiert fast mit einer Drohne, im Fassadengarten vergräbt Onkel Host seine Hände im warmfeuchten Torf, währenddessen NEM723.0qSIP alle Daten von Samsils Raumzeitreise an GOG überspielt.

Wenn dieses dröge Teil doch nur etwas vom Spielen verstünde!

Ein Hafen in spanischer Hand (+ Wassertemperatur) / ein Nachmittag im windlosen Winter (+ Luftfeuchtigkeit) / eine bewehrte Festung (+ Größe und Dicke der Mauern), bemannt mit 38 Soldaten (+ Namen und Ränge), davon 17 bettlägerig (+ jeweilige Erkrankung inklusive prozentualer Überlebenschance) / eine Aufzählung der Schreiner, Abdichter, Kordel- und Segelmacher, die zur Reparatur der Galeone Nuestra Señora de las Maravillas beordert werden (+ Eintrag im Schiffsregister und Zahl der Kanonen) / Prozentzahl der Besatzung, die in den Schenken kill-devils hebt (+ Ingredienzen und Alkoholgehalt des Getränks) sowie eines der Bordelle aufsucht (+ Preis, gestaffelt nach Hautfarbe und Alter).

STOPP