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Die tödlichste Bedrohung ist die, die wir nicht kommen sehen
Es geht um Leben und Tod, als Jack Ryan einen Hilferuf seines alten Freundes Pat West erhält: Dieser wird in Indonesien der Ketzerei verdächtigt und inhaftiert. Sofort beginnt er mit den Vorbereitungen für eine Rettungsmission. Doch sie können nicht auf offiziellem Weg gegen die indonesische Regierung vorgehen. Alle Hoffnung ruht auf dem Campus, der vor Ort nach einer Lösung sucht. Bleibt nur noch das Problem, vor dem Pat West in seiner Nachricht eigentlich gewarnt hat: Um seine eigene Festnahme macht er sich weniger Sorgen als um eine geheimnisvolle KI namens »Calliope«. Diese scheint über Indonesien in chinesische Hände gefallen zu sein. Die Macht des Programms stellt alles in den Schatten, was sich Jack Ryan und der Campus je hätten vorstellen können.
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Seitenzahl: 666
Auf einer IT-Messe in Indonesien bietet ein amerikanischer Softwareentwickler seine neueste Erfindung zum Kauf an: »Calliope« ist ein Meisterstück der Programmierkunst – eine ungeahnt mächtige KI, die sogar dazu imstande ist, in militärische Sicherheitssysteme einzudringen. Es dauert nicht lange, bis das Programm ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zieht …
Als Präsident Jack Ryan auf der anderen Seite des Pazifik eine unerwartete SMS erreicht, offenbart sich ihm das Ausmaß der Geschehnisse: Eine mächtige Cyberwaffe gefährdet die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika und einem ehemaligen CIA-Agenten, dem Absender der Nachricht, droht die Todesstrafe. Er beauftragt die Agenten des Campus, alle Kopien des mysteriösen Computerprogramms umgehend sicherzustellen, während er sich politisch um die Freilassung seines alten Freundes bemüht. Als beides zu scheitern droht, bleibt Jack Ryan keine andere Wahl mehr: Er bricht zu einem unangekündigten Staatsbesuch in Indonesien auf, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
TOM CLANCY
UND
MARC CAMERON
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr und Reiner Pfleiderer
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Code of Honor bei G. P Putnam’s Sons, New York.
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Copyright © 2019 by The Estate of Thomas L. Clancy, Jr.; Rubicon, Inc.; Jack Ryan Enterprises, Ltd.; Jack Ryan Limited Partnership
Copyright © 2024 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Werner Wahls
Umschlaggestaltung © Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock (Viks_jin) und Shutterstock.com (Eky Studio, Tamjaii9, PHOTOCREO Michal Bednarek, KDdesign_photo_video, Worldpics)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32783-5V001
www.heyne.de
JOHNPATRICK »JACK« RYAN: Präsident der Vereinigten Staaten
SCOTTADLER: Außenminister
MARYPATRICIA »MARYPAT« FOLEY: Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste (DNI)
ARNOLD »ARNIE« VANDAMM: Stabschef des Präsidenten
GERRYHENDLEY: Direktor von Hendley Associates und Campus
JOHNCLARK: Operationsleiter
DOMINGO »DING« CHAVEZ: Leitender Außenagent
JACKRYANJR.: Außenagent (Campus) und Finanzanalyst (Hendley Associates)
DOMINIC »DOM« CARUSO: Außenagent
ADARASHERMAN: Außenagentin
BARTOSZ »MIDAS« JANKOWSKI: Außenagent
GAVINBIERY: Leiter der Abteilung für Informationstechnologie
Vereinigte Staaten
DR. CAROLINE »CATHY« RYAN: First Lady der Vereinigten Staaten
DR. DANBERRYHILL: Ehemaliger Kommilitone Dr. Ryans im Medizinstudium
PETERLI: Admiral a. D. der U.S. Navy
MICHELLECHADWICK:US-Senatorin
Indonesien
GUNAWAN »GUGUN« GUMELAR: Präsident Indonesiens
GEOFFNOONAN: Spiele-Software-Entwickler
SUPARMAN: Inhaber von Suparman Games
China
ZHAOCHENGZHI: Präsident der Volksrepublik China
DAVIDHUANG: Chinesischer Agent
GENERALSONGBIMING: Offizier der Volksbefreiungsarmee
GENERALBAI: Offizier der Volksbefreiungsarmee
MAJORCHANG: Bais Adjutant
WUCHAO: Major der Volksbefreiungsarmee/Agent der Zentralen Militärkommission (ZMK)
KANG: Chinesischer Auftragskiller
TSAIZHAN: Aufpasser der Kommunistischen Partei
Zweifel ist kein angenehmer, Gewissheit aber ein lächerlicher Zustand.
Voltaire
Wäre die junge Frau an der Bar eine Spur attraktiver gewesen, hätte Geoff Noonan eine Falle gewittert.
»Denk an deine Nummer.« Das sagten sie immer. Ja doch, er kannte seine Nummer auf der Attraktivitätsskala, und das hier würde schon irgendwie klappen.
Die Sicherheitsleute beneideten die anderen um ihre Reisen und ritten bei jedem Meeting auf Akronymen, fragwürdigen Statistiken und blödsinnigen Regeln wie diesem »Denk an deine Nummer«-Schwachsinn herum. Hämisch betonten diese Spaßbremsen, dass eine Fünf in Plymouth auch in Phuket oder Phnom Pen nur eine Fünf bleibe – wie im Übrigen auch überall sonst auf der Welt. Und sie erinnerten gern jeden daran, dass Achten und Neunen nie wie durch ein Wunder versuchten, mit einer Fünf anzubandeln. Niemals. War die Situation zu gut, um wahr zu sein, handelte es sich um eine Falle. Als Software-Ingenieur und -Entwickler war Noonan klug genug, um zu wissen, dass diese Primitivlinge recht hatten, jedenfalls meistens. Manchmal allerdings … Manchmal sprachen die Umstände dagegen. Manchmal war einer scharfen Frau gar nicht bewusst, dass sie eine scharfe Frau war, besonders wenn sie gerade scharf genug war.
Noonan beobachtete, wie die indonesische Schönheit an der Bar ihre Zehen um die Querstrebe des Hockers krümmte, so wie eine Katze mit der Schwanzspitze zuckte, um überschüssige Energie loszuwerden. Das war gut, zugegeben, aber nicht zu gut. Oder doch? Nein. Nicht so gut, wie wenn sie eine Acht oder so was wäre.
Die Magma Lounge des Hilton im indonesischen Bandung war mit überdimensionierten Ledersofas ausgestattet, die Menschen förmlich verschluckten, besonders wenn sie so kurze Beine hatten wie Noonan. Halb versunken zwischen den unglaublich weichen Polstern, dachte er weder an seine schwangere Frau und seine beiden Kinder noch an seinen Schwiegervater, einen Bundesrichter in Hartford. Eigentlich hätten ihn der Gefährlichkeitsgrad seines Tuns und die möglichen Folgen eines Seitensprungs veranlassen sollen, sich die Sache zweimal zu überlegen, nur kamen sie ihm gar nicht erst in den Sinn. Er dachte nur darüber nach, wie er zu gegebener Zeit aufstehen konnte, ohne dabei wie ein Volltrottel auszusehen.
Die Frau an der Bar sah für Noonans Geschmack gut genug aus, allerdings nicht so gut, dass bei ihm die Alarmglocken schrillten. Und hätten sie geschrillt, hätte er sie womöglich gar nicht gehört. Sein Seelsorger von der First Congregational Church in Beacon Hill hatte kürzlich bei einem Eheberatungsgespräch bemerkt, dass Geoff offenbar die Gabe abgehe, im Vorfeld einer moralischen Verfehlung, wie er es nannte, Schuldgefühle zu empfinden – jenes leichte Kribbeln im Nacken, das die meisten Menschen noch rechtzeitig von einem Fehltritt abhält. Noonan besaß durchaus ein Gewissen. Nur dauerte es immer eine Weile, bis es sich meldete. Ganz gleich, was er getan hatte, Augenblicke später versank er in Schuldgefühlen. Nur konnte er sich beim nächsten Mal offenbar nicht mehr daran erinnern, und diese Gedächtnisschwäche handelte ihm ständig Ärger ein.
Wieder fing er den Blick der Frau auf.
Im Moment sah der Ärger verdammt hübsch aus.
Ihr honigfarbener Teint und ihre makellosen Gesichtszüge ließen vermuten, dass sie Sundanesin war, also der in Bandung und West-Java vorherrschenden Ethnie angehörte. Von Indonesiern war oft zu hören, dass Sundanesen die attraktivsten Menschen ihres Landes seien. Noonan konnte das nicht beurteilen, doch er musste zugeben, dass er nicht viele hässliche Frauen gesehen hatte, seit er vor fünf Tagen mit seinen Bossen zur Computerspielmesse nach Jakarta gekommen war. Bandung war sogar noch besser – und schlimmer, aber hauptsächlich besser.
Blaue Augen und strohgelbe Strähnen im dunklen Haar der Frau ließen vermuten, dass sie mehr als nur ein paar holländische Zweige in ihrem Stammbaum hatte – eine Hinterlassenschaft niederländisch-ostindischer Plantagenbesitzer, die neben Tee auch Chinarindenbäume kultivierten, aus denen bis heute Chinin gewonnen wurde. Ihr hautenges, feuerwehrrotes Kleid war schulterfrei und herzförmig ausgeschnitten. Die verführerischen, faustgroßen Rundungen des Dekolletés bildeten einen reizvollen Kontrast zu der nervösen Art, mit der sie die Zehen des einen zierlichen Fußes krümmte und von der Spitze des anderen einen Schuh baumeln ließ.
Noonan rutschte aus den Tiefen der Polsterung nach vorn und nahm von dem Kellner seinen dritten Dirty Martini des Abends entgegen. Er erhob das Glas in Richtung der Frau. Riskante Sache, so ein Zuprosten aus der Entfernung. Es bestand die Gefahr, dass sie jemanden oder etwas hinter ihm ansah. Noonan hielt den Atem an, bis sie die Geste mit ihrem Drink erwiderte – Fruchtsaft, wie es aussah. Was ihn nicht überraschte, denn die meisten Sundanesen waren Muslime. Er fragte sich, ob ihre Religion sie davon abhalten würde, sich in einer Bar mit einem Fremden einzulassen. Vielleicht war sie ja nur hier, um sich mit einer Freundin zu treffen.
Er würde es gleich erfahren.
Sie war aufgestanden und kam über den geblümten Teppich auf ihn zugeschlendert. Das rote Kleid umschmiegte so eng ihren Bauch, dass er die Vertiefung ihres Nabels unter dem Stoff erkennen konnte. Ihre Nervosität war wie weggeblasen. Ihr Gang wirkte selbstsicher, jedoch nicht eingebildet, als wäre sie sich ihrer Attraktivität bewusst, hätte aber nicht die Absicht, sie als Waffe einzusetzen. Noonan warf einen Blick über die Schulter, nur um sicherzugehen. Er wollte nicht wie ein Idiot dastehen, wenn er sich erhob, um sie zu begrüßen, und sie an ihm vorbeirauschte, um mit einer Freundin zu sprechen, die sie am anderen Ende der Bar entdeckt hatte.
Aber da war niemand, und das versetzte Geoff Noonan einen Adrenalinstoß, der ihn vom Scheitel bis in die Zehenspitzen durchzuckte. Es konnte tatsächlich klappen.
Noonan war selbstkritisch genug, um zu wissen, dass er bestenfalls eine Sechs war. Die Frauen im Büro nannten ihn den Giftzwerg, was er unfair fand, denn mit seinen 1,70 Meter war er doch gar nicht so klein. Er vermutete, dass es mehr mit den Witzen zu tun hatte, die er im Pausenraum erzählte.
Er stand auf, als die Frau auf halber Strecke zu ihm war. Sie war eine solide Sieben, etwas zu schmal in den Hüften für seinen Geschmack und obenrum nicht ganz so gut bestückt, wie er es eigentlich mochte, aber doch, eine Sieben. Eine Sieben, die sich mit einer Sechs einließ. Das konnte klappen. Außerdem war er Amerikaner. Das war doch einen Zusatzpunkt wert. Oder? Vielleicht wollte sie sich nur zu einem Drink einladen lassen und dabei ihr Englisch üben, aber selbst das wäre besser, als nach einem Tag wie heute allein in einer Bar rumzuhocken.
Etwas weit Angenehmeres als Schuldgefühle regte sich in seinem Inneren.
Zwei Wochen zuvor war Geoff Noonan noch ein brillanter, wenn auch etwas verschrobener Software-Entwickler bei Parnassus Games in Boston gewesen, der sich damit zufriedengab, am Computer zu zocken und sich vielleicht mal in ein Striplokal am Boston Common zu schleichen, wenn seine Frau bei einer Schwangerschaftsuntersuchung war. Obwohl kein Mann mit übermäßigen Skrupeln, hätte er bis vor Kurzem niemals auch nur in Erwägung gezogen, seine Firma an den Höchstbietenden zu verraten.
Alles änderte sich, als Todd Ackerman mit dem Fahrrad verunglückte und sich beide Beine brach. Eigentlich hätte Ackerman die Tech-Konferenz in Jakarta besuchen sollen, doch wegen des Unfalls hatte Noonan für ihn einspringen müssen. Sie hatten zusammen mehrere Sachen entwickelt, die ihnen die Aufmerksamkeit der Bosse eingetragen hatten. Doch sah man einmal von ihrer Expertise im Bereich Computerspiele ab, hätten die beiden Software-Entwickler nicht unterschiedlicher sein können. Ackerman war am College ein Baseball-Star gewesen, Noonan dagegen immer der Letzte, der in ein Team gewählt wurde, und nicht nur im Sport. Ackerman liebte Konferenzen in fernen Ländern. Noonan bekam Durchfall von ungewohnter Kost. In Menschenmengen hatte er das Gefühl, keine Luft zu kriegen. Ackerman war Kanadier – und die galten ja als umgänglich – und lächelte mehr, als ein normaler Mensch eigentlich lächeln sollte. Die Bosse mochten ihn, tranken mit ihm, spielten mit ihm Golf. Noonan tolerierten sie, weil er ein brillanter Kopf war. Hätten sie einen der beiden Entwickler der Firmenspionage verdächtigt, dann ohne jeden Zweifel Noonan. Er war wortkarg und verklemmt, und wenn er mal lachte, dann meist über seine eigenen schmutzigen Witze.
Niemand verdächtigte Ackerman. Er war ein netter Typ.
Ackerman war es gewesen, der den Abstecher nach Bandung im Anschluss an die Konferenz organisiert hatte, um sich mit dem Vertreter einer aufstrebenden indonesischen Gaming-Firma zu treffen. Ackerman hatte die ausländischen Bankkonten eingerichtet, Alibis gezimmert, einen Fluchtplan geschmiedet – alles. Noonan war sich darüber im Klaren, dass er an dem Geschäft nicht beteiligt worden wäre, wenn Ackerman sein Fahrrad nicht geschrottet hätte. Er war ein notwendiges Übel – und jetzt ein reiches notwendiges Übel.
Zuerst hatte er gezögert, nicht weil er Skrupel hatte, sondern weil er eine Falle vermutete. Doch als ihm Ackerman eröffnete, um wie viel Geld es dabei ging, brauchte er nicht mehr lange zu überlegen. Er würde die bescheuerte Konferenz besuchen, sich anschließend mit dem Käufer treffen und die Hälfte von fünfundzwanzig Millionen Dollar einstreichen. Nicht schlecht. Seine Frau ging jeden Sonntag in die Kirche, obwohl sie nach allem, was er wusste, keine einzige Sünde zu beichten hatte. Selbst sie würde das mit den zwölfeinhalb Millionen verstehen, falls er sich dazu aufraffen sollte, es ihr zu erklären.
Falls. Mit so viel Geld konnte man leicht untertauchen.
Und außerdem: Es war ja nicht einmal Diebstahl. Schließlich hatten Ackerman und er die Technologie entwickelt. Warum sollten sie sie nicht verkaufen dürfen?
Auf der Messe wimmelte es von Computerfreaks – erwachsenen Menschen, die ihr Leben damit zubrachten, rechnergestützte Spiele zu entwickeln und zu spielen. Wie viele andere Teilnehmer war Noonan im Grunde seines Herzens ein introvertierter Einzelgänger, der die Gesellschaft eines Computerbildschirms in einem schummrigen Keller der von richtigen Menschen aus Fleisch und Blut vorzog. Begegnungen mit Gleichgesinnten mochten andere beglücken, er fand den Messetrubel und die endlosen Diskussionsrunden nur stressig und bekam davon bohrende Kopfschmerzen.
Die hohen Tiere von Warner Bros., Ubisoft, Sega – alle waren sie da. Das stärkste Kontingent stellten natürlich die Japaner, aber auch die Südkoreaner, die Chinesen und Leute aus dem Silicon Valley (unter denen jede Menge Japaner, Koreaner und Chinesen waren) zeigten Präsenz. Russland und Indien waren nur spärlich vertreten, Australien gerade mal durch eine Firma. Die Indonesier, die als Messeausrichter auf dem Spielemarkt unbedingt einen Fuß in die Tür bekommen wollten, hatten in der Firma Suparman Games ihren Branchenführer.
Die Sicherheitstypen in Boston – Noonan nannte sie Larry und Curly, ohne besonderen Grund, eigentlich nur um sie zu ärgern – hatten ihn gewarnt: Bei der Messe würden Leute auftauchen, die sich brennend für die jüngsten Innovationen des Unternehmens interessierten. Wirtschaftsspionage stelle die größte Bedrohung für die nationale Sicherheit Amerikas dar, hatten sie erklärt und dabei ernste Amtsmienen aufgesetzt, als wären sie noch FBI-Agenten und nicht Handlanger einer Firma, die Computerspiele produzierte. Dabei hatten sie keine Ahnung, dass Calliope überhaupt existierte, geschweige denn, was die Software zu leisten vermochte. Die hatte niemand außer Noonan und Ackerman. Wüssten die Bosse Bescheid, hätten sie jede existierende Kopie unter bewaffneten Schutz gestellt.
Ackerman bewahrte eine irgendwo in einem Schließfach auf. Noonan hatte zwei mit nach Jakarta gebracht. Eine behielt er sicherheitshalber. Fünfundzwanzig Millionen Dollar sollten eigentlich Vertragstreue garantieren. Und das würden sie auch, solange die Indonesier keine krummen Touren versuchten.
Die Konferenz war ein Albtraum. Drei Tage unter ständiger Beobachtung der Bosse. Anfangs war er überzeugt, dass sie Verdacht geschöpft hatten, bis er irgendwann begriff, dass sie ihn immer so ansahen, als sei es für sie frustrierend, dass er auf dem Gebiet der KI ein Genie war und sie ihn deshalb nicht feuern konnten, so unsympathisch er ihnen auch war.
Ackerman war clever und wusste, dass die Bosse nach Abschluss der Konferenz noch eine Weile in Jakarta bleiben und sich amüsieren würden. Deshalb hatte er für das Treffen mit dem Käufer Bandung gewählt, das dreieinhalb Autostunden südöstlich in den Parahyangan-Bergen lag. Noonan hatte den Bossen gesagt, dass er noch ein wenig Bergluft schnuppern und Kultur tanken wolle, bevor er abreise. Da sie selbst noch eine Kameltour in Australien geplant hatten, konnten sie schlecht etwas dagegen einwenden. Wenigstens versuchte er nicht, sich ihnen anzuschließen.
Bandung war ganz in Ordnung, soweit es Noonan beurteilen konnte. In der drittgrößten Stadt Indonesiens war es kühler als in Jakarta und nicht ganz so hektisch. Ihre Einwohner nannten sie auch »Stadt der Blumen« oder so ähnlich. Noonan hatte gehofft, wegen der Frauen, aber wie sich dann herausstellte, waren richtige Blumen damit gemeint. Dreißig Kilometer nördlich der Stadt überragte der Tangkuban Perahu, ein über zweitausend Meter hoher aktiver Vulkan, mit seinem grauen Felsmassiv die grünen Berge und erfüllte die Straßen mit Gerüchen, die alles andere als blumig waren.
Noonan traf sich mit dem Käufer in einem Teehaus einen Block von seinem Hotel entfernt. Der Mann sah wie ein indonesischer Gangster aus, oder jedenfalls so, wie sich Noonan einen indonesischen Gangster vorstellte: schwarze Hosen, dunkle Oakley-Sonnenbrille und eine Art Knast-Tätowierung am Bizeps, die unter dem kurzen Ärmel seines weißen Leinenhemds hervorschaute. Die Transaktion war überraschend simpel, wenn man bedachte, wie sehr sie Noonans Leben verändern würde. Übergabe des USB-Sticks, Überweisung des Geldes, Übermittlung der Aktivierungscodes durch Ackerman.
Alles ging zack, zack.
Es war überhaupt nicht wie im Kino. Keine schlagfertigen Sprüche, keine heiser geflüsterten Drohungen. Der Gangstertyp drückte sich vom Tisch hoch und entschwand mit dem, was ihn hergeführt hatte. Geoff Noonan taumelte förmlich aus dem Teehaus, berauscht von dem Gedanken, dass er jetzt Multimillionär war. Fast eine Stunde lang streifte er durch die geschäftigen Straßen Bandungs, wobei er versuchte, dem Verkehr und den Touristen aus dem Weg zu gehen, die dem Gewimmel in Jakarta entflohen waren und jetzt hier die Straßen verstopften. Er war wie betäubt und achtete kaum darauf, wohin er ging. Der Lärm der Autohupen, der Fahrradklingeln und Menschen, die in einer für ihn unverständlichen Sprache redeten, prasselte auf ihn ein wie kleine Geschosse, die aus allen Richtungen kamen.
Ein kleiner Mann an einer Garküche rief ihn mit Fistelstimme an und winkte mit einem Stück Pappe, mit dem er den Rauch seines Grills beiseitewedelte. Das brachte Noonan auf den Gedanken, dass er jeden dieser armen Schlucker in der Straße zehntausendmal kaufen könnte. Und noch öfter. Die meisten dieser Leute besaßen wahrscheinlich nicht mehr als ihre Imbissbude und irgendein Dreckloch, in dem sie hausten. Er hatte immer gewusst, dass er schlauer war als alle anderen. Jetzt war er auch reicher. Das selbstgefällige Gefühl verflog allerdings, als er seinen ersten Polizisten sah. Er war jetzt ein Krimineller. Ein Dieb. Er durfte nicht auffallen.
Überall gab es Straßenhändler, die von Hühnerspießen bis zu holländischem Gebäck alles feilboten. Er kaufte sich an einem Karren eine Schale Reisbrei mit Huhn, weil das Mädchen so hübsch war, und warf sie einen halben Block weiter nach zwei Bissen weg. Es schmeckte gut, doch ihm war zu flau im Magen. In der Hoffnung, dass ihm davon wohler wurde, ging er weiter und beschloss, sich den Hauptplatz mit der Großen Moschee anzusehen. Er musste seinen Chefs berichten können, dass er mehr unternommen hatte, als nur in der Hotelbar zu sitzen. Am Eingang zur Moschee zogen alle die Schuhe aus, und die Schwefeldämpfe des Tangkuban Perahu vermischten sich mit den Ausdünstungen fremder Leute Füße, was ihm Brechreiz verursachte.
Und ein schlechtes Gewissen.
Irgendwie fand er den Weg zurück zum Hotel und beschloss, seine Schuldgefühle in der Bar zu ertränken. Dann hatte er die blauäugige Sundanesin bemerkt – oder vielmehr sie ihn – und sich von ihr ein wenig Aufmunterung erhofft.
Der Gedanke, dass sie eine Prostituierte sein könnte, kam ihm erst, als er ihr auf ihr Zimmer folgte und die großen Spiegel sah, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Sein Zimmer lag drei Stockwerke über ihrem und hatte keine solchen Spiegel. Von Geld war allerdings noch nicht die Rede gewesen. Sie war entsprechend nervös, sagte, sie habe so etwas noch nie getan – sei auch noch nie alleine ausgegangen. Eigentlich habe sie sich mit einer Freundin treffen und mit ihr den Abend in der Stadt der Blumen verbringen wollen, doch die Freundin sei nicht gekommen. Das erklärte nicht das Zimmer, aber Noonan war das egal.
Er überdachte die Situation, während er die Schuhe von den Füßen schleuderte. Irgendwie passte doch alles zusammen: Einsame Frau, von der Freundin versetzt, trifft einsamen Mann und schleppt ihn ab. Und ehrlich gesagt, hatte er selbst so etwas auch noch nie getan. Er hatte zwar oft daran gedacht, es sogar versucht, nur hatte noch nie eine etwas von dem Giftzwerg wissen wollen. Bis jetzt.
Die Frau stellte sich als Betti Tamala vor. Als das rote Kleid vor dem deckenhohen Spiegel fiel, gelangte Noonan zu dem Urteil, dass sie eine solide Acht war. Er brauchte keine Minute, um zu erkennen, dass sie so etwas nicht zum ersten Mal machte und dass sie extrem gut darin war.
Hinter dem Spiegel drehte Wu Chao von der Strategischen Kampfunterstützungstruppe (PLASSF) – der Teilstreitkraft für Cyber-, Weltraum- und elektronische Kriegführung der chinesischen Volksbefreiungsarmee – den Hals von einer Seite zur anderen und reckte dann das Kinn zur Decke, als wäre ihm der Kragen zu eng. Die vier Männer, die sich mit ihrer Videoausrüstung in dem kleinen Wäscheschrank drängten, füllten ihn bis in den letzten Winkel. Der Schrank wurde ausschließlich für diese schlüpfrige Arbeit genutzt, und etwas Bösartiges lag in der staubigen, dumpfigen Luft wie eine Krankheit.
Die PLASSF bündelte einen Großteil der nachrichtendienstlichen Aufgaben der Armee auf technischer und sonstiger Ebene. Es war eine relativ junge Organisation, in der alle Beteiligten noch um die Vorrangstellung rangen. Wu diente seit fast zwei Jahrzehnten als Geheimdienstoffizier, war direkt der Generalstabsabteilung unterstellt und hatte sich in dieser Funktion nach oben gearbeitet.
Wu Chao war Patriot. Er war nicht zum Geheimdienst gegangen, um durch versteckte Gucklöcher Amerikaner bei ihrem obszönen Treiben zu beobachten, aber das gehörte nun mal dazu. »Abwechslungsreiche Tätigkeit« hatten seine Lehrer an der Hochschule für Internationale Beziehungen solches Tun genannt. Wu war 43 Jahre alt, hatte schütteres schwarzes Haar und ein kantiges Gesicht, das aussah wie aus Stein gemeißelt. Nicht von ungefähr hielten ihn die Leute wegen seines Aussehens und abgebrühten Auftretens für einen Killer. Und selbstverständlich hatte er Leben ausgelöscht. Das war der Lauf der Welt. Aber er hatte keinen Spaß daran. Seine Aufgabe war es, Informationen zu beschaffen, Computer-Software, Einsen und Nullen. Wenn er töten musste, dann bedeutete das immer, dass etwas gründlich schiefgelaufen war. Kang, der Mann auf der anderen Seite der Videokamera, war ein versierter Killer. Wu hatte im Laufe seines Berufslebens mit vielen Auftragsmördern zu tun gehabt. Einige hatte er eigenhändig getötet. Mit anderen hatte er eine Tasse Tee getrunken. Fast alle von ihnen hatten eine versöhnliche Eigenschaft besessen – Achtung vor den Eltern, Nachsicht mit kleinen Kindern, eine karitative Ader.
Das einzig Gute, was Wu über Kang sagen konnte, war, dass er seine Zähne pflegte. Groß gewachsen und durchtrainiert, allerdings etwas schmuddelig in seinem dunklen Anzug, stand Kang in der anderen Ecke des kleinen Schranks und sah aus wie ein überarbeiteter Geschäftsmann oder gestresster Polizeiinspektor, während er fasziniert durch die Scheibe starrte. Wu kannte die nüchterne Realität. Der Mann war ein staatlich bezahlter Serienkiller und genoss seine Arbeit. Hätte die Regierung ihn nicht für sich entdeckt, wäre er seinen hässlichen Gewohnheiten in den Seitenstraßen Shanghais nachgegangen. Kang war ohne Zweifel intelligent, aber Intelligenz ging nicht automatisch mit einem Gewissen einher.
Gewissen. Bei dem Gedanken daran krampfte sich Wu Chao der Magen zusammen, als hätte er eine Schlange verschluckt. Sein Beruf zwang ihn zu Maßnahmen, die grausam, aber notwendig waren. So hatte er die Einsamkeit einer japanischen Witwe ausgenutzt, um einen Radiosender in Okinawa zu infiltrieren, oder sich in Urumtschi mit einem jungen Uiguren angefreundet, damit er dessen Vater, einen Terroristen, liquidieren konnte. Er machte sich die Geheimnisse anderer Menschen zunutze und setzte sie so lange unter Druck, bis sie daran zerbrachen und sich vor Scham das Leben nahmen. Wie es schien, konnte er im Dienst an seinem Land gar nicht tief genug sinken, doch was sich jetzt vor seinen Augen hinter der Glasscheibe abspielte, war das Abscheulichste, das er je gesehen hatte. Und es wurde dadurch noch schlimmer, dass er für Betti Tamala Gefühle entwickelt hatte. Sie wusste zu viel und würde sterben müssen.
Kang war es, der sie töten würde. Wenigstens das blieb Wu erspart.
Die beiden Indonesier, die zwischen ihm und Kang standen – Agenten, die er vor Ort rekrutiert hatte –, wandten die Augen von der Scheibe ab. Sie wussten nicht, wo sie hinschauen sollten. Beide waren gläubige Muslime, aber sie waren auch Männer und jetzt mit Sicherheit zwischen widerstreitenden Gefühlen hin- und hergerissen. Wenn es zum Konflikt zwischen Frömmigkeit und Fleischeslust kam, behielt nach Wus Erfahrung in neun von zehn Fällen eine nackte Frau die Oberhand. Wu nahm einen langen, tiefen Atemzug, dann hielt er drei Finger hoch. Noch drei Minuten. Sie brauchten viel Videomaterial, um sicherzustellen, dass der Amerikaner kooperierte.
Der Amerikaner erwies sich als sportlicher, aber ungeschickter Liebhaber, der den gesamten Raum beanspruchte, den ihm das Zimmer bot. Neben der Videoausrüstung hinter der Scheibe lieferten Kameras, die im Sockel der Stehlampe, im Brandmelder an der Decke und im Rahmen des Blumengemäldes am Fußende des Bettes versteckt waren, nahezu permanent Bilder vom Gesicht des Amerikaners, zusammen mit kompromittierenden Ansichten.
Wu schnippte mit den Fingern, als er es nicht mehr ertrug, und schickte Kang und die indonesischen Polizisten durch die Geheimtür, die ins angrenzende Badezimmer führte. Er selbst blieb hinter dem Spiegel und ließ die Kamera weiterlaufen, während das Geschehen seinen Fortgang nahm.
Niemand, der so beschäftigt war wie der Amerikaner in diesem Augenblick, rechnete damit, dass er, wenn er den Kopf hob, in die Gesichter von drei Fremden blickte, die auf ihn herunterglotzten. Noonan schrie auf und schlug sich eine Hand vors Gesicht wie eine verzweifelte Frau im Film, dann packte er Betti und versuchte, sie wie einen menschlichen Schutzschild vor sich hinzuhalten. Sie wollte davon nichts wissen und kratzte ihn im Gesicht.
»Bravo«, flüsterte Wu zur Scheibe. Einer der Polizisten packte Betti am Arm und zog sie von der Matratze, sodass der nackte Amerikaner allein zwischen den zerwühlten Laken zurückblieb, hochrot im Gesicht und mit beiden Händen seinen Unterleib bedeckend.
Wu sah zu, wie Betti ihre Kleider zusammenraffte und ins Badezimmer huschte. Einen Augenblick später stand sie neben ihm im Schrank, bebend vor Entrüstung.
»Wolltest du mich ewig mit ihm allein lassen?«, stieß sie in tadellosem Englisch zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie nach hinten griff und den Reißverschluss ihres roten Kleides schloss.
»Verzeih mir«, flüsterte Wu. »Meine Vorgesetzten müssen sich darauf verlassen können, dass wir genug Videomaterial haben.«
»Ich weiß«, seufzte Betti. »Aber mir wäre es lieber gewesen, du hättest eine andere dafür genommen.«
»Mir auch, meine Liebe«, sagte Wu. »Aber dafür blieb keine Zeit. Ich habe jemanden gebraucht, dem ich vertrauen kann.«
Sie legte den Kopf auf die Seite und hob ihre schön geschwungenen Brauen. »Warum hast du wirklich so lange gewartet?«
»Ich habe darüber nachgedacht, ob ich ihn töten soll oder nicht«, antwortete Wu wahrheitsgemäß.
»Willst du etwa nicht?« Betti verzog enttäuscht das Gesicht, was Wu einen Schauer über den Rücken jagte. »Es bricht mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass du diesen Mann am Leben lässt, nachdem du gesehen hast, was er mit mir gemacht hat.«
Sie war schön und gefühlvoll, besaß aber auch eine verrückte Ader. Die war ihm schnell an ihr aufgefallen, und nicht zuletzt diese Eigenart war es, die ihn zu ihr hinzog.
Er zuckte unverbindlich mit den Schultern. »Wir müssen uns sicher sein, dass die Software echt ist.«
Sie beugte sich vor, bis ihre Nasenspitze fast die Scheibe berührte. »Er ist ein Dummkopf, wenn er eine solche Technologie mit auf Reisen nimmt.«
Wu widerstand dem Verlangen, ihren Oberschenkel zu berühren, und hielt den Blick auf den Mann gerichtet, der auf der anderen Seite der Scheibe weinte.
»Wir glauben, dass er die Absicht hat, sie zu verkaufen«, sagte Wu.
Wieder gingen Bettis exquisite Augenbrauen nach oben, als hätte sie daran noch gar nicht gedacht. »Und wenn er es schon getan hat?«
Wu teilte diese Befürchtung. Am Nachmittag hatten seine Leute den Amerikaner auf der Straße vorübergehend aus den Augen verloren. Doch als sie ihn eine halbe Stunde später ein paar Blocks weiter wieder aufspürten, war er noch derselbe Trauerkloß. Ein Mann, der gerade etwas so Wertvolles verkauft hatte, würde doch bestimmt jubeln. Wu deutete mit dem Kopf auf das schluchzende Häuflein Elend hinter der Scheibe und drehte die Lautstärke auf, damit sie besser verstehen konnten, was gesprochen wurde. Noonan deutete gerade nach oben, wo sein Zimmer war, und versicherte den beiden Indonesiern, dass das, was sie wollten, in seinem Safe eingeschlossen sei. Er gehe gerne mit ihnen hinauf, wenn sie nur seine Frau und seinen Schwiegervater aus der Sache heraushielten. Es ist doch nicht nötig, sie mit hineinzuziehen. Bitte! Der Mann klang wie ein hoch drehendes Motorrad – eins von der kleineren Sorte.
»Aber du wirst ihn doch töten, oder?«, sagte Betti nachdenklich, wie zu sich selbst. Ihre Lippen streiften die Scheibe beim Sprechen. »Irgendwann?«
»Ja«, antwortete Wu. »Natürlich. Seine Maschine geht erst morgen Abend. Wir haben noch Zeit.«
Sie wandte ihm das Gesicht zu und zog einen Schmollmund. »Es macht mich traurig, dass du meine Unschuld für einen USB-Stick verkaufst.«
»Nichts für ungut, meine Liebe«, sagte Wu, »aber deine Unschuld hast du schon vor längerer Zeit verloren, als …«
Sie drückte ihm einen Finger auf die Lippen.
»Du müsstest jetzt sagen: ›Ja, aber es ist kein gewöhnlicher USB-Stick.‹«
Wu zuckte nur mit den Schultern. Betti hatte recht. Er vermutete, dass nicht einmal der Amerikaner wusste, wie wertvoll seine Software war. Es war keine gewöhnliche Gaming-Software. Den Rest behielt Wu für sich, obwohl es keine Rolle spielte, was das Mädchen wusste. Kang würde sie töten, noch bevor die Nacht vorüber war – an irgendeinem ruhigen Ort, weit weg vom Hotel und von Noonan. Der würde später sterben, ebenfalls irgendwo anders und erst, wenn Wu überzeugt war, dass er Calliope in seinen Besitz gebracht hatte.
Domingo »Ding« Chavez stellte seinen Plastikbecher mit Bubble-Tea auf die Betonbrüstung des Fußwegs, der über die Manhattan Bridge führte, und blickte in Richtung East Broadway. Geheimdienstarbeit bedeutete nur in den seltensten Fällen, dass man jemandem ins Gesicht schießen musste, auch wenn es durchaus gelegentlich vorkam. Tatsächlich bestand sie zu 98 Prozent aus Routine und zu zwei Prozent darin, sich nicht selbst ins Gesicht schießen zu lassen.
Besucher von New York City neigten zu der Ansicht, dass die Canal Street das Herz von Chinatown sei, doch die belebten Restaurants und Märkte am East Broadway im Schatten der Brücke hätten ebenso gut zu Peking oder Shanghai gehören können. Englisch war hier eine Zweitsprache – oder wurde überhaupt nicht gesprochen.
Für Mai war es warm. Nur ein paar Blocks entfernt warfen Kirschbäume ihre letzten Blüten ab, hier aber vermischte sich der Geruch von Fisch und überreifem Obst mit dem Gestank von Müll und Abgasen, der von unten heraufwaberte, und Chavez war froh, dass er den aromatischen Tee hatte.
Eine Ledertasche hing über seiner Schulter, und in seiner freien Hand hielt er ein Handy. Sechs Punkte bewegten sich über den Bildschirm, der ein gemeinsames Lagebild oder COP mit den beiden Hasen und den vier Mitgliedern seines Teams zeigte.
Jack Ryan juniors Stimme drang aus dem kleinen, hautfarbenen Knopf in seinem Ohr.
»Adara, du wirst von zwei weißen Typen verfolgt, 15 Meter entfernt auf sechs Uhr. Graues Sweatshirt. Dunkelblauer Hoodie.«
»Alles klar«, antwortete Adara Sherman unter Verzicht auf professionell klingende Wörter wie Verstanden oder Positiv, um bei Passanten keinen Verdacht zu erregen – sofern so etwas in New York City überhaupt möglich war.
Chavez blickte kurz zu John Clark, der neben ihm stand und über die Brüstung hinwegspähte, in der Hand einen Becher mit Kaffee. Schwarzem Kaffee. Ohne gummiartige Tapioka-Perlen. Clark zuckte nur mit den Schultern: Das ist deine Show.
Chavez trank einen Schluck Tee. Lasst den Quatsch, Leute, dachte er. Ihr blamiert mich. Er beobachtete eine Frau, die unten an der Straße wartete, bis ihr Hund sein Geschäft verrichtet hatte, und dann, statt den Haufen einzutüten, zwei Minuten lang versuchte, ihn auf die Straße zu kicken, ohne dass etwas an ihren Schuhen kleben blieb. »Menschen verhalten sich seltsam, wenn sie sich unbeobachtet fühlen.«
»Du hast nur zur Hälfte recht«, sagte Clark. »Menschen benehmen sich überhaupt seltsam. Punkt.« Er holte tief Luft und atmete kräftig wieder aus wie jeder ältere Mann, den Chavez kannte, wenn er sich an eine besondere Geschichte erinnerte. »Ich habe mal zwei Vietcong-Kämpfer volle fünf Minuten dabei beobachtet, wie sie keine zwei Meter von meinem Versteck entfernt Zigarettenpause machten. Ich hätte mit der ausgestreckten Hand ihre Ho-Chi-Min-Sandalen berühren können.« Wieder ein geräuschvoller Schnaufer. »Ich war schon eine Weile im Land und verstand ein paar Brocken von dem, was sie sprachen. Es dauerte eine Minute, aber dann begriff ich, dass die beiden sich Witze erzählten. Komisch, aber ich hätte nie gedacht, dass sie miteinander blödeln und über dieselben Schweinereien lachen wie wir …«
»Was ist dann passiert?«, fragte Chavez und bereute es sofort, kaum dass ihm die Worte über die Lippen gekommen waren. Er war Soldat. Er hätte es besser wissen müssen.
»Es war Krieg«, antwortete Clark einfach nur. »Und das ist nicht zum Lachen.«
Obwohl Chavez seit zwanzig Jahren mit John Clark zusammenarbeitete und mit seiner Tochter verheiratet war, konnte ihm der Mann immer noch Gänsehaut verursachen. Und obwohl er selbst stramm auf die fünfzig zuging, konnte er einfach den Gedanken nicht abschütteln, dass er wie John Clark werden wollte, wenn er erwachsen war.
Wieder meldete sich Ryans Stimme über Funk.
»Sie haben dich im Visier«, sagte er. »Möglicherweise ein Gegenüberwachungsteam.«
Jack Ryan junior war der Sohn vom Chef seines Chefs seines Chefs. Athletisch und smart wie kein Zweiter, den Chavez kannte, konnte Jack eine Situation blitzschnell erfassen und entsprechend reagieren. Allerdings war er auch ein Bruder Leichtfuß und dafür bekannt, dass er Frauen nachstieg, wenn er sich eigentlich auf so ziemlich alles andere konzentrieren sollte. Zweimal war er deswegen beinahe gefeuert und zum Innendienst verdonnert worden, was einer Entlassung gleichkam, wenn man einmal Außendienstluft geschnuppert hatte. Ding und Clark hatten sich für ihn verbürgt – und er hatte Besserung gezeigt. Alles hatte darauf hingedeutet, dass er gereift war und sich endlich seinem Intellekt entsprechend verhielt.
Und jetzt sah er auf einmal Gespenster.
Es gab überhaupt kein Gegenüberwachungsteam. Ding wusste es. Er hatte die Übung geplant.
Ding stellte gern Trainingsprogramme zusammen, aber noch lieber hätte er selbst die Straßen durchstreift, mehrere unterschiedliche Rollen übernommen und seinen Jäger oder Killer so getarnt, dass er nicht zu aggressiv aussah und sich unauffällig unter die Passanten mischen konnte. Das Leben bot wenige Freuden, die größer waren, als Bösewichte ihrer Strafe zuzuführen – putting warheads on foreheads, wie sie es nannten. So spaßig es auch war, mit seinem Schwiegervater hier herumzustehen und Bubble-Tea zu trinken, Ding wäre lieber da draußen bei seinem Team gewesen.
»Okay«, sagte Adara, deren Punkt auf Dings Display zeigte, dass sie auf der Canal Street nach Westen ging und sich der Elizabeth Street näherte. »Dom bleibt an den Hasen dran. Bei dem Schaufenster da vorn mache ich langsamer und gebe ihnen die Chance vorbeizugehen.«
Als ehemalige Navy-Sanitäterin hatte Adara Sherman in Afghanistan und halb Zentralasien, wo damals die blutigsten Kämpfe stattfanden, an Einsätzen teilgenommen. Die Cross-Fit-Fanatikerin war eine hochkompetente Agentin, die selbst unter Druck stets Ruhe bewahrte. Außerdem war sie mit Dominic Caruso liiert, Ryans Cousin, dem derzeit einzigen Bundesagenten im Team. Er war an den Campus abgestellt, stand aber noch auf den Gehaltslisten des FBI. Chavez nahm an, dass die Sesselfurzer im Mittelbau der Bundespolizei – die gab es in jeder Behörde – sich irritiert fragten, was das wohl für ein Sondereinsatz sein mochte, zu dem ihr Agent vor langer Zeit verschwunden war. Der Direktor wusste es. Das genügte.
»Leite Gegenobservation ein, Ding …«, sagte Adara.
Chavez schielte wieder zu Clark hinüber. Es war ihm mehr als peinlich, dass seine Leute Gespenster sahen. Clarks Gesicht blieb so ungerührt wie die der Steinfiguren auf den Osterinseln. Absolut unergründlich.
Als Operationsleiter des inoffiziellen Geheimdienstes namens Campus beurteilte John Clark die Leistung von Chavez, so wie Chavez die Leistung seines Teams beurteilte.
Die Übung war seit nunmehr fünf Stunden im Gang, wobei Dave und Lanny die Rolle der Hasen spielten. Die beiden ehemaligen Marines waren handverlesene Wachschutzexperten, die für die physische Sicherheit des Gebäudes und der Gulfstream verantwortlich waren und bei Bedarf zudem Abwehrmaßnahmen gegen Überwachung durchführten. Seit dem frühen Morgen führten sie das vierköpfige Einsatzteam auf eine Reihe verschlungener Gegenüberwachungs-Routen, die in Alexandria, Virginia, ihren Anfang genommen hatten, unweit des Finanzunternehmens Hendley Associates, dessen Name auf allen ihren Gehaltsabrechnungen stand.
Alle im Team waren Profis – erfahren, im Feuer erprobt. Doch selbst Profis brauchten regelmäßiges Training. Wie für jedes Handwerk galt das auch für das Spionagegewerbe. Clarks Devise – »üben, bis man keine Fehler mehr macht, und nicht, bis man etwas richtig macht« – war inzwischen jedem in Fleisch und Blut übergegangen. Alle waren Naturtalente mit einer besonderen Begabung für alles, was mit Überwachung, Gegenüberwachung und heimlichem Eindringen zu tun hatte, und, was noch wichtiger war, für Techniken des Social Engineering, die in der Geheimdienstarbeit unerlässlich waren, gewissermaßen ihr Lebenssaft. Neben defensiven übten sie auch offensive Taktiken, und sie trainierten mit Schusswaffen. Letzteres gefiel allen am besten, doch bis auf Clark, Chavez und Caruso trug heute niemand eine Waffe. Alle waren hochprofessionell im Umgang mit Schusswaffen, aber sie trainierten auch ausgiebig für die zahlreichen Gelegenheiten, bei denen ihnen der Griff zu einem von Samuel Colts Gleichmachern versagt blieb. Gleichwohl war Situationsbewusstsein nur so lange besser als eine Waffe, bis es das eben nicht mehr war. Darum bewaffneten sie sich wann immer möglich. Darum die Ledertasche voller Waffen, die über Dings Schulter hing.
Die für Geldanlagen und forensische Buchhaltung zuständige Seite von Hendley Associates, »die weiße Seite«, finanzierte das verborgene Herzstück der Firma und diente ihm gleichzeitig als Tarnung. Hochgeheim und in der Regel unabhängig von den anderen Geheimdiensten der US-Regierung, war der Campus von Ex-Senator Gerry Hendley und Präsident Jack Ryan gemeinsam konzipiert und ins Leben gerufen worden.
Ryan senior mischte sich in die konkrete Arbeit nicht ein. Hendley war ein väterlicher Chef, freundlich, aber auch streng, wenn nötig. Er wirkte an der Planung mit, hielt sich sonst aber zurück. Die eigentliche Ausführung der Aufträge überließ er den Profis, insbesondere John Clark.
Clarks Führungsstil hatte sich daraus entwickelt, wie er selbst am liebsten operierte. Er war der festen Überzeugung, dass man dem Team einen Rahmen setzen musste, innerhalb dem es agieren und eigene Entscheidungen treffen konnte, und zwar auf der Grundlage von Erkenntnissen, die nur gewinnen konnte, wer vor Ort war. Er spielte nach wie vor eine aktive Rolle, nahm sich aber ein wenig zurück, gab den Elder Statesman und trat immer mehr Aufgaben an Chavez ab.
Das Ziel der heutigen Übung war klar, um nicht zu sagen simpel – genau wie in der realen Welt. Das Team sollte den Hasen bis zu ihrem Versteck folgen. Sobald sie es lokalisiert hatten, sollten sie ein Ablenkungsmanöver starten, alle Sicherheitssysteme überwinden und Ding Chavez’ kostbaren Kaffeebecher mit dem Aufdruck RAF Credenhill – auch unter dem Namen RAF Hereford bekannt – stehlen. Ein Kinderspiel – solange sie von Dave und Lanny nicht erkannt wurden.
Die Gegenüberwachung, die Jack bemerkt hatte, stellte kein Problem dar, denn sie existierte ja gar nicht. Der Junge musste sie sich eingebildet haben.
Midas Jankowski unterbrach als Nächster das Schweigen. Die Stimme des ehemaligen Delta-Force-Colonels klang ruhig und voll, als wäre er dafür geboren, über Funk zu sprechen. »Adara, und das ist kein Witz, ich habe hier zwei Asiaten, Mann und Frau, die gerade aus der Mott auf die Canal Street kommen. Sie gehen in deine Richtung, rund 15 Meter hinter dir.«
Chavez schaute auf die Punkte auf seinem Bildschirm. Alle bewegten sich jetzt auf der Canal nach Osten.
Er beschloss, die Sache laufen zu lassen. Ein gutes Training – verdammt peinlich für Ryan und Midas, aber gut. Für Profis wie sie war ein Versagen vor Kollegen schlimmer, als von einem tatsächlichen Gegner beschossen zu werden.
Dauer der Übung, Länge der Wegstrecke und Eintönigkeit führten zu Ermüdungserscheinungen und machten das Training realistischer – deshalb hatte Chavez das Szenario so gestaltet, dass von allen drei Zutaten reichlich vorhanden war.
Die Hasen waren auf die Red Line des Washingtoner U-Bahn-Netzes umgestiegen und mit zuvor gelösten Fahrkarten in der Union Station eingetroffen, und zwar so pünktlich, dass sie in den Northeast-Regional-Zug von Amtrak um 8:40 Uhr nach Boston springen konnten. Ding war stolz darauf gewesen, wie es das Team an Bord geschafft hatte, bevor der Zug abfuhr. Er und Clark hatten zehn Minuten später mit der Waffentasche den Acela Express genommen. Als ausgewiesener FBI-Agent konnte Caruso in den Vereinigten Staaten praktisch überall mit Waffe hin, doch das übrige Team musste darauf verzichten, wenn es einem Hasen in ein Museum oder Passagierflugzeug folgen wollte. Clark tat selten einen Schritt ohne seine Colt 1911, und wenn Geheimdienstarbeit von Agenten auch häufig verlangte, unbewaffnet zu bleiben, so kannte er die Gefahren ihres Berufs doch nur zu gut. Er hielt es für dringend geboten, in Notfällen jederzeit in der Lage zu sein, tödliche Gewalt anzuwenden. Wenn irgend möglich, schleppte daher jemand aus dem Team die Tasche mit den Waffen mit. Caruso hatte in Holstern am Hosenbund seine Glock und Adaras M&P Shield stecken. Es war zwar nur eine Übung, doch weitere Shields befanden sich in der Ledertasche, darunter auch eine für Adara, falls Caruso nicht rechtzeitig zu ihr stoßen konnte.
Der Acela Express mit Chavez und Clark erreichte zwanzig Minuten vor dem Northeast-Regional-Zug die Penn Station in Manhattan. Die Hasen legten am Time Square eine Pause ein und aßen im Junior’s Käsekuchen, dann führten sie das Team auf einen munteren Spaziergang durch den Central Park und zurück in Richtung Stadtmitte, bevor sie mit der Linie N in die Canal Street fuhren.
»Habt ihr eine Gegenüberwachung am Laufen?«, fragte Clark.
»Nein«, antwortete Chavez.
Chavez war taktisch keineswegs unbeleckt. Er hatte als Soldat bei der Army, als Personenschützer bei der CIA und als Teamleiter bei der multinationalen Antiterroreinheit Rainbow eine Menge Erfahrung gesammelt. Er war auf der ganzen Welt im Einsatz gewesen. Seine Narben zeugten davon. Aber Clark war in der Welt der Geheimdienste eine Legende, und das wollte was heißen in einem Gewerbe, in dem Anonymität oberstes Gebot war. Die Vergangenheit des ehemaligen Navy Seal und langjährigen CIA-Mitarbeiters lag weitgehend im Dunkeln. Kaum jemand in der Branche wusste genau, was er getan hatte, nur dass er es getan hatte. Und dass er viel getan hatte. Und das zu wissen genügte.
Dass Clark auch Dings Schwiegervater war, erweiterte jede Operation um eine zusätzliche Stress- und Vertrauensebene. Sie hatten schon lange zusammengearbeitet, als Ding Patsy kennenlernte. John hatte die Beziehung offensichtlich gebilligt, denn Chavez konnte noch aufrecht stehen. Er und sein Schwiegervater hatten weiterhin Blut vergossen und dabei auch selbst eine Menge gelassen.
Clark blickte auf seine Uhr, eine analoge Victorinox, schlicht, aber unverwüstlich. Chavez trank noch einen Schluck Bubble-Tea. Schon verrückt, wie der Boss mit einem Blick auf die Uhr selbst den ausgeglichensten Menschen nervös machen konnte. Da Chavez als stellvertretender Operationsleiter eine zunehmende Zahl von Einsätzen befehligte, konnte sich Clark heraushalten und einfach nur zusehen – und dabei Kaffee trinken und auf seine Uhr schauen.
»Ist irgendwas, Mr. C?«, fragte Chavez.
Es war gar nicht Clarks Art, unruhig zu werden. Sie waren schon den ganzen Vormittag zusammen, aber jetzt hatte Clarks stoische Gelassenheit einen Knacks bekommen.
»Alles gut«, antwortete er und zuckte kaum merklich mit den Schultern, während er seinen Blick starr auf den East Broadway gerichtet hielt. Chavez hätte sich nicht gewundert, wenn einer der Passanten Feuer gefangen hätte. »Ich überlege nur.«
Wieder meldete sich Midas, dringlicher diesmal. »Leute, kein Scherz, ein Weißer ist gerade hinter dem asiatischen Paar aus der Mott aufgetaucht und in die Canal eingebogen. Er juckelt hin und her, aber er hat sich gezielt an ihre Fersen gehängt.«
»Ich sehe ihn«, sagte Ryan.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Caruso.
Merkwürdig, dachte Chavez, dass Dom die Information eines Teamkollegen infrage stellte.
»Mein voller Ernst«, sagte Midas. »Der Typ trägt eine leichte Jacke und Khakihose. Er bewegt sich wie ein Cop. Ich glaube, ich habe kurz Handschellen an seinem Gürtel gesehen.«
Chavez straffte sich jetzt.
»Unsere Hasen überqueren die Canal«, meldete Adara. »Folge der Elizabeth nach Süden.«
»Okay«, sagte Midas. »Die Asiaten und die Khakihose gehen weiter nach Osten. Weitere Polizisten sehe ich nicht. Ich vermute, der Typ ist nicht im Dienst.«
»Oder eine Art Killer«, spekulierte Jack junior. »Ohne Witz.«
»Rollenwechsel, Ding«, sagte Adara. »Rollenwechsel.«
Ding griff in die Tasche und legte an seinem Funkgerät einen Schalter um, damit alle ihn hören konnten. »Szenario abbrechen«, sagte er. »Ich wiederhole: Szenario abbrechen. Haltet Abstand, aber hängt euch vorsichtshalber an den Typ in der Khakihose. Wer hat die beiden Weißen im Blick, die euch aufgefallen sind? Die gehören nicht zu meinen Leuten.«
»Vergesst sie«, sagte Adara. »Die sind kein Thema. Nur ein kleiner Trick, um zu gewinnen, Boss. Wir werden es später erklären.«
»Das will ich auch hoffen«, knurrte Chavez. »Erbitte Bestätigung, dass außer den beiden Asiaten und der Khakihose niemand im Spiel ist.«
»Das ist korrekt«, antwortete Adara.
Chavez widerstand dem Drang, sie zu rüffeln. Stattdessen koordinierte er die Bewegungen des Teams, während Clark Lannys Handynummer wählte und die Hasen auf die gemeinsame Frequenz legte, damit sie auf dem Laufenden gehalten wurden.
»Alle locker bleiben«, sagte Chavez. »Wir wollen uns nicht in die Operation einer anderen Behörde einmischen.«
Midas meldete sich. »Das asiatische Paar biegt rechts in die Bowery Street ab.«
»Okay«, sagte Chavez. »Lanny und Dave, ihr geht weiter auf der Elizabeth nach Süden. Midas, was macht die Khakihose?«
»Nähert sich der Bayard Street«, antwortete Midas. »Er bleibt dran. Hätte er ein Team, würde er sich jetzt wohl ablösen lassen. Ich denke, er ist allein.« Es folgte eine Pause, als versuchte Midas, einen besseren Blick auf etwas zu bekommen. »Der Asiate hat eine Pistole im Hosenbund.«
»John und ich kommen runter«, sagte Chavez und vergegenwärtigte sich den Stadtplan, während er losrannte. »Wir werden hinter der Confucius Plaza dazustoßen und vor euch bleiben. Dom, halte dich an der nächsten Querstraße links. Renn rüber zur Canal, dann könnt ihr mit Midas überschlagend vorgehen, falls erforderlich.«
»Adara und ich sind östlich auf der Bayard«, sagte Dom.
Als Nächster meldete sich Jack. »Ich komme die Bowery runter …«
Das Funkgerät streikte, was bedeutete, dass zwei Leute gleichzeitig zu sprechen versuchten, sodass beide Meldungen verstümmelt wurden.
Dann kam Dom durch.
»Ich kenne den Typ«, sagte er. Das Keuchen in seiner Stimme ließ vermuten, dass er rannte. »Er ist vom FBI. Sein Name ist Nick Sutton.«
»Das asiatische Paar ist gerade rechts abgebogen«, meldete Midas. »In die nächste Straße hinter der Bayard. Sutton ist noch an ihnen dran. Bin jetzt ohne Sichtkontakt.«
»Ich gehe näher ran«, sagte Dom. »Vielleicht kann ich seine Aufmerksamkeit …«
Das Funkgerät verstummte. Sekunden später meldete sich Dom wieder, atemlos. Er rannte.
»Mann am Boden«, sagte er.
Caruso schlug die Jacke zurück und zog die Glock. Sein Blick suchte die Umgebung ab. Nick Sutton lag zusammengesackt auf der schmutzigen Betontreppe, die neben dem Eingang zu einem Nagelstudio ins Untergeschoss führte. Die Stahltür zum Keller hinter ihm war zu. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich in dem Betonschacht am Fuß der Treppe zu verstecken und dem Agenten aufzulauern, wenn er vorbeikam. Caruso hatte keine Schüsse gehört. Das halbe Dutzend Fußgänger, das auf der Doyers Street unterwegs war, hatte entweder nichts gesehen oder einfach ignoriert, was es gesehen hatte.
Caruso stieg um Sutton herum in den beengten Raum vor der Tür, während Adara die Wunden des Agenten untersuchte. »Wir sind für dich da, mein Freund.« Er wäre gerne in die Knie gegangen, um zu helfen, aber weder Adara noch er wären eine Hilfe, wenn sie erschossen wurden.
Arterielles Blut war in hohem Bogen an die Betonwand gespritzt. Noch heute, nach Jahren in diesem Job, staunte Dom über die offenkundige Lust, mit der Blut den menschlichen Körper verließ. Wenn jemand außer einem Unfallchirurgen Nick Sutton jetzt retten konnte, dann Adara Sherman.
Dom schirmte sie in der engen Nische, so gut es ging, ab, dann drückte er, die Pistole dicht an die Rippen haltend, mit der linken Hand die Türklinke. Abgeschlossen. Das hatte nicht viel zu bedeuten. Caruso hatte irgendwo gelesen, dass es überall in Chinatown Tunnel gab. Suttons Angreifer konnten durch diese Tür geflüchtet oder auch einfach davonspaziert sein – in welchem Fall sie direkt Chavez und Clark in die Arme liefen.
Caruso sprach wieder über Funk. »Könnte sein, dass sie in deine Richtung kommen, Ding.«
Das Funkgerät klickte zweimal, was bedeutete, dass Chavez verstanden hatte.
Dom fischte seine FBI-Marke mit Kette aus dem Hemd und hängte sie sich um den Hals. Die Marke war zwar von Gewicht, aber relativ klein, sodass der kleine, goldene Schild eine Schießerei unter Kollegen kaum würde verhindern können, wenn ein mit Adrenalin vollgepumpter Cop auf der Bildfläche erschien. Aber besser so, als ohne Marke neben einem blutüberströmten Mann zu stehen und mit einer Waffe herumzufuchteln.
Die Pistole am langen Arm, stellte er sich schützend vor Adara und den verwundeten Agenten und suchte mit den Augen Türen und Fenster entlang der Doyers Street ab. Die Straße war auch unter dem Namen »Bloody Angle« bekannt, weil hier in den frühen New Yorker Tagen chinesische Tong-Schläger Mitglieder rivalisierender Banden in Stücke gehackt und mit ihrem Blut das Pflaster rot gefärbt hatten.
»Sprechen Sie mit mir, Nick«, sagte Adara. »Können Sie mich hören?«
Sutton murmelte etwas, das Dom nicht verstehen konnte.
»Wir kriegen Sie wieder hin«, sagte Adara in grimmigem Ton. »Der Krankenwagen ist unterwegs.«
Dom blickte auf ihr blutverschmiertes Telefon am Fuß der Treppe.
Sutton stöhnte. Trotz Adaras Bemühungen verlor er viel Blut.
»Sie sind längst fort«, sagte Dom. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
Sie deutete auf Suttons Armbeuge. »Bei der Arterie da. Er hat irgendwo eine zweite Blutung, die muss ich finden.«
Dom steckte die Waffe ins Holster und kniete sich neben Adara hin. Mit zwei Fingern übergab sie ihm das spaghettiartige Ende von Suttons Oberarmschlagader. Eine klaffende, sieben Zentimeter lange Wunde legte Fleisch und Knochen an seinem Oberarm bloß. Zwei kleinere Wunden rahmten die große wie blutige Klammern. Wegen des vielen Bluts ließ sich schwer feststellen, wie oft auf Sutton eingestochen worden war, aber die Wunden waren zahlreich und tief. Der Angreifer hatte den Hals anvisiert, doch Sutton hatte wohl rechtzeitig den Arm hochreißen können, sodass Trizeps und Rippen den größten Schaden abbekommen hatten – was ein schwacher Trost war, denn eine solche Wunde bedeutete nur, dass er etwas langsamer verbluten würde, als wenn ihm die Kehle aufgeschlitzt worden wäre.
Sirenen heulten in der Ferne.
Sutton gab ein Röcheln von sich. Zitternd öffneten sich seine Augenlider, und zum ersten Mal schien er Caruso wahrzunehmen.
Adara drückte ihren Handballen auf eine zischende Stichwunde in seiner Brust, um sie bis zum Eintreffen des Notarztes, so gut es ging, zu verschließen.
»Dom?« Sutton röchelte erneut, krächzte, verzog das Gesicht vor Anstrengung.
Seine Hand buchstäblich halb in Suttons Fleisch vergraben, spürte Caruso den Puls des Mannes – er raste, war aber extrem schwach, da sein Herz bemüht war, das im Körper verbliebene Blut ins Gehirn zu pumpen.
Der Agent blinzelte. »Was … was machst du denn hier?«
»Erzähl ich dir später, mein Freund«, sagte Caruso. »Wer hat dir das angetan?«
»Rene …« Wieder ein Röcheln. »Hat wild auf mich eingestochen. Rene Peng … hat sich hier versteckt … bin ihrem Mann gefolgt …« Sutton schluckte. »Was zu trinken … Durst.«
»Bedauere«, sagte Dom. »Du bekommst eine Infusion, sobald der Krankenwagen da ist. Spar deine Kräfte.«
Sutton schüttelte den Kopf. »Die Pengs … chinesische Staatsbürger … Menschenschmuggler aus den Docks … Snakeheads.« Er zitterte, spuckte einen Mund voll Blut aus und hielt inne, um Atem zu schöpfen.
»Der Krankenwagen ist gleich da«, sagte Adara.
»Seit Monaten hinter den Arschlöchern her … war mit Frau und Kind im Vincent’s … hab ich Rene vorbeigehen sehen …«
Seine Augen weiteten sich. »Meine Frau … sie wartet … im Restaurant.«
»Ich werde sie holen«, sagte Dom. »Wir werden sie ins Krankenhaus bringen, damit sie bei dir sein kann.«
»Danke … mein Freund«, sagte Sutton, der jetzt heftiger keuchte. »O Mann … ich … ich hätte Melissa nie hierherbringen dürfen.«
Dom tätschelte ihm die Wange, erst sachte, dann kräftiger. »Bleib bei uns, Nick. Nicht einschlafen. Was glaubst du, wo ist Rene Peng hin?«
»Keine Ahnung«, stieß Sutton undeutlich hervor. »Wenn ich das wüsste, hätte ich sie längst …«
Dings Stimme kam über Funk. »Wir haben hier eine Frau mit weißer Baseballkappe. Sie kommt uns auf dem East Broadway entgegen, Richtung Brücke. Sie macht auf locker, ist es aber nicht. Drei Schritte hinter ihr geht ein Mann mit Sonnenbrille und blauem Hoodie.«
»Das müssen sie sein.« Dom sah auf Suttons Wunden hinab. »Sie muss Blut an den Kleidern haben. Oder sie hat das Shirt gewechselt.«
»Moment«, sagte Chavez. »Sie geht jetzt an mir vorbei …« Und dann flüsternd: »Bingo, was das Blut angeht. Sie sind es, alles klar.«
Der rote Fleck vorn auf Rene Pengs Shirt wurde fast von ihren Armen verdeckt. Ihr Mann schloss zu ihr auf, als sie an Ding vorbeiging, und steckte ein Handy in seine Tasche, als hätte er gerade telefoniert. Er sagte etwas zu ihr, und beide lachten.
»Kaltblütiges Miststück«, knurrte Ding, ohne Clark zu beachten, der gerade aus einer kleinen Bodega kam und sich an das Paar dranhängte. Ding fiel zurück, weil er sich einen Moment Zeit nahm, einen Verkaufstisch voller gebrauchter Bücher auf Chinesisch zu begutachten.
»Ich habe Sichtkontakt«, meldete Clark. »Einen halben Block von der Brücke entfernt.«
»Bin gleich da«, sagte Midas. »Wir nehmen sie in die Zange …«
»Halten wir uns noch zurück«, sagte Clark. »Wenn es so aussieht, als könnten sie entkommen, schlagen wir zu.«
»John«, sagte Dom, aus dessen gepresster Stimme der Wunsch nach Vergeltung klang. »Sie haben einen FBI-Agenten halb abgeschlachtet.«
»Und er war nicht ohne Grund hinter ihnen her«, sagte Clark. »Warten wir ab, wohin sie gehen. Dom, Adara, ihr kümmert euch um die Polizei. Der Rest kommt zur Brücke. Wir spannen ein Netz um die Bastarde.«
Zunächst sah es so aus, als wollten die Pengs den Fußweg über die Manhattan Bridge nehmen, der über den East River nach Brooklyn führte. Dann aber blieben sie auf dem East Broadway, gingen unter der Brücke durch und parallel zur Brücke die Forsyth Street entlang. Die Straße glich einem Jahrmarkt. Mehrere Blocks weit waren Klapptische aufgebaut, auf denen alle erdenklichen Obst- und Gemüsesorten wie Drachen- und Durianfrüchte auslagen, die von Chinesen, nicht von Touristen, gekauft wurden. Menschen mit runzeligen Gesichtern saßen unter provisorisch gespannten, blauen Plastikplanen oder großen Sonnenschirmen aus Segeltuch. Auf den Gehwegen hinter den Ständen stapelten sich Kisten mit Obst. Kühllaster säumten die Straßen.
Es war noch so früh, dass die Sonne diese Seite der Brücke beschien, und der Fisch- und Müllgeruch aus den schattigen Seitenstraßen wich den fruchtigen Düften der Verkaufsstände.
Clark folgte dem Paar in etwa dreißig Meter Abstand. Den Kopf gesenkt, die Schultern leicht hochgezogen, hielt er Sichtkontakt. Ding hatte sich an seine Fersen geheftet und seinem Tempo angepasst, blieb aber in der Menge der Fußgänger.
Mit dem Rücken zu Clark blieb Rene Peng an einem Obststand stehen, über dem sich die Straße wieder nach Osten zu krümmen begann. Garret ging ein paar Schritte an ihr vorbei, spähte zu dem Fußweg der Brücke hinauf und dann quer über die Forsyth. Er wirkte angespannt, ganz im Gegensatz zu Rene, die jetzt nach einer Birne griff, sie sich an die Nase hielt und freundlich mit der alten Frau an der Waage plauderte. Die Frau nickte, schaute auf, an Clark vorbei in Richtung Ding. Sie beugte sich vor und flüsterte etwas. Rene hielt die Birne hoch, als wollte sie sie kaufen – und rannte davon.
Einen Augenblick lang schien die Birne in der Luft zu hängen.
»Sie flüchten Richtung Brückenrampe«, bellte Clark. »Könnte sein, dass sie sich trennen.«
Rene warf wieder einen Blick über die Schulter zu Clark. Sie rief ihrem Mann etwas auf Chinesisch zu, dann legten sie einen Zahn zu.
»Los, Ding, hinterher!«, sagte Clark. Er selbst war in all den Jahren mehr als genug gerannt, und seine Stärken lagen mittlerweile woanders. Ohnehin hatte er eine andere Idee. »Jack, sag mir, dass du an der Nordostecke der Brücke bist.«
»Sie sind in Sicht«, antwortete Ryan.
Ding rannte an Clark vorbei, und die Ledertasche mit den Waffen, die er über die Schulter geschlungen hatte, hüpfte auf seinem Rücken.
»Ich bin auch hier, Boss«, meldete Midas. »Wir haben alles besetzt, die Treppe, die Canal. Dave hat sich vor der griechisch-orthodoxen Kirche postiert.«
»Ausgezeichnet«, sagte Clark. »Ding, geh auf die Ostseite der Straße, in die Nähe von Dave. Sie könnten sich trennen.«
»John, sie werden mich sehen …«
»Tu es einfach!«, brüllte Clark, keinen Widerspruch duldend. »Der Rest verteilt sich. Zählt auf zehn, dann meldet ihr euch bei mir. Denkt daran, die beiden haben gerade versucht, einen FBI-Agenten umzubringen. Ding und ich sind im Moment als Einzige bewaffnet.«
Er suchte die Straße nach der nächstbesten Waffe ab – irgendwas fand sich immer –, dann griff er sich im Vorbeigehen einen Besenstiel von einem Obststand und benutzte ihn wie einen Gehstock. Er rannte nicht, schaute kaum auf. Der alte Mann am Stand nickte einfach nur, als wüsste er, was Clark vorhatte, oder als sei es ihm egal.
So oder so, die Sache würde bald vorbei sein.
»Jetzt«, sagte Clark, als er auf zehn gezählt hatte. »Zeigt euch den beiden. Schnappt sie euch, wenn ihr könnt. Wenn nicht …«
»Sie kommt in deine Richtung, John«, sagte Midas in scharfem, aber kontrolliertem Ton.
Im nächsten Moment meldete sich Ding über Funk. »Der Mann ist am Boden. Du hattest recht. Sie haben sich getrennt.«
Clark ging weiter nach Norden und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Rene Peng näher kam. Sie schaute an ihm vorbei, als wäre er gar nicht vorhanden. Er konnte das Messer in ihrer Hand sehen, halb im Ärmel versteckt. Ein leichtes Grinsen spielte um ihre Mundwinkel, als glaubte sie bereits, sie hätte gewonnen. Clark blieb stehen, wie um Atem zu schöpfen, während sie näher kam, und schaute nach oben zur Brücke, wie es jeder Beliebige hätte tun können. Er legte beide Hände auf den Besenstiel, ganz locker, als stelle er keinerlei Bedrohung dar, und vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Zu den wenigen Vorzügen des Alters in seinem Gewerbe gehörte, dass man unsichtbar wurde.
Sie sah den Besenstiel nicht kommen. Er holte kräftig aus, führte den Besenstiel mit einer Hand wie ein Schwert, aber mit Schwung aus der Hüfte heraus und wirbelte förmlich herum. Rene Peng war keine große Frau, machte aber weit ausgreifende Schritte. Der dicke Stock knackte hörbar beim Kontakt mit ihrem Bein, das gerade gebeugt und in der Luft war. Holz und Knochen splitterten beim Zusammenprall. Die Wucht, mit der ihr Fuß auf dem Asphalt aufsetzte, verstärkte den Schaden noch. Sie stürzte schreiend zu Boden.
Sirenen heulten in der Canal Street, nur wenige Hundert Meter entfernt.
Rene versuchte aufzustehen, das Messer noch in der Hand. Clark holte mit dem, was von dem Besenstiel noch übrig war, aus und versetzte ihr einen zweiten, wohlgezielten Hieb gegen den rechten Ellbogen.
Das Messer, noch mit Nick Suttons Blut verschmiert, fiel klirrend zu Boden, und im selben Moment bog ein weißer Streifenwagen der New Yorker Polizei schlingernd aus der Canal in die Forsyth Street ein. Clark ließ den Besenstiel fallen und trat von der Straße auf den Gehweg zurück, ohne Hast, aber zielstrebig. Er verschwand in der Menge der Schaulustigen, die jetzt herbeiströmten, und hatte schon fast die Unterführung erreicht, als der Streifenwagen neben der verletzten Frau stoppte. Dom hatte sie und ihren Mann als gefährlich und möglicherweise bewaffnet beschrieben, sodass die Polizisten mehr daran interessiert waren, ihr Handschellen anzulegen, als darauf zu achten, ob jemand vom Tatort wegrannte.
Eine zweite Polizeistreife fand Garret Peng. Er hatte einen doppelten Kieferbruch erlitten und war neben der griechisch-orthodoxen Kirche mit Handschellen an einen Hydranten gefesselt.
»Alle weg?«, fragte Clark, sobald er sicher war, dass die Polizei nicht nur die Frau, sondern auch ihr blutverschmiertes Messer in Gewahrsam genommen hatte.
Alle. Bis auf Dom und Adara.
Der Krankenwagen verschwand die Doyers Street hinunter, wobei er wiederholt das Signalhorn einschaltete, um Autos und unachtsame Fußgänger aus dem Weg zu scheuchen, ehe er auf die Bowery einbog und in Richtung NewYork-Presbyterian Hospital davonbrauste. Aufgrund der Nähe zur New Yorker Polizeizentrale und zur New Yorker Außenstelle des FBI wimmelte die schmale Straße bereits von Uniformierten und Bundespolizisten.
Ein rotblonder Agent namens Bolton, dessen Hände in blauen Nitril-Handschuhen steckten, leitete den Einsatz am Tatort. Er nickte einer asiatischen Beamtin von der New Yorker Polizei zu, die Adara zu ihrem Streifenwagen führte, angeblich, damit sie sich etwas frisch machen konnte.
Caruso schüttelte ungläubig den Kopf und biss sich auf die Zunge, damit ihm keine Bemerkung entschlüpfte, die er später bereuen würde.
»Was ist?«, fragte Bolton, der gerade Carusos Papiere prüfte. »Haben Sie ein Problem?«
»Allerdings«, sagte Dom. »Sie trennen meine Freundin und mich, als wären wir verdächtig.«
»Jeder ist verdächtig«, sagte Bolton. »Das wissen Sie.«
»Wir haben Sie verständigt, schon vergessen?«
»Keineswegs. Aber lassen Sie uns noch mal alles durchgehen, ja? Sie, ein FBI-Agent, sind zufällig Sutton begegnet, der ebenfalls FBI-Agent ist, und der ist zufällig jemandem begegnet, der ihn dann niedergestochen hat?«
»Ja, das kommt so ungefähr hin«, antwortete Caruso.
»Woher kennen Sie ihn?«
»Wir waren zur gleichen Zeit an der Akademie. Ich habe ihn auf der Straße erkannt, und wir sind ihm nach, um Hallo zu sagen. Da haben wir ihn gefunden.«
»Passt ja alles wunderbar zusammen«, sagte Bolton. »Von welcher Dienststelle sind Sie eigentlich?«
»Aus der Zentrale.«