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Manche nennen ihn Detektiv, Privatermittler oder Wirtschaftsfahnder, andere auch: Kopfgeldjäger. Er ist seit 35 Jahren im Geschäft und war u.a. bei den Entführungen von Richard Oetker und Jan Philipp Reemtsma involviert. Er kennt sich mit Zeugenschutzprogrammen aus und vor allem mit den Schwächen derjenigen, die er sucht. Vertrauen aufbauen und Misstrauen säen gehört zu seinem Geschäft. Resch ist bekannt für unkonventionelle Methoden. Auf seiner Website hat er 47 Millionen US-Dollar angeboten - für Hinweise die zur Klärung des Absturzes des Malaysia-Airlines-Flug MH 17 in der Ost-Ukraine führen. Bisher hat er die Öffentlichkeit gemieden. Kurz vor dem Ruhestand lässt Josef Resch (einen Teil) der in diesem Geschäft existentiellen Diskretion fallen. Er schildert konkrete Operationen, nennt Namen und beschreibt die Entstehung seiner Täterprofile, die ihn zu einer enormen Erfolgsquote führten.
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Das Buch
Privatermittler Josef Resch hat bereits für alle Kaliber gearbeitet: für eine verzweifelte Mutter, die ihr entführtes Kind aus den Fängen des algerischen Vaters befreit sehen will, für Wirtschaftsgrößen wie Siemens, die ein Sicherheitsleck gestopft sehen wollen, sowie zuletzt für einen anonymen Auftraggeber, der 47 Millionen Dollar Belohnung auslobt, um die Drahtzieher des Abschusses von Flug MH17 ausfindig zu machen, bei dem 2014 in der Ostukraine 298 Menschen ums Leben kamen.
Immer wieder begibt er sich bei seiner Arbeit in Lebensgefahr, wenn er zum Beispiel im Auftrag des Bundeskriminalamts in die kolumbianische Drogenhochburg Medellín reist, wo er zufällig auf den berüchtigten Pablo Escobar trifft und wenig später Opfer eines Anschlags wird. Resch erlebt zudem überraschende Wendungen, wenn sich etwa eine unscheinbare Oma als Drogenbaronin entpuppt, und er muss gelegentlich dabei zusehen, wie von ihm aufgedeckte Skandale vertuscht werden, damit sie nicht an die Öffentlichkeit gelangen.
Kurz vor dem Ruhestand lässt Josef Resch einen Teil der in diesem Geschäft existentiellen Diskretion fallen und lässt uns an seinen spektakulärsten Einsätzen teilhaben.
Der Autor
Josef resch, geboren 1949, war jahrzehntelang als Privatermittler für Wirtschaftsunternehmen und Privatpersonen tätig. Zu seinen Auftraggebern zählten neben zahlreichen Gläubigern u. a. auch Siemens und das Bundeskriminalamt. Nach mehr als 30 Jahren zieht der gebürtige Bayer nun Bilanz.
JOSEF RESCH
GEFAHR IST
MEIN BERUF
MH17, Pablo Escobar, Florian Homm –Deutschlands erfahrenster Privatermittler packt aus
Aufgeschrieben vonHolger Schöttelndreier
Econ
Um die Persönlichkeitsrechte einiger Akteure zu wahren, wurden Namen und Details verändert. Alle in diesem Buch dargestellten Ereignisse, Szenen und Dialoge haben sich aber wie beschrieben so oder in sehr ähnlicher Weise abgespielt.
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ISBN: 978-3-8437-1249-1
© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Umschlaggestaltung: FHCM GRAPHICS, BerlinOriginalfoto Umschlag: © Markus Tollhopf
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Alle Rechte vorbehalten
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
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Diese Dinge wird es immer geben: Prostitution, Korruption, Drogenmissbrauch – und eine sich um die Sonne drehende Erde. (Eigene Erkenntnis)
Die Realität entsteht nicht in den Drehbüchern der Autoren von Hollywood oder Babelsberg. Im richtigen Leben siegt nicht immer das Gute, und das Böse steht am Ende nicht immer vor dem Richter. Diese Erfahrung musste ich oft machen, und sie findet sich auch in den Schilderungen meiner Aufträge. Manchmal verhindert eine politische Entscheidung die Aufklärung, wie bei einem spektakulären Banküberfall in Belfast, manchmal stehen Unternehmensinteressen einer Überführung von Straftätern im Weg. Das musste ich erleben, nachdem ich jahrelang zuerst im Auftrag von Siemens und später der Deutschen Telekom einem internationalen Fälscherring auf der Spur war.
Seit mehr als 30 Jahren bin ich jetzt im Geschäft. Mein Privatleben hat oft darunter gelitten, meine Familie musste viele Opfer bringen. Jetzt ist es an der Zeit, mich – zumindest teilweise – zur Ruhe zu setzen. Ich werde meine Firma verkaufen und nur noch beratend tätig sein. Das Versteckspiel soll ein Ende haben. Gerade erst ist eine Anwaltskanzlei an mich herangetreten, ich sollte im VW-Abgasskandal ermitteln. Das Honorarangebot war gut, ich habe trotzdem abgelehnt. Zum wiederholten Male hätte ich mich durch den Schlamm wühlen müssen. Ich habe dazu einfach keine Lust mehr.
In diesem Buch kann ich nicht alles erzählen, denn Diskretion verjährt nicht. Oft musste ich aus juristischen Gründen zurückhaltend formulieren und konnte die Fälle nicht so auserzählen, wie ich es gerne getan hätte. Stoff genug für ein zweites Buch gäbe es auf jeden Fall. Auch im Fall der über der Ost-Ukraine abgeschossenen MH17 darf ich nicht alles erzählen. Hier wurde in den letzten Monaten viel vertuscht und die Öffentlichkeit getäuscht. Ich weiß nicht, wer bei der Rakete den Abzug gezogen hat. Aber ich weiß, wer hinter der Vertuschung steht. Die Öffentlichkeit wird zum Narren gehalten.
Im ersten Kapitel gehe ich ausführlich auf meine Kindheit ein. Was das mit meinem Job als Privatermittler zu tun hat? Auf den ersten Blick nicht viel. Aber das, was man in seiner Kindheit erlebt, prägt einen Menschen. So war es auch bei mir. Groß geworden bin ich auf der Schwaigeralm, einem beliebten Ausflugslokal südlich des Tegernsees. Die Alm ist das Lebenswerk meiner Eltern, deren Alltag von Verzicht geprägt war, um dieses Ziel zu erreichen. Daraus habe ich gelernt, nicht aufzugeben, nicht nachzulassen und immer dranzubleiben. Und ich hatte schon als Kind sehr viel Kontakt zu Prominenten, die auf der Schwaigeralm zu Gast waren. Auch das war wichtig für mich und meine Arbeit. Große Namen lassen mich nicht vor Ehrfurcht erstarren. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich die Schwaigeralm an eine finanzstarke Stiftung verkauft, um sicherzustellen, dass sie dauerhaft als Traditionswirtschaft bestehen bleibt. Die neuen Pächter Ute und Christian Totzauer machen ihre Sache gut.
Meine Mutter hat vor ihrem Tod ihre Erinnerungen in einem kleinen Buch mit dem Titel »Einkehr in der Schwaigeralm bei Kreuth – Von der Stöcklmilli zum Filetsteak« aufgeschrieben. So unterschiedlich unsere Ansichten oft waren, ihr Buch beschreibt ein Leben, das vom Kampf geprägt war. Das ist bei mir nicht anders.
Bad Schwartau im Januar 2016
Junior
Wie aus dem Jungen von der Alm ein Privatermittler wurde
Bierkrüge wurden in die Luft gestemmt und krachten im dichten Nebel aneinander. »Ein Prosit« auf den einen, »zum Wohl« auf den anderen. Niemand wurde vergessen, keiner ausgelassen. Ein Grund fand sich immer. Das Akkordeon meiner Mutter lief heiß, virtuos nutzte sie ihr Repertoire an bayerischem Liedgut, um die Stimmung immer weiter aufzuheizen. Darin verstand sie sich wie kaum eine andere. Mein Vater hielt einen tönernen Bierkrug mit drei Löffeln in der Hand und klatschte im Rhythmus der Musik mit der anderen Hand dagegen. Die Dirndl-Bedienungen schleppten im Akkord frische Bierkrüge und Obstler an die Tische.
Es war eine reine Herrenrunde, die sich an diesem Abend so ausgelassen eine Auszeit von den Niederungen der Politik genehmigte. Es hagelte derbe Witze und beißenden Spott. Draußen in der Welt tobte der Kalte Krieg. Draußen vor der Schwaigeralm in Kreuth am Tegernsee hingegen der Winter. Der war auch kalt, bitterkalt sogar. Das Thermometer hatte sich bei minus zwanzig Grad eingependelt. Das war keine Seltenheit hier oben in 850 Metern Höhe. Doch der große Kamin sperrte die Kälte draußen vor der Tür aus.
Viele Schnäpse später stellte mein Vater den Bierkrug zur Seite, entzündete seine armlange Pfeife und setzte sich zu dem Mann, der in dieser Runde unangefochten die Rolle des Alphatiers innehatte. Er legte seinen Arm um ihn, schaute ihn mit seinen glücklich lachenden Augen an und sagte: »Weißt was? Wenn sie dich in Bonn nicht mehr brauchen, dann kommst zu mir als Schankkellner, weil saufen kannst gut.«
»Abgemacht«, sagte der und reichte meinem Vater die Hand.
Doch daraus wurde nichts. Er wurde in Bonn und in der kalten Welt noch gebraucht, auch wenn er das an diesem Abend noch nicht wissen konnte. Es war der Mann, der nur wenige Jahre später mit einer demütigen Geste, die um die Welt ging, das Bild vom bösen Aggressor Deutschland etwas zurechtrückte und das eiserne Tor zwischen dem Osten und dem Westen einen kleinen Spalt breit öffnete. Mein Vater durfte diesen symbolträchtigen Akt nicht mehr erleben. Er starb ein Jahr vor Willy Brandts Warschauer Kniefall im Alter von nur 48 Jahren.
Der Abend in dieser denkwürdigen Runde 1967 mit Willy Brandt und seiner Entourage war sicher einer der Höhepunkte im Leben auf der Schwaigeralm – der einzige war er aber keinesfalls. Meine Mutter Hermine hatte schon 1956 damit begonnen, ein Gästebuch zu führen, in das sich all die Prominenz eintrug, die uns im Laufe der Jahrzehnte auf der Schwaigeralm besuchte. Meine Eltern waren Vollblutgastronomen, die einfach ein Händchen für ihre Gäste hatten und jedem das Gefühl gaben, auf das Herzlichste willkommen zu sein. Sie machten dabei keinen Unterschied zwischen dem einfachen Holzarbeiter und einer königlichen Hoheit wie Kaiserin Soraya, die einmal mit ihrer Mutter Eva Esfandiary bei uns einkehrte.
Mein Vater hatte sich mit der Alm einen Lebenstraum verwirklicht. Der kleine Schustermeister vom Tegernsee, eines von sieben Kindern einfachster Arbeiter, hatte in 14 Jahren aus einer nur mit dem Notwendigsten ausgestatteten Bergalm einen Platz geschaffen, an dem sich neben Spitzen aus Politik, Film, Sport und Gesellschaft Urlauber und Einheimische gleichermaßen für einen Augenblick fallenlassen und oberbayerische Gastfreundschaft und eine ausgezeichnete Küche genießen konnten. Aber der Preis, den er dafür gezahlt hat, war eigentlich zu hoch. Ganze drei Tage Urlaub in all diesen Jahren sind ein Teil dieser Bilanz. Und jener Urlaub wurde in der Pension von Verwandten in Garmisch-Patenkirchen verbracht. All die anderen Tage hatten den immer gleichen Ablauf: morgens um fünf Uhr aufstehen, die Tiere versorgen, sich anschließend bis spät in den Abend ums Geschäft kümmern.
Mein erstes Gefühl für die Schwaigeralm war abgrundtiefer Hass. Sie war der Grund, warum ich das Liebste aufgeben musste, das ich als sechsjähriger Bub hatte: meine Schäferhündin Cora. Sie war meine ständige Begleiterin, als meine Großeltern die Schwaigeralm noch bewirtschafteten und ich mit meinen Eltern auf der Lodenfrey-Hütte lebte. Diese Hütte war der erste Versuch meines Vaters, sich von seinem erlernten Handwerk ab- und der Gastronomie zuzuwenden. Es war wirklich nichts anderes als eine Hütte, die in den Sutten, einem Skigebiet südlich des Tegernsees, lag. Eigentümer war die Firma Lodenfrey, die in München hochwertige Trachtenkleidung herstellt. Es gab eine Küche, einen Schankraum und unter dem Dach ein großes Matratzenlager für die Gäste. Meine Eltern hatten keine Sekunde gezögert, als sie das Angebot für die Bewirtschaftung bekamen. Ich war damals knapp drei Jahre alt, hier beginnen meine ersten Erinnerungen. Zwar waren ständig Menschen um mich herum, doch einsam war ich trotzdem. Ich lebte mit Cora in meiner eigenen Welt und lernte sehr früh, meine Tage selbstständig zu gestalten. Das Leben meiner Eltern war hart und bestand ausschließlich aus Arbeit. Ich lief nebenher. Was zählte, war das Wohl der Gäste.
Böse war ich deswegen nicht auf meine Eltern. Ich kannte ja kein anderes Leben. Mit drei Jahren stand ich sicher auf den Skiern, mit vier Jahren schickten mich meine Eltern hinab zur ein paar hundert Meter entfernten Moni-Alm, um Milch und Eier zu holen. Sorgen machten sie sich keine. Sie wussten, dass ich mich nicht verlaufen würde, und sie wussten, dass Cora ihr Leben riskieren würde, um mich zu beschützen. Einem Waldarbeiter und Freund meiner Eltern wäre das beinahe zum Verhängnis geworden. Als er mich auf einem dieser Erledigungsgänge im Wald traf, herzlich begrüßte und zum Spaß ein wenig in die Luft warf, sprang Cora ihm ansatzlos von hinten ins Genick. Er stürzte, und knurrend stand meine Hündin mit gefletschten Zähnen über ihm. Es muss ein seltsames Bild gewesen sein. Ein Vierjähriger rettet einen gestandenen Waldarbeiter vor einem zu allem entschlossenen Schäferhund.
Am 1. Mai 1929 hatten die Eltern meiner Mutter, Georg und Anna Steger, die Schwaigeralm übernommen, die damals wirklich nicht mehr war als eine kleine Bergalm. Es gab keinen Strom und nur eine einzige Feuerstelle. Fließend Wasser hatte nur der Sagenbach, der bis kurz oberhalb der Schwaigeralm über vier Kilometer unterirdisch verläuft und deswegen der kälteste Bach der ganzen Region ist. Im Sommer brachte der Verpächter sein Vieh auf die Alm, das auf den zu der Zeit noch wenig bewaldeten Bergwiesen rund um die Alm graste. Meine Großeltern durften für die Arbeit mit den Kühen und Kälbern umsonst wohnen und hatten das Recht, neben der Milch auch noch Kaffee und alkoholfreie Erfrischungsgetränke an Wanderer und Arbeiter zu verkaufen.
Die untere Etage des Hauses bestand praktisch nur aus der kleinen Küche und dem großen Gastraum. In der oberen Etage waren die Schlafkammern, die alle eisig kalt waren. Durch die unverschalten Zimmerwände blitzten in den ersten Jahren einzelne Sterne. Der Raureif ließ sich von den Wänden kratzen. Zwischen Fenstern und davorgehängten Winterfenstern hatten meine Großeltern dicke Stoffrollen mit Holzwolle und Sägemehl zur Abdichtung gestopft.
Die Winter hier oben waren einfach brutal. Daran sollte sich in den nächsten Jahrzehnten nicht viel ändern. Von Mitte November bis Mitte Januar schafft es kein einziger Sonnenstrahl über den Gipfel des Hohlenstein. Mit großer Gewissenhaftigkeit hatte sich mein Großvater auf den ersten Winter vorbereitet. Brennholz war genügend vorhanden, alle Lebensmittel waren im Herbst nach dem Almabtrieb eingekauft. Fiel der erste Schnee, gab es kaum etwas anderes zu tun als Wege in die bis zu drei Meter hohen weißen Massen zu schaufeln und zu sägen.
Mein Großvater starb 1951. Von da an war Großmutter gezwungen, die Schwaigeralm allein mit meiner Tante Bertha zu bewirtschaften. Als Bertha heiratete und zu ihrem Mann zog, kam der Hilferuf an meine Eltern. Sie müssten die Lodenfrey-Hütte aufgeben und sie bei der Arbeit unterstützen. Für meinen Vater war die Sache sofort klar, denn er sah großes Potential in der Alm. Anders als in der kleinen Hütte in den Sutten konnte er hier seine gastronomischen Pläne verwirklichen. Für Mutter bedeutete es eine Rückkehr in ihr Elternhaus, das Großvater vor ein paar Jahren endlich hatte kaufen können.
Auf der Schwaigeralm gab es immer noch keinen Strom. Meine Großeltern waren extrem sparsame Menschen, viel hatten sie seit ihrem Einzug 1929 nicht verändert. Womit auch? Das Geschäft reichte gerade eben zum Leben, aber bestimmt nicht für größere Investitionen. Was ich nicht geahnt hatte, war, dass ich durch unseren Umzug meine geliebte Cora verlieren würde, denn auf der Schwaigeralm gab es schon einen Hund. Einen Spitz, die damals groß in Mode waren. Bella hieß die falsche Schlange, und als mir meine Eltern offenbarten, dass wir Cora auf der Lodenfrey-Hütte zurücklassen müssen, weil es sonst blutige Kämpfe zwischen den beiden Hündinnen geben würde, hätte ich es gerne darauf ankommen lassen. Aus dem Kampf konnte nur meine Cora als Siegerin hervorgehen. Doch meine Eltern blieben hart. Cora blieb in der Hütte, Bella auf der Alm. Am liebsten wäre ich mit meinen sechs Jahren sofort zur Großmutter auf die Alm gelaufen, um den verhassten Köter im eiskalten Sagenbach zu ertränken. Stattdessen saß ich heulend zusammen mit meinen Eltern auf dem Traktor, der unsere bescheidene Habe von der Lodenfrey-Hütte zur Schwaigeralm brachte. Einen großen Anhänger haben wir nicht gebraucht. Meine Eltern besaßen nur wenig mehr als nichts.
Cora hatten wir an der alten Hütte angeleint, damit sie uns nicht hinterherlief. Sie jaulte und winselte, und ich bin mir sicher, sie wusste genau, was gerade passierte. Die neuen Bewirtschafter hatten versprochen, sich gut um sie zu kümmern, doch Cora starb nur wenige Monate später.
Mich hat dieses Erlebnis nachhaltig geprägt. Verantwortung für Schutzbefohlene und Schwächere zu übernehmen, ist mir seit diesem Tag im Jahr 1955 eine Herzensangelegenheit. Da verstehe ich keinen Spaß. Ein Münchner Oberlude sollte Jahre später am eigenen Leib spüren, dass ich da keine Ausnahmen mache.
Der Verlust von Cora beschäftigte mich noch lange, aber mein Vater sorgte dafür, dass ich nicht allzu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Ich bezog eine kleine zugige Kammer in der oberen Etage und bekam schnell neue Aufgaben. Neben den Kühen, die wir im Sommer oben versorgten, gab es noch zwei Schweine, eine Katze und einen Haufen Hühner. Vor dem Haus hatte mein Vater im Sagenbach ein Becken für Forellen angelegt. Dort lebten sie so lange, bis sie entweder geräuchert oder zu Forelle blau verarbeitet wurden – zwei der Spezialitäten auf der Schwaigeralm – oder der Bach nach starken Regenfällen so viel Wasser mit sich führte, dass sie das Weite suchten.
Den Spitz ignorierte ich einfach.
Schnell wurde klar, dass die Pläne meines Vaters so gar nicht zu den Vorstellungen passten, die meine Großmutter von der Schwaigeralm hatte. Sie argumentierte mit der Vergangenheit, er beschwor die Zukunft. Expansion war sein Stichwort. Ihm schwebte ein richtiger Berggasthof mit guter Küche, verschiedenen Gasträumen, einer großen Terrasse und zünftiger Musik vor. Der Zeitpunkt schien ideal, denn endlich hatten meine Eltern die langersehnte Konzession bekommen, auch Alkohol ausschenken zu dürfen.
»Und wie willst du das bezahlen?«, fragte die Großmutter.
»Wir gehen zur Sparkasse und nehmen ein Darlehen.«
Ich hatte keine Ahnung, was ein Darlehen ist. Aber es musste etwas Unheilvolles sein, wenn ich die Reaktion meiner Großmutter richtig interpretierte: »Du lässt dich auf ein Spiel mit dem Teufel ein.« Ich war da ganz ihrer Meinung, mit dem Teufel sollte man nicht spielen. Das heißt nicht, dass ich ein strenggläubiger Katholik war, geschweige denn bin, aber wer wie ich aus einer Gegend kommt, in der an jeder Weggabelung ein ans Kreuz genagelter Christus Wind und Wetter trotzt, hatte zumindest im zarten Alter von sechs Jahren keine Lust, sich mit dem Antichristen anzulegen.
Es war der klassische Streit zwischen den Generationen, zwischen Bewahren und Erneuern. Und er endete, wie er in den meisten Fällen endete: Die Oma zog aus. Sie ging zurück in ihre österreichische Heimat.
Freie Bahn für meinen Vater, und der drückte das Gaspedal durch bis zum Anschlag. In einem atemberaubenden Tempo wurde die Schwaigeralm immer größer und einladender. Täglich ging er bis an seine Grenzen für seinen Traum. Er schuftete wie ein Ackergaul – und das, obwohl er seit seinem achtzehnten Lebensjahr mit einer schweren Behinderung leben musste. Damals wurde sein Fuß bei einem Kletterunfall mit Freunden im Riederstein nach einem Sturz in die Tiefe so sehr verdreht, dass alle Sehnen rissen und ihm der rechte Unterschenkel amputiert werden musste. Seitdem trug er eine Holzprothese, die nicht besonders gut saß und ihm häufig Schmerzen, Schwellungen und Entzündungen bescherte, die ihn aber nie von der Arbeit abhielten.
Vielleicht war es seine Art, sich zu beweisen, dass bei ihm nichts fehlte, er ein richtiger Mann ist. Ich bin sicher, niemand, der ihn auf der Schwaigeralm erlebt hat, wäre je auf die Idee gekommen, etwas anderes zu behaupten. Selbst beim Schuhplattlern ließ er sich nichts anmerken. Bei diesem oberbayerischen Balztanz, der fester Bestandteil der Abendgestaltung auf der Schwaigeralm war und für einen Mann mit nur einem Bein eine echte Herausforderung ist, konnte ihn niemand halten. Ohne Rücksicht auf Herkunft, Alter und Aussehen seiner Tanzpartnerinnen drehte und bespaßte er sie. Den Damen hat’s gefallen. Auch den Damen, die sich weiß Gott nichts von einem einfachen Almwirt hätten gefallen lassen müssen.
Anneliese von Bohlen und Halbach zum Beispiel, Ex-Gattin des letzten Krupp-Magnaten Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, die zusammen mit ihrem Sohn Arndt gerne im »Jägerwinkel« kurte, einer Klinik weiter nördlich am Tegernsee in Bad Wiessee. Während dieser Kuren schaute sie regelmäßig bei uns vorbei, und es entwickelte sich im Laufe der Jahre eine geradezu herzliche Bindung zwischen meiner Mutter und ihr. Die beiden mochten sich. Vielleicht war es auch deswegen kein Problem, wenn mein Vater ihr beim Tanzen den Rock in die Höhe schlenzte und lauthals versprach, mit ihr noch ein Kind zu zeugen. Auch Marianne Eckes-Chantré, deren Geburtsname ihren Mann Ludwig Eckes bei der Namensgebung für einen neuen Weinbrand inspiriert hatte, hätte sich noch einen kleinen Resch »einschenken« lassen können. Nach meinem Kenntnisstand bin ich trotz der vielen Balztänze meines Vaters ein waschechtes Einzelkind ohne versteckte Halbgeschwister.
Für meine Mutter war das alles kein Problem. Eifersucht war für sie ein Fremdwort: Er durfte sich vieles erlauben, weil ihn die Leute einfach mochten. Hermine stand zu ihrem Mann, wie sie es dem Herrgott bei der Hochzeit versprochen hatte: in guten wie in schlechten Zeiten. Die guten Zeiten waren die brechend vollen Abende und Tage auf der Alm, wenn die Gäste die oberbayerische Gemütlichkeit in vollen Zügen genossen, die Küche auf Hochtouren lief und das Personal mit dem Bedienen kaum nachkam. Die schlechten Zeiten waren mittwochs – da war Ruhetag – und am Abend, wenn meine Eltern sich mit den finanziellen Sorgen schlafen legten. Den Ruhetag nutzte meine Mutter für die Buchhaltung, mein Vater schraubte, sägte und hämmerte.
Die Buchhaltung war keine Freude, denn obwohl die Alm sich immer größerer Beliebtheit erfreute, blieb kaum etwas zum Leben übrig. Die Schulden bei der Sparkasse waren inzwischen enorm. Meine Eltern rechneten, drehten jeden Pfennig so lange um, bis er glänzte, und trotzdem reichte es vorne und hinten nicht. Immer wieder gab es deswegen auch heftigen Streit zwischen den beiden. So gut sie als Gastgeber harmonierten, bei der Neugestaltung der Alm waren sie einfach unterschiedlicher Meinung. Meine Mutter fand, dass mein Vater zu schnell zu viel wollte. Doch auch wenn es ihr Elternhaus war, das letzte Wort hatte er.
Josef Resch sen. hatte eine Vision. Er wollte die Schwaigeralm zu einer Institution aufbauen. Damit passte er durchaus in die Zeit. Deutschland erhob sich aus den Trümmern, auch wenn in der Langenau nicht eine einzige Bombe niedergegangen war. Es waren die Jahre des Wirtschaftswunders. Investieren war die Devise. Die Banken gaben gerne, und noch lieber nahmen sie. Im Fall meiner Eltern war das Risiko minimal. In Kreuth kannte jeder jeden, und jeder wusste, dass Hermine und Josef Resch wie Kamele in der Wüste weitermarschieren würden, bis sie irgendwann tot umfielen.
Im Jahr 1960 gab es noch immer keinen Strom auf der Schwaigeralm und selbstverständlich auch kein Telefon. Licht spendeten die fauchenden Petromax-Lampen, die in Deutschland wahrscheinlich schon damals kaum noch jemand kannte. Tagelang hatten sich meine Eltern gestritten. Ich reagierte wie die meisten Kinder in so einer Situation, zog mich zurück. Ich wollte das alles nicht hören. Die Gründe verstand ich eh nicht. Als es wieder ruhiger wurde zwischen den beiden, schlug mein Vater einen Spaziergang vor – einen Familienspaziergang. Seit ich denken konnte, hatte es das noch nicht gegeben. Touristen und Kurgäste gingen spazieren, aber wer hier lebte, arbeitete hier. Und wenn er damit fertig war, gab’s ein Bier – mit oder ohne Brotzeit. Es war eine seltsame Stimmung, als wir an einem Mittwoch zu dritt den Weg hinter der Schwaigeralm hochspazierten. Ich blieb natürlich nicht die ganze Zeit bei meinen Eltern. Zwar kannte ich jeden Baum persönlich, aber mitten in der Natur gibt es für einen Elfjährigen immer noch sehr viel Spannenderes als neben seinen Eltern einen Waldweg entlangzuspazieren. Kam ich von meinen kleinen Exkursionen zurück, so verstummte das Gespräch augenblicklich. Ich sah, dass Mutter weinte. Irgendwann kehrten wir um, und meine Eltern machten sich schweigend wieder an die Arbeit. Viele Jahre später, als mein Vater schon lange tot war, hat Mutter mir gebeichtet, was an diesem seltsamen Tag eigentlich passieren sollte: Vater hatte seine Pistole eingesteckt. Er war am Ende und sah keinen Ausweg mehr. Er wollte sich und uns im Wald erschießen.
Ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte aufschreiben soll oder ob ich damit das Ansehen meines Vaters beschädige. Nichts liegt mir ferner. Ich habe es getan, weil sie zeigt, wie verzweifelt er war. Wenn ich heute in Zeitungen über einen »erweiterten Suizid« lese, dann kommt mir jedes Mal die Geschichte von damals wieder in den Sinn. Und ich bin stolz auf meinen Vater. Obwohl er keine Chance mehr sah, gegen die Schulden anzukämpfen, ist er diesen letzten Schritt eben nicht gegangen. Er hat nicht aufgegeben, sondern den Kampf wieder aufgenommen.
Vaters Mut wurde nur ein Jahr später belohnt. Als die SED in Berlin die Mauer durch die Stadt zog, rückte bei uns das Technische Hilfswerk an und verlegte ein Stromkabel zur Schwaigeralm. Das war kein leichtes Unterfangen, dreimal musste der Sagenbach untertunnelt und mussten Felsen gesprengt werden. Es war ein feierlicher Moment, als wir alle in der Gaststube standen, mein Vater eine kleine Ansprache hielt und dann den Lichtschalter umlegte. Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich ihn habe weinen sehen.
Ein Grund zum Weinen wären auch meine schulischen Leistungen gewesen. Da gibt es nichts zu beschönigen. Die Schule und ich, das war von Anfang an keine große Liebe. Im Winter habe ich sie verflucht. Dafür gab es allerdings auch einen guten Grund. Denn mein Schulweg war kein Zuckerschlecken. Die Nacht begann gemütlich mit einem heißen Stein aus dem Ofen in der Küche, den Mutter mit Baumwolltüchern umwickelte und mir ins Bett legte. Wenn ich dann hineinschlüpfte, war die Bettwäsche herrlich vorgewärmt. Eine Wärmflasche war übrigens keine Option. Warum? Sie wäre über Nacht eingefroren. So eisig war es in meiner kleinen Kammer. Wenn mein Vater mich morgens um fünf Uhr weckte, war meine erste bange Frage: »Hat’s geschneit?« Nickte er mit dem Kopf, würde ich mit meinen sieben Jahren und einer Körpergröße von 1,30 Meter den Schneepflug geben müssen. Also stapfte ich mit einem dick mit Butter und Rauchspeck belegten Brot im Ranzen in den finsteren und bitterkalten Morgen. An den ganz schlechten Tagen lagen bis zu 60 Zentimeter Neuschnee. Für die wilde Romantik der Bergwelt hatte ich damals keinen Blick. Bei Neumond konnte man vom unberührten Neuschnee eh nichts sehen.
Vor mir lagen knapp 3,5 Kilometer, von denen ich nur die ersten 800 Meter alleine bewältigen musste. Danach traf ich auf meine Freunde Arno und Fidi, mit denen ich den restlichen Weg zur Schule ging. Jahre später wurde aus dem Trio ein Quartett, als Ottos Familie in die Langenau zog und uns Otto auf dem Weg zur Schule begleitete. Wenn ich nach dem zweieinhalbstündigen Marsch völlig durchnässt um acht Uhr im warmen Klassenzimmer auf meinem Stuhl in mich zusammensackte, dauerte es meist nur wenige Minuten, bis ich vor Erschöpfung einschlief. Das Ergebnis waren Noten, die gerade eben reichten, um in die nächste Klasse versetzt zu werden. Nur einmal wurde es so knapp mit der Versetzung, dass ich beschloss, dem Schicksal etwas nachzuhelfen.
Die achte Klasse lag zu dem Zeitpunkt in weiter Ferne. Nur ein Wunder konnte mir noch helfen. Ich würde es eher effektive Informationsbeschaffung nennen, mein wahres Talent.
In meiner Verzweiflung kletterte ich mitten in der Nacht durch das winzige Fenster meiner Schlafkammer ins Freie, ließ mich an einem Seil herab und machte mich freiwillig auf den Weg zur Schule. Inzwischen hatte ich schon ein Rad, was den Weg erträglicher machte. Freilich hatte ein junger Bub wie ich zur nachtschlafenden Zeit allein nichts auf der Straße zu suchen. Also musste ich den letzten Kilometer sicherheitshalber zu Fuß gehen.
Der Plan war gut. Das dreistöckige Schulhaus, das heute noch unverändert Kreuths Kinder auf das Leben vorbereitet, beherbergt im Obergeschoss die Dienstwohnung des Hausmeisters, von dem ich wusste, dass er sich abends gerne einen genehmigte. Ich rechnete mir aus, dass er in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit schon stark eingeschränkt sein müsste, wenn ich am Schulhaus ankam. Damit war er ein leichter Gegner. Ich nahm einen kleinen Stein und warf ihn gegen sein hell erleuchtetes Wohnzimmerfenster. Die Zeit, die es brauchte, bis sein breiter Schädel schwankend am Fenster erschien, um nachzusehen, was die Ursache für die nächtliche Störung war, bestätigte mein Kalkül. Drei weitere Steine waren nötig, damit er sich in Bewegung setzte, um draußen nach dem Rechten zu sehen.
Ich hatte mich inzwischen hinter einem Baum auf dem Schulhof versteckt, als er durch den Haupteingang nach draußen ging. Mein Herz schlug bis zum Hals. So schlimm habe ich es bisher nur ein zweites Mal erlebt, viele Jahre später in einem Schnellboot vor der algerischen Küste. Ein weiterer Stein lockte ihn von der Eingangstür weg um die Ecke des Gebäudes. Die Tür ließ er offen. Es ist immer ein erhebendes Gefühl, wenn sich der Gegner so verhält wie geplant. Als er hinter der Ecke verschwunden war, sprintete ich los und rannte die blankpolierte Holztreppe hoch in den ersten Stock. Mein Klassenzimmer lag auf der Ostseite der Schule, der Hausmeister suchte auf der Westseite nach dem Störenfried.
Der Schlüssel fürs Klassenzimmer hing für mich unerreichbar hoch oben neben dem Türrahmen. Dafür hatte ich vorgesorgt. Zu meiner Ausrüstung gehörte ein langer Stock, an dem ich vorne einen Haken angebracht hatte. Ich nahm am Pult meines Lehrers Herrn Wengermeier Platz, fischte mir die Mathearbeit unseres Klassenbesten Hansi Berthold aus dem Stapel und verglich sie mit meinen Ergebnissen. Es war noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Ich ging zu meinem Tisch, holte mein Papier und begann im durch ein Löschblatt gedämpften Schein meiner Taschenlampe unter Wengermeiers Pult meine Arbeit neu zu schreiben. Anschließend räumte ich alles wieder fein säuberlich an seinen Platz, steckte das Original in die Hosentasche, schloss die Tür von außen, beförderte den Schlüssel zurück an seinen Platz und machte mich aus dem Staub. Der Hausmeister hatte seine Suche längst ergebnislos abgebrochen und trank wahrscheinlich gerade einen Obstler auf den Ärger, als ich durch das Toilettenfenster im Erdgeschoss unbemerkt verschwand.
»Ein Wunder ist geschehen! Der Herrgott selbst muss aus dem Himmel hinabgestiegen sein, um unseren Sepp mit seiner göttlichen Weisheit zu beflügeln. Nur einen winzig kleinen Fehler hat er in der Mathearbeit gemacht. Das ist wirklich ein Wunder, für das der Josef dem lieben Gott sein Leben lang dankbar sein sollte.« Hansi Berthold hatte eine Eins, ich immerhin eine Eins bis Zwei. Das hatte es in der Tat noch nie gegeben. Ich war nicht so dumm gewesen, Hansis Rechenprobe eins zu eins zu kopieren.
Manchmal gibt es für Wunder ganz weltliche Erklärungen. Wengermeier hatte sicher schlaflose Nächte deswegen. Mein Lehrer wusste genau, dass ich ihn beschissen hatte, aber er kam nicht darauf, wie ich’s angestellt hatte. Bei Klassenarbeiten stand ich unter strengster Beobachtung. Wengermeier war erfahren genug, um mich nicht von der Klugheit meiner Klassenkameraden profitieren zu lassen. Nach dem Ende meiner Schulzeit hat er bis zu seinem Tod nie wieder ein Wort mit mir geredet – obwohl wir uns noch oft begegnet sind.
Über die Rettung meiner Mathenote habe ich mit niemandem geredet. Verschwiegenheit war für mich noch nie ein Problem. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Geschwätzigkeit kann in meinem Geschäft schnell lebensgefährliche Folgen haben. Mit »niemandem« meine ich übrigens wirklich niemanden. Auch gegenüber dem Pfarrer, dessen Beichtstuhl keine hundert Meter von der Schule entfernt stand, blieben meine Lippen verschlossen. Nur das Ergebnis zählte, und das war in diesem Fall die achte Klasse.
Im krassen Gegensatz zum bayerisch-katholischen Dorfleben stand die große weite Welt in Wildbad Kreuth. Das alte Kurbad am Hang des Hohlensteins war wie schon die Jahrhunderte zuvor ein beliebter Rückzugsort für den europäischen Hochadel. Von hier aus führen viele wunderschöne Wanderwege in die Blauberge und hoch zum Schildenstein. Bis zur Schwaigeralm waren es im Sommer zu Fuß nur 24 Minuten. Deswegen und weil es sich offenbar auch in der großen weiten Welt von Wildbad Kreuth herumgesprochen hatte, dass man beim schuhplattlernden Josef Resch auf der Schwaigeralm kurzweilige Abwechslung zum Kurbetrieb finden konnte, hatte ich schon in meiner Kindheit mehr Promis hautnah erlebt als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Welcher Elfjährige konnte schon von sich behaupten, zusammen mit Fürst Rainier von Monaco in der Küche zusammen einen Zwetschgendatschi gebacken zu haben? Ich rollte den Teig aus, der Fürst verteilte die Pflaumen. Ich fand’s nur bedauerlich, dass seine schöne Frau Grace Kelly, damals schon Gracia Patricia, nicht mitgekommen war. Jahre vorher hatte ich schon seinem Vater Pierre Grimaldi, Herzog von Valentinois, eine besonders schöne Forelle aus dem Becken gefischt, die er sich an einem sonnigen Tisch in der Winterstube schmecken ließ. An den Besuch erinnert ein Eintrag in unserem Gästebuch, um den ihn meine Mutter gebeten hatte. Das war noch zu den Zeiten, als meine Eltern ihre Gäste aufs Plumpsklo vor der Alm schicken mussten, wenn’s was Menschliches zu erledigen gab. Zu gerne hätte ich in der Schule damit geprahlt, meine täglichen Geschäfte auf einem durch ein herzögliches Gesäß geadelten Brett verrichten zu können, aber Pierre Grimaldi hatte bei seinem Besuch diesbezüglich wohl keine Bedürfnisse. Auch Prinz Louis Ferdinand, Chef des Hauses Hohenzollern und Enkel des letzten deutschen Kaisers, der zusammen mit Georg Moritz, Prinz zu Schaumburg-Lippe, und Prinz Friedrich Carl von Preußen einen gemütlichen Abend bei uns am großen Kamin verbracht hatte, sah dafür keinen Anlass.
Die Gästebücher wurden im Laufe der Jahre zu einer Leidenschaft meiner Mutter. Später bedauerte sie, manchmal einfach zu wenig Zeit gefunden zu haben, jeden Prominenten um einen Eintrag zu bitten. Einigen von ihnen war’s wohl auch ganz recht, und vermutlich hat sie auch nicht jeden erkannt. Wer inkognito kam, der blieb es meist auch. Klatschzeitschriften gab es bei uns nicht und erst recht natürlich keinen Fernsehapparat. Eines der schönsten Gästebücher hatte meine Mutter 1962 von ihrer »Freundin« Anneliese von Bohlen und Halbach geschenkt bekommen, als diese gesehen hatte, dass das alte Buch auf die letzten Seiten zuging. Es war ihr eine Freude, sich zusammen mit ihrem Sohn gleich auf der ersten Seite einzutragen. Das war nach einem dieser feuchtfröhlichen Nachmittage mit viel Himbeergeist und Vaters Witzen. Zarah Leander und ihr Mann Arne Hülphers waren ebenfalls dabei und ließen sich nicht lumpen, sich ebenfalls schriftlich für den unterhaltsamen Nachmittag zu bedanken. Meine Mutter platzte vor Stolz. Das waren die Momente, in denen meinen Eltern zusätzlicher Lohn für die harte Arbeit ausgezahlt wurde.
Die Promis gaben sich auf der Schwaigeralm die Klinke in die Hand: Ilse Werner, Willi Bogner, Carl Lieffen, Carl Raddatz, Peter Alexander, Nadja Tiller, Erik und Hilde Ode, Ilse Kubaschewski, Rudolf und Gertrud Platte, Olga Tschechowa, Anneliese Fleyenschmidt, Erni Singerl, Harald Leipnitz und auch der Mensch gewordene Berg Louis Trenker. Viele von ihnen sind inzwischen in Vergessenheit geraten, damals waren sie das, was heute unter den Begriff A-Promi fällt und nicht im Dschungelcamp in Maden baden muss. Doch nicht nur Schauspieler und Musiker schätzten die Gastfreundschaft meiner Eltern. Auch »Wienerwald«-Gründer Friedrich Jahn kam mit seiner ganzen Familie. Otto Schedl, Mitbegründer der CSU und später stellvertretender Parteivorsitzender sowie bayerischer Wirtschafts- und Finanzminister, gab sich ebenso die Ehre wie der damalige Landwirtschaftsminister Josef Ertl, der spätere bayerische Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr, Anton Jaumann, und Dr. Manfred Schreiber, Polizeipräsident in München. Robert Schwan, legendärer Manager des FC Bayern München, kam nicht nur oft allein auf die Schwaigeralm, er ließ meine Eltern sogar eine Meisterfeier seines Clubs mit allen Spielern ausrichten.
Meine Mutter erinnerte sich besonders gern an einen Besuch von Quelle-Gründer Gustav Schickedanz mit seiner zweiten Frau Grete im Februar 1963. Vielleicht ist er ihr deswegen so positiv in Erinnerung geblieben, weil er sein Vermögen im Grunde mit den Bedürfnissen der einfachen Frauen vom Lande gemacht hatte, indem sie sich in seinem Versandhandel Dinge bestellen konnten, die in abgelegenen Gegenden nur schwer zu bekommen waren. Meine Mutter entsprach also zu 100 Prozent seiner Zielgruppe.
Auch Josef Neckermann gehörte mit seiner Frau Annemarie zu unseren Stammgästen. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass ich viele Jahre später ein Kopfgeld in Höhe von 1,5 Millionen Euro auf seinen Großneffen Florian Homm aussetzen und mit seiner Nichte Uschi, der Mutter von Florian, eine gewagte Flucht aus einem italienischen Gefängnis planen würde. Auch mit einem anderen Gast meiner Eltern sollte mich später indirekt eine unheilvolle Geschäftsbeziehung verbinden: Dr. Peter von Siemens, Urenkel von Firmengründer Werner von Siemens. Eine Geschichte, die mein bester Freund und treuer Mitarbeiter fast mit dem Leben bezahlt hätte.
Der schrulligste von allen Gästen aber war zweifelsohne Multimilliardär Friedrich Karl Flick, dem damals in der Nachbarschaft das Anwesen Grüneck gehörte. Er kam eine Zeitlang fast jeden Morgen. Er hatte sich angewöhnt, meinen Vater zu einem Birnenschnaps für 60 Pfennig einzuladen, und erwartete, dass Sepp sen. die zweite Runde spendierte, was mein Vater natürlich nie verweigerte. Flick, der seine Unternehmen 1985 für 5,4 Milliarden Mark an die Deutsche Bank verkaufte, bestand darauf, dass ein einfacher Wirt ihn auf einen Birnenschnaps einlud. So sind sie, die Leute. Vom Geldausgeben ist noch keiner reich geworden.
So spannend es klingt, ständig berühmte Menschen daheim in der Gaststube zu haben, bedeute es für mich in erster Linie Arbeit. Gingen die anderen Kinder spielen, musste ich arbeiten. Kam ich nach der Schule um die letzte Kurve und sah den vollen Parkplatz, wusste ich, es wird wieder mal nichts mit Spielen und Freizeit. »Wo bleibst denn so lang?«, empfing mich mein Vater ungeduldig.
Dann füllte ich Milchkännchen nach oder ging dem Spüler zur Hand – es gab immer etwas zu tun, auch wenn wir in der Zwischenzeit bis zu fünf Bedienungen hatten. Schlich ich mich davon, konnte ich sicher sein, schon nach kurzer Zeit den Pfiff meines Vaters zu hören, der mich an die Arbeit gemahnte. Ich werde diesen Pfiff nie vergessen. Man konnte ihn mindestens einen Kilometer weit hören.
Die einzige Ausnahme war der Sport. Mein Vater und ich teilten die Leidenschaft für Eishockey. Er opferte seine wertvolle Zeit, um mich regelmäßig zum Training zu fahren. Ich hatte durchaus Talent, war schnell und wendig, mir fehlte aber noch die Masse, um mich in diesem körperbetonten Sport gegen meine Gegner durchzusetzen. Aus ganz anderem Holz geschnitzt war mein Teamkollege Hans Zach. Ließ ihn ein Gegner brutal in die Bande krachen, stand er auf, schüttelte sich ein Mal und meinte: »Den nehme ich jetzt mal Maß.« Wie Hans Sachen wegsteckte und dann verbissen weiterkämpfte, das hatte Klasse. Daran habe ich mich später immer wieder erinnert und auch so gehandelt. Später wurde er Deutscher Meister und sogar Trainer der Nationalmannschaft. Ich dagegen musste die Schlittschuhe wegen meiner Lehre an den Nagel hängen.
Auf der Schwaigeralm ging es immer nur um die Gäste. Ein richtiges Familienleben habe ich deswegen nie kennen gelernt. Höchstens mal, wenn ich bei meinem Freund Arno im Forsthaus war. Das war das Gegenmodell zu meinem Zuhause. Hier gab es ein richtiges Familienleben, mit gemeinsamen Abendessen und Zeit füreinander. Hier habe ich gesehen, was Familie bedeuten kann. Trotzdem mache ich meinen Eltern keinen Vorwurf. Sie hatten ihren Traum, dafür haben sie gelebt. Für Familienleben war da kein Platz. Das gab es nur an einem Tag im Jahr, nämlich am Heiligen Abend. Dann saßen wir zu dritt zusammen, aßen Würstchen mit Kartoffelsalat, packten die bescheidenen Geschenke aus, hörten im Radio die Kirchenglocken und gingen früh schlafen. Am ersten Weihnachtstag ging es dann weiter.
Bei so viel Betrieb hätte man annehmen müssen, dass es meinen Eltern blendend ging, doch das Gegenteil war der Fall. Ich hatte zwar immer wieder mitbekommen, dass es finanziell drückte, wie schlimm es aber tatsächlich war, erfuhr ich erst nach dem Tod meines Vaters. Mit mehr als einer Million Mark stand er bei der Sparkasse Tegernsee in der Kreide. Auf den ersten Blick war das ein Schuldenberg, der jedem Menschen den letzten Lebensmut nehmen kann. Doch auf der Habenseite stand eine erstklassig laufende Gastwirtschaft, die er in seinen Jahren dort oben zu einem echten Schmuckstück ausgebaut hatte. Nichts erinnerte mehr an die alte Schwaigeralm, wie er sie 14 Jahre zuvor übernommen hatte. Die Nutzfläche hatte sich mehr als verdoppelt, das Dachgeschoss war vernünftig ausgebaut, beherbergte eine richtige Wohnung sowie mehrere Personalzimmer. Das Plumpsklo war längst abgerissen, stattdessen gab es im neuen Keller richtige Sanitärräume. Und das Wichtigste: 1963 hatte es gegen den erbitterten Widerstand des Forstrats endlich mit dem Kauf des Grundstücks geklappt. Die Schwaigeralm stand nach vielen Jahrzehnten Kampf auf unserem eigenen Grund und Boden.
Als hätte er sein jähes Ende geahnt, hatte mein Vater den Sparkassendirektor zu unserem »Jahresschoppen« einen Tag vor seinem Tod eingeladen. Er führte ihn durch alle Räume, damit er sehen konnte, wo das ganze Geld geblieben war. Der Direktor war beeindruckt und wünschte meinen Eltern eine finanziell leichtere Zukunft.
Nach der Abfahrt der Sparkassen-Delegation fühlte sich mein Vater müde und legte sich auf sein geliebtes Kanapee im Büro: »Ich muss mich kurz ausruhen. Das wird schon wieder«, sagte mein Vater voller Überzeugung.
Meine Mutter wollte noch am Abend unbedingt den Doktor rufen, aber der alte Sturkopf weigerte sich. Nach einer sehr unruhigen Nacht wurde es meiner besorgten Mutter zu viel. Sie rief den Arzt. Es kamen gleich zwei. Sie zeigte ihnen das Erbrochene, die murmelten etwas von »Zirrhose« und beschlossen, dass er sofort ins Krankenhaus müsse.
Mutter durfte nicht mitfahren, das hätte mein Vater nie erlaubt. Er hat immer darauf bestanden, dass einer von beiden im Geschäft ist.
Im Krankenhaus verabschiedete er sich von seiner Schwester mit den Worten: »Schauts auf d’Hermine und aufs Gschäft.« Sie versprach es ihm, wollte aber immer noch nicht an das Schlimmste glauben und fuhr sofort zurück auf die Schwaigeralm, die an diesem sonnigen Vatertag brechend voll mit Gästen war.
Ich kam am späten Nachmittag aus München, wo ich zu der Zeit schon arbeitete. Als ich von seinem Zusammenbruch erfuhr, bin ich sofort ins Krankenhaus, um nach ihm zu sehen. Aber die Schwester sagte nur: »Da können Sie jetzt nicht rein. Ihr Vater liegt auf der Intensivstation.«
»Dann richten Sie ihm liebe Grüße von mir aus. Ich schaue morgen noch mal nach ihm.« Dann fuhr ich zu Freunden, mit denen ich mich für den Abend im Kino verabredet hatte.
Um 20.30 Uhr hatte der Arzt meine Mutter angerufen: »Frau Resch, ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass wir Sepp nicht mehr helfen konnten. Er kam nicht mehr zu sich und starb ohne Schmerzen.« Davon hatte er in seinem Leben reichlich.
Ein Meer von Blumen und Kränzen lag auf seinem Grab, als drei Tage später ein schwarzer Adenauer-Mercedes vor dem kleinen Friedhof mit den weiß getünchten Mauern in Kreuth hielt. Zwei Männer in dunklen Anzügen stiegen aus und holten einen großen Kranz aus dem Kofferraum. Langsam gingen sie zum Grab meines Vaters, den wir hier bei den Eltern meiner Mutter begraben hatten. Sie legten den Kranz aufs Grab, richteten die Schleife und hielten einen Moment lang inne. Die Schleife trug den Aufdruck: »Sepp Resch – von seinem Gast Ludwig Erhard, Bundeskanzler.« Dann fuhren der Bundeskanzler und sein Chauffeur wieder davon. Tage später brachte der Chauffeur meiner Mutter einen Brief des Kanzlers, in dem er ihr Trost und Mitgefühl spendete und sich entschuldigte, dass er wegen einer dienstlichen Auslandsreise nicht zur Beerdigung hatte kommen können. Dazu hatte er ein Foto mit Widmung gelegt, das meinen Vater zusammen mit ihm auf der Schwaigeralm zeigt. Mein Vater mit seiner langen Pfeife, der Kanzler mit Zigarre. Anders habe auch ich ihn nie kennen gelernt.
Ludwig Erhard war oft bei uns zu Gast. Er hatte ein Haus in Gmund am Tegernsee. Meistens kam er am Silvesterabend, und oft rief seine Frau erst eine Stunde vorher an, um einen Tisch zu reservieren. Zum Jahresausklang hätte die Schwaigeralm gut und gerne doppelt so groß sein können, so groß war der Andrang jedes Jahr. Aber meine Eltern wussten, dass der Kanzler so spät reserviert, und ließen deswegen immer einen Tisch mit 25 Plätzen frei. Zu Silvester kam er immer mit seiner Frau Luise, seiner Tochter Elisabeth, seinen beiden Enkelinnen und weiteren Familienangehörigen, Freunden und seinem Leibwächter.
Der »Vater des Wirtschaftswunders« gab sich bei der Menüwahl grundsätzlich so bescheiden und bodenständig, wie er war. Für ihn und seine Frau gab es Forelle blau und Kaiserschmarrn. Auf den habe ich übrigens ein Diplom. Da macht mir so schnell niemand was vor. Viele Jahre später habe ich diese Alpenspezialität unter abenteuerlichsten Umständen einem der meistgesuchten und brutalsten Männer der Welt zubereitet.
Hatten der Kanzler und seine Familie ihr Silvestermahl beendet, gehörte es zum festen Ritual, dass mein Vater mit frischer weißer Schürze und seiner Pfeife dazukam. Er setzte sich dann nicht ohne Stolz auf den Stuhl neben den Kanzler und wurde wie selbstverständlich in die Gespräche mit einbezogen. Der Kanzlertisch war immer eine ruhige, harmonische und gemütliche Runde. An einem dieser Silvesterabende ist auch das Foto entstanden, das Ludwig Erhard meiner Mutter nach der Beerdigung mit der Widmung zukommen ließ.
Aus den anderen Stuben versuchten die Gäste natürlich immer einen neugierigen Blick auf den Regierungschef und seine Familie zu werfen. Er konnte gut damit leben. Eine dieser Nächte aber wird mir und allen Beteiligten wohl ewig in Erinnerung bleiben. Um 21 Uhr, nachdem das Essen beendet und die Zigarre geraucht war, stand der Kanzler auf. Gewöhnlich war das das Zeichen für den Aufbruch, denn länger blieb er sonst nie. 1966 aber stand er auf, um eine Rede zu halten. Mit einem Schlag wurde es so still in der Schwaigeralm, dass man den Schnee draußen hätte fallen hören können. Die festlich beleuchtete Fichte, die ich als 14-Jähriger vor der Sommerterrasse gepflanzt hatte, war inzwischen mannshoch und festlich beleuchtet. Ihr Licht glitzerte bis in die Wirtstuben.
Der Kanzler redete ruhig, aber eindrucksvoll zu allen Anwesenden. Er sprach vom »Bescheiden- und Zufriedenseinsollen«, von unserem stolzen Vaterland, das nicht hochmütig werden dürfe. Er sagte auch: »So ein Gegensatz. Vor zwei Tagen habe ich noch in Washington im Weißen Haus eine Rede gehalten. Jetzt bin ich glücklich, hier im schönen Tegernseer Tal und auf der Schwaigeralm sein zu können.« Er beschloss die Rede mit Glückwünschen für das Haus und dessen Gäste für die kommenden Jahre und bat den Herrgott um seinen Segen.
Es gab kaum jemanden, der nicht tief bewegt war. Es blieb noch eine ganze Zeitlang still, dann standen alle Gäste auf und spendeten ihm minutenlang Beifall. Stolz und glücklich geleiteten wir den Kanzler hinaus.
An solche Abende mag meine Mutter gedacht haben, als sie in den Tagen nach der Beerdigung allein war mit ihrer Trauer und den finanziellen Sorgen. Die Schwaigeralm war nur am Tag der Beisetzung geschlossen geblieben. Wie sollte es jetzt weitergehen? Freunde rieten ihr zum Verkauf, aber das wollte sie auf gar keinen Fall. Zu sehr war sie hier verwachsen. Verpachten war keine Option, denn mit dem Erlös hätte sie die immensen Schulden nicht tilgen können. Sie würde weitermachen müssen – so wie es mein Vater sich gewünscht hätte. Ein Viertel der Schwaigeralm hatte Vater mir vererbt. Ich führte lange Gespräche mit der Mutter, und wir kamen zu dem Schluss, dass ich zurückkommen müsse, um sie bei dieser Mammutaufgabe zu unterstützen. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, denn nach meiner Gastronomielehre war ich inzwischen im »Vier Jahreszeiten« in München gelandet, das zu einer der ersten Adressen in Deutschland gehörte. Und doch ging ich im Alter von 20 Jahren zurück auf die Schwaigeralm. Das war ein schwerer Schritt für mich, und es steckte kein Herzblut drin. Da war ich ganz anders als meine Mutter. Aber ich hatte keine Wahl, ich musste meine Mutter unterstützen.
Meine Mutter lebte nach dem Tod meines Vaters genauso bescheiden wie bisher. Mit einem Unterschied: Sie machte Schluss mit den ständigen Erweiterungen und Neubauten. Für sie war das Projekt Umbau abgeschlossen. Die Schwaigeralm blieb, wie sie war. »Es ist gut so, wie es ist.«
Die Jahre flossen den Sagenbach runter in die Weißach, und das Geschäft florierte. Die Schwaigeralm war eine Institution im Tegernseer Tal. 1972, nach dem Attentat bei den Spielen in München, tagte sogar das Olympische Komitee bei uns. Draußen war alles abgesichert, dass man die Berge vor lauter Polizisten nicht mehr sehen konnte. Mir wurde die Welt in der Langenau trotzdem zu klein.
Meine Leidenschaft galt in dieser Zeit dem Motorsport. Am liebsten wäre ich Rennfahrer geworden. Leider ein teures Hobby, und Millionäre waren die Reschs nur auf der falschen Saldo-Seite. Ganz in der Nähe, in Lenggries, hatte der ehemalige Vietnam- und Koreakämpfer Francis McNamara mit dem Geld seiner vermögenden Frau Bonnie einen kleinen Rennstall für Formel V- und Formel 3-Wagen aufgebaut. Mit so einem Ding wollte ich auch Rennen fahren. Also suchte ich Sponsoren. Reiche Leute kannte ich genug. Neckermann macht’s möglich, dachte ich und bekam tatsächlich einen Termin bei Josef Neckermann. Der sportbegeisterte Unternehmer war der Sache gar nicht so abgeneigt. Wohl auch, weil er sich der Familie Resch durch seine vielen Besuche auf der Schwaigeralm verbunden fühlte. Wir führten mehrere Gespräche, aber letztendlich wurde doch nichts daraus. Mehr Glück hatte ich bei einer wohlhabenden Dame, ebenfalls Stammgast, durch deren Adern vermutlich ein Blut-Benzin-Gemisch floss. Plötzlich war ich stolzer Besitzer eines McNamara im Wert von 30000 Mark und konnte endlich meine ersten Trainingsrunden auf dem Salzburgring drehen. Um es gleich vorwegzunehmen: Bestzeit bin ich nur einmal gefahren – unter Umständen, die heute zum Glück verjährt sind.
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