Gefangen in der Gesellschaft - Alltagsrassismus in Deutschland - Dileta Fernandes Sequeira - E-Book

Gefangen in der Gesellschaft - Alltagsrassismus in Deutschland E-Book

Dileta Fernandes Sequeira

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Beschreibung

Dieses Kompendium liefert die erste ausführliche Beschäftigung mit den psychologischen Folgen von Alltagsrassismus in Deutschland. Die Psychologin Dileta Sequeira hat sich mit den traumatisierenden Folgen rassistischer Gewalt beschäftigt und zeigt an zahlreichen Beispielen, was dies für ihr Fachgebiet bedeutet. Denn Rassismus fordert Therapeuten im Kern ihrer Tätigkeit heraus. Menschen, die Rassismus erleben, erfahren diesen durch Personen, auf die sie im Alltag angewiesen sind. Betroffene können sich diesem nicht entziehen - nicht einmal im Rahmen der psychologischen Institutionen, in denen sie nach Hilfe suchen. Eine rassismuskritische therapeutische oder pädagogische Praxis muss deswegen ganz eigene Strategien im Umgang mit diskriminierenden Strukturen und individuellen Rassismuserfahrungen entwickeln. In diesem Zusammenhang entwickelt Sequeira Lösungsansätze, die auf die Ermächtigung der Betroffenen und gesellschaftliche Veränderungen gleichermaßen zielen.

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Dileta Fernandes Sequeira

GEFANGEN IN DER GESELLSCHAFT – ALLTAGSRASSISMUS IN DEUTSCHLAND

Dileta Fernandes Sequeira

Gefangen in der Gesellschaft – Alltagsrassismus in Deutschland

Rassismuskritisches Denken und Handeln in der Psychologie

Tectum

Dileta Fernandes Sequeira

Gefangen in der Gesellschaft – Alltagsrassismus in Deutschland. Rassismuskritisches Denken und Handeln in der Psychologie

Tectum Verlag Marburg, 2015

ISBN 978-3-8288-6317-0

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter

der ISBN 978-3-8288-3537-5 im Tectum Verlag erschienen.)

Alle Teile des Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Christina Kruschwitz, Sabine Manke

Ergänzende Korrekturen: Sabine Borhau

Umschlagabbildung: Fotografie von Wikimedia-User »Bogdangiusca«, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/26/Granite_Setts.jpg?uselang=de (CC-by-SA 3.0); Illustrationen im Innenteil von Ursula Ermer

Besuchen Sie uns im Internet

www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

»Der reißende Fluss wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett,

das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.«

Bertolt Brecht, Buch der Wendungen

Inhalt

Einstimmen

Prolog

Teil I: Rassismus als blinder Fleck der Gesellschaft – Ein Überblick

A.Ein psychosoziales Verständnis

1.Rassismus und Menschenwürde

2.Das traumatisierende Gesamtumfeld

3.»Menschwerdung«: kolonial-postkolonial-global

4.Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

5.Rassismus und Marginalisierung

6.Die Welt als weißes Konstrukt

7.Rassismus und Psychologie

8.Die neue Menschwerdung: »Rehumanisation«

B.Thesen, Begriffe, empirischer Zugang – Eine Zuspitzung

C.Das Gesamtumfeld

1.Die Ebene Welt

2.Die Ebene Beziehung

3.Die Ebene Person

4.Das Bio-psycho-sozio-öko-Umfeld

5.Wahrnehmung auf allen Ebenen

Teil II: Welt, Beziehungen und Person im Feld von Rassismus – Einblicke

A.Einblicke in die Ebene Welt

1.Einführung

2.Der globale Rassismus

2.1Vorkoloniale Geschichte, Kolonialismus und Postkolonialismus

2.2Beispiele für globalisierte Formen des Rassismus

2.3Resümee – Rassismus als globales Konstrukt

3.Rassismus als deutsches Phänomen

3.1Rassismus und strukturelle Gewalt

3.2Rassismus im gesellschaftlichen Alltag

4.Rassismus und die weiße Sozialisation

5.Migration, Kultur und Rassismus

5.1Migration

5.2Kultur

6.Sofia: Migration und Alltagsrassismus

B.Einblicke in die Ebene Beziehung

1.Einführung

2.Soziale Kohäsion auf der Ebene Beziehung

2.1Gesellschaft als Ort der sozialen Kohäsion

2.2Soziale Kohäsion und Migrationshintergrund

2.3Rassismus und soziale Kohäsion

3.Differenz und Rassismus in Peergruppen

4.Doublebind

5.Othering

6.Othering als Doublebind

7.Rassismus und Doublebind

8.Rassismus in Begegnungen

9.Beispiel Daniel und Adoma – Teil 1

C.Einblicke in die Ebene Person

1.Einführung

2.Soziale Kohäsion auf der Ebene Person

2.1Einführung

2.2Soziale Kohäsion und die Familie

2.3Soziale Kohäsion und Bezugspersonen

3.Selbstregulation auf der Ebene Person

3.1Bausteine der Selbstregulation

3.2Wodurch leidet die Selbstregulation?

3.3Folgen einer mangelnden Selbstregulation

4.Rassismuserfahrungen und die Ebene Person

5.Trauma

5.1Die Psychologie und der Umgang mit Trauma

5.2Traumatisierung – Eine Beschreibung

5.3Die hirnphysiologischen Grundlagen des Traumas

5.5Zum Umgang mit Traumatisierung

6.Introjekte

6.1Einführung

6.2Rassismus und Introjekte

7.Identität

7.1Einführung

7.2Identität im Feld von Migration und Kultur

7.3Identität im Feld von Rassismus

8.Traumatische Auswirkungen von Rassismus

8.1Einführung

8.2Rassismus und Verratstrauma

8.3Traumatisierung durch Rassismus

9.Rassismus in Träumen

10.Selbstregulation und Rassismus

Teil III: Ist die Lösung im Problem zu erkennen? Ein Vorausblick

A.Zusammenfassung

1.Was bedeutet Rassismus?

2.Das Gesamtumfeld im Überblick

3.Rassismus – bio-, psycho-, sozio-, ökologisch

4.Versperrte Lösungen

B.Entsperre Lösungen

1.Einführung

2.Ein wirkliches Zeitalter der Aufklärung

3.Demokratie im Gesamtumfeld

4.Produktive und kontraproduktive Lösungen

5.Bio-psycho-sozio-öko-Antworten

6.Notwendige Schritte

C.Ideen für eine neue Menschwerdung

1.Einführung

2.Ebene Person

3.Ebene Beziehung

4.Ebene Welt

5.Würde und Integrität für alle

D.Weiter im Feld von Rassismus leben

1.Beispiel Daniel und Adoma – Teil 2

2.Unterwegs auf allen Ebenen

3.Zukunftsperspektiven

4.Das Beispiel von Bahar

Nachworte

1.Versäumnisse

2.Abschließende Worte

3.Mitwirkung

Endnoten (Verwendete und weiterführende Literatur)

Glossar

Register

Einstimmen

Zehn Stimmen aus dem deutschen Alltag äußern sich zum Thema Rassismus.

STIMME EINS

Was würde eine nichtdeutsche Weltbürgerin über ihre Zugehörigkeit sagen?

»Weltbürgerin zu sein, ist nicht einfach. Es braucht eine große Reife, schmerzhafte Erfahrungen, Aufenthalte im Kollektiven, ein Unterwegssein auf allen Ebenen und dennoch die dazu passende Liebe. Das wusste ich mit fünfzehn nicht, eingenistet wie ich in meiner für mich kohäsiven Kleinwelt war. Ich war großzügig und offen und wollte urteilsfrei die ganze Welt in mir aufnehmen: Weltkultur, Weltmusik, Weltmythen und Weltphilosophien. Weltreisen. Das Wort international war für mich beflügelnd. Die Unschuld (zu meinen, dass ich und damit jede auf dieser Welt das Recht hat, in Ordnung zu sein und so behandelt zu werden) zu verlieren, hinterlässt eine seelische Wunde. Heimat ist für mich zu einem Symbol oder Bild geworden. Ohne Ort. Heute bin ich Trainerin in ‚Rassismuskritischem Denken und Handeln‘. Die gesammelten Kenntnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen mit anderen Betroffenen, mit anderen Weißen, die offen sind, haben zur Heilung beigetragen.«

STIMME ZWEI

Wie würde sich ein Leser, der einen »weißen deutschen Hintergrund« hat, zum Thema Rassismus äußern?

»Ich bin Deutscher. Ich weiß nicht, warum um Rassismus so ein Theater gemacht wird. Es gibt viele Probleme überall auf der Welt. Wir haben selbst Probleme hier in Deutschland. Ich habe auch meine Probleme. Ich kenne keine Ausländer hier und mache mir keine Gedanken zu Rassismus. Die Ausländer sollten froh sei, dass wir sie hier aufgenommen haben und sie integrieren. Stattdessen machen sie nur Mist hier. Sie sollten Deutsch sprechen, sich unserer Kultur anpassen und sich benehmen.«

STIMME DREI

Wie würde sich ein junges Mädchen, eine Deutsche mit Sinti-Hintergrund, zu ihren Erfahrungen in Deutschland äußern?

»Ich musste in der Schule selbst über die Sinti lernen, wie schlecht sie sind und dass sie klauen. Zusätzlich dazu habe ich sehr viel im Alltag hören müssen. Von den Nachbarn, von den Lehrern und von meinen Mitschülern. Meine Eltern hatten Schwierigkeiten, hier Fuß zu fassen. Sie haben nur Aushilfsjobs bekommen und konnten sich deswegen nur am Rande der Gesellschaft bewegen. Ich musste sehr viel im Fernsehen oder in der Zeitung über die diversen Probleme von Sinti lesen. Über die grobe und subtile rassistische Gewalt habe ich kaum gesprochen. Ich habe sehr früh verstanden, dass es nichts Gutes ist, Sinti zu sein. Ich bin Deutsche. Das scheint aber nicht relevant zu sein.«

STIMME VIER

Was könnte eine Frau, die sich mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen möchte, äußern?

»Ich bin Deutsche. Schon als Kind habe ich mich für Ausländer interessiert. Ich fand sie schön, toll und interessant. Ich wollte auch eine dunkle Hautfarbe haben. Meine Mutter hat dann gesagt, dass es mit der weißen Hautfarbe besser sei, weil Menschen mit dunkler Hautfarbe es nicht so einfach hätten. Ich habe das damals nicht verstanden. Ich bin viel gereist, wurde überall gut aufgenommen und habe viele Freunde von meinen Aufenthalten im Ausland. Für mich sind diese ausländischen Freunde – oft aus ehemaligen kolonisierten Ländern – ganz normal. Ich habe sie nicht als Schwarze betrachtet. Ich bin immer gespannt, wenn ich Ausländer sehe. Ich werde neugierig und will wissen, wo sie herkommen usw. Das hat für mich sofort einen positiven Effekt. Ich gehe höflich und respektvoll mit ihnen um. Dass es uns in Deutschland gut geht auf Kosten von anderen, darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Ich habe diese Verhältnisse nicht geschaffen. Ich genieße es, dass es mir hier gut geht. Zunehmend mache ich mir aber Gedanken: Ist das alles gerecht? Was soll ich tun?«

STIMME SECHS

Was sagt eine MMM/Schwarze/POC, die es trotz Anfangsschwierigkeiten geschafft hat, Deutsch zu lernen und mit ihren mitgebrachten Qualifikationen in ihrem Beruf zu arbeiten?

»In meinem Milieu habe ich ein weißes Leben. Ich genieße auch weiße Privilegien in diesem Milieu, aber nicht alle. Ich verdiene gut und werde in meinem Job und Freundeskreis respektiert. Ich kann überall hinreisen. Die weißen Einheimischen sagen: ‚Du bist für uns wie weiß geworden. Wir akzeptieren dich als Weiße. Hör aber bloß auf, über Rassismus zu sprechen.‘ Sobald ich mein Milieu verlasse, bin ich dann wieder die Schwarze. Bis ich nach Hause komme. Wer bin ich dann dort? In meinem Milieu – ob bei der Arbeit oder im Freundeskreis – mache ich auch Rassismuserfahrungen. Ich bekomme viele Fragen gestellt: Wo ich herkomme oder ob meine Qualifikationen hier anerkannt werden. Ich bekomme Komplimente für meine Deutschkenntnisse, als ob es für Schwarze etwas Besonderes wäre, die deutsche Sprache zu beherrschen. Ich muss sehr viele Klischeefragen über mein Land beantworten. Ich fühle mich dann unwohl. Ich möchte in mein Land zurück. Ich möchte fliehen. Es gibt viele Momente, in denen gar nichts mehr hilft. Ich werde ängstlich, depressiv und aggressiv. Ich fürchte, psychosomatisch krank zu werden. Ich bin nicht nur von Rassismus betroffen, sondern er macht mich psychisch krank. Der Rassismus lebt in mir, wie ein Wurm, der sich bemerkbar macht, auch wenn ich ihn verdränge. Ich bin eine Andere geworden. Rassismus hat mich verändert.«

STIMME SIEBEN

Was sagt eine MMM/Schwarze/POC darüber, dass sie sich von Rassismus betroffen fühlt?

»Meine Wahrnehmung wird mir abgesprochen, wenn jemand sagt: ‚Das empfindest du nur so. Du bist empfindlich. Es kann anders interpretiert werden.‘ Das passiert oft durch die weißen Deutschen, mit denen ich im Alltag zu tun habe. Ich fühle, dass sie mich als krank betrachten. Entweder schaue ich hin und sehe, wie Rassismus mich krank macht. Oder ich verdränge es und werde dadurch krank, weil Verdrängen zu ‚Symptomen‘ führt, die krank machen. Dann werden sie mich pathologisieren, fürchte ich. Als ob ich an Rassismus leide, weil ich psychisch krank bin. Ob wohl jemals erkannt wird, dass der Rassismus mich traumatisiert hat, mich verändert hat, mich krank gemacht hat?«

STIMME ACHT

Was würde eine in Deutschland lebende Ausländerin über ein Buch wie dieses, das sie vielleicht schreiben könnte, äußern?

»Ich bin ein Mensch mit Migrationsvordergrund. Dieses Buch habe ich zuerst für mich als Heilungsversuch zu schreiben begonnen, um mit all dem, was ich hier erlebe, klarzukommen. Ich habe mein Land als wertvolle, selbstbewusste und weltoffene Akademikerin verlassen, um als wertlose Ausländerin in Deutschland anzukommen. Heute weiß ich, was damals mit mir los war. Damals wusste ich es nicht. Ich habe meine Vitalität verloren. Es waren die subtilen Erfahrungen des Ausgrenzens, das ‚Racial Profiling‘, zum Beispiel am Flughafen oder am Bahnhof, und die vielen täglichen Portionen des Rassismus, die mich geschwächt haben. Viele Erfahrungen, viele Gefühle, die niemand verstanden hat, die auf Widerstand gestoßen sind und heute noch auf Widerstand stoßen. Heute schreibe ich das Buch für uns alle, um Rassismus zu verändern.«

STIMME NEUN

Was würde eine Person, die als Erwachsene nach Deutschland ausgewandert ist, zum Thema Heimat sagen?

»Heimat ist ein neues Wort in meinem Vokabular. Bevor ich sie, meine Heimat, verließ, liebte ich sie ganz selbstverständlich im Hintergrund. Die Heimat ist jetzt noch das Land meiner Mutter, da mein Vater nicht mehr lebt. Die Heimat ist das Land meiner Geburt und meiner Kindheit. Es ist das Land, in dem ich großgeworden bin und meine Identität aufgebaut habe. Heute ist sehr viel Sehnsucht und Bedeutung auf sie projiziert. Und Schmerz. Denn meine Heimat ist eine andere geworden, seitdem ich sie verlassen habe. Ich bin auch eine andere geworden, seitdem ich hier in Deutschland lebe. ‚Home is where your heart is‘, dachte ich noch in unschuldigen Zeiten. Wohin gehöre ich jetzt? Gehöre ich jetzt nur mir? Mein Herz hat kein Stück Land für die Heimat mehr. Die Heimat ist ein Ort in meinem Herzen. Wer mag über diese Traurigkeit mit mir sprechen? Wer weiß um diesen Verlust?«

STIMME ZEHN

Was sagt eine erfolgreiche deutsche Akademikerin, die oft im Ausland ist, über Rassismus und ihr weißes Privileg?

»Ich bin weiße Deutsche. Es gibt Menschen, die viel Schlimmeres erleben und dadurch traumatisiert sind. Sie sind aber mutig und haben gelernt, mit ihrer Traumatisierung zurechtzukommen. Wenn jemand sich rassistisch angegriffen fühlt, sollte er sich wehren. Es gibt nichts anderes zu tun. Ich finde, dass wir Deutsche hart gearbeitet haben, und es darf uns gut gehen. Ich reise viel und werde überall gut behandelt. Ich genieße dieses Privileg. Es gibt Länder, die viel schlimmer mit ihren Bürgern umgehen. Im Vergleich geht es den Ausländern hier sehr gut. Ich weiß nicht, worüber sie sich beschweren und warum sie alles übertreiben. Rassismus ist nicht mein Problem. Uns geht es gut in Deutschland. Wir haben keinen Krieg mehr. Wir haben genug zu essen. Und trotzdem machen wir das Leben kompliziert. Muss ich alle Empfindlichkeiten akzeptieren? Manchmal ist der Verkäufer auch blöd zu mir. Außerdem bin ich mit meinem Leben sehr beschäftigt. Ich habe keine Kapazitäten, mich da zu vertiefen, mich um Rassismus zu kümmern.«

Prolog

In diesem Buch geht es um Rassismus und darum, was er für das Wohlergehen von Menschen bedeutet. Im deutschen psychologischen und therapeutischen Feld taucht Rassismus erstaunlicherweise kaum als Risikofaktor für ein vermindertes Wohlergehen auf. Dieses Buch ist der erste Schritt, Erkenntnisse aus verschiedenen Felder zusammenzuführen, um Handlungsempfehlungen für die alltägliche, die pädagogische, die sozialwissenschaftliche, die politische und vor allem die psychotherapeutische Praxis zu entwickeln.

Dafür müssen die Geschichten von MMMs/Schwarzen/POCs, wie sie im Buch genannt werden, über einen längeren Zeitraum begleitet werden. Eine neue Forschungsphilosophie ist notwendig, da Rassismus und die Folgen daraus andauern. Viele der Betroffenen waren oder sind immer noch durch ihre Rassismuserfahrungen traumatisiert. Sie können sich aus diesem rassistischen Umfeld nicht einfach hinausbegeben. Diese Tatsache erfordert einen Ausbau an stimmigen Hilfsmöglichkeiten für Betroffene, ohne sie zu pathologisieren und zu stigmatisieren. Nur ein solches Vorgehen ermöglicht Integrität und Würde trotz des Weiterbestehens von Rassismus und der Verletzungen von Menschenwürde. Entsprechend müssen Psychologen, Therapeuten und Pädagogen mit Trauma- und Rassismuskenntnissen ausgestattet werden.

Materialgrundlage Interviews

Eine zentrale Grundlage für dieses Buch sind Interviews mit verschiedenen Menschen – mit MMMs/Schwarzen/POCs, Migranten, Ausländern und weißen Deutschen (siehe Glossar S. 647 und S. 37ff.). Sie haben von ihren Rassismuserfahrungen oder denen ihrer Angehörigen im deutschen Alltag erzählt. Sie haben ihre Hoffnungen, ihre Beziehungen, ihre Erfolge, ihre Schwierigkeiten und ihre Träume mitgeteilt. Die Interviews wurden ohne Tonaufnahme durchgeführt und schriftlich protokolliert. Im Anschluss wurden sie mehrmals mit der interviewten Person besprochen, bis die Person mit ihrer Aussage zufrieden war. Ich habe mich bewusst für diese Herangehensweise entschieden, da sie den Interviewten die Chance gibt, ihre Aussagen zu prüfen, zu korrigieren oder zu ergänzen, bis diese für sie stimmen. Bei dieser Methode können sie sich mit dem Erlebten langsam vorantasten. Rassismus ist ein schwieriges Thema, über das nicht viel gesprochen wird, auch nicht von den Betroffenen. Denn es ist wie die Auseinandersetzung mit anderen Gewaltformen schambesetzt.

Selbstregulation und Wohlergehen

Das Wohlergehen – physisch, psychisch, emotional, geistig und sozial – ist ein Kernbedürfnis von Menschen. Lebenskraft und eine tragfähige Menschenwürde sind dafür wichtig, lebendig, lustvoll, energisch, ruhig, kontaktvoll, sinnvoll und klar leben zu können und zu dürfen. Selbstregulation, Identität und Selbstwertgefühl sind wichtige Bausteine für ein gelungenes Mit-sich-Selbst und Mit-Einander. Das Vermögen, in Kontakt mit sich selbst und mit anderen zu sein – Vertrauen zuzulassen, mit Selbstbestimmung gut umzugehen und die Herzqualitäten Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut zu leben – sind wichtige Grundkompetenzen, die sich im kohäsiven familiären und sozialen Umfeld aufbauen.1

Die folgenden Bausteine festigen das Wohlergehen:

•Kontakt mit Körper, Psyche und Gefühl

•Erkennen und Äußern von Bedürfnissen und Emotionen

•Erkennen und Gewähren von Bedürfnissen und Gefühlen

•wahrhaftige Begegnungen mit anderen

•Zugehörigkeit und Inklusion in der Gesellschaft

•Zulassen eines gesunden Vertrauens in andere

•Setzen von angemessenen Grenzen

•ohne Angst die eigene Meinung sagen können

•Gestalten des Lebens mit einem offenen Herzen und liebevollen Beziehungen

Wohlergehen – also eine ausreichende Selbstregulation, eine flexible Identität, Empathiefähigkeit und ein gutes Selbstwertgefühl – ist ein Privileg, das nicht selbstverständlich ist und nicht für alle Menschen gewährleistet ist, auch nicht in sogenannten aufgeklärten Demokratien. Die Psychologie und die Psychotherapie bemühen sich um das Wohlergehen von Menschen. Faktoren, die das Wohlergehen mindern, werden studiert, und ganzheitliche Lösungen dafür werden gefunden.

Existentiell für das Wohlergehen und daher nicht außer Betracht zu lassen, ist das Erkennen, Problematisieren und Politisieren von Rassismus im deutschen Alltag. Personen, die Rassismus ausüben – bewusst oder unbewusst, subtil oder grob, auf der Beziehungsebene oder der Strukturebene –, müssen bereit sein, mit der Verletzung der Menschenwürde aufzuhören. Bildung und Sozialisation unter Bedingungen, die Rassismus fördern, müssen vermieden werden. Rassistische Strukturen in der deutschen Politik und Gesellschaft, die dazu führen, dass Menschen und ihre Länder ausgebeutet werden, dass Menschenwürde verletzt und der Zugang zur Befriedigung notwendiger Bedürfnisse und zu Chancen verhindert werden, müssen verändert werden. Präventionsmaßnahmen sind sehr wichtig. Nur auf einer bio-, psycho-, sozio-, ökologischen Ebene kann Rassismus als Problem gelöst werden.

Aufbau des Buches

Teil I stellt den theoretischen Rahmen des Buches dar. Er zeigt die enorme Wichtigkeit eines psychologischen Einblicks in das Thema Rassismus und beschreibt das Gesamtumfeld – das Feld, in dem Rassismus stattfindet und erlebt wird, sowie die unterschiedlichen Formen von Betroffenheit, die er auslöst (Kapitel A und B). Kapitel C beschreibt die zentralen Wahrnehmungs- und Handlungsebenen, anhand derer in diesem Buch das Phänomen Rassismus erörtert wird: Die Ebenen »Welt«, »Beziehung« und »Person«.

Teil II vertieft diese drei Ebenen anhand von theoretischen Ansätzen, die die verschiedenen Wirkmechanismen von Rassismus beschreiben und die psychische Auswirkung auf Betroffene erklären. Darüber hinaus verdeutlicht es diese mit Hilfe von Berichten aus dem deutschen Alltag und Interviews mit MMMs/Schwarzen/POCs und ihren weißen Angehörigen. Unterschiedliche Beispiele zeigen, wo und wie Rassismus stattfindet und wie diese Erfahrungen das Wohlergehen beeinträchtigen.

Der folgende Teil III leistet eine Zusammenfassung (Kapitel A) und sucht nach dem Entsperren von bislang noch versperrten Lösungen (Kapitel B und C). Kapitel D widmet sich vor allem den komplexen Herausforderungen an ein »Weiterleben im Feld von Rassismus« anhand von exemplarischen Biografien. Sie demonstrieren die versperrten Wege, aber auch die verschiedenen Möglichkeiten, mit Rassismus umzugehen – selbst wenn das Feld sich noch nicht verändert hat oder nicht zu verlassen ist.

Im Rahmen eines Nachwortes geht es in der Folge um Desiderate des Buchprojekts: Denn Rassismus wird in diesem Buch ausschließlich als Risikofaktor für die Selbstregulation behandelt. Ein ganzheitlicher Ansatz müsste sämtliche Risiken für das Wohlergehen von MMMs/Schwarzen/POCs beleuchten.

Die Hoffnung ist, dass zukünftige Fachbücher zu Risikofaktoren des Wohlergehens das Thema Rassismus beinhalten. Da Rassismus in der deutschen Psychologie und im Traumawissen außen vor gelassen wird, rückt dieses Buch ihn ins Zentrum der Betrachtung. Auf diese Weise wird es möglich, sich in diesem Buch auf Rassismus zu konzentrieren und ihn in all seinen Facetten zu erkennen. In der Anlage des Buches wird versucht, mehrere Ebenen unabhängig voneinander darzustellen, die im alltäglichen Leben gleichzeitig bestehen. Aus Gründen der Klarstellung werden damit Ebenen getrennt, die in Wirklichkeit eng verbunden existieren. Es ist wichtig diese Ebenen konzeptionell auseinanderzuhalten, um die vielfältigen Wechselwirkungen, die Rassismus als Phänomen ausmachen, sichtbar zu machen. Je nach Tätigkeit im psychologischen und pädagogischen Feld werden die Interessen der Leserschaft eher auf dem persönlichen Bereich, der Beziehungs- oder der gesellschaftlichen Ebene liegen. Da dieses Buch auch die Möglichkeit geben soll, jeweils nur einzelne Teile zu rezipieren, wird deswegen bewusst mit Wiederholungen gearbeitet. Dennoch hat jedes Oberkapitel eine unterschiedliche Ausrichtung im Blick auf die Beschreibungsebene von Rassismus (siehe Abbildung 1).

Bild 1: Die drei Beschreibungsebenen Welt, Beziehung, Person

Teil I

Rassismus als blinder Fleck der Gesellschaft – Ein Überblick

A. Ein psychosoziales Verständnis

Der Mensch ist frei.

Alle Menschen sind gleich.

Die Menschenwürde ist unantastbar.

Die Essenz des Seins kann zwar phänomenologisch beschrieben werden, ist aber nicht zu erfassen. Daher sind alle Versuche, den Menschen zu begreifen, Konstrukte. Der Mensch ist stets im Fluss des Werdens. Das Selbst ist nur dynamisch zu erfassen, und das Erfasste, weil im Fluss, fließt schon während des Erfassens weiter. Bei der Betrachtung von Sinn und Zweck des Seins entstehen folgende Fragen zu den Menschenrechten:

•Ist jeder Mensch frei? Hat er einen freien Willen?

•Ist jeder Mensch gleich? In wessen Augen?

•Werden alle Menschen als Gleiche behandelt?

•Sind ungleich behandelte Menschen trotzdem frei und gleich?

•Dürfen ungleich behandelte Menschen im Feld von Rassismus psychologisiert (ein Objekt der Psychologie) werden?

1. Rassismus und Menschenwürde

Menschen sind für ihr Wohlergehen auf die Strukturen der Gesellschaft und deren Mitglieder angewiesen, eine Tatsache, die ein gutes Miteinander und Füreinander erfordert. Dieses Miteinander wird unterschiedlich gestaltet, je nach Bedürfnissen und Wünschen von Mitgliedern der Gesellschaft. Strukturelle Bedürfnisse wie Zugang zu Macht, Geld, Sicherheit, Chancen und Ressourcen spielen eine große Rolle in diesem Miteinander. Auch wichtig sind soziale Bedürfnisse wie Nähe, Gemeinsamkeit, Freundschaften und die verschiedenen Arten des Zusammenseins, die unterschiedlich gestaltet werden. Es erfordert einen Balanceakt zwischen der Natur des Menschen und seiner Würde, um all das zu gewährleisten.2 Auf der einen Seite stehen problematische Eigenschaften der Menschennatur wie unkontrollierte Emotionen, Gier, Amoralität und Egoismus. Auf der anderen Seite stehen Bedürfnisse wie Sicherheit, Demokratie, Integrität, Menschenrechte, Zurechenbarkeit, Transparenz, Gerechtigkeit, Chancen und Inklusion, deren Erfüllung zur Wahrung der Menschenwürde beiträgt.2

Wie ist eine Psychologie des Miteinanders und Füreinanders auf Basis des Balanceakts zwischen Natur und Würde des Menschen zu entfalten? Das nichtoptimale Funktionieren des Balanceakts, eine globale Tatsache, hat problematische physische und psychische Folgen, besonders, wenn für manche Gruppen grundlegende Menschenrechte nicht gewährleistet werden. Menschenrechte, wie das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard einschließlich Nahrung und Wohnung, das Recht auf soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung, sind zentrale Grundlagen für menschliche Entwicklung. Das bezieht sich auch auf Religionsfreiheit sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, darunter das Recht auf Arbeit und auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wenn garantierte Rechte nur für manche gelten, kippt die Balance in Richtung der Natur des Menschen und führt zur Verletzung seiner Würde. Die Menschenwürde bleibt auf diese Weise nicht unantastbar. Der Körper und die Psyche werden durch Verletzungen der Würde angegriffen. Seelische Wunden, die durch Verletzung entstehen, haben Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und schwächen ihre Selbstregulation, die für die Bewältigung des Alltags notwendig ist. Die Selbstregulation ist zentral für das Meistern des Alltags.

MMM/POC/Schwarze Identität als Ergebnis eines nichtkohäsiven Gesamtumfeldes

Die US-amerikanische Psychologin und Professorin Jennifer Freyd formulierte auf dem Kongress »Gesichter der Gewalt«, dass Gesellschaften immer »Täter-Gesellschaft[en]« seien.3 Kinder und Frauen bekämen mit, dass die Gewalt, die sie erleben, nicht aufgedeckt oder beendet werde. Wenn sie es wagten, von der Gewalt zu berichten, um sich Unterstützung zu holen, werde ihnen nicht immer geglaubt. Stattdessen stünde die Glaubwürdigkeit von Gewaltausübenden oft an hoher Stelle, da sie in die Gesellschaft gut integriert seien. Es ist schmerzhaft, zu erkennen, dass bestimmte Mitglieder der Gesellschaft, von denen man oder frau umgeben ist, diese Gewalt ausüben und selbst von dieser Gewalt nicht betroffen werden können. Kohäsion ist das folgerichtige strukturelle und zwischenmenschliche Zusammenspiel. Manche leben in einem eher kohäsiven psychosozialen Kontext, und ein paar Meter weiter stehen diese kohäsiven Bedingungen einem anderen nicht zur Verfügung. Aufgrund gewisser Faktoren werden bestimmte Personen eher als andere von zwischenmenschlicher und struktureller Gewalt betroffen.

Mobilität in gesellschaftlichen Strukturen bedeutet, dass manche Personen sich im Streben nach einem guten Platz oben in der Hierarchie aufwärtsbewegen können. Manche Faktoren begünstigen eine Aufwärtsmobilität, etwa Macht, Geld oder Bildung. Andere Faktoren – Behinderung, akute psychische Krankheit, MMM/POC/Schwarze-Status, Hautfarbe, bestimmte Nationalitäten und Religionen – besonders die, die unveränderbar sind, sind für die Aufwärtsmobilität ungünstig.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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