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Kinder und Jugendliche sollen auf ein Leben vorbereiten werden, in dem sie Krisen bewältigen, emphatisch mit ihren Mitmenschen umgehen und Beziehungen führen können. Eine entscheidende Grundlage für diese Fähigkeiten ist ein angemessener Umgang mit den eigenen Emotionen. Dieses Buch mit Poster liefert theortisches Wissen über die psychischen Grundbedürfnisse wie Bindung, Zugehörigkeit, Selbstwerterhöhung, Emotionen, Gefühlen u.v.m. Es liefert außerdem Praxisideen zu Ritualen, Streitschlichtung und Umgang mit Herausforderndem Verhalten für den Alltag in Schule und Ganztag sowie konkrete, Fallbeispiele die für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen helfen können.
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Seitenzahl: 105
Qualität in Ganztagsschule, Hort und Schulkindbetreuung
GEFÜHLE BEGLEITEN, BEDÜRFNISSE ERKENNEN
Downloads unter www.herder.de/extras
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Coverfoto: Istock ©evgenyatamanenko
Illustrationen im Innenteil: © Frau Sonnenberg
Gesamtgestaltung und Satz: Sabine Ufer, Annett Jana Berndt
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN (Print): 978-3-451-39852-0
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83511-7
ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83377-9
Einleitung
KAPITEL 1: Gut zu wissen
Emotionen und Gefühle: Wie sie entstehen
Warum jedes Gefühl einen Sinn hat
Welche Bedeutung haben unangenehme Gefühle?
KAPITEL 2: Die menschlichen psychischen Grundbedürfnisse
Das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit
Das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung
Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz
Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
Die Bedeutung der psychischen Grundbedürfnisse für die pädagogische Praxis
KAPITEL 3: Die Gewaltfreie Kommunikation
Grundannahmen der GFK
Die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation
KAPITEL 4: Die „Stadt der Bedürfnisse“ kennenlernen, verstehen, einsetzten
Den Bedürfnissen einen Ort geben
Schritt für Schritt durch die „Stadt der Bedürfnisse“
KAPITEL 5: Gefühle wahrnehmen, Bedürfnisse entdecken: Spiele, Übungen und Impulse für Kinder
Baustein 1: Beobachtung versus Bewertung/Interpretation
Baustein 2: Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen
Baustein 3: Strategien zur Bedürfniserfüllung
KAPITEL 6: Bedürfnisorientiert arbeiten: Impulse für pädagogische Fachkräfte
Über Gefühle und Bedürfnisse sprechen
Die Bedürfnissuche begleiten
Elterngespräche
Eigene Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen und mitteilen
Bedürfnisorientierung in der Ganztagsschule
Ausblick
Literatur
Die Autorin/Die Illustratorin
„Lasst uns zu dem Wandel werden, den wir in der Welt erreichen möchten.“
Mahatma Gandhi
Kinder sollen auf ein Leben vorbereitet werden, in dem sie Krisen bewältigen können, empathisch mit ihren Mitmenschen umgehen, in dem sie Hürden und Erfolge gleichermaßen einordnen können und Beziehungen führen, die sie erfüllen. Dafür sind unter anderem mentale Gesundheit und Empathiefähigkeit sowohl für sich selbst als auch für andere entscheidend. Es wird Zeit, dass diese Tatsache in unserem Bildungssystem Beachtung findet und in unseren Schulen umgesetzt wird: Gefühle und Bedürfnisse unserer Kinder müssen stärker in den Fokus rücken.
Mit dem Inhalt dieses Buches, dem beiliegenden Poster mit der „Stadt der Bedürfnisse“ und Arbeitshilfen, die zum Donwload für Sie zur Verfügung stehen, möchte ich Wege und Möglichkeiten aufzeigen, wie Kinder im Schulalltag unterstützt werden können, ihre Gefühlswelt zu erkunden. Kinder erfahren, dass alle Gefühle wertvoll und beachtenswert sind und nicht verdrängt, ignoriert oder bagatellisiert werden sollten. Dadurch können sie ihre Emotionen und die zugrunde liegenden Bedürfnisse besser verstehen. Zudem lernen sie, wie sie anderen wertschätzend und angemessen begegnen können. Dieser Prozess basiert auf zwei Säulen:
1. Wie funktioniert eigentlich die menschliche Psyche? Wofür sind unsere Gefühle da? Warum empfinden Menschen angenehme und unangenehme Gefühle? Welchen Zweck erfüllen sie? Die Kinder lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen, einzuordnen und einen angemessenen Umgang mit ihnen zu finden. Das fördert ihre emotionale Kompetenz. Darüber hinaus erkennen Kinder, dass jedes menschliche Handeln darauf abzielt, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Sie lernen, dass Gefühle und Bedürfnisse eng miteinander verbunden sind. Das Poster mit der „Stadt der Bedürfnisse“ funktioniert dabei wie eine Navigationshilfe: Es hilft den Kindern, sich eine Vorstellung von den psychischen Grundbedürfnissen zu machen und unterstützt sie dabei, einen Weg von den Gefühlen zu den Bedürfnissen und ihrer Erfüllung zu finden (Übungen und Spiele zur praktischen Umsetzung finden Sie in Kapitel 4 & 5.)
2. Die andere Säule ist eine bedürfnisorientierte Haltung der pädagogischen Fachkräfte gegenüber den Kindern. Die Begleitung der Gefühle und das Beachten der psychischen Grundbedürfnisse im Schulalltag bilden die Grundlage für erfolgreiches Lernen und den Aufbau von Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Schule muss sich ändern und auf das achten, was Kinder brauchen. Impulse für pädagogische Fachkräfte finden Sie in Kapitel 6.
Wenn Menschen ihr Fühlen und Handeln verstehen und einordnen können (Selbstempathie), gelingt es ihnen im nächsten Schritt besser, andere zu verstehen und empathisch zu reagieren (Empathie). Die Fähigkeit, sich selbst empathisch zu behandeln und anderen mit Empathie zu begegnen, ist eine Fähigkeit, die ein Leben lang trägt, begleitet und stärkt.
Dennoch haben Forscher der Freien Universität Berlin 2023 herausgestellt, dass in 42 Prozent der deutschen Lehrpläne das Erkennen, Ausdrücken und Regulieren von Emotionen sowie die Förderung von Empathie keine Beachtung finden. Die Studienautoren fordern: „Eine umfassende Integration von emotionalen Kompetenzen über verschiedene Fächer, Altersstufen und Schulformen hinweg wäre eine wichtige strukturelle Basis, um die Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung von jungen Menschen im Schulalltag zu stärken“ (Grund & Holst 2023).
Meine Motivation
Das deutsche Schulsystem ist dringend reformbedürftig. Wir haben jedoch keine Zeit, bis sich grundlegende Strukturen ändern. Durch unsere Haltung und kleine Veränderungen im Schulalltag können wir dazu beitragen, dass sich Kinder in der Schule wohl und angenommen fühlen. Kinder haben nur eine Schulzeit; sie können nicht warten.
Lassen Sie uns zulassen, dass Kinder auch während ihrer Schulzeit ihre wahren Bedürfnisse entdecken und kennenlernen. Denn der Antrieb unseres Handelns sollte nicht im Verborgenen bleiben.
Bei einer bedürfnisorientierten Haltung geht es darum, eine ausgewogene Balance zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den Anforderungen des Lebensumfelds zu finden, um die Basis für eine gesunde Entwicklung in einer lernförderlichen Umgebung für Kinder zu schaffen.
In den ersten beiden Kapiteln dieses Buches wird die Theorie zu den menschlichen Emotionen und Bedürfnissen prägnant erläutert. Gewinnbringende Erkenntnisse – u. a. aus der Bedürfnistheorie von Klaus Grawe –, werden hier knapp zusammengefasst.
Das dritte Kapitel zur Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg gibt Ihnen strukturelles Handwerkszeug für die Umsetzung in die Praxis.
Das Kapitel 6 richtet den Fokus auf die pädagogischen Fachkräfte. Es gibt Impulse und Anregungen für die Implementierung einer bedürfnisorientierten Haltung im Alltag der Ganztagsschule – der zweiten Säule des hier vorgestellten Konzepts.
Die Arbeit mit dem beiliegenden Poster „Stadt der Bedürfnisse“ erläutert das Kapitel 4. Diese visuelle Navigationshilfe ist ein Basiswerkzeug, das in den Übungen, Spielen und Lerneinheiten, die in Kapitel 5 vorgestellt werden, immer wieder zum Einsatz kommt.
Darüber hinaus stehen Arbeitshilfen, die eine Vertiefung zu ausgewählten Angeboten ermöglichen, zum Download zur Verfügung:
• 1. Abbildungen
• 2. Arbeitsblätter
• 3. Traumreisen
• 4. Fallbeispiele
Downloads unter www.herder.de/extras
Tipp
Das Kartenset ist separat erhältlich und kann vielfältig eingesetzt werden: zur Konfliktlösung, zur Verdeutlichung, für Gespräche, Aufgabenformate usw. Die Karten korrespondieren inhaltlich und gestalterisch mit der „Stadt der Bedürfnisse“, dem Poster. Es gibt Gefühls-, Reflexions- und Bedürfniskarten – mit entsprechenden Erklärungen und Impulsen.
KAPITEL 1
Gut zu wissen
„Was andere tun, mag der Auslöser unserer Gefühle sein, aber niemals die Ursache.“
Marshall Rosenberg
Emotionen sind allgegenwärtig und betreffen jeden Menschen, auch wenn sie bei einigen im Unbewussten bleiben. Sie beeinflussen unser Denken, Handeln, unsere Ziele und unser soziales Miteinander, ebenso wie das von Kindern. Bei der Entstehung eines Gefühls werden Prozesse in Gang gebracht: Ein Auslöser führt zu einer körperlichen Reaktion, die auf ein oder mehrere Bedürfnisse hinweist und einem bestimmten Ziel dient. Daraufhin erfolgt ein Handlungsimpuls. Diese Reaktionen erfolgen meist blitzschnell und unbewusst (Wedewardt & Hohmann 2024).
In der Literatur begegnet man immer wieder zwei Begriffen: Emotionen und Gefühle. In einigen Werken werden sie synonym verwendet und in manchen werden die Unterschiede, die die beiden Worte beinhalten, näher beleuchtet. In diesem Buch verwende ich die Begriffe Emotion und Gefühl synonym. An dieser Stelle möchte ich dennoch kurz den Unterschied erläutern:
Emotion: Emotionen sind automatisch ablaufende Reaktionen unseres Körpers auf bestimmte Reize oder Situationen. Sie beinhalten körperliche Veränderungen wie Herzrasen oder Mimik sowie mentale Komponenten wie Freude, Wut oder Traurigkeit. Emotionen können kurzlebig sein.
Gefühl: Gefühle sind subjektive Bewertungen und Wahrnehmungen der Emotionen. Sie entstehen durch die Interpretation von Emotionen. Gefühle sind persönlicher und können länger anhalten als die eigentlichen Emotionen. Ohne Gefühle wäre dem Menschen alles irrelevant (Dehner-Rau & Reddemann 2019).
Gefühlszustände können also den gesamten Körper betreffen. Freude wirkt sich nicht nur auf die Gesichtszüge aus, sondern auch auf andere Körperteile. Dies wahrzunehmen und zu spüren, hilft bei der Einordnung von Gefühlen.
Die Emotionen nehmen Einfluss auf unser Verhalten. Sie basieren auf Abläufen im Gehirn. Die Interpretation der Gefühle konstruiert jeder Mensch individuell: „Emotionen sind keine Reaktion auf die Welt. Sie sind nicht der passive Empfänger von Sinnesdaten, sondern der aktive Konstrukteur Ihrer Gefühle. Aus den Sinnesdaten und der früheren Erfahrung erzeugt Ihr Gehirn Bedeutung und leitet Handlungen ein“ (Barrett 2023, S. 71).
Das Wort Emotionen kommt aus dem Lateinischen „emovere“ – auf Deutsch: „bewegen“. Emotionen sind also etwas, was uns bewegt (Klaschinski 2024).
Wir fühlen aufgrund der Bewertung von Ereignissen und Gegebenheiten. Unsere Emotionen sind an das Geschehene und Erfahrungen gekoppelt, eine Reaktion unserer Psyche. Jeder Mensch fühlt bei gleichem Geschehnis anders. Gefühle entstehen durch externe (Ereignisse, die um uns herum passieren) oder interne (unsere eigenen Gefühle und Gedanken) Auslöser. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf diese Auslöser und bewerten sie. Die Bewertung ist der bedeutende Schritt, denn sie löst in uns die Gefühle aus (Grasmann, Felber & Euler 2023).
Gefühle beeinflussen das Denken, das Handeln, die Ziele, das soziale Miteinander der Menschen u.v.m. Sie haben einen Grund. Es gibt keine guten und schlechten Gefühle. Daher ist es wichtig, Kindern zu vermitteln, dass Gefühle wichtig und erlaubt sind. Oft hören wir Sätze von Erwachsenen wie „Jungs weinen nicht“, „So schlimm war es doch nicht“ oder „Stell dich nicht so an“. Diese Phrasen fördern die Gedanken „Ich bin nicht gut genug“, „Ich darf keine Gefühle zeigen“ etc. und brennen sich gerade bei Kindern ein – mit Folgen bis ins Erwachsenenalter. Werden die Gefühle wahrgenommen, ausgedrückt und reguliert, hat dies einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit. Gefühle zu unterdrücken macht auf Dauer krank (In-Albon 2023, Saalfrank 2021).
Eine Studie zeigte, dass Menschen, die bewusst ihre Emotionen bei einem traurigen Film wegdrücken sollten, im Vergleich zu der Gruppe, die beim Zusehen ihre Gefühle annehmen sollte, ihre unangenehmen Gefühle erst wesentlich später doch wahrnahmen und diese länger anhielten. Die Gefühle bejahende Gruppe hatte schon kurz nach dem Film ihre Emotionen reguliert. Dies zeigt, dass auch verdrängte Gefühle nicht so einfach wegzuschieben sind. Außerdem wurde die kognitive Leistungsfähigkeit im Anschluss überprüft: Diese war bei der Gruppe, die die Emotionen unterdrückte, verschlechtert. Das System war noch mit der Emotionsregulation beschäftigt (Alberts, Schneider & Martijn 2012).
Die amerikanische Psychologin Lisa Feldman Barrett (2023, S. 319) bekräftigt: „Wenn Sie Kindern Emotionskonzepte beibringen, tun sie viel mehr, als nur zu kommunizieren. Sie schaffen die Wirklichkeit für sie – eine soziale Wirklichkeit. Sie geben ihnen die Instrumente an die Hand, um ihr Körperbudget zu regulieren, ihre Empfindungen zu verstehen und danach zu handeln. So lernen sie, wie sie ihre Gefühle kommunizieren und mit anderen besser auskommen können. Diese Fähigkeiten werden Ihren Kindern ein Leben lang nützlich sein.“
Emotionskonzepte entwickeln sich abhängig vom sozialen Kontext eines jeden Menschen. Es ist wichtig, dass Kinder ihre Gefühle kennenlernen und erfahren, wie sie mit ihren Gefühlen dienlich umgehen können. Dazu brauchen sie Erwachsene, die sie hierbei feinfühlig unterstützen. Hierbei sind folgende Schritte wichtig:
1. Sich mit seinen Gefühlen annehmen und nicht verurteilen,
2. eigene Gefühle und körperliche Reaktionen wahrnehmen,
3. die Auslöser und Ursachen verstehen,
4. das Bedürfnis dahinter erkennen,
5. das Bedürfnis sozial angemessen befriedigen.
(Wedewardt & Hohmann 2024)
Sehr spannend ist in diesem Zusammenhang eine andere Beobachtung: Bereits 2012 konnte ein Forscherteam zeigen, dass sich Kinder im Sozialverhalten und in ihren schulischen Leistungen verbesserten, weil sie regelmäßig eine Liste von Wörtern vermittelt bekamen, um ihre Gefühle besser beschreiben zu können. Durch das Bewusstmachen der Gefühlswelt und die Begriffsbildung können Emotionen besser beschrieben und besser verstanden werden. Zusätzlich fördert dies die Empathie. Kenne ich mich besser in meinen Gefühlen aus, kann ich auch die des Gegenübers besser einordnen und verstehen (Barrett 2023).
Die Arbeit mit der „Stadt der Bedürfnisse“ kann u. a. auch dabei helfen, den Wortschatz der Gefühle und Bedürfnisse zu erweitern und damit eine Möglichkeit bieten, dass sich Kinder besser mitteilen können.
Gefühle sind Wegweiser für unser Leben. Es gibt keine positiven oder negativen Gefühle. Angenehme Gefühle zeigen uns, dass unsere Bedürfnisse befriedigt sind. Dass wir einige unserer Gefühle als unangenehm empfinden, erfüllt einen Zweck. Gefühle wie z. B. Wut, Angst, Scham zeigen auf, dass wichtige Bedürfnisse nicht erfüllt sind. Sie sind dafür da, dass wir auf uns achten und damit unsere Gesundheit sichern. Das Ignorieren der Gefühle ist ungesund und schädlich. Gerade deshalb ist es wichtig, den Sinn und Zweck unangenehmer Gefühle genauer zu durchleuchten.