Gefährdete Kindheit -  - E-Book

Gefährdete Kindheit E-Book

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Die Entwicklung von Kindern ist ein empfindlicher, nicht selten fragiler Prozess. Gerade in den ersten Lebensjahren bestehen hohe Gefahren für das Kindeswohl. Deshalb gilt es, Risiken frühzeitig zu erkennen und Chancen der Entwicklung rechtzeitig wahrzunehmen. Das Buch will zunächst Grundwissen im Hinblick auf die Entwicklungsrisiken und im Hinblick auf protektive, die Entwicklung stützende Faktoren vermitteln. Neben den somatischen Risiken wird dabei insbesondere auf die fatalen Wirkungen ökonomischer und psychosozialer Verarmung eingegangen. Wie diesen Kindern (und ihren Eltern) geholfen werden kann, wird anhand von erfolgreichen in der Praxis erprobten Konzepten und Methoden dargestellt. Dass hier ein gemeinsames Handeln der beteiligten Kinder, Eltern, Ärzte, Therapeuten und Pädagogen in einem vernetzten System der Hilfen notwendig ist wird ausführlich erörtert.

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Seitenzahl: 644

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Die Entwicklung von Kindern ist ein empfindlicher, nicht selten fragiler Prozess. Gerade in den ersten Lebensjahren bestehen hohe Gefahren für das Kindeswohl. Deshalb gilt es, Risiken frühzeitig zu erkennen und Chancen der Entwicklung rechtzeitig wahrzunehmen. Das Buch will zunächst Grundwissen im Hinblick auf die Entwicklungsrisiken und im Hinblick auf protektive, die Entwicklung stützende Faktoren vermitteln. Neben den somatischen Risiken wird dabei insbesondere auf die fatalen Wirkungen ökonomischer und psychosozialer Verarmung eingegangen. Wie diesen Kindern (und ihren Eltern) geholfen werden kann, wird anhand von erfolgreichen in der Praxis erprobten Konzepten und Methoden dargestellt. Dass hier ein gemeinsames Handeln der beteiligten Kinder, Eltern, Ärzte, Therapeuten und Pädagogen in einem vernetzten System der Hilfen notwendig ist wird ausführlich erörtert.

Prof. em. Dr. Christoph Leyendecker hatte den Lehrstuhl ''Pädagogik und Rehabilitation bei Körperbehinderung'' an der Technischen Universität Dortmund inne und engagiert sich im Vorstand der Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung.

Christoph Leyendecker (Hrsg.)

Gefährdete Kindheit

Risiken früh erkennen Ressourcen früh fördern

unter Mitarbeit von Hedwig Amorosa und Ingrid Müller

Verlag W. Kohlhammer

Alle Rechte vorbehalten © 2010 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-020954-1

E-Book-Formate

pdf:

epub:

978-3-17-027790-8

mobi:

978-3-17-027791-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers

Grundlagen: Risiken und Chancen kindlicher Entwicklung heute

Veränderter Alltag, riskante Umbrüche, hemmende Risiken und förderliche ChancenChristoph Leyendecker

Psychobiologische Grundlagen der kindlichen Entwicklung im systemischen Kontext der frühen Eltern-Kind-BeziehungenMechthild Papoušek

Was schützt Kinder vor Risiken: Resilienz im Kleinkind- und Vorschulalter und ihre Bedeutung für die FrühförderungHans Weiß

Frühförderung für Kinder mit psychosozialen RisikenGerhard Klein

Früh Erkennen: Gefährdungen und Ressourcen

Postnatale Konsequenzen fetaler Entwicklung: Einfluss der Geburtsmaße auf die spätere Entwicklung und GesundheitBettina Gohlke & Joachim Woelfle

Postpartale psychische Erkrankungen und die Folgen für das KindeswohlChristiane Hornstein & Patricia Trautmann-Villalba

Riskante Mutterschaft: Mütter mit postpartalen ErkrankungenHannelore Lier-Schehl

Interaktion und Regulation bei Säuglingen drogenkranker Mütter – Risiken und Chancen für die FrühförderungAlexander Trost

Soziale Frühwarnsysteme in Kindertageseinrichtungen: die Herner MaterialienKarin Altgeld

Umsetzung des Schutzauftrags: Risikofaktoren, Anhaltspunkte zu Gefährdungen und HandlungsstrategienGerda Steinkirchner

Sehüberprüfung durch Pädagoginnen – ein Kinderspiel?Verena Petz

Verhaltensbeobachtung. Von Chancen, Fehlern und FallenJudith Flender & Nora Knoch

Früherkennung von Lern- und Verhaltensstörungen im KindergartenHeinrich Tröster

Soziale Ungleichheit und Ernährung bei KindernMathilde Kersting & Kerstin Clausen

Erziehungsvorstellungen in türkischen FamilienAli Kemal Gün

Eingangsdiagnostik in der Praxis der Interdisziplinären FrühförderungSusanne Fries & Ulrike Glas

Einfach scheu oder selektiv mutistisch? Früherkennung von RisikofaktorenKatja Subellok & Nitza Katz-Bernstein

Diagnostik und Prävention von sozial-emotionalen EntwicklungsproblemenUlrike Petermann & Franz Petermann

Früh Fördern: Konzepte und Praxis

Verhaltenstraining zum Aufbau sozial-emotionaler KompetenzenFranz Petermann & Ulrike Petermann

Menschen mit so genannter Schwerster Behinderung auf dem Weg zur Intentionalen KommunikationAnnett Thiele

Progrediente Erkrankungen mit Verlust der Lautsprache im Kindesalter – welche Rolle spielt die Kommunikationsförderung?Birgit Hennig

Genetische Syndrome im Kindesalter – ein Fall für die Sprachtherapie?!Barbara Giel

Frühe Sprachförderung für Kinder ohne Lautsprache: Möglichkeiten des Einsatzes von Kern- und Randvokabular in Therapie und AlltagJens Boenisch

Unterstützte Kommunikation im Heilpädagogischen Kindergarten – zur Umsetzung im KindergartenalltagManon Füllgraf, Mareike Böhm-Holtwiesche, Grit Näscher & Jennifer Steinhoff

Frühe Entwicklungsförderung mit dem Programm „Kleine Schritte“ von Kindern mit Down-Syndrom Ergebnisse einer EvaluationsstudieMeindert Havemann

Laufbänder in der frühen Förderung: Anregung des freien Gehens bei motorisch entwicklungsverzögerten KindernBritta Gebhard

Marte Meo – ein Video-Interaktionsmodell in der FrühförderungChrista Grüber-Stankowski

Theorie- und forschungsbasierte Prävention in Multiproblemfamilien: das STEEPTM-ProgrammRüdiger Kißgen

„Mobile Frühförderung“ – Bedeutung und Stellenwert in der Interdisziplinären FrühförderungSabine Walther-Werthner

Früh Zusammenarbeiten: Kooperative Aufgaben und Lösungsansätze

Vernachlässigung und Misshandlung Erkennen und HandelnUte Ziegenhain

Verpflichtende Vorsorgen: ein Baustein des Programms „Frühe Hilfen – Keiner fällt durchs Netz“Liselotte Simon-Stolz

Frühe Hilfen und Frühe Förderung: Verwaltungshandeln als Reaktion auf gesellschaftliche EntwicklungenBirgit Stephan

Soziales Frühwarnsystem und Frühe Hilfen für Eltern und Kinder – ein Kooperationsprojekt des Gesundheitsamtes und JugendamtesGerda Steinkirchner

ELTERN-AG® – das Empowerment-Programm für mehr Elternkompetenz in ProblemfamilienMeinrad M. Armbruster

Präventionsprogramm Zukunft für Kinder – Hilfen für Kinder und Familien in RisikolagenPeter Lukasczyk

Frühförderung mit sozial benachteiligten FamilienVera Borchardt & Verena Nordmann

Opstapje – Schritt für Schritt – ein präventives Spiel- und Lernprogramm für Kleinkinder aus sozial benachteiligten Familien und deren ElternRoswita Lohrey-Rohrbach, Alexandra Sann & Kathrin Thrum

PAT – Mit Eltern lernen Bessere Bildungschance für Kinder aus sozial benachteiligten Familien durch frühe Förderung und ElternempowermentRenate Sindbert

Aufmerksamkeitsleistungen ehemaliger Frühgeborener im Schul- und Vorschulalter – Implikationen für die FrühförderungNina Gawehn

Frühförderung und Elternarbeit nach der Geburt eines frühgeborenen KindesJörg Reichert

Die Zusammenarbeit mit psychisch verletzlichen ElternManfred Pretis & Aleksandra Dimova

Prävention von Vernachlässigung und Misshandlung in der frühen Kindheit – eine interdisziplinäre GemeinschaftsaufgabeAlexandra Sann

Pädagogische Frühförderung mit Kindern in TageseinrichtungenUlla Scholz-Thiel

Netzwerkarbeit Frühförderung und Jugendhilfe im KinderschutzChristine Tivadar & Brigitte Simon

Aktuelle Problemstellungen und Perspektiven

Erkennen und Fördern als gemeinsame AufgabeStefan Engeln

EURLYAID European Association on Early Childhood InterventionJürgen Kühl, Marta Lubešić & Karin Mosler

Autorinnen und Autoren

Sachregister

Vorwort des Herausgebers

Jede lebendige Entwicklung obliegt einem ständigen Prozess der Veränderung. Besonders in kritischen Übergangsphasen bleibt nichts so wie es einmal war. Da heißt es, nicht an Vergangenem festzuhalten, sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen und neue Orientierung zu finden.

Vor eine solche Aufgabe der Weiterentwicklung ist auch die Interdisziplinäre Frühförderung gestellt. Sie steht in einem neuen Aufbruch, wenn nicht sogar in einem Umbruch.

Es sind besondere gesellschaftliche und interdisziplinäre Herausforderungen, denen sich das XV. Symposion der Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung (VIFF) unter dem Titel „Riskante Kindheit“ gestellt hat. Die Einrichtungen der frühen Hilfe und frühen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder haben – quasi seismografisch – diese veränderten Anforderungen schon früh registriert und darauf reagiert: Neben der Sorge um behinderte Kinder sind mehr und mehr Kinder mit psychosozialen Risiken in das Aufgabenspektrum gerückt. Standen in den Anfängen der Frühförderung Kinder mit somatischen und genetisch bedingten Entwicklungsproblemen im Vordergrund, so sind es heute in zunehmendem Maße Kinder mit „Morbiditäten“, deren Ursachen in den psychosozialen Lebensbedingungen zu finden sind:

Kinder, die ihr Verhalten nicht regulieren können, die hyperaktiv sind und/oder sich nicht konzentrieren können oder in ihrem Bindungsverhalten auffällig sind.

Kinder, die in ihrer emotionalen Entwicklung verzögert sind, ängstlich sind oder häufig aggressiv, aber auch depressiv reagieren.

Kinder mit unspezifischen und spezifisch umschreibbaren Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, der Motorik und des Lernens.

Auf der anderen Seite sind, z. T. mit zunehmender Tendenz, Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (z. B. autistische Störungen, Rett-Syndrom) sowie Erscheinungsbildern komplexer Schwerstbehinderung zu beachten.

Für all diese Problemstellungen kindlicher Entwicklung hatten wir den schillernden Begriff des Risikos gewählt und dem Symposion die plakative Überschrift „Riskante Kindheit“ gegeben. Ein Schlagwort, um das wir in der Vorbereitungsgruppe heftig gerungen haben. Zweifel blieben. Aber es blieb auch ein Verständnis von Risiko, das nicht nur eine Gefährdung ins Negative bedeutet, sondern auch als positive Chance begriffen werden kann. Womit sich beide Aspekte ergänzen – ähnlich dem Wort von Hölderlin: … „Denn wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“; so ist denn auch der Titel dieses Buches „Gefährdete Kindheit“ zu verstehen.

Ursprünglich ist Risiko ein Wort aus der italienischen Kaufmannssprache und bedeutet Wagnis, Gefahr – aber auch Verantwortung bei einer Unternehmung. Sich einem Risiko auszusetzen bzw. ausgesetzt zu sein, bedeutet demnach ein Wagnis einzugehen, das positive wie negative Folgen für die Unternehmung nach sich ziehen kann. Diese ambivalente Sichtweise gilt auch für das Risiko in der kindlichen Entwicklung. Die Gefährdung kann ein besonderer Ansporn für die Entwicklungsdynamik sein, aber auch zu Beeinträchtigung der Entwicklung führen. So wie der Extremkletterer, der bewusst vereiste Hänge sucht, im Straucheln und Ausrutschen sowohl sein motorisches Geschick verbessern, aber auch unglücklich scheitern kann.

Beide Seiten kommen im Buch zur Sprache: Die mögliche Resilienz, die aus der Aktivierung von Widerstandskraft und Ressourcen erwächst, wie die mögliche Vulnerabilität, d.h. Verletzlichkeit bzw. Anfälligkeit für Entwicklungsstörungen.

Beides sind keine Entitäten, die in Kindern alleine personal angelegt sind oder allein von den sozialen Ressourcen bestimmt werden. Sie werden vielmehr in wechselseitiger Relation von personalen und sozialen Faktoren wirksam.

Es zählt zu den interessanten wie plausiblen Ergebnissen der Entwicklungspsychologie, dass die Wurzeln von Gefährdungen wie heilsamer Faktoren sehr früh in der Entwicklung liegen. Dies wird u. a. dadurch belegt, dass sich die emotionale Empathie bei Kindern deutlich früher entwickelt als deren kognitive Fähigkeiten. Darin liegt nun ein Schlüssel zur Erklärung vieler psychosozialer Entwicklungsstörungen: werden doch grundlegende Fähigkeiten des Kindes zur Nachahmung und Einfühlung schon früh über so genannte Spiegelneuronen vermittelt. Und auf Seiten der Bezugsperson bestimmen deren Feinfühligkeit und intuitives Repertoire anregenden Verhaltens den Gang der Entwicklung.

Die Beachtung dieser Wechselseitigkeit steht im Mittelpunkt vieler Beiträge dieses Buches. Neben dem Aufweis von Gefährdungen wird auch auf Ressourcen der Bewältigung eingegangen. Dazu werden präventive wie protektive Möglichkeiten der Frühförderung vorgestellt.

In systematischer Gliederung werden Grundlagen (Risiken und Chancen kindlicher Entwicklung heute), Frühdiagnostik (Früherkennung von Gefährdungen und Ressourcen), Konzepte und Praxis der Frühförderung, kooperative Aufgaben und gemeinsame Lösungsansätze behandelt und mit einem kurzen Aufweis aktueller Problemstellungen sowie einer internationalen Perspektive abgeschlossen.

Dieser Aufbau reflektiert die Entwicklung der Frühförderung, die sich in den letzten Jahrzehnten von einem ausschließlich kindzentrierten Behandlungsansatz gelöst und zu einem gemeinsamen Handeln im Lebensumfeld von Eltern und Kind weiterentwickelt hat. Zu einem solchen Selbstverständnis gehören Respekt vor der frühen Kompetenz des Kindes und die Achtung seiner Eltern als Experten in eigener Sache. So konstituiert sich Frühförderung als Zusammenarbeit von Dreien („Trialog“), d. h. von Eltern, Kind und Fachpersonal, die ein gemeinsames Konzept förderlichen Handelns entwickeln – kurzum: „Gemeinsame Sache machen“.

Zu dieser gemeinsamen Sache haben viele kompetente Kolleginnen und Kollegen beigetragen. Aus dem breiten Spektrum medizinisch-therapeutischer und pädagogisch-psychologischer Fachdisziplinen haben sie höchst interessante und aktuelle Beiträge geschrieben. Für diese kooperative Leistung sage ich allen Referentinnen und Referenten achtvolle Anerkennung und großen Dank.

Dieser Dank geht in besonderer Weise an die Kolleginnen Prof. Dr. Hedwig Amorosa und Dr. Ingrid Müller. Beide haben in der Herausgeberschaft engagiert mitgearbeitet, die Hälfte der Manuskripte kritisch gelesen und redigiert. Dies war im Einzelfall mit nicht wenig Arbeit verbunden, gerade wenn es galt, einheitliche Richtlinien inhaltlicher und formaler Manuskriptgestaltung einzuhalten. Der inhaltlichen Qualität und formalen Übersichtlichkeit ist dies sehr zugute gekommen.

In diesem Zusammenhang noch ein sehr persönlicher Dank: Er gilt meiner Frau Hiltrud Leyendecker, die das endgültige Typoskript erstellte. Dazu darf ich – nicht ohne Selbstkritik – anmerken, dass diese Form der Zusammenarbeit nicht einer gelegentlichen Heftigkeit ermangeln musste, aber auch gemäß dem natürlichen Gesetz „Wo Reibung ist, da ist auch Wärme“ unsere langjährige Beziehung arg aktiviert und tief ausgelotet hat.

Schließlich und nicht zuletzt geht der verbindliche Dank an die Gesellschaft der Freunde der TU Dortmund. Deren finanzielle Unterstützung hat uns über die Hürden der oft schwierigen redaktionellen Arbeit hinweggeholfen und das Erscheinen der Publikation erleichtert.

Köln, im Herbst 2009

Christoph Leyendecker

Grundlagen: Risiken und Chancen kindlicher Entwicklung heute

Veränderter Alltag, riskante Umbrüche, hemmende Risiken und förderliche Chancen

Christoph Leyendecker

Denkwürdige Anlässe

Veränderter Alltag

Es ist schon eine Weile her, da war in einer Mitteilung des Möbelhandels von einem „Rückgang im Verkauf von Esstischen“ die Rede. Leider ließen sich diese Pressemitteilung und die aktuellen Absatzzahlen bei einer Anfrage beim Verband der Möbelindustrie nicht mehr genau ermitteln. Sie erfahren aber aktuell eine indirekte Bestätigung. So meldet das Bundesfamilienministerium (2008) als Ergebnis einer repräsentativen Elternumfrage, dass es in den meisten Familien kein gemeinsames Frühstück mehr gibt und dass in 27 % der Haushalte mit Nettoeinkommen unter 1500,– Euro die Familie sich so gut wie nie zu gemeinsamen Mahlzeiten an einem Tisch trifft. Es gibt zu denken, dass hilfreiche Alltagsrituale – wie gemeinsames Essen – vornehmlich in den benachteiligten Bevölkerungsschichten keinen Platz mehr finden.

Diesen negativen Meldungen über häusliche Rahmenbedingungen kindlicher Entwicklung steht auch scheinbar Positives gegenüber: Zu Hause wird zwar nicht mehr gekocht. Im Fernsehen kann man sich aber vor der Vielzahl von Kochsendungen nicht retten. Und in Zeiten der Krisen propagierte jüngst die Möbelmesse in Köln (Kölner Stadt-Anzeiger, 2009) einen formidablen Rückzug vom Öffentlichen ins Private: Wenn’s draußen stürmt, gilt es, es sich drinnen gemütlich zu machen. Homing und Cocooning sind die Schlagworte und – trotz Wirtschaftskrise – die Möbelbranche boomt. Doch dieser Boom geht an Kindern – vor allem der benachteiligten Bevölkerungsschicht – vorbei.

Frühe Hilfen

Noch eine andere Branche ist dabei, sich gut zu entwickeln. Die Sorge um die frühe Kindheit ist ein öffentliches und wissenschaftliches Thema wie nie zuvor! Prävention, Kinderschutz, frühe Betreuung, frühe Erziehung, frühe Bildung – kurzum alle frühe Hilfen für Kinder – stehen ganz oben an. Sie wurden bundesweit vom Familienministerium angestoßen und im Nationalen Zentrum früher Hilfen focussiert.

Daneben hat sich auch ein Zweig dieser kindorientierten Branche – die Interdisziplinäre Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder – für manche im Stillen, doch schon lange dynamisch entwickelt und in den letzten Jahrzehnten landesweit etabliert. Von kleinen Anfängen in den 1970er Jahren ist sie zu einem breiten Angebot von mittlerweile 1300 Frühförderstellen und 135 Sozialpädiatrischen Zentren gewachsen. Das ist nicht nur ein quantitativer Sprung, sondern auch eine qualitative Verbesserung – zum einen durch die interdisziplinäre Orientierung und zum anderen durch die sozialrechtliche Absicherung im SGB IX und der Frühförderungsverordnung.

Sehr gut und schön ist dies allerdings nur auf den ersten Blick. Hapert es doch noch an einer wirkungsvollen Umsetzung in den Bundesländern. Und es mangelt noch deutlich an Zusammenarbeit im aktuellen Mainstream der „Frühen Hilfen“. Trotz allen Engagements steht die Frühförderung etwas außen vor: unterschiedliche ministerielle Verortungen – zuvorderst das Ministerium für Arbeit und Soziales, aber ebenso das Gesundheits- wie das Familienministerium – erschweren eine wirkungsvolle Zusammenarbeit.

Nicht zuletzt klemmt es auch an anderer Stelle: Obgleich beispielsweise der Entzug der elterlichen Sorge um mehr als 10 % gestiegen ist, wurden bei Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe die Stellen drastisch (bis zu einem Drittel) gestrichen, während gleichzeitig in Kindertageseinrichtungen bundesweit z.T. ein erheblicher Zuwachs zu verzeichnen ist (Komdat, 2008, 20).

In diesem Zusammenhang gilt es zu beachten, dass mit den verstärkten Bemühungen um eine öffentliche Früherziehung und Betreuung die etablierten Formen Interdisziplinärer Frühförderung sowie der Kinder- und Jugendhilfe nicht aus dem Blickpunkt geraten.

Riskante Umbrüche

Ambivalente Erfahrungen

In den Bedingungen, unter denen Kinder heute aufwachsen, ist es zu riskanten Umbrüchen gekommen. Die Kindheit wird geprägt von ambivalenten, sehr unterschiedlichen Erfahrungen:

Einerseits ein Verlust an Geborgenheit und eine mangelnde Erziehungskompetenz,

andererseits ein Gewinn an Autonomie und eine Pluralisierung der Lebenschancen.

Diese unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen sollen an zwei extremen Beispielen verdeutlicht werden:

Für das eine Extrem steht ein Fall tödlicher, psychosozialer Deprivation: der Fall Kevin, der vor einiger Zeit eine breite Öffentlichkeit erschüttert hat.

Das andere positive Beispiel beschreibt eine neue Form psychosozialer Bereicherung der kindlichen Entwicklungsbedingungen: Mütter und Väter, die sich beispielsweise in so genannten PEKIP-Gruppen, d.h. Prager-Eltern-Kind-Intervertions-Programm (www.pekip.de; u.a. Thiel, 2002), oder in Kursen nach Pikler (2008) zusammengefunden haben, um ihren Säuglingen und Kleinkindern in behutsamer Weise spielerische Anregungen in der Gruppe zu geben.

Das erstgenannte Beispiel der extremen Deprivation ist entstanden aus einer Hochrisiko-Situation der Eltern: psychische Erkrankung der Mutter, Suchtprobleme bei Vater und Mutter und schließlich – nach dem Tod der Mutter – Alleinerziehung durch den Vater (Bremische Bürgerschaft, 2007; Stengel, 2008).

Im konträren Beispiel wird dem jungen Kind ein Szenario geboten, das von Achtsamkeit und psychosozialer Bereicherung, die Verhaltensforschung nennt es Enrichment, gekennzeichnet ist: günstige Ressourcen in Form von anregendem Elternverhalten, feiner Abstimmung auf die kindlichen Bedürfnisse, guter sozialer Einbettung usw.

Das eine Kind, der betrauerte Kevin, mit vielen extrem negativen Risiken seiner Eltern behaftet, das andere Kind in der PEKIP-Gruppe mit vielen Möglichkeiten, die ihm eine positive Chance bieten können.

So extrem es klingen mag: beide Möglichkeiten fußen auf einem Wegfall bzw. der Überschreitung gesellschaftlicher Normen und stützender Traditionen. Im ersten Fall extrem negativ, da neben der elterlichen Inkompetenz auch die sozialen Hilfesysteme versagten, im zweiten positiven Fall, weil über die alleinige Elternrolle hinaus und jenseits traditioneller verwandtschaftlicher Stützsysteme selbstständig neue Formen der Erziehung in der erprobt werden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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