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Beschreibung

Die Geschichte der Demokratie ist auch die Geschichte von Emotionen. Wie Menschen der Demokratie mit Gefühlen begegnen, lässt sich besonders gut an der deutschen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts beobachten, die eng mit den Erfahrungen der Weimarer Republik verbunden ist. Denn diese erste Demokratie in Deutschland entwickelte sich unter dem Druck geradezu übermächtiger Gefühlswelten: Aufbruchstimmung und Optimismus, Enttäuschung und Resignation, Wut und Hass erfassten ab 1919 einzelne Menschen ebenso wie die Gesellschaft insgesamt. Das wirkte weit über das Ende der Republik hinaus – letztlich bis heute. Unter dem Leitbegriff der »Gefühlten Demokratie« stellen die Beiträge dieses Bandes systematisch und in dieser Form zum ersten Mal die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie- und Emotionsgeschichte – von der Weimarer Erfahrung bis an die Schwelle der Gegenwart mit ihren aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen.

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Cover for EPUB

Eckart Conze, Astrid Wallmann (Hg.)

Gefühlte Demokratie

Die Weimarer Erfahrung im 20. und 21. Jahrhundert

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Die Geschichte der Demokratie ist auch die Geschichte von Emotionen. Wie Menschen der Demokratie mit Gefühlen begegnen, lässt sich besonders gut an der deutschen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts beobachten, die eng mit den Erfahrungen der Weimarer Republik verbunden ist. Denn diese erste Demokratie in Deutschland entwickelte sich unter dem Druck geradezu übermächtiger Gefühlswelten: Aufbruchstimmung und Optimismus, Enttäuschung und Resignation, Wut und Hass erfassten ab 1919 einzelne Menschen ebenso wie die Gesellschaft insgesamt. Das wirkte weit über das Ende der Republik hinaus – letztlich bis heute. Unter dem Leitbegriff der »Gefühlten Demokratie« stellen die Beiträge dieses Bandes systematisch und in dieser Form zum ersten Mal die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie- und Emotionsgeschichte – von der Weimarer Erfahrung bis an die Schwelle der Gegenwart mit ihren aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen.

Vita

Eckart Conze ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg.

Astrid Wallmann ist Präsidentin des Hessischen Landtages.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Astrid Wallmann / Eckart Conze: Vorwort

Christoph Cornelißen: Einführende Überlegungen: »Gefühlte Demokratie – Die Weimarer Erfahrung im 20. und 21. Jahrhundert«

Zur Ausgangslage im Zeichen der Revolution

Gefühl und Kalkül – Theodor Heuss

Forschungslage – Fragen und Methoden der Emotionsforschung

Fragen an eine Emotionsgeschichte der Weimarer Republik

Literatur

Andreas Wirsching: Die »Weimarer Erfahrung«. Konfliktgeschichte als Emotionsgeschichte

Nation und Grenze

Industriewirtschaft und sozialer Gegensatz

Die rechte Verfassung

Der Bikonfessionalismus

Literatur

Christoph Gusy: Demokratieerfahrungen und Demokratieerwartungen in der Weimarer Verfassung. Politische Kultur contra Verfassung

Demokratieerwartungen vor der Weimarer Reichsverfassung

Demokratieerwartungen in der Weimarer Reichsverfassung

1.

Demokratieerwartungen in der Weimarer Verfassung

a) Die Sozialverfassung der WRV als Erwartungshorizont

b) Grundrechtsverwirklichung in der und durch die demokratische Republik

2.

Demokratieerwartungen und politische Kultur

Demokratieerwartungen unter der Weimarer Verfassung

1.

Politische Kultur und Verfassungskultur als Problembeschreibung und Problemlösungsweg

2.

Zwei Beschreibungsebenen

3.

Akzeptanzverlust der Verfassung in der politischen Kultur

Zusammenfassung: Wie fühlte sich Demokratie in der Weimarer Republik an?

Literatur

Elke Seefried: Vertrauensfragen. Die Zukunft der Demokratie in der Weimarer Nationalversammlung

Bruch mit der Vergangenheit

Die Reichsverfassung und die Erwartungen an die Demokratie

Das Werben um Vertrauen und seine Grenzen

Literatur

Kerstin Wolff: Wie Frauen Politik machen? Drei Antworten aus 100 Jahren frauenpolitischem Engagement im Hessischen Landtag

Die Neue – die DDP-Politikerin Karoline Balser

Die Zuverlässige – die CDU-Politikerin Gabriele Strecker

Die Reformerin – die SPD-Politikerin Vera Rüdiger

Literatur

Dagmar Ellerbrock: Hassliebe – gemischte Demokratiegefühle. Invektive Dynamiken der Weimarer Republik

Emotionsarchive: Traditionsbestände deutscher Demokratiegefühle des 19. Jahrhunderts

Zur emotionalen Grammatik der Revolution 1918

Emotionale Radikalisierung innerhalb eines polarisierten demokratischen Diskurses

»Liederliches Gesindel«, ehrgeizige Herrschsüchtige und ehrvergessene Vaterlandsverräter: die Führer der Demokratie

Herabwürdigung, Hass und Gewalt: Der Weimarer circulus vitiosus?

Zur Vielfältigkeit Weimarer Invektivkultur

Gegengifte und ausgleichende Gefühle? »Die demokratische Liebe zum Schwarzwald«

Literatur

Rüdiger Graf: Krisengefühle. Weimar als demokratisches und emotionales Lehrstück nach 1945

Gefühle in der Krise

Weimarer Krisengefühle

»Bonn ist nicht Weimar« oder Gefühle für den Staat

Fazit

Literatur

Till van Rahden: Was die Demokratie am Leben hält. Alltagserfahrungen in einem Gemeinwesen der Freien und Gleichen

Vom Siechtum öffentlicher Orte

Wie die Demokratie ihre Fassung bewahrt

Von der Pflege der demokratischen Allmende

Literatur

Silke Fehlemann: Kontinuitäten der Kränkung. Hassrede in der Weimarer Republik und die Perspektive der Gegenwart

Zusammenfassung

Literatur

Carola Dietze: »Ehre, wem Ehre gebührt.« Attentate der Weimarer Jahre in Erinnerung und öffentlicher Debatte nach 1945

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

Literatur

Alexander Gallus: Im Zwischenreich der Gefühlswelten. Die Novemberrevolution zwischen Weimar und Bonn – intellektuelle Sehnsüchte und historische Deutungskämpfe

Restaurationssentiment und Revolutionssehnsucht

Deutungskonjunkturen der Revolution nach 1945

Schluss und Ausblick

Literatur

Jens Hacke: Weimarer Erfahrung und demokratische Wandlung. Dolf Sternbergers »lebende Verfassung«

Weimarer Erfahrung

Demokratische Wandlung

Lebende Verfassung

Fazit

Literatur

Benedikt Wintgens: Bonn ist nicht Weimar? Politische Erfahrungs- und Deutungsmuster im Treibhaus-Roman und in der Treibhaus-Debatte der frühen Bundesrepublik

Bonn ist nicht Weimar: Aspekte eines Vergleichs

Fritz René Allemann: der zuversichtliche Journalist

Wolfgang Koeppen: pessimistische »Restaurations«-Kritik

Fazit

Literatur

Ute Frevert: Wie fühlt sich Demokratie an? Weimarer Erfahrungen

Demokratische Leidenschaften

Krieg, Niederlage, Revolution: Gemischte Gefühle

Wahlen

Vertrauen und Misstrauen

Lernprozesse

Ausblick

Literatur

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Astrid Wallmann / Eckart Conze

Am 1. Dezember 2021 jährte sich zum 75. Mal der Hessische Verfassungstag. An diesem Tag vor 75 Jahren entschlossen sich die hessischen Bürgerinnen und Bürger nach unvorstellbarem Leid, den Weg in eine neue Zukunft zu beschreiten. Dieser Jahrestag bildete den Anlass für eine Tagung im Hessischen Landtag zum Thema »Gefühlte Demokratie. Die Weimarer Erfahrung im 20. und 21. Jahrhundert«, die wegen der Covid-Pandemie erst im Juni 2022 stattfinden konnte.

Im Dezember 1946 begann mit der Annahme der hessischen Landesverfassung eine neue Ära des modernen hessischen Parlamentarismus. Die hessische Verfassung von 1946 ist die älteste noch gültige Landesverfassung in der Bundesrepublik. Und es war alles andere als selbstverständlich, dass sich die Menschen in dem 1945 neu gebildeten Land Hessen zu diesem Neubeginn entschlossen. Das ist zu spüren, wenn man sich mit den ersten Schritten des noch jungen Parlaments beschäftigt. Als der Alterspräsident Jakob Husch (CDU) am 19. Dezember 1946 den Hessischen Landtag eröffnete, verstand er die erste Sitzung des nach langer Zeit erstmals wieder frei gewählten Parlaments nicht als einen Endpunkt auf dem Weg zur Demokratie. Er war sich bewusst, dass das, was er als einen »Gesundungsprozeß unseres schwerkranken Volkes« beschrieb, erst am Anfang stand: »Alle diejenigen aber, die guten Willens sind, gehören zu uns, gleichgültig, welche religiöse, politische oder sonstige Meinung von dem einzelnen vertreten wird. Denn nur diese Voraussetzung eines guten Willens wird gefordert von jenen, denen die Weihnachtsbotschaft den Frieden verheißen hat.«

Demokratie steht und fällt mit einem solchen guten Willen. Sie steht und fällt auch mit einer inneren demokratischen Haltung der Bürgerinnen und Bürger. Sie lebt von Voraussetzungen, die nicht verordnet werden können. Sie entspringt einem Gefühl im Volk. Verfassungen und Gesetze sind erst Ausdruck dieses Gefühls. Woher entspringt dieses Gefühl? Und woher entsprang es in der Zeit kurz nach dem Ende von Krieg und Gewaltherrschaft, als Ängste, existenzielle Not und Schuldgefühle alle anderen öffentlichen Fragen überlagerten? Blicken wir heute exemplarisch auf die Abgeordneten des ersten Landtages, so war ihre Motivation zum politischen Engagement durchaus unterschiedlich. Viele hatten ihre zerstörte Heimat vor Augen und suchten nach dem Krieg einen Ort, an dem sie sich für einen nachhaltigen Frieden einsetzen konnten. Und die beste Chance auf ein Ende der Gewalt sahen sie in einem demokratischen Gemeinwesen. Einige fanden die Wurzeln ihrer demokratischen Überzeugung in ihrem Glauben. Andere trieb der Wunsch, ihre Mitmenschen in diesen Zeiten der Not, der Kälte und des Hungers zum gegenseitigen Dienst zu animieren. Wieder andere empfanden den Dienst im politischen Amt als nationale Pflicht; in ihnen wuchs erst mit der Ausübung des Mandats die demokratische Überzeugung.

Es waren also vielfältige Gründe, die diese Abgeordneten zum Engagement in der und für die Demokratie motivierten. Es war nicht primär das Interesse an der neuen, demokratischen Staatlichkeit, das sie trieb. Aber das Engagement für einen demokratischen Staat und die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen dieses jungen demokratischen Staates trugen zur Entwicklung demokratischer Überzeugungen bei. Dass genau dies, das immer wieder neue Vermitteln demokratischer Haltung, zu den ureigensten und nie abgeschlossenen Aufgaben von Demokratie gehört, dessen waren sich die hessischen Parlamentarier der ersten Stunde sehr bewusst.

So stellte auch der erste gewählte Ministerpräsident Hessens, Christian Stock (SPD), in seiner Antrittsrede am 20. Dezember 1946 fest, die Brüchigkeit der Demokratie in der Weimarer Republik habe maßgeblich darin bestanden, dass nicht genügend Menschen hinter ihr standen. Demokratie sei, so der Ministerpräsident, eine »Erziehung zur guten Sache«. Und es sei eine gewichtige Verantwortung des Volkes, sich das Recht der Demokratie nie wieder rauben zu lassen. Sein Nachfolger Georg-August Zinn (SPD) nahm diesen Gedanken wieder auf, als er 1959 die politische Verwaltung als eine »Schule der Demokratie« beschrieb.

Einerseits ist also der Wille »zur guten Sache« eine wichtige Triebfeder für die Demokratie. Zugleich ist die Demokratie selbst aber eine pädagogische Einrichtung, die zu dieser guten Sache erziehen kann. Ein demokratisches Grundgefühl, ein demokratischer Grundkonsens kann nicht verordnet werden. Er ist untrennbar verbunden mit den Erfahrungen und Emotionen, die Menschen in und mit der Demokratie machen. Lehren aus der Geschichte zu ziehen, in diesem Sinne aus historischen Erfahrungen zu lernen, ist Teil politischer Kultur. Deshalb sieht es der Hessische Landtag auch als seine Aufgabe an, die Erforschung der politischen und parlamentarischen Geschichte des Landes Hessen zu unterstützen. Das spiegelt sich nicht nur in dem Symposium von 2022, dessen Beiträge hier publiziert werden, sondern beispielsweise auch in der vom Hessischen Landtag geförderten Onlineplattform: www.parlamente.hessen.de.

In einer Demokratie ist politische Bildung eine unverzichtbare Aufgabe. Demokratie braucht politische Bildung. Die Mütter und Väter der hessischen Verfassung konnten für diese Aufgabe nicht, wie wir heute, auf 75 Jahre erfolgreiche hessische Demokratiegeschichte zurückblicken. Die Erfahrungen, die sie mit dem Parlamentarismus gemacht hatten, blieben in Erinnerung als die Geschichte einer gescheiterten Demokratie in der Weimarer Republik. Die Feinde der Demokratie, allen voran die Nationalsozialisten, hatten diese Republik und die demokratischen Ideale verächtlich gemacht und die Demokratie und ihre Vertreter mit Hass und Hetze überzogen. Nach 1933 haben sie unbeschreibliches Elend und Leid über die Welt gebracht.

Ob sich in Deutschland eine Demokratie stabilisieren und einwurzeln konnte, war unmittelbar nach 1945 eine offene Frage und alles andere als sicher. Bei der Erarbeitung der hessischen Verfassung gab es eine intensive Auseinandersetzung mit der Weimarer Verfassung. Sie stand einerseits sogar Modell für viele Formulierungen der hessischen Verfassung. Andererseits aber gab es auch Abgrenzung und Kritik. Am Ende dieses Prozesses stand ein Dokument, das großen Wert auf eine föderale Struktur und auf soziale Integration und Verantwortung legte.

Die Verfassung Hessens atmet das Ideal, dass politische und gesellschaftliche Herausforderungen am besten bei den Menschen, mit ihnen und von ihnen selbst angenommen und bewältigt werden können. Sie begreift aus historischer Erfahrung heraus Demokratie als harte Arbeit aller Bürgerinnen und Bürger. Und sie verstetigt die Frage, wie unsere Gesellschaft den Ansprüchen der Menschen immer wieder neu genügen kann. Von dieser Frage geleitet ist es den Menschen in Hessen nach 1945 gelungen, ein demokratisches Staatswesen zu bauen, das zu Stabilität, Ansehen und Akzeptanz gelangen konnte. Hier begann eine Erfolgsgeschichte, auf die man auch mit Stolz zurückblicken kann. Gleichwohl – und gerade angesichts dieser Erfolgsgeschichte – bleibt die Frage: Woher entspringt das Gefühl, das unserer Demokratie zugrunde liegt? Wie bleibt er wach, dieser Wille »zur guten Sache«, wie es Christian Stock formulierte? Und wie kann die Demokratie selbst eine Schule zur guten Sache sein und vor allem auch bleiben?

Der Vergleich mit der Erfahrung von Weimar wird im Zusammenhang mit aktuellen Herausforderungen der Demokratie immer wieder bemüht. Da geht es um die Auffächerung der politischen Lager und um die unklaren Verhältnisse in den Parlamenten. Es geht um die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit und der Legitimation der repräsentativen Demokratie und deren Institutionen. Aber auch die Angriffe auf die Demokratie, die in den vergangenen Jahren nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ zugenommen haben, beschwören die Weimarer Vergangenheit herauf und erfüllen Demokraten mit großer Sorge.

Was hält eine Demokratie lebendig? Allein diese Frage ist Grund genug für ein Symposium im Hessischen Landtag und eine Buchveröffentlichung, die sich in gefühlsgeschichtlicher Perspektive mit der Weimarer Erfahrung und ihrer Wirkung im 20. und 21. Jahrhundert beschäftigen.

Das Symposium im Hessischen Landtag in Wiesbaden, dessen Beiträge und Ergebnisse dieses Buch dokumentiert, setzte eine Tradition solcher Veranstaltungen fort. 2013 beschäftigte sich eine Tagung mit der NS-Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter; 2016 ging es unter der Überschrift »Hesse ist, wer Hesse sein will …« um Landesbewusstsein und Identitätspolitik. Konzipiert und durchgeführt von Angehörigen der beim Hessischen Landtag angesiedelten »Kommission für politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen«, sind diese Tagungen wissenschaftliche Veranstaltungen, die sich aber Fragen von breiterem, öffentlichem Interesse und aktueller Bedeutung zuwenden und diese in eine historische Perspektive stellen. Das gilt auch für das Symposium von 2022 mit seiner bereits im Titel zum Ausdruck kommenden doppelten Thematik: der »Gefühlten Demokratie«, also der Frage nach der Bedeutung von Emotionen in der und für die Demokratie einerseits, sowie der »Weimarer Erfahrung« andererseits. Nicht zuletzt aus der Verknüpfung der beiden Themen gewann die Tagung ihr besonderes Profil. Eine ihrer Leitfragen war, ob und in welcher Weise emotionsgeschichtliche Fragen und Ansätze neue Perspektiven nicht nur auf die Geschichte und Wirkungsgeschichte der Weimarer Demokratie ermöglichen, sondern auch für Demokratiegeschichte im weiteren Sinne sowie für eine Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Herausforderungen und Gefährdungen der Demokratie.

Das neue – wissenschaftliche und öffentliche – Interesse an der Weimarer Republik, an der Entstehung der ersten deutschen Demokratie nach 1918 genauso wie an ihrem Scheitern, ihrer Zerstörung, speist sich nicht nur aus den einhundertsten Jahrestagen seit 2018, sondern mindestens ebenso sehr aus den multiplen Krisen und Krisenerfahrungen der Gegenwart und den weltweiten Herausforderungen der Demokratie, sei es durch ihre populistische Bedrohung in einzelnen Staaten und Gesellschaften, sei es durch Entwicklungen der internationalen Politik, insbesondere durch den Aufstieg und die Aggressivität nicht-demokratischer, autoritärer Staaten. Anders als es in den Jahren nach 1990, nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Überwindung des ost-westlichen Systemkonflikts, zunächst den Anschein hatte, steht uns heute auf allen Ebenen, von der lokalen über die nationale bis zur globalen, die Nicht-Selbstverständlichkeit von Demokratie klar vor Augen. Eine Gefährdung der Demokratie erwächst dabei nicht zuletzt aus einer starken Emotionalisierung der politischen Kommunikation, die sich in den Medien, vor allem den »sozialen Medien«, nicht nur abbildet, sondern die durch diese Medien erzeugt wird. Dazu gehört die Möglichkeit der unmittelbaren und ungefilterten Artikulationen von Gefühlen, gerade auch von negativen Gefühlen wie Hass, Verachtung oder Wut, die auch gewalterzeugend wirken können.

Dass eine Demokratie ohne einen demokratischen Grundkonsens nicht bestehen kann, gehörte zu den Weimarer Erfahrungen, die nach 1945 zunächst in den Ländern und dann, 1948/49, auch auf Bundesebene den Wiederbeginn des politischen Lebens und insbesondere den Prozess der Verfassungsgebung entscheidend prägten. Dieser Konsens war damals auch ein emotionaler Konsens, gespeist nicht zuletzt aus der Erfahrung der Weimarer Republik, aus der Diskrepanz zwischen den Hoffnungen und Erwartungen an ihrem Beginn und der Erfahrung ihrer Zerstörung. Zu den Voraussetzungen dieser Zerstörung gehörten nicht nur die Krisenerfahrung und durch permanente Krisen erzeugte Verunsicherungen und Ängste. Zu ihren Voraussetzungen gehörten auch – von Anfang an – die Verachtung der Demokratie, der Hass auf die Republik, auf ihre Institutionen und ihre Repräsentanten, der seinen Ausdruck in politischer Gewalt, politischem Terror und politischen Morden fand. Es gab in der Weimarer Republik keinen demokratischen Grundkonsens. Die Feinde der Republik bedienten sich lediglich der demokratischen Rechte und Freiheiten, die die Verfassung gewährte, um die Demokratie anzugreifen, zu bekämpfen und am Ende zu zerstören. Aus dieser Erfahrung gewann nach 1945 der Imperativ der »wehrhaften Demokratie« seine Bedeutung. Dieser hat auch eine emotionale Dimension, weil eine wehrhafte, eine starke Demokratie nicht möglich ist ohne eine auch emotional fundierte Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu dieser Demokratie, und zwar sowohl als politischem System oder als verfassungsrechtlicher Ordnung, wie auch als liberaler, als pluraler Gesellschaft.

Demokratie und Demokratisierung sind nicht erst in den letzten Jahren zu Leitbegriffen deutscher Selbstverständigung geworden, aber angesichts der Herausforderungen der Demokratie hat sich die Auseinandersetzung über die Demokratie und über den Umgang mit ihren erklärten Gegnern noch einmal intensiviert und emotionalisiert. Vor diesem Hintergrund ist seit einiger Zeit auch Demokratiegeschichte stärker ins Zentrum wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses gerückt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Erinnerung an die Geschichte der Demokratie zu einem wichtigen Thema seines öffentlichen Wirkens gemacht. Der Deutsche Bundestag hat 2021 die Stiftung »Orte der deutschen Demokratiegeschichte« ins Leben gerufen, weil konkrete Orte nicht nur an demokratische Traditionen in Deutschland erinnern, sondern weil solche Orte auch emotionale Annäherungen an Demokratie und Demokratiegeschichte ermöglichen können.

Die in der Bundesrepublik vor wie nach 1990 lange gepflegte Überzeugung von der Demokratiegeschichte als, insbesondere nach 1945, kontinuierliche und gleichsam von allein weiter voranschreitende Fortschritts- und Erfolgsgeschichte ist in den letzten Jahren ins Wanken geraten. An die Stelle von Entwicklungsgewissheit ist Entwicklungsungewissheit, ist Entwicklungsunsicherheit getreten; aus Demokratiegewissheit ist Demokratieungewissheit geworden; Demokratie gilt nicht mehr als selbstverständlich. Sie muss – stärker als in früheren Jahrzehnten der Bundesrepublik – geschützt, verteidigt und aktiv bewahrt werden.

Der Weimar-Bezug, in der Bundesrepublik lange durch Distanzierung sowie die Betonung der Andersartigkeit – »Bonn ist nicht Weimar« – charakterisiert und auf Selbstvergewisserung gerichtet, hat an Abgrenzungskraft verloren. Dazu hat nicht nur die wachsende zeitliche Entfernung, ein Jahrhundert mittlerweile, beigetragen. Die Weimarer Geschichte verlor auch angesichts der Entwicklung der Bundesrepublik – stabile Demokratie, wirtschaftlicher Wohlstand, Frieden in Europa – an Plausibilität als mahnender Imperativ. Das eröffnete auch erinnerungskulturell einen anderen Blick auf Weimar, auf die Weimarer Demokratie, die mit ihren Chancen, aber auch mit den positiven Emotionen vieler Menschen – Freude, Erleichterung, Stolz, Glück, Hoffnung – nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Dennoch sind in jüngerer Zeit – Stichworte: Populismus, Neonationalismus, Demokratieverachtung, Hass und Hetze, die Herausforderung des Autoritarismus und der illiberalen Demokratie – die Gefährdungen und Bedrohungen der Demokratie wieder stärker in unser Bewusstsein getreten, auch in ihrer emotionalen Wirkung. Und dies nicht nur als historische, sondern als gegenwärtige Probleme der Demokratie, als Probleme nicht nur in Deutschland, aber eben auch in Deutschland. Wie Demokratien sterben, warum Demokratien sterben, das sind Fragen, die nicht nur Historiker umtreiben. Die Entwicklung der Demokratie, die Zukunft von Demokratien ist offen, ihr Erfolg, ihre Dauerhaftigkeit – auch im deutschen Falle – alles andere als garantiert.

Demokratie als Staatsform, Demokratie als institutionelle Ordnung erfährt vor diesem Hintergrund heute wieder stärker die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die sie verdient. Demokratie lebt vom demokratischen Engagement der Bürgerinnen und Bürger, aber auch von der Stabilität und der Anerkennung ihrer Institutionen, von einer auch emotionalen Bindung. Gleichgültigkeit und Indifferenz gefährden die Demokratie und ihre Institutionen. Die Verachtung und der Hass, die unserem Staat, seinen Institutionen und seinen Repräsentanten heute wieder entgegenschlagen – bis hin zu mörderischer politischer Gewalt –, müssen sensibilisieren für die institutionelle, auch für die konstitutionelle Dimension der Demokratie. Was bedeutet es, wenn der Staat nicht mehr oder immer weniger mit Demokratie in Verbindung gebracht wird? Wenn Menschen behaupten, es sei ihnen einerlei, in einer Demokratie oder einer Diktatur zu leben? Wenn sie behaupten, die Demokratie sei doch längst zu einer Diktatur geworden? Die emotionale Dimension dieser Probleme und Herausforderungen ist unbestritten. Das macht das Thema der »Gefühlten Demokratie« so wichtig: in historischer wie in aktueller Perspektive. Die zeithistorische Forschung hat eine besondere Verantwortung, weil sie Geschichte und Gegenwart miteinander verbindet. Sie ist in diesem Sinne eine Demokratiewissenschaft und Teil jenes aktiven demokratischen Engagements, ohne das Demokratien nicht existieren können. Der Hessische Landtag als demokratisches Parlament war daher für die Tagung »Gefühlte Demokratie. Die Weimarer Erfahrung im 20. und 21. Jahrhundert« genau der richtige Ort.

Dieses Vorwort ist auch der Ort, Dank abzustatten. Zu danken ist Prof. Dr. Christoph Cornelißen, Prof. Dr. Ewald Grothe, Prof. Dr. Andreas Hedwig und Prof. Dr. Sabine Mecking für ihre Mitwirkung bei der wissenschaftlichen Konzeption der Tagung. Im Hessischen Landtag lagen die Vorbereitung des Symposiums, seine Durchführung sowie die Begleitung dieser Veröffentlichung bei Dorothee Rhiemeier, Susanne Baier und Ulrike Müller (Stabsstelle Politische Bildung, Besucherprogramme). Zu danken ist allen Referentinnen und Referenten sowie den Moderatorinnen und Moderatoren der Veranstaltung. Fast alle Beiträge sind in diesen Band eingeflossen. Für die gute Kooperation im Prozess der Drucklegung gilt dem Campus-Verlag, insbesondere Jürgen Hotz, ein Dank, auch Christoph Roolf für sein Lektorat sowie den Marburger studentischen Hilfskräften Jana Buchert und Lukas Udovic für ihre Unterstützung bei der Bearbeitung der Texte.

Astrid Wallmann

Präsidentin des Hessischen Landtages

Prof. Dr. Eckart Conze

Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg

Einführende Überlegungen: »Gefühlte Demokratie – Die Weimarer Erfahrung im 20. und 21. Jahrhundert«

Christoph Cornelißen

»Politik wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiß nicht nur mit dem Kopf gemacht«, heißt es in der bekannten Rede des Heidelberger Soziologen Max Weber über »Politik als Beruf« vom 28. Januar 1919.1 Er formulierte damit eine Einsicht, die für Untersuchungen zur Geschichte der Emotionen in der Politik bis heute von grundlegender Bedeutung geblieben ist, dürfen doch Rationalität und Emotionalität keineswegs als scharf voneinander geschiedene Pole oder gar als Gegensätze begriffen werden. Im Gegenteil, die Politik werde »nur aus Leidenschaft geboren und gespeist«, konstatiert Weber weiter; aus diesem Grund benennt er die »Leidenschaft« neben dem »Verantwortungsgefühl« und dem »Augenmaß« als eine von drei ethischen Anforderungen an das moderne Politiktreiben, wohingegen die »ganz gemeine Eitelkeit« die Gefahr in sich berge, als ein Streben nach Macht »unsachlich« zu sein und zu einem »Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung« auszuarten.2

Während der Fokus Webers in erster Linie auf die Hauptakteure der Politik gerichtet blieb, haben schon seit mehr als drei Jahrzehnten zahlreiche Studien auf dem Feld der boomenden Emotionsforschung eindrucksvoll aufzeigen können, dass bei vielen politischen Prozessen ebenfalls die aktive oder auch nur passive Mitwirkung des teilnehmenden Publikums immer wieder von Gefühlen angeleitet, beeinflusst oder sogar determiniert worden ist. In Bezug auf Hoffnungen, Begeisterung oder sogar fanatische Hingabe, aber auch auf Entrüstung, Furcht oder Angst, um hier nur ausgewählte Gemütslagen zu benennen, analysieren die einschlägigen Arbeiten einerseits die Gefühle von Individuen oder Kollektiven.3 Andererseits ergründen sie die gefühlsbestimmten Bindungen zwischen politischer Führung und Gefolgschaft, zwischen Wählern und Gewählten oder auch die politischen Dimensionen von Stimmungslagen innerhalb dieser Gruppen. Dabei liegt offen auf der Hand, dass im Zeitalter der »Massenpolitik« kollektiven Gemütsbewegungen eine besondere Bedeutung zukommt, so schwer ihre genaue Beschreibung oder die konkrete Bemessung ihrer Wirkung im Einzelnen ausfallen mögen.4

Obwohl diese Beziehungsgeflechte sich quer durch verschiedene historische Epochen beobachten lassen, markiert in einer langen historischen Perspektive die Französische Revolution einen entscheidenden Einschnitt.5 Denn erst in dem Moment, als das Volk als Akteur auf die politische Bühne trat und sich danach in Vereinen und Parteien organisierte, es sodann immer vernehmbarer seine Wahl- und Partizipationsrechte einforderte, begriffen und empfanden sich Bürger und zunehmend auch Bürgerinnen als »Mitgesetzgeber«, um es mit Immanuel Kant zu sagen.6 Aus dieser Konstellation ergab sich ein Formwandel der Politik, der die Gefühlslagen von Individuen und Kollektiven nachhaltig beeinflusste. Jedenfalls intensivierten sich im langen 19. Jahrhundert die Versuche zur Steuerung der öffentlichen Stimmungen »von oben«, zugleich stieg das Gewicht kollektiver Erwartungen an die Politik. Dabei kamen jeweils sehr unterschiedliche, zuweilen widerstrebende Gefühlslagen zum Tragen, die wiederum von der Politik instrumentalisiert werden konnten. Im Blick darauf spricht Weber in seiner eingangs genannten Rede von einem »Zustand«, den »man wohl eine ›Diktatur‹, beruhend auf der Ausnutzung der Emotionalität der Masse«, nennen könne.7

Freilich konnte sich erst in den nachfolgenden Jahren zeigen, mit welchen Gefühlen die Bürgerinnen und Bürger der neu begründeten parlamentarischen Demokratie begegneten und an welchen Punkten sie sich durch die neue Verfassungsordnung sowie die sich allmählich entfaltende politische Kultur der Republik »beheimatet« fühlten – oder eben auch, an welchen Punkten genau das Gegenteil der Fall war. Ebenso wie die Befürwortung der Weimarer Demokratie drückte sich ihre Ablehnung seit 1919 in vielerlei Varianten emotional aus, wobei es im Hinblick darauf ratsam erscheint, die Geschichte der Republik – wie bei so vielen anderen Problemstellungen – gewiss nicht allein von ihrem Ende her zu denken. Tatsächlich herrschte in breiten Teilen der deutschen Gesellschaft zunächst eine positiv bestimmte Aufbruchstimmung, ja die Zuversicht vor, dass die Weimarer Demokratie die Erfüllung lange gehegter politischer und sozialer Träume ermöglichen werde.8 In diesem Sinn stellt die Weimarer Reichsverfassung gerade »kein Produkt von Träumern und Träumen« dar, wie neuere Studien zur Verfassungskultur konstatieren, »sondern eher [eines] von Realismus und einem manchmal verzweifelt-optimistischen ›Und dennoch‹«.9 Damit war insgesamt ein Grundton vorgegeben, der seit dem Jahr 1919 auf viele Bereiche der politischen Kultur und des gesellschaftlichen Lebens wirkmächtig ausstrahlte. Für die Weimarer Republik erscheint dabei charakteristisch, dass die Erwartungen an die Politik ausgesprochen hoch ausfielen und entsprechend oft in tiefe Enttäuschungen umschlugen, als die gewünschten Ziele nicht erreicht wurden.10 Ähnliches gilt für den Drang nach politischer und kultureller Autonomie. So konstatiert der Historiker Moritz Föllmer, dass sich die Deutschen nach dem plötzlichen Ende des Kaiserreichs auf eine intensive Suche nach Neuorientierung begeben hätten – für den Einzelnen, für bestimmte Gruppen und für die Gesellschaft insgesamt. In diesem Kontext seien Ansprüche auf individuelle Autonomie vehementer als zuvor formuliert, zugleich häufiger als vor dem Ersten Weltkrieg bitter enttäuscht worden.11 Für das Bekenntnis zur republikanischen Ordnung oder auch für ihre Ablehnung sollten sich die damit verbundenen Gefühle als ein entscheidendes Regulativ erweisen.

Zur Ausgangslage im Zeichen der Revolution

Wohl kaum eine andere Periode der neueren deutschen Geschichte bietet sich als ein derart ertragreiches Untersuchungsfeld für emotionshistorische Untersuchungen an wie die Jahre der Weimarer Republik. Schon seit November 1918 sahen sich die Mitglieder der Revolutionsregierung in Berlin der großen »Macht der Gefühle« ausgesetzt, als sie in der spannungsgeladenen Krisensituation grundlegende Entscheidungen zum Aufbau der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu fällen hatten. In einer treffenden Redewendung des Theologen Ernst Troeltsch handelte es sich um das »Traumland der Waffenstillstandsperiode«, in der alle politischen Lager einen Überschuss an Zukunftserwartungen an die neu zu formende politische Ordnung entwickelten.12 Man könnte auch von einer emotionalen Extremsituation sprechen, herrschte doch damals geradezu eine Übermacht der Gefühle vor. Dabei lagen, wie sich rasch zeigen sollte, die Gefühlswelten von Euphorie und Enttäuschung sehr dicht beieinander, was nicht zuletzt diejenigen Frauen mit einigem Befremden zur Kenntnis nehmen mussten, die als »Parlamentarierinnen der ersten Stunde« ein Abgeordnetenmandat zu erringen wussten. Schon die parteiinternen Barrieren blieben für sie kaum überwindbar, und auch im parlamentarischen Raum konnten sie nur unter großen Anstrengungen sich erstmals Gehör verschaffen.13

In der revolutionären Gründungsphase der Republik äußerten sich die gefühlsbetonten Schwankungen bei den Mitgliedern und Sympathisanten sämtlicher Parteien. In dieser Phase zeugen jedoch insbesondere die Konflikte zwischen den Kräften der politischen Linken untereinander davon, wie sehr damals auf der einen Seite die Anhänger und Anhängerinnen der extremen Linken mit ihrem Verbalradikalismus alles daran setzten, die ohnehin feindselige Stimmung weiter anzuheizen, während auf der anderen Seite die Verantwortungsträger aus den Reihen der Mehrheitssozialdemokraten sich im Bündnis mit verschiedenen bürgerlichen Kräften in eine Defensivposition manövriert sahen. Die ursprünglich optimistischen Zukunftserwartungen der Demokratinnen und Demokraten dieser Stunde wurden darüber stark eingetrübt. Wie sehr das Nervenkostüm der Beteiligten damals bis zum Zerreißen angespannt war und wie sehr die Mitglieder der Revolutionsregierung auch physisch an ihre Grenzen gerieten, berichtet der Sozialdemokrat Egon Landsberg. Seine Arbeitstage waren von mindestens 18-stündiger Dauer, und es war daher trotz aller antreibenden Leidenschaften alles andere als ein Zufall, dass sich zunächst keine Ersatzkandidaten finden ließen, als die Vertreter der USPD aus dem Rat der Volksbeauftragten ausschieden. Nicht jeder sei bereit, in den Hexenkessel hineinzugehen, schreibt Philipp Scheidemann dazu. Auf jeden Fall müsse er ein »Fell wie ein Rhinozeros haben«, lautete sein Kommentar.14 Nun hat sich der Anführer der Mehrheitssozialdemokratie, Friedrich Ebert, während der Januarkämpfe 1919 in Berlin tatsächlich dickhäutig genug gezeigt, um den Einsatz des Militärs gegen die radikale Linke zu sanktionieren. Und dennoch erwies auch er sich in den entscheidenden Wochen der Weihnachts- und Januarkämpfe keineswegs allein als ein kühler, rational agierender Stratege, sondern als führendes Mitglied eines politischen Flügels der Sozialdemokratie, der zunehmend von der Furcht vor einer bolschewistischen Revolution getrieben war. Noch mehr, Ebert trieb damals die Angst um, nicht nur gewaltsam aus dem Amt gejagt zu werden, sondern er war schlichtweg in Sorge um sein eigenes Leben und das seiner Familie. Hierfür gibt es verschiedene Zeugnisse, was zeitgenössische Beobachter wie Emil Barth nicht daran hinderte, Eberts Handeln in diesen Tagen als ein Zeichen von »übernervöser Schwäche« zu deuten.15

Wenn wir diese nur wenigen Hinweise ernst nehmen, dann stellt sich die übergeordnete, von Historikerinnen und Historikern seit Langem geführte Diskussion über die »verpassten Chancen«, über das ungenutzte Neuordnungspotenzial in den revolutionären Monaten 1918/19, in einem veränderten Licht dar. Jedenfalls wird man nicht umhinkommen, sich mit den konkreten Gefühlen der handelnden Politiker und Politikerinnen wie auch mit den Gemütsbewegungen der am politischen Geschehen teilnehmenden Beobachter eingehend zu beschäftigen. Zeitlich darüber hinausgreifend drängen sich überdies Fragen danach auf, wie sehr die Erfahrungen und Gefühle dieser Jahre langfristig nachwirkten, die dann das politische Denken und Handelnden auch noch nach dem Untergang der Republik anleiten sollten. Darüber gerät das sogenannte »Weimar-Syndrom« in den Blick, das heißt die öffentliche und durchaus gefühlsbetonte Verständigung über die Strukturdefizite von Verfassung und politischer Kultur der Weimarer Republik, die nach dem Zweiten Weltkrieg zuvorderst darauf zielte, die Wiederkehr ähnlicher Verhältnisse und damit die Gefährdung der demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik zu unterbinden.16

Gefühl und Kalkül – Theodor Heuss

Dass nicht nur bei einzelnen Handlungen und allgemeinen politischen Praktiken, sondern auch in den Erinnerungen der Beteiligten zuweilen sehr persönliche Gefühle eine Rolle spielten, ist von der historischen Forschung vereinzelt thematisiert, kaum aber systematisch untersucht worden. Dabei vermag die Beschäftigung mit den Gemütslagen bekannter Politikerinnen und Politiker aus den Weimarer Jahren das Phänomen durchaus anschaulich zu machen. Hier beschränken wir uns auf nur einen einzigen Fall: den Liberalen Theodor Heuss, seit 1924 Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei im Reichstag. Die von der Heuss-Stiftung mustergültig edierte Briefsammlung des württembergischen Politikers zeigt, wie sehr der spätere Bundespräsident sich regelmäßig schon in den Weimarer Jahren als Vertreter eines rationalen politischen Kurses im Gegensatz zu schwankenden Massenstimmungen einstufte, ja geradezu stilisierte: »Ich selbst«, heißt es hierfür exemplarisch in einem 1924 an den Parteifreund Wilhelm Hartmann adressierten Brief, »habe mich […] immer vom nationalen Haßgefühl frei gewußt und mich dadurch oft genug, vor allem in der Kriegszeit, gegenüber den Massenstimmungen isoliert gefühlt, aber ich glaube nicht an die entscheidende Möglichkeit, durch rechtliche Organisationen und pädagogische Maßnahmen die Tatsache staatlicher und nationaler Machtkämpfe aus der Welt schaffen zu können.«17 Aber auch der sich nüchtern gebende Heuss ahnt die Dynamiken der »Volksstimmung«, als er brieflich im September 1930 gegenüber dem Juristen und Anhänger der NSDAP, Hans Peter Deeg, konstatierte: »Was Ihre persönlichen Bemerkungen anlangt, daß ich mit ›kolossaler Ausdauer‹ mich für die ›absinkende Sache‹ der Demokraten einsetze, so stehen die Dinge von mir persönlich aus gesehen so, daß ich weder die Parteien noch die Doktrinen als gegebene gefestigte Größen ansehe, sondern spüre, wie die Dinge geistig und sachlich unterwegs sind.«18 Heuss ergänzte, man stünde erst am Beginn der Aufgabe, »die Nation zu gestalten und zwischen individualistischem Erbe und Gemeinschaftssinn die Synthese zu schaffen«. Auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg äußerte sich Heuss zu Gefühlsfragen. In einem Brief an Max Hildebert Boehm aus dem Jahr 1948, der sich zuvor für eine »parteifreie Politik« ausgesprochen hatte, konstatiert Heuss: »Ihr Kreis, lieber Böhm, hat damals gemeint, die ›formale‹ Demokratie möge ersetzt oder doch ergänzt werden durch etwas wie den berufsständischen Aufbau des Staates. […] Man polemisierte gegen den egalitären Rationalismus, aus dem die ›atomisierende‹ Demokratie des ›Staatsbürgertums‹ stamme, und lag doch im selben Spital krank, wenn auch auf einer anderen Station. Denn alle diese Versuche leben aus der Methodik, Sozialbestände rational, das heißt zugleich rechenhaft zu begreifen und zu fixieren. Sie pressen die Dynamik des Fließenden in die Statik eines Gewordenen, die in der Gefahr bleibt, morgen wieder gesprengt zu werden.«19 Heuss äußerte sich, wie hier erkennbar, auf besonders hintergründige Weise zu Fragen der »Gefühlspolitik«. In seinen Ausführungen bezieht er einen »rationalen« Standpunkt, gibt aber auch zu erkennen, dass er sich der Bedeutung von Gefühlen für sein eigenes politisches Denken und Handeln sehr wohl bewusst war.

Man muss bei all diesen Bemerkungen in Rechnung stellen, dass für die Angehörigen der Generation von Heuss die offene oder gar öffentliche Verständigung über »gefühlte Politik« keineswegs so selbstverständlich war, wie dies in den politischen Diskursen sowie der medialen Berichterstattung der Gegenwart beobachtet werden kann. Heute kann man sogar eine Ubiquität von Gefühlsbegriffen konstatieren, und auch in der Alltagssprache sind sie mittlerweile ein fester Bestandteil.20 Diesen Sachverhalt weiter zu vertiefen, ist jedoch hier nicht unsere Aufgabe. Den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes geht es vielmehr – jeweils in zeitlichen Abschichtungen von 1918/19 bis zur Gegenwart – um eine systematische Auseinandersetzung mit der »Weimarer Demokratieerfahrung«, wobei ausgewählte emotionshistorische Perspektiven im Vordergrund stehen. Sie reichen von »Erwartungen« über »Gefährdungen« bis hin zu »Anfeindungen« und »Erfahrungen«, wobei diesen Oberbegriffen jeweils Analysen zu distinkten Emotionsbegriffen zugeordnet werden. Darüber wird die Aufmerksamkeit einerseits auf eher positiv konnotierte Gefühle gelenkt, solche der Zuversicht oder Hoffnungen beziehungsweise Erwartungen auf soziale und politische Gleichberechtigung oder kulturelle Teilhabe. Andererseits geht es um Gemütslagen mit einem stärker negativen Einschlag. Hier wird die Rolle von Ängsten oder Gefühlen von Überforderung, aber auch von Wut oder Hass angesprochen, und fast zwangsläufig richtet sich der Blick immer wieder auf die Enttäuschungen vieler Akteure und Akteurinnen, zugleich auf Gefühle wie Feindseligkeit oder Rachsucht. In diesem Zusammenhang verdienen die seit den 1920er Jahren in der deutschen Gesellschaft virulenten antisemitischen Phantasien, Parolen und Aktionen eine besondere Beachtung, markieren sie doch ein Feld, auf dem starke Gefühle eines solchen Typs die Politik der Ausgrenzung und Gewalt schon lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten vorantrieben.21

Die Beschäftigung mit solchen Gemütslagen verdeutlicht, wie sehr auch in nachfolgenden Phasen der deutschen Geschichte die Erinnerungen an die »Weimarer Verhältnisse« eher kritisch, wenn nicht sogar düster ausfielen, eben weil »belastende« Gefühle im Spiel waren. Für die 1950er Jahre ist insgesamt bezeichnend, mit welcher Schärfe selbst ein Konrad Adenauer an die Weimarer Jahre öffentlich erinnerte: »Das Elend der Weimarer Zeit«22 dürfe sich nicht noch einmal wiederholen, konstatierte er vielsinnig im Februar 1951 vor Bonner Studierenden, und auch sonst mangelt es in dieser Phase nicht an Stimmen, die sich – bewusst oder unbewusst – von ihren Erinnerungen an eine schwierige Zeit abzugrenzen suchten, dies ganz offensichtlich unter dem Eindruck von belastenden Gefühlen in Verbindung mit der Delegitimation und Zerstörung der republikanischen Ordnung.23 Noch weit über die 1950er Jahre hinaus ist die Kontinuität von Stimmungen auch ganz anderer Provenienz zu beobachten. Dies bezieht sich zum einen auf die Aktionsformen und Inhalte der Hetze gegen demokratische Politiker und Politikerinnen von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis hin zur Bundesrepublik, zum anderen geht es um die Diskurse nach dem Zweiten Weltkrieg von Intellektuellen, Wissenschaftler*innen und Schriftsteller*innen über die »demokratische Wandlung« und »rechtsstaatliche Befestigung« in der neuen Republik. Viele Passagen ihrer Argumentationen erweisen sich, wie verschiedene Beiträge dieses Bandes verdeutlichen, als das Produkt eines »gefühlten Wissens« über die Weimarer Republik von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.24

Forschungslage – Fragen und Methoden der Emotionsforschung

Die Beschäftigung mit Problemen der »gefühlten Demokratie« im Deutschland der Jahre seit 1919 kann zum einen auf den Erträgen einer ausdifferenzierten historischen Forschung zur Weimarer Republik aufbauen, auch wenn diese bis heute bemerkenswerte Desiderata aufweist. So liegt bislang eine systematische emotionshistorische Studie zu diesen Jahren nicht vor.25 Zum anderen vermag sie von den Erkenntnissen eines inzwischen weit verzweigten Forschungsfeldes zu profitieren, wurden doch in den letzten Jahrzehnten die »Gefühle in der Geschichte« aus sehr verschiedenen Perspektiven näher untersucht.26 Es kann daher mitnichten länger die Rede davon sein, dass der Mensch ungeachtet der Allgegenwart von Gefühlen in den sozialen Praktiken von den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften in historischen Studien als fühlendes Wesen weiterhin ausgeblendet werde.27 Das Gegenteil ist der Fall, denn die Debatten über sogenannte Gefühlsregime (William Reddy), Gefühlsgemeinschaften (Barbara Rosenwein) oder emotionale Praktiken (Monique Scheer) haben in den letzten Jahrzehnten eine beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen.28

Für die hier aufgeworfenen Fragen nach der »gefühlten Politik« bergen derartige Konzepte vielerlei Anregungen, zumal dort, wo sie – wie Reddy – den Gefühlen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen an politischen Ritualen und Zeremonien ihre Aufmerksamkeit widmen. Gleichermaßen weiterführend sind die Hinweise von Rosenwein darauf, dass Familien, Wohnviertel, Parlamente oder Kirchengemeinden als mehr oder minder festgefügte emotionale Gemeinschaften betrachtet werden können, die jeweils autonom darüber befinden, was sie politisch und kulturell als wertvoll oder schädlich einstufen. Monique Scheer wiederum hat den Tatbestand in das Bewusstsein gehoben, dass das Schreiben über Gefühle oder die Benennung unserer Emotionen mit einer sich wandelnden Körperpraxis verbunden ist; der Körper sei »historisch«, was im Umkehrschluss bedeutet, er könne keine ahistorisch emotionalen Erregungen produzieren.29 Weitere wichtige Impulse sind von den Diskussionen um »emotional styles« (Benno Gammerl) ausgegangen, machen sie doch unter anderem deutlich, dass es aufschlussreicher ist, ganze Ensembles von emotionalen Mustern und Praktiken zu untersuchen, als sich auf einzelne Emotionen wie Wut oder Angst zu konzentrieren.30

So sehr diese Ansätze heuristische Potenziale für die Erforschung von Emotionen in der Politik bergen, erschien es für unsere Fragestellungen weiterführend, den Erörterungen wenige ausgewählte Hypothesen der neueren Emotionsforschung zugrunde zu legen. Sie erfüllen somit die Funktion eines methodisch-systematischen Leitfadens für die nachfolgenden, stärker empirisch ausgerichteten Beiträge. Nur vier Punkte sollen an dieser Stelle herausgestellt werden:31 So konnte die Emotionsforschung, erstens, zeigen, dass Gefühle keineswegs allein Empfindungen meinen, sondern dass durch sie Handlungen angeregt und begründet werden. Gefühle drücken sich mithin in Wörtern und (Sprach-)Bildern aus, ebenso in Mimik und Gestik, jeweils geprägt von kulturellen und alltagspraktischen Codes von einer »langen Dauer«. Um erfahrbar, erkennbar und kommunizierbar zu sein, muss eine Empfindung jedoch als solche benannt werden. Gefühlswörter wie »Liebe« oder »Hass«, »Stolz« oder »Scham« erlauben somit eine »Anschlusskommunikation«, indem sie einen von Sprechern und Hörern geteilten Benennungs- und Erfahrungsraum herstellen. Zweitens spricht viel dafür, dass Gefühle immer wieder aufs Neue kulturell überformt werden. Anders gewendet: Menschen geben ihren Gefühlen in einer Weise Ausdruck, wie sie es gelernt haben, in ihren Familien, Kindergärten, Schulen oder anderen Sozialisationsagenturen, den Kirchen oder den peer groups. Außerdem greifen sie auf persönliche und kollektive Erfahrungen zurück, wenn sie ihren Gefühlen sprachliche Form verleihen. Zudem besteht, drittens, in der Emotionsforschung weitgehend Einverständnis darüber, dass Gefühle eine Geschichte haben und dass Gefühle von der Geschichte gemacht werden. Sie unterlagen und unterliegen somit gesellschaftlichen Einflüssen und Erwartungen, die wiederum raum- und zeitabhängig sind. Darüber hinaus ist, viertens, die Beobachtung von Bedeutung, dass sich Emotionen sowohl im fluiden Zusammentreffen mit anderen Gefühlen als auch je nach den sozialen Rollen ihrer Träger fortlaufend verändern. Dies hat dann zur Folge, dass individuell oder kollektiv erfahrene Emotionen schnell auftauchen, dass diese aber ebenso schnell wieder verschwinden können, während andere eine dauerhafte Basis für eine Gemeinschaftsbildung abgeben. Ähnliches können wir für Wahrnehmungen, Erinnerungen und Deutungsmuster konstatieren.

Alle diese Vorüberlegungen ließen sich leicht weiter fortschreiben, zumal die Verständigung über die theoretischen und methodischen Grundlagen der Emotionsgeschichte über einen langen Zeitraum von einem Streit zwischen konstruktivistischen und essenzialistischen Positionen überlagert wurde.32 Hier beschränken wir uns dagegen auf die grundsätzliche Beobachtung von Alexander Kluge, wonach Politik die »gesteigerte Intensität jedes alltäglichen Gefühls, jeder Praxis« darstelle.33 Sie verweist nochmals mit Nachdruck darauf, dass Interessen und Emotionen fast zwangsläufig auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind, was dann bereits eine erste Erklärung für die Schwierigkeiten der Emotionsforschung birgt, die Wirkmacht von Gefühlen bei politischen Prozessen genau zu bestimmen. Ähnliches lässt sich für den Einfluss der Medien auf die emotionale Färbung politischen Handelns und Denkens festhalten.34

Ein kursorischer Überblick zu ausgewählten Forschungserträgen aus den letzten Jahren erlaubt es, die Sachverhalte noch etwas genauer zu beschreiben. So liegen inzwischen verschiedene Studien vor, die auf breiter empirischer Basis der Geschichte der Emotionen in der Phase der Nationalstaatsgründungen im 19. Jahrhundert auf den Grund gehen.35 In engem Zusammenhang damit dürfte es keinen Zufall darstellen, dass schon früh gerade die internationale Politik als ein besonders fruchtbares Feld für solche Fragestellungen identifiziert worden ist, wurden doch bereits seit der Frühen Neuzeit die Staaten und ihre Regierungen als Träger einer männlich konnotierten »Ehre« begriffen, deren Kränkung und Verletzung ein völkerrechtliches Delikt darstellte. Erst aber im Gefolge der Revolutions- und Freiheitskriege an der Wende zum 19. Jahrhundert, dann nochmals verstärkt durch die nationalen Gründungskriege der nachfolgenden Jahrzehnte, trafen die Vorstellungen von einem »Vaterland der Feinde« auf einen sich erweiternden sozialen Resonanzboden.36

Wie sehr seither nationale Feindbilder kollektive Sehnsüchte und Ängste bestimmten, offenbarte sich endgültig im Umfeld der Pariser Friedensverhandlungen des Jahres 1919. In diesem Kontext lasteten die »Leidenschaften« der breiten Öffentlichkeit nicht nur auf den Entscheidungen der »Friedensmacher« schwer, sondern sie trugen das Gift des Unfriedens ebenso in die innenpolitischen Verhältnisse und förderten auf diese Weise die Aufpeitschung kollektiver Gefühlsausbrüche.37 Das Phänomen lässt sich quer durch verschiedene Gesellschaften Europas beobachten, aber es erreichte besonders in Ländern wie Ungarn, Bulgarien, Österreich und dem Deutschen Reich eine besondere Virulenz − somit in den Staaten, die als Besiegte die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs verlassen hatten. In diesen Ländern, aber nicht nur hier, breiteten sich ab 1918/19 geradezu rasant kollektive Ängste vor einer »bolschewistischen« oder jüdischen Verschwörung, die Furcht vor sozialem Chaos und ganz generell Zukunftsängste aus, die dann ihren Teil zur anhaltenden Instabilität der neu gegründeten Demokratien beitrugen.38

Schon seit mehreren Jahren beschäftigen sich emotionshistorische Untersuchungen ebenfalls mit der zweiten Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Sie widmen sich beispielsweise der Rolle der Angst im Kalten Krieg39 oder auch dem Verhältnis von Emotion und Rationalität in der internationalen Politik und der Diplomatie.40 Die Erforschung der Emotionen in der Politik strebt jedoch sowohl methodisch als auch inhaltlich weit über diesen Rahmen hinaus. So setzen sich neue Publikationen mit den Emotionen in den Erinnerungskulturen41 sowie mit Gefühlslagen auseinander, die den kulturellen Protesten seit den 1950er Jahren in den westlichen Gesellschaften zugrunde lagen.42 Auch die Rolle der Medien beziehungsweise von Bildern als Katalysatoren von Gefühlen wurde zuletzt näher ergründet.43 Welche weiteren Potenziale sich mit dem Paradigma der Emotionsforschung verknüpfen, hat der in Kalifornien lehrende Historiker Frank Biess mit einer Studie unter dem aufschlussreichen Titel Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik demonstriert. Darin betont er einerseits die Bedeutung verschiedener »emotionaler Regime« für die Artikulation von Angst, andererseits richtet er den Blick auf die sich verändernden Objekte von Angst in der Geschichte der Bundesrepublik. Zudem zielt Biess auf die Untersuchung der sozialen und politischen Funktionen von Angst in verschiedenen zeitlichen und thematischen Kontexten. Mit seiner Studie unternimmt er insgesamt den Versuch, die Geschichte der Bundesrepublik als eine Abfolge von »Angstzyklen« und »Angstkrisen« zu begreifen, worüber der »Pessimismus der Zeitgenossen« an die Stelle der optimistischen Deutungen der Historiker rückt.44

Fragen an eine Emotionsgeschichte der Weimarer Republik

Der hier bewusst kursorisch gehaltene Überblick zur Forschungslage deutet indirekt an, dass die Weimarer Republik bislang noch nicht zum Gegenstand einer systematischen Emotionsgeschichte auserkoren worden ist. Um dieses Desideratum zu füllen, haben die Veranstalter der Wiesbadener Tagung vom Juni 2022 das Thema der »Weimarer Erfahrungen« auf die Tagesordnung gesetzt. Konkret ging es ihnen vor allem darum, verschiedene Orte öffentlicher Aushandlungen von »mächtigen« beziehungsweise »schwachen« Gefühlslagen in den Blick zu nehmen, die bislang überhaupt noch nicht oder nur ansatzweise auf ihre Wirkungsmechanismen – synchron und diachron – untersucht worden sind.45 Damit beziehen wir uns in den vorliegenden Beiträgen zuvorderst auf den parlamentarischen Raum, sodann auf die politische Konkurrenz zwischen den Parteien, aber wir richten unsere Aufmerksamkeit ebenfalls auf verschiedene Foren der sogenannten Zivilgesellschaft sowie auf die »Politik der Straße«. Hierbei gilt es immer wieder in Rechnung zu stellen, dass die Gefühlslagen sowohl von Individuen als auch Kollektiven in den sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten ebenfalls einer ständigen Transformation unterlagen. Darüber hinaus erweisen sich in diachroner Hinsicht die »lange Dauer« von Gefühlen und ihre Ausstrahlung auf die politischen und gesellschaftlichen Aushandlungen auch noch nach dem Untergang der Weimarer Republik als ein Moment von großer Bedeutung.

Wenn man unter Bezug auf die angeführten Zielsetzungen die Rückwirkungen individueller und kollektiver Gefühlslagen auf die politischen Prozesse während der Weimarer Jahre und in den nachfolgenden Teilepochen der deutschen Geschichte ausleuchtet, stößt man rasch auf Unbekanntes. Denn was wissen wir wirklich über die Gefühlslagen von Anwesenden und Abwesenden oder denen ausgewählter sozialer Gruppen während und nach der Revolution von 1918/19? Und welches handlungsleitende Gewicht können wir Gefühlen in den politisch nicht selten aufgepeitschten öffentlichen Stimmungslagen der nachfolgenden Jahre beimessen? Wie wurden unterschiedliche Gefühle in der politischen Praxis öffentlich dargestellt, ausgelebt und erfahren? Und welche Rolle spielten die durch die Medien aufgewühlten oder potenzierten Gefühle in dieser Zeitspanne?

Hierbei handelt es sich nur um ausgewählte Beispiele eines breiten Fragengerüsts an eine Epoche der deutschen Geschichte, deren Bedeutung uns im Lichte gegenwärtiger Entwicklungen inzwischen wieder stärker in das Bewusstsein gerückt ist. Hierfür ist unter anderem symptomatisch, wie sehr im Zuge des bereits seit mehreren Jahren zu beobachtenden, schleichenden Vertrauensschwundes in die freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik ein weiteres Mal die Rede von den »Weimarer Verhältnissen« aufgekommen ist. Offenkundig liegt ihr die Befürchtung zugrunde, dass sich auch in der Gegenwart erhebliche Teile der Bevölkerung von der demokratischen Verfassungsordnung und den auf ihr gründenden Praktiken der Politik distanzieren könnten, weil sie nicht länger auf die Problemlösungskapazität demokratischer Regierungen und frei gewählter Parlamente vertrauten. In der politik- und geschichtswissenschaftlichen Forschung werden Projektionen dieser Art bislang als problematisch eingestuft, weil sie das gefühlte Einverständnis der Bürgerinnen und Bürger mit der bundesrepublikanischen Verfassungsordnung und ebenso das Vertrauen in die Stabilität der innen- und gesellschaftspolitischen Verhältnisse massiv unterschätzen.46 Ähnlich lautet der Tenor vieler Reden politischer Verantwortungsträger: »Berlin ist nicht Weimar und wird es nicht werden«, heißt es fast schon beschwörend in einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aus dem Jahr 2018.47

Jüngste Entwicklungen in der politischen Kultur sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene wecken indes einige Zweifel daran, ob die Bundesrepublik sich nicht inzwischen doch ein gutes Stück den »Weimarer Verhältnissen« angenähert hat. Angesichts der grundsätzlichen Herausforderung, dass offene politische Ordnungen wie die parlamentarischen Demokratien auf das Vertrauen ihrer Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit von Regierungen und der Exekutive angewiesen sind, erschien es umso mehr geboten, die Wirkungsmechanismen einer »gefühlten Demokratie« näher zu ergründen. Welche Problemlagen sich dabei einstellen und welche Gefühle dabei wirksam werden können, wird in diesem Band eindrücklich am Beispiel der Weimarer Republik aufgezeigt, die über weite Strecken eben nicht mit der »permissiven Toleranz« rechnen durfte, wie sie sich in der Bundesrepublik Deutschland seit der Liberalisierung der politischen Verhältnisse in den ausgehenden 1950er Jahren als eine Grundstimmung einstellte.48 Darüber hinaus bietet die Beschäftigung mit der »gefühlten« Weimarer Demokratie entlang einer Zeitachse bis in die Gegenwart und über verschiedene Strukturbrüche der deutschen Geschichte hinweg die Möglichkeit, die langfristige Wirkung von Emotionen in politischen Aushandlungsprozessen nachzuzeichnen. Gefühle sind, was die Emotionsforschung ein um das andere Mal gezeigt hat, von Kontexten abhängig. Umso dringlicher erscheint es daher geboten, den Wegen näher auf den Grund zu gehen, entlang derer Gefühle aus den Weimarer Jahren auf die Verständigung über politische Fragen bis in die Gegenwart ausstrahlen.

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Die »Weimarer Erfahrung«. Konfliktgeschichte als Emotionsgeschichte

Andreas Wirsching

Zweifellos bildet die »Weimarer Erfahrung« eine Konfliktgeschichte. Die Geschichte der Weimarer Republik scheint ja vor allem aus Konflikten zu bestehen: politisch-ideologisch, ökonomisch-sozial und kulturell – von ihrem Beginn in der Revolution an bis zu ihrem Untergang 1933. Zugespitzt formuliert befanden sich Politik und Gesellschaft während der ersten deutschen Demokratie durchgängig in einer Art kulturellem Bürgerkrieg. Dessen Latenzgrade waren unterschiedlich – sie reichten von der offenen Gewalt, wie sie die Weimarer Republik bekanntlich in geradezu endemischer Weise erfuhr, bis hin zur für sich genommen unspektakulären Invektive in Wort und Bild.49

Dementsprechend wurden die »Weimarer Erfahrungen« nach 1945 anfangs fast nur negativ konnotiert. Der Hinweis auf die Weimarer Republik evozierte vor allem die (selbst-)zerstörerischen Gegensätze und Unvereinbarkeiten der ersten deutschen Demokratie. Das (in zahllosen Varianten vorgebrachte) Standardargument lautete: Weimar hat uns gelehrt, wie eine Demokratie an sich selbst scheitern kann – an einem schwachen Parlamentarismus mit dysfunktionalem Parteiensystem, an Extremismus und Demagogie, die in gewalttätiger Straßenpolitik mündeten, sowie an einer Führungsschicht, die zu wenig an die Demokratie glaubte. Die Lehre aus dieser Erfahrung war: bessere Verfassungsstrukturen, ein kohärenteres Parteiensystem, eine wehrhafte Demokratie gegenüber dem politischen Extremismus und die Verpflichtung der Eliten auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung.50

So nachdrücklich die Rede von der »Weimarer Erfahrung« also die Weimarer Konflikte zitierte, so schweigsam blieb sie im Hinblick auf Emotionen und das hier interessierende Thema der »gefühlten Demokratie«. Dem entspricht es, dass die Gefühlsgeschichte der Weimarer Demokratie erst noch zu schreiben ist. Eine solche kann sich aber nicht bloß in der Einsicht erschöpfen, dass Konflikte durch Emotionen angetrieben werden und umgekehrt Emotionen Konflikte erzeugen. Im Folgenden sei deshalb ein nach meiner Auffassung entscheidend wichtiges emotionsgeschichtliches Element präsentiert, das durch seine historisch-kontextuelle Applikation auf Weimar und die »Weimarer Erfahrungen« Konkretion erhält. Ausgangspunkt ist die neuere Emotionsforschung, nach welcher die althergebrachte Unterscheidung von Emotionen und Rationalität nicht tragfähig ist. Im Gegenteil: Emotionen können durchaus in rationales Handeln münden und dieses sogar begründen.51

Emotionen dienen der Reduktion von Komplexität. Gefühle verhelfen dem Menschen dazu, die ihn umgebende komplexe Wirklichkeit handlungsorientiert zu reduzieren. Niklas Luhmann hat dies am Beispiel des »Vertrauens« aufgezeigt.52 Für Ute Frevert gewinnen Emotionen in der Moderne eine spezifische Bedeutung, nämlich genau dann, wenn die »Steigerung sozialer Komplexität« den »Bedarf nach Nahwelt« anwachsen lässt.53 Und schon David Hume wusste, dass das Gefühl darüber bestimmt, ob man eine Situation als gut oder schlecht bewertet.54 Modellhaft gesprochen, lassen sich rational begründete Entscheidungen erst dann auf dieser, durch Gefühle reduzierten Basis treffen und in entsprechendes Handeln überführen. Unsere heutige Situation, in der Emotionen auch die internationalen Beziehungen so stark beeinflussen, macht dies einmal mehr deutlich.

Betrachtet man nun das Universum der politischen Gefühlswelt in der Weimarer Republik, so erkennt man vier thematische Achsen, die schwere Konflikte erzeugten. Sie alle waren einerseits hoch emotionalisiert; andererseits erforderten sie am laufenden Band rationale, zumindest politisch vermittelbare Entscheidungen. Die kognitive Verschränkung von Gefühlen, Rationalität und Politik lässt sich an ihnen also besonders gut beobachten.

Alle diese vier Achsen waren tief in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts verankert. Es handelte sich erstens um das Problem von Nation und Grenze, zweitens um Industriewirtschaft und sozialen Gegensatz, drittens um die rechte Verfassung sowie viertens um den Bikonfessionalismus. Der Blick in die Quellen zeigt, dass in den hier aufgeworfenen Konfliktfeldern ständig, fast könnte man sagen ununterbrochen, von Gefühlen gesprochen wurde. Die vier genannten Themenkomplexe eignen sich daher gut, einige exemplarische Überlegungen zur Emotionsgeschichte der Weimarer Konflikterfahrung anzustellen.

Nation und Grenze

Zu den konstitutiven Problemen der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts gehörte die Nichtidentität von Staat, Nation und Territorium. In Deutschland vollzog sich die Nationsbildung nicht im Gehäuse eines gefestigten Staates, sondern es war die Nation, die ihren Staat erst suchen, seine Grenzen erst definieren musste.55 Diese historisch bedingte Konstellation war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Frage »Wo liegen Deutschlands Grenzen?« besonders nachhaltig gestellt wurde. Weil Deutsche außerhalb der Landesgrenzen lebten oder weil es deutschen »Lebensinteressen« entsprach, trat auch die Frage, welche angrenzenden Teile Europas legitimerweise zu Deutschland gehörten, in den Gesichtskreis.

Entfaltete dieses Thema schon im wilhelminischen Kaiserreich eine immer größere Bedeutung, so explodierte es förmlich unter dem Eindruck der Kriegsniederlage und der Gebietsabtretungen infolge des Versailler Friedensvertrags.56 An allen Ecken und Enden schienen Staat und Nation in ihrem Bestand gefährdet. Angst und Hass als menschliche Grundemotionen bestimmten wesentliche Elemente der politischen Öffentlichkeit. Ein Brennpunkt war die deutsche Westgrenze zu Frankreich und Belgien. In diesen Gebieten herrschte nach Ansicht vieler die »brutale, nackte Gewalt« der Entente.57 Dass die Deutschen hier mit der Kampagne zunächst gegen die sogenannte Schwarze Schmach58 und dann gegen die Ruhrbesetzung eine rassistisch unterlegte, hoch emotionalisierte Kampagne gegen »die französisch-belgischen Räuber und Mörder«, die »eingebrochenen Wüstlinge«, und deren »bestialische Schikanen an allen Orten« entfachten, ist gut bekannt.59

Aber diese Propaganda sattelte auf die bereits entfaltete Grundemotion gegenüber Frankreich auf. Ihr Beginn reicht bis mindestens zu den Befreiungskriegen zurück. Der Hass auf Frankreich, wie ihn Ernst Moritz Arndt in seiner Schrift Über den Volkshaß von 1813 als zwingende Notwendigkeit der deutschen Nationsbildung konstruierte, setzte den Ton der deutschen Gefühlsagenda gegenüber Frankreich.60 Die sich seit 1871 und erst recht im Ersten Weltkrieg verfestigende deutsch-französische »Erbfeindschaft« geriet zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit und sedimentierte sich als Gefühlswissen. Das antifranzösische Gefühl reduzierte die in Wahrheit viel komplexere Wirklichkeit und ermöglichte scheinbar rationale Analysen und Handlungen. Für einen Historiker wie Dietrich Schäfer bildete dieses Gefühlswissen die Basis für sein in das Gewand der Wissenschaftlichkeit gekleidetes, pseudo-objektives Urteil, demzufolge die Franzosen »Deutschland vernichten« wollten.61 In mehr oder minder direkter Anspielung auf Arndt und in völkischer Übersteigerung lautete seine Botschaft: »Haß ist ein integrierender Bestandteil unseres Gefühlslebens und muß es bleiben. […] Es gilt also nicht diesen Haß auszurotten […], es gilt diesen Haß in die vernünftigste, nützlichste und ethisch beste Bahn zu lenken.«62

Im Osten, dem anderen Brennpunkt der deutschen Grenzen, erfolgte 1918/19 ein plötzlicher und als höchst brutal empfundener Umschwung. Im Kaiserreich dominierte hier ebenfalls ein Gefühlswissen, das sich über zumindest ein Jahrhundert hinweg aufgebaut hatte. Seine Quellen hatte es im Bewusstsein der politischen Macht und der kulturellen Überlegenheit gegenüber den slawischen Völkern Ostmitteleuropas. Die politische Vormachtstellung Deutschlands war nach der Kriegsniederlage zerstört. An seiner Stelle entstand eine komplexe Mischung aus Angst, Nationalhass, Verteidigungsbedürfnis und fortbestehendem völkisch-kulturellem Überlegenheitsgefühl. Zusammen mit den territorialen Verlusten führte dies zu einer kompletten Umwälzung der emotionalen Agenda – ein entsprechendes Gefühlswissen musste hier erst geschaffen werden.

Vielfältig waren daher die Bezüge auf die gefühlsmäßige Stärkung der Nation. In dem an die Tschechoslowakei abgetretenen Hultschiner Ländchen etwa vergaß der zurückkehrende Besucher sehr bald, »daß ich eigentlich im Ausland mich befand«. Erneut fühlte er sich als »Sohn der Heimat«, den »die sorgende Mutter« wieder umfing. »Dieses Gefühl des Gebundenseins an die heimatliche Scholle, aus der man letzten Endes Lebenskraft und -mut schöpft, das fühlte sich in mir, als ich am Fenster meines Stübchens stand und den Stimmen der Nacht lauschte.«63 Stärker wissenschaftlich formuliert lautete dieselbe Botschaft in den Worten des Historikers Fritz Kern: »Es bleibt also in der oberschlesischen Katastrophe selbst unmittelbar wenig andere Entschlussfreiheit, als das Gelübde, die Schmach und Kränkung jedem Deutschen so ins Herz zu brennen, dass der Streit neue, zukunftsstarke Lebenskräfte in Gefühl und Willen der Nation erweckt.«64