Gefährliche Freiheit? - Peter Asprion - E-Book

Gefährliche Freiheit? E-Book

Peter Asprion

4,2

Beschreibung

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Entlassung einiger für gefährlich gehaltener Straftäter lösten Ängste aus. Ein absoluter Schutz vor Rückfällen scheint unmöglich. Verunsicherung hier, dort das Recht auf Resozialisierung. Peter Asprion berichtet vom schwierigen Weg in die Freiheit. Er gibt den "Gefährlichen" ein menschliches Gesicht und plädiert für einen Umgang mit diesen ohne Dämonisierung und Panik.

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Peter Asprion

Gefährliche Freiheit?

Das Ende der Sicherungsverwahrung

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deISBN (E-Book): 978-3-451-34614-9ISBN (Buch): 978-3-451-30533-7

Inhaltsübersicht

Vorwort

Gefährliche Freiheit?

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

Wir schaffen uns unsere Dämonen

Was sind das für Menschen?

Leben mit dem Urteil

Risiko und Angst

Der Blick in die Kristallkugel

Endlich frei?

Schwarzer Peter spielen

Gerhard Kraus und Ludwig Roser: Ein Jahr nach der Entlassung

Was noch zu fragen wäre

Was sind die Alternativen?

Das Ende der Sicherungsverwahrung

Wollen Sie wirklich alles wissen?

Bibliographie

Anhang

Danke

Anmerkungen

„Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft – das ist die letzte Zuflucht für die Verteidiger der Strafe.“

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Vorwort

Seit etwa fünfzehn Jahren ist die Sicherungsverwahrung, die noch Anfang der 1990er-Jahre als Auslaufmodell galt, zu einem zentralen Bestandteil einer Sicherheitspolitik avanciert, die zunehmend auch das Strafrecht instrumentalisiert. Die Ausweitung der Sicherungsverwahrung in der Reform des Sexualstrafrechts 1998 eröffnete einen deutschen Sonderweg und setzte eine Dynamik in Gang, die erst durch verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ab 2009 und schließlich durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai des Jahres 2011 abgebremst worden ist – aus der Sicht mancher Akteure in einer rücksichtslosen Weise und die Leiden der Opfer ignorierend. Nicht abgebremst allerdings ist die Debatte, wie mit Menschen umgegangen werden soll, die als gefährlich eingeschätzt werden.

In einer persönlich gehaltenen, manchmal sehr direkten Auseinandersetzung benennt Peter Asprion die Probleme, die sich im Verlauf der Debatten um die Maßregel der Sicherungsverwahrung ergeben haben. Die Geschichten, die er hier erzählt, machen auf eine zuweilen bedrückende Art und Weise deutlich, dass Stigma und Ausgrenzung immer noch unersättliche Begleiterinnen auch eines sozialstaatlich begründeten Strafvollzugs sind. Aus mehreren Perspektiven schildert Asprion verschiedene Lebensstationen und die heutige Situation der Menschen, die aus der Sicherungsverwahrung freigegeben worden sind. Obwohl sie kaum für die Opferrolle geeignet scheinen, wird das Elend der deutschen Heimerziehung in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren auch in den Geschichten von Sicherungsverwahrten sichtbar. Es zeigt sich: Sie tragen dieselben Narben in sich wie diejenigen, deren Lebensweg nach den „Wohltaten“ der Heimerziehung nicht durch Gewalt gezeichnet ist. Kriminologische Lebenslaufperspektiven treffen in Peter Asprions Buch auf Analysen von Sachverständigen und auf Gefährlichkeitsprognosen, die nicht nur dann Problempotenzial in sich tragen, wenn sie von „Dr.Tod“ in Texas abgegeben werden.

Darüber hinaus zeigt das Buch, dass sich unsere Gesellschaft in ihrer Wahrnehmung des Themas Sicherheit und in ihrem Umgang damit gewandelt hat. Sicherheit ist zu einem Leitmotiv von Entscheidungen auf allen Ebenen geworden, was zwar verständlich ist – und Peter Asprion bringt hierfür fast zu viel Verständnis auf–, aber allein deshalb noch lange nicht in Ordnung. Denn ebenso, wie es nie genug Sicherheit geben wird, wird es auch immer zu viel Kriminalität geben. Ganz anders als etwa bei der Verkehrssicherheit findet sich im Umgang mit Kriminalität ein schier unerschöpfliches Reservoir an Gefühlen, das ab Mitte der 1990er-Jahre in immer effizienterer Art und Weise mobilisiert werden konnte. Kampagnen der Vierbuchstaben-Zeitung – „Schämt Euch Ihr Richter“ – befeuern kriminalpolitische Reformen, die Sicherheit dadurch versprechen, dass Einzelne hart angefasst werden. Nachweise dafür, dass die Sicherungsverwahrung dieses Versprechen gar nicht einlösen kann, finden sich in diesem Buch.

Die Beschäftigung mit Angst und Furcht ist ebenso verständlich, wie es die Beschäftigung mit Risiken und Gefahren sowie mit Versuchen ist, Gefahren vorherzusagen und abzuwehren. Das Buch gibt jedoch einerseits zu bedenken: Wir werden ganz sicher nicht an dem sterben, wovor wir die meiste Angst haben. Und zum anderen regt es zum Nachdenken darüber an, ob es tatsächlich Angst und Unsicherheitsgefühle sind, die den Umgang mit entlassenen Sicherungsverwahrten antreiben, oder ob sich hier nicht vielmehr ein Ventil für Wut und Ärger geöffnet hat.

Peter Asprion geht auch auf die Reaktionen auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein und dokumentiert die verbissenen Versuche, die Wirkungen der Straßburger Entscheidung zu verhindern. Selbstverständlich ist Deutschland dazu verpflichtet, die Entscheidungen des EGMR in vollem Umfang zu implementieren. Allerdings hat man hierzulande vor allem mit dem Therapieunterbringungsgesetz, das besser als Gesetz zur Verhinderung der Umsetzung der Straßburger Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung hätte bezeichnet werden sollen, dem europäischen Menschenrechtsschutz keinen Dienst erwiesen.

Professor Dr.Hans-Jörg Albrecht

Gefährliche Freiheit?

Meine Tochter hatte als Kind Hefte, in denen Formen und Figuren mit Buntstiften ausgemalt werden sollten. Akkurat machte sie sich ans Werk und ärgerte sich immer, wenn sie versehentlich über die Begrenzungslinien hinausmalte. Dann musste der Radiergummi ran oder ein Instrument, das sich sinnigerweise „Tintenkiller“ nannte. Manchmal so heftig, dass das Blatt im Heft „durchradiert“ wurde und ein Loch bekam. Das folgenschwere Ergebnis war, dass die Basis für das schöne Bild zerstört war.

Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Dezember 2009 ist die Sicherungsverwahrung in der öffentlichen Debatte zum kriminalpolitischen Thema Nummer eins geworden. Wegen Verstößen gegen die Menschenrechtskonvention mussten für gefährlich gehaltene Straftäter aus der Verwahrung entlassen werden. In einem grundlegenden Urteil im Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht die bisherige Praxis der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt. Vielleicht verhindert dieses Urteil, dass die grundrechtliche Basis für unser freiheitliches Zusammenleben von nicht menschenrechtskonformen Gesetzen durchlöchert wird, wie das Bild meiner Tochter vom „Tintenkiller“.

Um was und wen geht es bei der Debatte um die Sicherungsverwahrung? Leben unter uns Monster und Bestien, die verwahrt werden müssen? Oder sind das verletzte und benachteiligte Menschen, die ungerechtfertigt verwahrt werden? Mein Anliegen ist, diesen Menschen auf die Spur zu kommen. Ich gehe der Frage nach, ob wir Angst haben müssen, weil Freiheit für diese Menschen – oder für uns – gefährlich sein kann.

Ich habe mich entschieden, die Seite der Täter zu beschreiben, wobei ich mir bewusst bin, dass meine ausschließliche Perspektive auf die Täter für Opfer einer Straftat schwer erträglich sein kann. Und ich bedauere dies. Opfer von Straftaten brauchen Unterstützung, Hilfe und Trost. Dass dies manchmal nicht ausreichend geleistet wird, ist traurig und ein Versäumnis unserer Gesellschaft und der Politik. Das wird sich aber nicht dadurch ändern, dass keine Arbeit mit Tätern geleistet wird.

„Alles fließt“, und so wird auch diese Debatte sich fortsetzen. Ich habe die Entwicklung und meine Erfahrungen bis Ende Oktober 2011 hier aufgenommen. Bis Sie diese gelesen haben, wird wieder einige Zeit vergangen und mögliche neue Aspekte diskutiert worden sein.

Wie Sie als Leserin und Leser für sich die Frage „Gefährliche Freiheit?“ beantworten, bleibt letztlich Ihnen überlassen. Einerseits mag manchem die Freiheit für die entlassenen Verwahrten nach wie vor als zu gefährlich vorkommen, andererseits wird es aber keine Freiheit ohne Risiko geben können. Auf jeden Fall muss unser staatliches Handeln den Normen der Menschenrechtskonvention entsprechen.

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

Ziemlich sicher hat mein Großvater weder Franz-Joseph Degenhardt noch dessen Lied von den Schmuddelkindern gekannt. Gesagt hat er zu mir trotzdem: „Zu denen gehst du nicht hin!“

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf und von dort in ein streng katholisches Internat zum Schulbesuch geschickt, hatte mein Großvater Sorge um mich, als sich im Dorf eine kleine Initiative ansiedelte, die sich um drogenabhängige junge Menschen kümmerte. Es war die Zeit der späten Achtundsechziger, und ich selbst war damals zumindest äußerlich infiziert, mit langen Haaren und der Musik der jungen Generation in den Ohren: nach bürgerlichen Maßstäben ein „Gammler“. Mein dörflich geprägter Großvater, und nicht nur er, hatte Sorge, dass der Kontakt mit den suspekten neuen Dorfbewohnern sich schädlich auf mich auswirken würde. Also wurde mir der Umgang mit den neuen Dorfbewohnern verboten.

Selbstverständlich habe ich mich nicht an das Verbot gehalten und so einige Menschen in meinem Heimatdorf kennengelernt, die, wie ich, zwischen 16 und 20Jahre alt waren, sich in ihrer Biografie und vor allem in ihrer sozialen Auffälligkeit von mir unterschieden, was ich einerseits aufregend und abenteuerlich, andererseits aber auch beängstigend empfand. Sie hatten harte Drogen konsumiert, waren von Krankheiten wie Hepatitis beeinträchtigt, manche hatten schwere Straftaten wie Raub, Diebstahl oder Körperverletzungen begangen. Neben ihnen kam ich mir vor wie ein „kleiner Fisch“. Ich hatte zwar im jugendtypischen Umfang zusammen mit Internatsfreunden kleinere Diebstähle begangen und war dabei erwischt und polizeilich behandelt worden. Eine jugendrichterliche Ermahnung hatte mich aber beeindruckt und von Schlimmerem abgehalten.

Neben meiner Faszination für die meist jugendlichen, drogenabhängigen Straftäter spürte ich damals schon die Ausgrenzung, die sie erfuhren, etwa in der Distanz der Dorfbewohner. Aus meiner damaligen Sicht erkannte ich aber auch den Zwiespalt zwischen der juristischen Verfolgung solcher Menschen und der sozialen, psychischen und medizinischen Hilfe, die sie doch ganz offensichtlich brauchten.

Was mir auf jeden Fall aus diesen Begegnungen geblieben ist, ist eine Sensibilität für Ausgrenzung und Benachteiligung und eine innere Empörung dagegen. Früh entwickelte ich den festen Willen, mich dem zu widersetzen und mich zu engagieren. Und das dürfte ein wesentlicher Impuls für meine Berufswahl in die Sozialarbeit gewesen sein. Nach Abitur und Zivildienst nahm ich das Studium der Sozialarbeit mit dem Ziel auf, besonders benachteiligte Menschen wie Drogenabhängige oder Straftäter zu unterstützen, sodass diese integriert und akzeptiert in unserer Gesellschaft leben können.

Erste Begegnung mit dem Rand

Aus der Initiative in unserem Dorf, die mich in jungen Jahren beeindruckt und mit drogenabhängigen Menschen in Kontakt gebracht hat, ist inzwischen eine anerkannte Fachklinik für die Behandlung von drogenkranken Menschen geworden.1 Heute haben die Einwohner in meinem Heimatdorf mit der Existenz dieser Einrichtung und ihren Patienten auch keine Probleme mehr. Sie gehören dazu, sind integriert, und die Dorfbewohner gehen in der Klinik einkaufen.

Mein beruflicher Weg führte mich in den Strafvollzug; mit der Freiburger Justizvollzugsanstalt lernte ich eine Einrichtung kennen, die seit 1875Straftäter gefangen hält und sich dabei an den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen Ideen und Vorgaben orientiert. Die Anstalt hat das Kaiserreich und den Reichskanzler Otto von Bismarck genauso erlebt und überstanden wie die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus. Mit dem 1977 in Kraft getretenen Strafvollzugsgesetz wurde die Anstalt erstmals mit reformorientierten Ideen für den Umgang mit den Gefangenen und dem Ziel ihrer Integration konfrontiert. Frühere, ähnliche Ideen und Entwürfe aus der Weimarer Zeit konnten sich nicht durchsetzen und wurden von den Nationalsozialisten abgewürgt.

Meine Vorstellungen von Behandlung und Umgang mit Straftätern, die sich an Ideen abolitionistischer Denker wie Thomas Matthiesen oder Nils Christie2 orientieren, waren und sind für eine klassische Strafanstalt eher fremd. Auch reformorientierte Initiativen, wie die Sozialpolitischen Arbeitskreise (SPAK) oder die Ansätze einzelner Juristen, die sich als Vertreter einer kritischen Kriminologie verstehen, konnten sich bis heute kaum durchsetzen.

In den unterschiedlichen Formen der Haft erlebte ich vor allem eines: viel menschliches Leid. Ursache waren Inhaftierte mit ihren strafbaren Handlungen, die jetzt in der Konsequenz einem repressiven Strafsystem ausgesetzt waren. Oft erfuhr ich im Gefängnis auch von traumatisierenden Verletzungen der Täter, die ihr bisheriges Leben lang unbeachtet geblieben waren.

Ich begegnete Untersuchungsgefangenen, die von jetzt auf gleich aus ihrem gesamten sozialen Umfeld gerissen und in einer Abgeschiedenheit von der Welt festgehalten werden, die manchen für sein Leben beschädigt. Ich begegnete Strafgefangenen, denen sich die Reform des Strafvollzugs 1977 vor allem in Form eines um sich greifenden Rechtsmittelsystems zeigte, das nicht zuletzt immer auch der Absicherung der Verantwortlichen des Systems dient und die Gefangenen als Mitmenschen kaum beachtet. Ich sah Strafgefangene mit langen Freiheitsstrafen, ich sah Sicherungsverwahrte, denen hohe Gefährlichkeit unterstellt und aus diesem Grund eine Rückkehr in die menschliche Gemeinschaft verwehrt wird. Häufig begegnen mir auch Menschen, die vor der Entlassung aus der Haft stehen und die in dieser Situation mit ihren Ängsten konfrontiert sind, insbesondere mit der Frage, ob sie es überhaupt noch schaffen werden, selbständig in Freiheit zu leben. Sie wissen um die Ängste ihrer Umgebung und deren Misstrauen. Sie kennen aber auch ihre eigene Unzulänglichkeit.

Sozialarbeit hinter Gittern

„Wenn wir die Menschen nur nehmen,

wie sie sind, so machen wir sie schlechter.

Wenn wir sie behandeln, als wären sie, wie sie sein sollten,

so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“

Johann Wolfgang Goethe

Nach dreißig Berufsjahren bin ich überzeugt: Die Haltung, die Goethe hier formuliert, erzielt eine positive Wirkung. Wesentlich, um überhaupt wirksam mit Straffälligen arbeiten zu können, ist die Bereitschaft, miteinander in Kontakt und in Beziehung zu treten. Diese, ich will es Beziehungspflege nennen, fällt dem Gefängnis schwer, denn nach wie vor handelt es sich um eine Organisation, deren Struktur sich am ehesten noch am militärischen Gehorsamsgedanken orientiert.

Trotzdem ist es mir als „Knastsozialarbeiter“ oft gelungen, den Kontakt zu den Gefangenen aufzubauen und eine Arbeitsbeziehung herzustellen, geprägt von gegenseitigem Respekt und Vertrauen. Ein Indiz hierfür war die geringe Missbrauchsquote bei Maßnahmen, die ich mit Inhaftierten außerhalb der Gefängnismauern durchführen konnte. Dabei handelte es sich z.B. um mehrtägige Seminare erlebnispädagogischer Ausprägung, Meditationstage, Familienseminare oder auch Väter-Kinder-Tage. Die Gefangenen akzeptierten ein Rahmenprogramm, sicherten ihre Mitarbeit und korrekte Rückkehr in das Gefängnis zu und erhielten in der Regel auf diesem Weg ihre ersten Lockerungen aus dem Strafvollzug. Nicht selten früher, als sie sie sonst hätten erwarten können. In seiner übermäßig verrechtlichten Absicherungstendenz hat der Strafvollzug es inzwischen erreicht, dass Inhaftierte oft erst zeigen müssen, dass sie solcher Maßnahmen würdig sind, bevor sie ihnen bewilligt werden. „Heilung“ als Voraussetzung für Behandlung?

Bewährungshilfe – eine Alternative

Nach siebzehn Jahren als Sozialarbeiter im Gefängnis wollte ich eine andere Perspektive einnehmen und wechselte in die Bewährungshilfe. Bis Ende 2006 stand die Bewährungshilfe in Baden-Württemberg in der Trägerschaft des Justizministeriums und war den jeweiligen Landgerichten angegliedert. Seit 2007 ist diese Aufgabe an die NEUSTART gGmbH als privater Organisation übertragen.3

Die grundlegende Vorgabe für Bewährungshelfer ist §56 d, Absatz 3 des Strafgesetzbuchs, wo es heißt: „Die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer steht der verurteilten Person helfend und betreuend zur Seite. Sie oder er überwacht im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen und berichtet über die Lebensführung der verurteilten Person in Zeitabständen, die das Gericht bestimmt. Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Auflagen, Weisungen, Anerbieten oder Zusagen teilt die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer dem Gericht mit.“

Auch wenn es sich etwas antiquiert liest, mir gefällt die Formulierung des „zur Seite stehen“. Setzt das doch voraus, dass wir in Kontakt treten und einen Weg miteinander gehen. Für den Bewährungshelfer bedeutet das zunächst, den Verurteilten erkennen zu lassen, dass er ihm zur Seite steht und ihm nicht vorrangig „im Genick sitzt“, wie es mancher befürchten mag. Meist gelingt dieser Weg mit den Klienten erfolgreich: In über achtzig Prozent der Fälle wird die Bewährung vom Gericht mit dem Erlass der Strafe beendet. Und dies gilt auch für Verurteilte, die der Führungsaufsicht unterstellt sind und für die es im §68a, Absatz 2, Strafgesetzbuch heißt: „Die Bewährungshelferin oder der Bewährungshelfer und die Aufsichtsstelle stehen im Einvernehmen miteinander der verurteilten Person helfend und betreuend zur Seite.“

Unter Führungsaufsicht stehen Verurteilte in der Regel nach der vollständigen Verbüßung einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren oder nach der Entlassung aus einer Maßregel der Besserung und Sicherung, zu denen die Sicherungsverwahrung zählt.

Die Entlassung einiger Männer aus der Sicherungsverwahrung aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Dezember 2009 hat Politik, Medien, Justiz, Polizei und in der Folge eine Vielzahl der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in einer Art und Weise beschäftigt, wie zuvor lange kein juristisches Thema. Dem Urteil war eine Welle gesetzgeberischer Versuche vorausgegangen, mit denen Sicherheit vor Sexualstraftätern geschaffen werden sollte, was letztlich vor allem zu einer Dämonisierung einer kleinen Gruppe von Straftätern führte.

Ein Gericht in Straßburg fordert heraus

Seit September 2010 betreue ich als Bewährungshelfer fünf dieser ehemals Sicherungsverwahrten. Manches, was ich in dieser Zeit erlebte, hätte ich auch nach dreißig Jahren beruflicher Arbeit mit verurteilten Menschen nicht für möglich gehalten. Es beschäftigen mich seither Fragen wie:

Respektieren wir in Deutschland die Menschenrechte?

Wie viel Risiko kann und muss unsere Gesellschaft ertragen?

Gilt unser Sozialstaatsprinzip denn auch für den Umgang mit Straftätern?

Was sollen wir mit diesen Menschen tun und was können wir tun?

Neben der Frage nach dem Leid der Opfer ist auch die Frage nach dem Leid der Täter zu stellen. Als Konsequenz ihrer Taten erfahren sie „Leid“, in Form von Freiheitsentzug und beschämenden, stigmatisierenden Behandlungen.

Ich bezweifle, dass es eine Welt ohne Leid geben kann. Leid gehört zum menschlichen Leben. Indem ich akzeptiere, dass es Verbrechen gibt, ebenso wie Tod, Krankheit, Verletzungen, und dass dies alles zur menschlichen Natur gehört, ohne einen Satan oder sonst das „Böse“ zu bemühen, ermögliche ich einen rationalen und mitfühlenden Umgang mit den Betroffenen. Dies gilt auch für diejenigen, die anderen Schlimmes antun. Mediatorisch verstanden, ist dies eine allparteiliche Position.

Die kühle Verrechtlichung des Strafvollzuges will ich nicht als vom Schicksal vorgezeichnet akzeptieren; denn hier wird mit rationalen Begründungen Leid geschaffen und, oft verborgen, Vergeltung gesucht. Ich hingegen wünsche mir wieder mehr vom Geist der Aufklärung. Cesare Beccaria, der große italienische Aufklärer, hat wesentliche Erkenntnisse aus seinen Beobachtungen in Gefängnissen gewonnen und Schlüsse gezogen, die er in seinem Hauptwerk darstellte.4 Absichtliches Zufügen von Leid, im staatlichen Auftrag und mit vordergründig rationalen Begründungen, empört mich. Ich bin überzeugt, dass hier die Grundregeln der Menschenrechtskonvention den Einzelnen vor dem Staat und seinen ausführenden Organen schützen müssen.

Meine Forderung, dass der Staat kein Leid zufügen darf, rechtfertigt für mich den Gedanken der Abschaffung der Gefängnisse. Die meisten Insassen haben geringfügige Straftaten begangen; der Großteil sitzt wegen Eigentumsdelikten im eher kleineren Umfang, viele wegen selbstschädigender Drogendelikte. Ein mögliches Konzept habe ich an früherer Stelle skizziert: Mein Vorschlag war, die Gefängnisse aufzulösen. Eine Forderung, die den Menschen jedoch Angst bereitet, weshalb in einem ersten Schritt diejenigen entlassen werden könnten, die Eigentumsdelikte begangen haben, ohne andere körperlich anzugreifen oder zu verletzen. Die 500 „gefährlichsten, schlimmsten, bösesten“ werden noch festgehalten, aber nicht in einem Gefängnis mit dem Ziel der Bestrafung oder Besserung, sondern unter angenehmen Bedingungen. Man spricht mit ihnen, beobachtet sie und versucht, Erkenntnisse aus ihren Erfahrungen zu gewinnen. Wie sind sie geworden, was sie geworden sind? Und wenn ein Gericht den 501. verurteilt, der festgehalten werden soll, muss erst entschieden werden, welcher von den 500 bereits Festgehaltenen entlassen wird.5

Wir schaffen uns unsere Dämonen

„Es ist richtig,

wenn Politiker immer wieder behaupten:

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