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Wahrheit und Dichtung Viele Dichter haben historische und besonders sensationelle Begebenheiten in ihren Gedichten beschrieben, oft auch eigene Erlebnisse, meist ging’s dabei um Liebe. In 26 Kapiteln wird jeweils erst die wahre Geschichte erzählt, dann das Gedicht gegenübergestellt. Drei Beispiele: Der Tyrannenmord auf Sylt: Henning Pogwitsch, der Tyrann, hat tatsächlich gelebt, hat die Fischer auf der Insel ausgeplündert, gedemütigt, gehenkt. Detlev von Liliencron schrieb darüber seine Ballade »Pidder Lüng« und bot im Showdown das wohl bizarrste Mord-Szenario der deutschen Literatur. Wie Johann Wolfgang von Goethe die Liebe seines Lebens fand, Christiane Vulpius, das beschrieb er verschlüsselt in einem berühmten Blumengedicht. – Unverblümt indes schilderte Goethe ihre Beziehung in zwei weniger bekannten Gedichten. Eines davon ist so intim, dass er es 27 Jahre lang unter Verschluss hielt. Der Mord am Erzbischof von Köln war ein Polit-Thriller des Mittelalters, eine historische Mantel-und-Degen-Story. Die bedeutendste deutsche Dichterin, Annette von Droste-Hülshoff , hat dazu eine schaurig-schöne Ballade geschrieben.
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Seitenzahl: 112
Einführung
Das Wettrennen mit dem Tod – »Und noch zehn Minuten bis Buffalo«
Heinrich Heines Liebesleid – »Ein Jüngling liebt ein Mädchen«
Maria Stuart: Die liebestolle Königin
Wie Geheimrat von Goethe die Liebe seines Lebens fand
»Über allen Gipfeln ist Ruh« – Wie Goethe diese Verse wiederfand
Die Moritat vom Wildschütz Jennerwein – Vergeltung erst am Jüngsten Tag
»Lieber tot als Sklav« – Der Tyrannenmord auf Sylt
So tricksten sie den König aus: Die Weiber von Weinsberg
Wie die Loreley auf den Rheinfelsen kam
Doctor Faust: Falscher Doctor, Gauner, Teufelsbündler
Der Minnesänger Tannhäuser: Kreuzritter im Venusberg
»Es waren zwei Königskinder« – Das Drama an den Dardanellen
Marie Antoinette – Königin unter dem Fallbeil
»Es liegt ein Schloss in Österreich« – Erst geliebt, dann gehenkt
Landgraf Ludwig der Springer: Der Mörder unter dem Lindenbaum
Heinrich der Vogler – Sein Feind ernannte ihn zum König
Die Ermordung des Erzbischof Engelbert von Köln im Jahre 1225
Der bayerische Hiasl: Räuber, Wilddieb, selbst ernannter Fürst der Wälder
Lola Montez: So verlor der König sein Herz und seine Krone
Die Baderstochter Agnes Bernauer – Geliebt, gekrönt, verraten, ertränkt
Der Rattenfänger von Hameln: Ein Abgesandter des Bischofs
Wallensteins Tod – Der Kaiser entlohnte den Mörder
Es hat ihn wirklich gegeben: Den sagenhaften Doctor Eisenbarth
»Du Schwert an meiner Linken« – Das Lied des toten Dichters
»Die Trompete von Gravelotte« – Anklage gegen den Krieg
Die Füße im Feuer – »Mein ist die Rache, redet Gott«
Der Steuermann auf dem brennenden Schiff: Das Wettrennen mit dem Tod. Bild zum ersten Kapitel.
Viele Dichter wurden von wahren Geschichten zu ihren Gedichten inspiriert, meist von historischen oder sensationellen Begebenheiten, manchmal von eigenen Erlebnissen, und dabei ging’s fast immer um Liebe – wie zum Beispiel bei Heinrich Heine.
»Ein Jüngling liebt ein Mädchen« – so beginnt eines seiner bekanntesten Gedichte. Viele können es auswendig aufsagen, doch kaum einer weiß: Heinrich Heine ist der Jüngling im Gedicht, das Mädchen seine geliebte Kusine Amalie, und die war tatsächlich in eine Liebelei mit drei Männern verstrickt! Auf der Strecke blieb der Dichter. Eine traurige Geschichte, ein trauriges Gedicht, erfrischend daran ist nur, dass sich Heinrich Heine deswegen eine flotte Prügelei geliefert hat auf dem Jungfernstieg in Hamburg. Das allerdings ist nicht im Gedicht zu lesen, wohl aber in der Geschichte dazu.
Hier noch zwei weitere Beispiele im Zeitraffer:
Der Tyrannenmord auf Sylt: Henning Pogwisch, der Tyrann, hat tatsächlich gelebt, hat die Fischer auf der Insel ausgeplündert, gedemütigt, gehenkt. Detlev von Liliencron dichtete dazu seine Ballade »Pidder Lüng« und bot im Showdown das wohl bizarrste Mord-Szenario der deutschen Literatur.
Die Baderstochter Agnes Bernauer wurde von Bayernherzog Albrecht III. geliebt, geheiratet, von ihrem Schwiegervater als Hexe verurteilt und im Jahre 1435 ertränkt. Ein unbekannter Dichter schrieb darüber eine der schönsten Volksballaden, die lange Zeit auf Jahrmärkten vorgetragen wurde.
In jedem der 26 Kapitel dieses Buchs wird zuerst die Geschichte erzählt und dann das dazugehörige Gedicht gegenübergestellt.
Dank der unmittelbaren Verbindung von Wahrheit und Dichtung gewinnen wir Einblicke in die Ideenwelt der Dichter. Wir können beobachten, wie Dichter sich von einer wahren Geschichte inspirieren lassen, wie sie die Fakten schöpferisch verarbeiten, wie sie sich den gegebenen Tatsachen mehr oder weniger anschmiegen, wie sie aber auch mit dem Recht der dichterischen Freiheit von der Wirklichkeit abweichen und damit ihr Werk dynamisieren, pointieren, nach eigener Meinung interpretieren.
Ein berühmtes Beispiel dichterischer Freiheit bot Theodor Fontane in »John Maynard«, seiner Ballade vom Wettrennen mit dem Tod. Er hielt sich weitgehend an die in alten Zeitungsberichten überlieferte Story, verdrehte aber eine Tatsache glattweg ins Gegenteil. Ein Geniestreich – wie gleich im nächsten Kapitel zu lesen ist. Viel Spaß dabei!
Walter Hansen
Das Wettrennen mit dem Tod, wie es Theodor Fontane so einzigartig beschrieb: Es hat sich tatsächlich ereignet! Am 9. August 1841 auf dem Erie-See in Nordamerika.
Ein Schaufelraddampfer brachte etwa 200 Passagiere von Buffalo nach Detroit. An Bord waren überwiegend Siedler und Einwanderer mit Frauen und Kindern, Ausflügler, einige Trapper, Pelzhändler und Handwerker. Gegen Abend tauchte der Hafen von Detroit in der Dämmerung auf – da entzündete sich Terpentin im Schiffsinneren. Feuer! Aus allen Türen und Luken sprangen Flammen an Deck. Chaos! Panik!
Der Fahrtwind wirbelt Glut und Flammen auf, treibt Feuersturm und Qualm nach rückwärts zum Heck – zu Steuermann Luther Fuller. Der sieht den Tod immer näher kommen und verharrt am Steuerrad, manövriert das Schiff in den Hafen. So können sich fast alle Passagiere an Land retten.
Und Luther Fuller? Als man seine verkohlte Leiche entdeckt, halten die Hände noch das Steuerrad umklammert.
Eine Untersuchungskommission stellte die Fakten zusammen. Was nun geschah ist Faktenfälschung von unüberbietbarer Dreistigkeit: Ein Beamter namens John Maynard unterschlug den Namen des heldenhaften Steuermannes, Luther Fuller – und schrieb stattdessen seinen Namen in den Bericht. Zeitungen übernahmen diesen Namen, und ab sofort wurde John Maynard als heldenhafter Steuermann gefeiert. John Maynard war der Nationalheld!
»John Maynard«: So nannte denn auch Theodor Fontane seine Ballade. Er hatte in alten Zeitungsberichten von dieser Heldenstory gelesen und übernahm die historischen Fakten. Nur eine entscheidende Tatsache verfälschte er mit dem Recht der dichterischen Freiheit: Er drehte sie einfach um – im wahrsten Sinne des Wortes: Theodor Fontane lässt das Schiff nicht von Buffalo nach Detroit dampfen, sondern von Detroit nach Buffalo. Ein genialer Dreh: So flogen ihm die berühmten Buffalo-Refrains zu.
John Maynard
Theodor Fontane
John Maynard!
»Wer ist John Maynard?«
»John Maynard war unser Steuermann,
Aus hielt er, bis er das Ufer gewann,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron’,
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«
Die »Schwalbe« fliegt über den Eriesee,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee,
Von Detroit fliegt sie nach Buffalo –
Die Herzen aber sind frei und froh,
Und die Passagiere mit Kindern und Fraun
Im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
Und plaudernd an John Maynard heran
Tritt alles: »Wie weit noch, Steuermann?«
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund’:
»Noch dreißig Minuten ... Halbe Stund«.
Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei –
Da klingt’s aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
»Feuer!« war es, was da klang,
Ein Qualm aus Kajüt’ und Luke drang,
Ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.
Und die Passagiere, buntgemengt,
Am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
Am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
Am Steuer aber lagert sich’s dicht,
Und ein Jammern wird laut: »Wo sind wir? Wo?«
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.
Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
Der Kapitän nach dem Steuer späht,
Er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
Aber durchs Sprachrohr fragt er an:
»Noch da, John Maynard?«
»Ja, Herr. Ich bin.«
»Auf den Strand! In die Brandung!«
»Ich halte drauf hin.«
Und das Schiffsvolk jubelt: »Halt aus! Hallo!«
Und noch zehn Minuten bis Buffalo.
»Noch da, John Maynard?« Und Antwort schallt’s
Mit ersterbender Stimme: »Ja, Herr, ich halt’s!«
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
jagt er die »Schwalbe« mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo.
Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.
Gerettet alle. Nur einer fehlt!
Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell’n
Himmelan aus Kirchen und Kapell’n,
Ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
Ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr,
Und kein Aug’ im Zuge, das tränenleer.
Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
Mit Blumen schließen sie das Grab,
Und mit goldner Schrift in den Marmorstein
Schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:
»Hier ruht John Maynard. In Qualm und Brand
Hielt er das Steuer fest in der Hand,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron’,
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard.«
»Ein Jüngling liebt ein Mädchen«: Dieses allgemein bekannte Gedicht hat eine kaum bekannte Geschichte. Heinrich Heine, der Dichter selbst – er spielt eine Rolle in seinem Gedicht!
Und das ist die Geschichte dazu: Als Neunzehnjähriger verliebt sich Heinrich Heine hemmungslos in seine Kusine Amalie, 17 Jahre alt, die Tochter des patriarchalischen Onkels Salomon, eines Hamburger Geschäftsmannes. Doch sie hat einen Andren erwählt. Der Andre liebt eine Andre und hat sich mit dieser vermählt. Amalie heiratet aus Ärger den ersten, besten Mann, der ihr über den Weg gelaufen: John Friedländer, einen Makler von zweifelhaftem Ruf.
Heinrich Heine rächte sich mit den Waffen des Dichters. In seinen »Reisebildern« schrieb er über seinen erfolgreichen Nebenbuhler: »Sogar den schwarzen, noch ungehenkten Makler, der dort mit seinem spitzbübischen Manufakturwaren-Gesicht umherläuft, bescheint die Sonne mit ihren tolerantesten Strahlen.«
Kaum war das Buch auf dem Markt, ergab sich ein grotesker Irrtum: Der Neffe des Nebenbuhlers, Josef Friedländer, ebenfalls Makler von zweifelhaftem Ruf, bezog diesen Text auf sich und geriet in Rage. Er passte Heinrich Heine ab, als der gerade auf dem noblen Jungfernstieg flanierte, und pöbelte ihn an. Es kam zu einer flotten Prügelei.
»Der Schweinehund hat mich auf offener Straße angegriffen, ein Mensch, den ich noch nie gesprochen habe«, berichtete Heinrich Heine seinem Freund Moses Moser in einem Brief.
Wie nachhaltig Heinrich Heine unter der unglücklichen Liebe zu Amalie litt, beweist er auch in seinen »Reisebildern«, und zwar nur ein paar Zeilen nach seiner Bemerkung über den »noch nicht gehenkten Makler«. Dort sagt er zu einer fiktiven Gesprächspartnerin über sich: »Oft und leicht kommt dieses Herz nicht zum Blühen; soviel ich mich erinnere, hat es nur ein einziges Mal geblüht, und das mag schon lange her sein, gewiss schon hundert Jahr. Ich glaube, so herrlich auch damals seine Blüte sich entfaltete, so musste sie doch aus Mangel an Sonnenschein und Wärme elendiglich verkümmern, wenn sie nicht gar von einem dunklen Wintersturm gewaltsam zerstört worden. Jetzt aber regt und drängt es wieder in meiner Brust, und hörst du plötzlich den Schuss – Mädchen, erschrick nicht! Ich habe mich nicht tot geschossen, sondern meine Liebe sprengt ihre Knospe, und schießt empor in strahlenden Liedern...«
Die unglückliche Liebe zu Amalie habe ihn »zum Dichter gemacht«, schrieb Heinrich Heine an seinen Freund Christian Sethe. Und einige Heine-Forscher meinen denn auch, das sogenannte »Amalien-Erlebnis« sei die Initialzündung gewesen zu seiner gesamten Liebeslyrik.
Und hier ist das Gedicht:
Ein Jüngling liebt ein Mädchen
Heinrich Heine
Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt;
Der andre liebt eine andre
Und hat sich mit dieser vermählt.
Das Mädchen heiratet aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen;
Der Jüngling ist übel dran.
Es ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu;
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
Maria Stuart: eine tiefreligiöse Königin – aber auch eine Femme fatale von raubtierhafter Erotik, verführerisch und leicht verführbar.
Sie kam am 8. Dezember 1542 zur Welt. Gleich drauf starb ihr Vater, König Jakob V. – und im Alter von sechs Tagen war sie die Königin von Schottland!
Fünfzehnjährig heiratete sie aus Gründen der Staatsraison den vierzehnjährigen, stets kränkelnden Thronfolger Franz II. von Frankreich. Eine Zwangsheirat war es, pompös zelebriert in der Kathedrale Notre Dame von Paris.
Ein Jahr später starb ihr Schwiegervater. Kronprinz Franz II. wurde König, und Maria Stuart war mit 16 Jahren die Königin von Frankreich.
Mit siebzehn war sie Witwe. Ihr Gemahl hatte eine Erkältung nicht überlebt.
Am 20. August 1561 kehrte sie in ihre Heimat zurück, wo vor fast genau einem Jahr der Protestantismus zur Staatsreligion erklärt worden war. Streng katholisch erzogen, plante Maria Stuart sogleich die Rekatholisierung Schottlands – und Englands dazu. Sie erhob als Urenkelin des Königs Heinrich VII. ihren Anspruch auf den englischen Königsthron und bestritt die Thronfolge der protestantischen Königin Elisabeth. Intrigen und Waffengewalt sollten Maria Stuart schnellen Erfolg bringen.
Indes: Alle politischen Ambitionen scheiterten an ihrem erotischen Temperament. So verfiel sie ihrem katholischen Cousin, Lord Henry Stuart Darnley, einem jovialen Trunkenbold und Frauenhelden, den sie am 29. Juli 1865 heiratete. Noch während der ersten Monate ihrer Schwangerschaft verließ sie ihn, offensichtlich wegen seiner Alkoholexzesse, doch er unterstellte eine ehebrecherische Zuneigung zu ihrem Privatsekretär David Rizzio, einem schiefgesichtigen und höckrigen Schlaumeier von umwerfendem Charme. Darnley entschloss sich zu der damals in feinen Kreisen traditionell gewordene Methode ehelicher Problemlösung: den Mord. Er engagierte einige Galgenvögel, und mit ihnen erdolchte er den schlauen Rizzio vor den Augen der Königin.
Die hatte inzwischen eine Liebesbeziehung zum Earl of Bothwell begonnen, einem Abenteurer, Haudegen und noblen Raufbold mit Schmissen im Gesicht und gebrochenem Nasenbein. Ihn wollte sie heiraten – doch da stand ihr Ehemann im Wege. Nicht lange. Bei einem Sprengstoffattentat am 9. Februar 1567 flog Lord Darnley mitsamt seinem Schlösschen in die Luft.
Bothwell war der Mörder, Maria Stuart die Mitwisserin. Ob auch Anstifterin, blieb ungeklärt.