Gefürchtet - Dean Koontz - E-Book

Gefürchtet E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Als Ex-FBI-Agentin Jane Hawk im Tod ihres Mannes ermittelte, stieß sie auf eine Verschwörung von höchstem Ausmaß: Eine elitäre Gruppe, die Arkadier, haben sich vorgenommen, die USA nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Dazu nutzen sie Nano-Kontrollmechanismen, die ihrem Opfer den freien Willen rauben. Die sogenannten »Angepassten« führen aus, was ihnen gesagt wird - und wenn es der eigene Selbstmord ist. Immer mehr Arkadier fürchten die Enttarnung durch Jane. Je höher sie in deren Ränge vorstößt, desto gefährlicher wird es für sie - und ihren fünfjährigen Sohn Travis. »Der erste Teil einer neuen Serie von Bestsellerautor Dean Koontz ist toller Lesestoff für Freunde von actionreichen, schnellen, leicht futuristischen Thrillern.« FAZ Literaturkalender über Suizid

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Seitenzahl: 640

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HarperCollins®

Copyright © 2020 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH

Copyright © 2018 by Dean Koontz Originaltitel: »The Crooked Staircase« Erschienen bei: Bantam Books, New York Published by arrangement with Penguin Random House LLC, New York

Covergestaltung von Hafen Werbeagentur, Hamburg Coverabbildung von Jacobs Stock Photography Ltd, Stefan Mokrzecki / Getty Images, Mark Owen / Trevillion Images E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959678766

www.harpercollins.de

Widmung

Für Vito und Lynnmit Liebe für all das Lachen

Motto

Abscheuliche leere Masken,

voller Käfer und Spinnen,

dennoch … aus ihren Glasaugen

mit grausig lebendiger Anmutung glotzend.

THOMAS CARLYLE,Sartor Resartus

TEIL EINS

NIRGENDWO SICHER

EINS

Gegen 19 Uhr an jenem Märzabend, während starker Regen zwar ohne Donner, aber laut wie ein Orchester aus Kesselpauken trommelte, verließ Sara Holdsteck endlich ihr Büro bei Paradise Real Estate: ihr Aktenkoffer in der linken Hand, eine offene Umhängetasche über der linken Schulter, ihre rechte Hand frei, damit sie am Oberkörper vorbeigreifen und die Pistole aus der Tasche ziehen konnte. Sie stieg in ihren Ford Explorer, schlug die tropfnasse Kapuze ihres Regenmantels zurück und fuhr durch vertraute Vororte nach Hause – auf Straßen, die das Unwetter in eine Fremdartigkeit, eine apokalyptische Finsternis tauchte, die ganz zu ihrer Stimmung passte. Nicht zum ersten Mal in den letzten zwei Jahren hatte sie das Gefühl, irgendwo vor ihr erodiere die Realität, breche gewissermaßen weg, sodass sie vielleicht bald den abbröckelnden Rand einer Schlucht erreichen würde, an dem nur mehr ein lichtloser, unergründlich tiefer Abgrund vor ihr lag. Silberne Regenlanzen durchbohrten die Dunkelheit mit Geheimnissen und Drohungen. Jedes unbekannte Fahrzeug, das ihr weiter als drei Straßenblocks folgte, erweckte ihr Misstrauen.

Ihre Springfield Armory Champion .45 ACP steckte in der offenen Schultertasche, die auf ihrem Aktenkoffer stand, der leicht erreichbar auf dem Beifahrersitz lag. Ursprünglich hatte sie keine so großkalibrige Waffe gewollt, aber schon bald war ihr klar geworden, dass keine andere einen Angreifer ebenso sicher stoppen würde. Sie hatte viele Stunden auf dem Schießstand verbracht, um zu lernen, wie sich der Rückstoß beherrschen ließ.

Früher hatte sie in einer Tag und Nacht von Sicherheitspersonal bewachten eingezäunten Wohnsiedlung in einer vollständig abbezahlten Villa mit elfhundert Quadratmetern Wohnfläche mit Blick auf den Pazifik gelebt. Jetzt gehörte ihr ein mit einer dicken Hypothek belastetes Haus, das kaum ein Viertel so groß war und in einem Viertel ohne Zaun, ohne Wachleute, ohne Meerblick stand. Sie hatte mit wenig Startkapital angefangen und es bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag als Immobilienmaklerin in Südkalifornien und clevere Investorin zu einem bescheidenen Vermögen gebracht – aber der größte Teil davon war ihr weggenommen worden, bevor sie zweiundvierzig war.

Mit vierundvierzig war sie zwar verbittert, aber doch dankbar dafür, dass sie nicht völlig mittellos zurückgelassen worden war. Nachdem sie’s einmal geschafft hatte, sich bis ganz oben hochzuarbeiten, war ihr eben genug Kapital für einen zweiten Aufstieg durch Fleiß und Können geblieben. Aber diesmal würde sie den Fehler vermeiden, der ihr Ruin gewesen war: Sie würde nicht wieder heiraten.

In ihrer Straße hatte das Unwetter die Gullys überlaufen lassen, sodass in allen Fahrbahnsenken flache Tümpel entstanden waren. Wie ein trügerisches Fabelwesen durchpflügte ihr Explorer sie auf Schwingen aus Wasser. Sara wurde langsamer und bog in ihre Einfahrt ab. Hinter einigen Fenstern brannte Licht, das von einem Smart-House-Programm gesteuert wurde, das nach Einbruch der Dunkelheit und in ihrer Abwesenheit die Illusion von Anwesenheit und Aktivität erzeugte. Sie öffnete das Garagentor mit der Fernsteuerung und nahm ihre Umhängetasche auf den Schoß, während das Sektionaltor in seinen Führungsschienen nach oben rollte. Als sie hineinfuhr, wurde das Trommeln des Regens durch das willkommene elektronische Schrillen der Alarmanlage ersetzt, das ihr ein stärkeres Gefühl von Sicherheit gab, als sie empfunden hatte, seit sie an diesem Morgen ins Büro gefahren war.

Sie stellte den Motor nicht ab, ließ die Türen verriegelt. Mit dem linken Fuß auf der Bremse, während der rechte eben das Gaspedal berührte, stellte sie den Wahlhebel des Automatikgetriebes auf R. Sie schloss mit der Fernbedienung das Garagentor und sah von einem Außenspiegel des SUVs zum anderen, während das breite Sektionaltor nach unten ratterte. Hätte jemand versucht, darunter durchzuschlüpfen, hätten Bewegungsmelder den Eindringling erfasst und als Sicherheitsmaßnahme das Tor wieder hochgefahren. In diesem Fall hätte sie Vollgas gegeben, sobald die Toröffnung hoch genug für den Explorer war, und wäre rückwärts in die Einfahrt, auf die Straße hinausgeschossen.

Mit etwas Glück war sie dabei vielleicht schnell genug, um den Dreckskerl zu überfahren, der sich hinter ihr angeschlichen hatte.

Mit einem dumpfen kleinen Schlag setzte die Abschlussleiste des Tors auf dem Betonboden auf. Sara war in ihrer Garage allein.

Sie drückte den Wahlhebel nach vorn auf P, zog die Handbremse an, stellte den Motor ab und stieg aus. Die letzten Auspuffschwaden wurden bereits abgesaugt. Der Ford ließ Regenwasser auf den Beton tropfen und tickte leise, als sein Motor abkühlte.

Nachdem sie die Verbindungstür ins Haus aufgesperrt hatte, betrat sie den Wirtschaftsraum, blieb vor dem Tastenfeld stehen und gab den vierstelligen Code ein, der die Alarmanlage ausschaltete. Danach stellte sie die Anlage sofort wieder scharf, allerdings im Zuhause-Modus, der nur die Tür- und Fenstersensoren aktivierte, sodass sie sich bei ausgeschalteten internen Bewegungsmeldern im ganzen Haus frei bewegen konnte.

Ihren Regenmantel hängte sie an einen Wandhaken, von dem er auf den gefliesten Boden tropfte. Mit der Umhängetasche über der linken Schulter und ihrem Aktenkoffer in der rechten Hand öffnete sie die innere Tür des Wirtschaftsraums, betrat die Küche und merkte einen Augenblick zu spät, dass es hier nach frisch aufgebrühtem Kaffee duftete.

Eine Unbekannte mit Pistole stand an dem kleinen Esstisch mit einem Becher Kaffee und Saras Exemplar der Los Angeles Times von diesem Morgen mit der fetten Schlagzeile JANE HAWK: ANKLAGE WEGEN SPIONAGE, HOCHVERRAT, MORD. Der Lauf der Waffe war durch einen Schalldämpfer verlängert, dessen Mündung so dunkel und tief wie ein Wurmloch war, das dieses Universum mit irgendeinem anderen verband.

Sara blieb abrupt stehen. Sie war nicht nur schockiert darüber, dass trotz aller Sicherheitsvorkehrungen jemand in ihr Haus eingedrungen war, sondern auch darüber, dass der Eindringling eine Frau war.

Mitte bis Ende zwanzig, mit langen schwarzen Haaren, die in der Mitte gescheitelt und hinter die Ohren gestrichen waren, mit schwarzen Augen, die so unergründlich waren wie die Pistolenmündung, ohne Make-up oder Lippenstift – die auch unnötig waren –, mit einer Brille mit dünnem Silberrahmen, in einem schwarzen Jackett zu weißer Bluse und schwarzen Jeans wirkte sie streng und schön zugleich – und irgendwie überirdisch, als habe der Tod sich ein neues Image verpasst und zeige nun erstmals sein wahres Geschlecht.

»Keine Sorge, ich will Ihnen nichts Böses«, sagte die Unbekannte. »Ich brauche nur ein paar Informationen. Aber zuerst möchte ich, dass Sie Ihre Umhängetasche auf die Arbeitsplatte legen, ohne nach der Waffe darin zu greifen.«

Obwohl Sara ahnte, dass es töricht war, diese Frau täuschen zu wollen, hörte sie sich sagen: »Wer immer Sie sind, ich bin nicht wie Sie. Ich bin nur eine Immobilienmaklerin. Ich habe keine Waffe.«

Die Unbekannte sagte: »Vor knapp zwei Jahren haben Sie eine Springfield Armory Super Tuned Champion mit einem Mikrometervisier von Novak, poliertem Auszieher, Auswerfer und Patronenlager sowie einer Abzugssicherung von King gekauft. Sie haben sie mit einem Abzug im A1-Stil und einem Abzugsgewicht von exakt achtzehnhundert Gramm geordert und die gesamte Waffe abfasen lassen, um alle Ecken und Kanten abzurunden, damit beim Schnellziehen nichts hängen bleibt. Um diese Bestellung aufgeben zu können, müssen Sie ziemlich viel recherchiert haben. Und Sie müssen viele Stunden auf dem Schießstand zugebracht haben, um zu lernen, mit dieser Waffe umzugehen, denn anschließend haben Sie die Erlaubnis, sie verdeckt zu tragen, beantragt und erhalten.«

Sara legte ihre Tasche auf die Arbeitsplatte.

»Den Aktenkoffer auch«, wies die Unbekannte sie an. »Denken Sie nicht mal daran, ihn nach mir zu werfen.«

Während Sara gehorchte, starrte sie unwillkürlich die breite Besteckschublade an, in der französische Kochmesser und ein Fleischerbeil lagen.

»Wenn Sie kein Ass als Messerwerferin sind«, sagte die Unbekannte, »haben Sie keine Chance, sie zu benutzen. Haben Sie nicht gehört, dass ich Ihnen nichts Böses will?«

Sara wandte sich von der Schublade ab. »Ja, ich hab’s gehört. Aber ich glaub’s nicht.«

Die Frau betrachtete sie sekundenlang schweigend, dann sagte sie: »Sind Sie so clever, wie ich denke, werden Sie sich mit mir arrangieren. Sind Sie’s nicht, wird diese Sache unnötig hässlich. Setzen Sie sich an den Tisch.«

»Was ist, wenn ich einfach rausgehe?«

»Dann muss ich Ihnen doch ein bisschen wehtun. Aber daran wären Sie selbst schuld.«

Das Gesicht der Unbekannten – seine markanten Züge, seine klar definierten Linien, seine Raffinesse – war so unverfälscht keltisch wie jedes typische Gesicht in Schottland oder Irland. Aber diese Augen, so schwarz, dass Iris und Pupille ineinander übergingen, schienen zu einem ganz anderen Gesicht zu gehören. Der Kontrast war irgendwie beunruhigend, als könnte das Gesicht eine Maske sein, auf deren Ausdruck kein Verlass war, während die Wahrheit, die sonst in den Augen zu lesen sein konnte, in ihren dunklen Tiefen verborgen blieb.

Obwohl Sara sich geschworen hatte, sich nie mehr von jemandem einschüchtern zu lassen, setzte sie sich nach einem kurzen Blickduell auf den angewiesenen Platz.

ZWEI

In die tropische Stille des Unwetters brach ein stürmischer Wind herein, der Regenschauer an die Fensterscheiben prasseln ließ.

Jane Hawk setzte sich Sara Holdsteck gegenüber und legte ihre Heckler & Koch .45 Compact auf den Küchentisch. Sara wirkte abgekämpft, was nicht überraschend war, wenn man bedachte, was sie in den letzten zwei Jahren mitgemacht hatte. Abgekämpft, aber nicht besiegt. Diesen Zustand kannte Jane aus eigener Erfahrung.

»Ihre Springfield Champion ist eine klasse Waffe, Sara. Aber sie gehört nicht in Ihre Umhängetasche. Ziehen Sie sich anders an. Gewöhnen Sie sich an, ein Jackett zu tragen. Und tragen Sie die Pistole in einem Schulterholster, um sie blitzschnell ziehen zu können.«

»Ich hasse Schusswaffen. Ich hab mich überwinden müssen, um überhaupt eine zu kaufen.«

»Das verstehe ich. Aber tragen Sie in Zukunft trotzdem ein Schulterholster. Und machen Sie sich klar, wie Alarmanlagen wie Ihre hier funktionieren.«

Böiger Wind ließ Regen an die Scheiben prasseln und beunruhigte Sara, die zu den beiden Küchenfenstern hinübersah, als erwarte sie, die Fratze irgendeines Dämons zu sehen, den das Unwetter heraufbeschworen hatte.

Dann konzentrierte sie sich wieder auf Jane und fragte: »Wie meine Alarmanlage funktioniert? Was gibt’s darüber zu wissen?«

»Wussten Sie, dass alle in einer Stadt oder einem Bezirk tätigen Sicherheitsdienste zur Überwachung ihrer Anlagen eine gemeinsame Zentrale benutzen?«

»Ich dachte, jede Firma hätte eine eigene.«

»Irrtum. Und bestimmte staatliche Stellen haben geheime – im Prinzip illegale – Zugänge zu sämtlichen Zentralen im ganzen Land. Wissen Sie, was ich mit ›Geheimzugang‹ meine?«

»Einen Zugang zum Firmencomputer, von dem das Unternehmen nichts weiß.«

»Ich habe einen Hintereingang zu Ihrem Sicherheitsdienst benutzt und mir Ihre Unterlagen angesehen. Ich weiß, wo Ihre Tastenfelder und Bewegungsmelder angebracht sind, welches Passwort Sie benutzen, wenn Sie nach einem Fehlalarm die Zentrale anrufen, und wo die Batterie steht, die bei einem Stromausfall einspringt. Für jeden bösen Kerl nützliche Informationen. Allerdings müsste er noch den vierstelligen Code wissen, mit dem sich die Anlage ausschalten lässt.«

Zwei Wörter bewirkten, dass Sara verspätet die Stirn runzelte. »›Staatliche Stellen‹? Von denen hab ich genug! Bei welcher sind Sie?«

»Bei keiner. Jetzt nicht mehr. Sara, den Abschaltcode dürfte der Sicherheitsdienst nicht haben. Den sollte nur der Hausbesitzer kennen. Sie hätten ihn ohne Zeugen persönlich eingeben sollen. Aber wie vielen Leuten war es Ihnen zu mühsam, nach dem Handbuch vorzugehen, deshalb haben Sie den Techniker, der die Anlage installiert hat, gebeten, den Code für Sie einzugeben. Das hat er getan – und ihn in Ihren Unterlagen vermerkt. Dort habe ich ihn dann gefunden.«

Als drücke das Gewicht ihrer Versäumnisse sie nieder, sank Sara auf ihrem Stuhl etwas tiefer. »Ich lebe schon seit Langem defensiv, aber ich habe nie behauptet, darin perfekt zu sein.«

»Vielleicht müssen Sie besser werden, aber nach Perfektion sollten Sie nicht streben. Nur die Verrückten sind in ihrer Paranoia perfekt.«

»Wenn ich bedenke, wie ich lebe, glaube ich manchmal fast, dass ich schon halb verrückt bin. Ich meine, das Schlimmste ist mir vor zwei Jahren zugestoßen. Seither ist nichts mehr passiert.«

»Aber aus dem Bauch heraus wissen Sie, dass er jederzeit beschließen könnte, Sie als lästige Zeugin zum Schweigen zu bringen.«

Sara sah erneut zu den Fenstern hinüber.

»Möchten Sie die Jalousien herunterlassen?«, fragte Jane.

»Das tue ich immer, wenn ich bei Dunkelheit nach Hause komme.«

»Also gut. Danach setzen Sie sich wieder.«

Nachdem Sara die Jalousien heruntergelassen hatte, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück.

Jane sagte: »Hereingekommen bin ich mit einem elektrischen Dietrich, der eigentlich nur an Polizeien verkauft werden darf. Ich habe die Alarmanlage mit Ihrem Code ausgeschaltet, danach den Zuhause-Modus eingegeben und mich darauf eingerichtet, hier auf Sie zu warten.«

»Den Code ändere ich persönlich. Aber wer sind Sie?«

Statt ihre Frage zu beantworten, sagte Jane: »Sie hatten es geschafft, haben Luxusvillen verkauft, waren verdammt gut darin, hatten nie Reklamationen von Kunden. Dann hatten Sie binnen vierzehn Tagen drei sehr öffentliche Prozesse wegen angeblicher Betrügereien am Hals.«

»Die Vorwürfe waren erfunden.«

»Ja, das weiß ich. Als Nächstes hat die Finanzbehörde eine Betriebsprüfung durchgeführt. Aber das war keine Routineprüfung, sondern Ihnen wurden kriminelle Aktivitäten, genauer gesagt Geldwäsche vorgeworfen.«

Die Erinnerung daran bewirkte, dass Sara sich empört aufsetzte. »Die Betriebsprüfer, die meine Bücher unter die Lupe genommen haben, waren bewaffnet. Als sei ich eine gefährliche Terroristin.«

»Bewaffnete Prüfer sollen ihre Waffen nicht sichtbar tragen.«

»Schon möglich, aber diese haben dafür gesorgt, dass ich wusste, dass sie bewaffnet waren.«

»Um Sie einzuschüchtern.«

Sara kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich ganz auf Janes Gesicht. »Kenne ich Sie? Sind wir uns schon mal begegnet?«

»Darauf kommt’s nicht an, Sara. Wichtig ist nur, dass ich dieselben Leute hasse wie Sie.«

»Wer könnte das sein?«

Jane zog ein Foto von Simon Yegg aus einer Jackentasche und ließ es über den Tisch gleiten, als gebe sie eine Spielkarte.

»Mein Mann«, sagte Sara. »Exmann. Dieser gemeine Scheißkerl. Ich weiß, warum ich ihn hasse, aber warum tun Sie’s?«

»Wegen den Leuten, mit denen er sich umgibt. Ich will ihn dazu benutzen, um an sie heranzukommen. Dabei kann ich dafür sorgen, dass er zutiefst bereut, was er Ihnen angetan hat. Ich kann ihn demütigen.«

DREI

Tanuja Shukla stand bei Nacht und Regen auf dem weitläufigen Rasen vor dem Haus: bis auf die Haut durchnässt und ausgekühlt und einsam und ekstatisch glücklich, als die Auftragskiller eintrafen, obwohl sie natürlich nicht gleich erkannte, dass die Männer welche waren.

Fünfundzwanzig und seit frühester Kindheit obsessiv kreativ hatte Tanuja an einer Novelle gearbeitet, in der eine stürmische Regennacht die Atmosphäre lieferte, aber zugleich als Metapher für Einsamkeit und spirituelle Malaise diente. Nachdem sie den Wolkenbruch vom Fenster ihres Arbeitszimmers im ersten Stock aus beobachtet hatte, hatte sie die Gelegenheit genutzt, in die Naturgewalten einzutauchen, um besser nachempfinden zu können, wie ihrer Romanheldin auf einer langen Wanderung bei Sturm und Regen zumute war. Die meisten anderen Autoren von Romanen mit Fantasy-Elementen hielten solche Recherchen für überflüssig, aber Tanuja fand, ein Skelett aus Wahrheit müsse die Grundstruktur für den von der Autorin hinzugefügten Muskelaufbau – die Fantasy-Elemente- bilden, wobei es darauf ankam, die beiden durch Sehnen aus akkuraten Fakten und gut beobachteten Details miteinander zu verbinden.

Ihr Zwillingsbruder Sanjay, zwei Minuten jünger als Tanuja und weit boshafter, hatte gesagt: »Mach dir keine Sorgen. Stirbst du an Lungenentzündung, schreibe ich deine Story zu Ende, und die letzten Seiten werden die besten sein.«

Tanujas klatschnasse Jeans und ihr schwarzes T-Shirt klebten an ihr wie eine dieser beschwerten Decken, die gegen Angstzustände helfen sollten, aber dann schienen sie sich aufzulösen, sodass sie sich bis auf ihre blauen Sneakers unbekleidet vorkam: nackt im Sturm, einsam und verletzlich, genau wie ihre Romanheldin sich fühlte. Während sie die physischen Details dieses Erlebnisses in Gedanken zur späteren Verwendung im Roman speicherte, fühlte sie sich zufriedener, als sie den ganzen Tag über gewesen war.

Das Ranchhaus stand am Ende einer asphaltierten zweispurigen Stichstraße auf gut einem Hektar Weideland im hügeligen Osten des Orange County, in dem es viel Pferdezucht gab, doch auf diesem Anwesen wurden keine Pferde mehr gezüchtet. Zäune aus weiß gestrichenen Planken, zwischen denen Maschendraht gespannt war, umgaben das Grundstück. Fünfzig bis sechzig Meter westlich des Hauses sicherte ein Tor aus denselben Materialien die lange Zufahrt.

Der Platzregen trommelte auf den Erdboden und erzeugte auf dem Asphalt ein Geräusch wie von unendlich vielen geworfenen Würfeln, während jedes der vielen Tausend steifen ovalen Blätter einer in der Nähe stehenden hundertjährigen Virginia-Eiche eine Zunge war, die dem Wind eine Stimme gab, die als Chor aus Flüsterlauten das Geschrei einer fernen Menge imitierte, wobei alle Einzelgeräusche dazu dienten, das Motorengeräusch eines ankommenden Wagens zu tarnen.

Weil das Haus der Shuklas das letzte Gebäude war, bevor die Stichstraße in einen Wendehammer überging, erweckte das sich aus Süden annähernde Scheinwerferlicht Tanujas Neugier. Sie erwarteten keinen Besuch. Im Dunkel schien das vermeintlich geräuschlose Fahrzeug von aus dem Asphalt aufsteigenden Nebelschwaden getragen zu werden, und seine Scheinwerfer trieben Herden von Schatten vor sich her, die über die Eukalyptusbäume auf der anderen Straßenseite huschten.

Der Wagen hielt am Tor, aber nicht mit dem Kühler zum Haus, sondern quer zur Zufahrt, als solle er die Ausfahrt blockieren.

Als die Türen aufgestoßen wurden, flammte die Innenbeleuchtung auf und definierte die Umrisse eines großen SUVs. Der Fahrer schaltete die Scheinwerfer aus, und als die letzte Tür zugeknallt wurde, war das schwarze Fahrzeug praktisch unsichtbar.

Tanuja hatte so lange in der Sintflut gestanden, dass ihre Augen völlig an die Dunkelheit angepasst waren. Weil das Plankentor weiß gestrichen war, konnte sie es sogar aus der Ferne sehen – nicht exakt als Tor, sondern als ein blasses, kryptisches Symbol, eine in der Nacht schwebende rätselhafte Hieroglyphe. Und sie erkannte drei Gestalten, die über dieses Hindernis kletterten.

Neben dem Tor war auf einer Betonsäule eine Gegensprechanlage montiert. Besucher sollten dort klingeln und sich anmelden, damit das Tor vom Haus aus elektronisch geöffnet werden konnte. Dass diese Neuankömmlinge die Gegensprechanlage ignorierten und stattdessen übers Tor kletterten, suggerierte, dass sie keine Besucher, sondern Eindringlinge waren, die Unfug oder Schlimmeres im Sinn hatten.

In ihrer dunklen Kleidung, mit ihrem schwarzen Haar und ihrem dunklen Maid-of-Mumbai-Teint würde Tanuja schwer zu entdecken sein, solange sie außerhalb des Lichts blieb, das aus dem Haus ins Freie fiel. Sie wandte sich ab und flitzte zu der riesigen Eiche hinüber, die den Regen sammelte und über ihre Laubstockwerke abfließen ließ, bis er in hundert Bächen zur Erde plätscherte.

Sie blieb kurz stehen und sah sich um und beobachtete die drei großen Männer, die in Richtung Haustür hasteten, wobei ihre Kapuzenpullis und ihr energischer Schritt ihnen das Aussehen satanischer Mönche verliehen, die mit irgendeinem teuflischen Auftrag unterwegs waren.

Ihr Leben war bisher nie hochdramatisch gewesen, wenn man von den Szenarien absah, die in ihrem Kopf entstanden und Ausdruck in ihren Romanen fanden. Sie hatte noch nie solches Herzklopfen gehabt wie dieses, das jetzt ihren ganzen Körper erzittern ließ, als befänden sich Hammer und Amboss in ihrer Brust.

Tanuja spurtete von der Eiche weg und um die Südseite des Hauses herum, wobei sie darauf achtete, außerhalb des Lichtscheins aus den Fenstern zu bleiben. Auf die Terrasse hinter dem Haus. Hier gab es zwei Türen. Die erste führte in die Küche, die zweite in den Schmutzraum für Gummistiefel und Regenjacken, aber natürlich waren beide abgesperrt.

Sie zog ihren Schlüssel aus der Tasche, ließ ihn fallen, griff ihn mit zitternden Fingern vom Boden und sperrte den Raum auf, in dem sie ihr Smartphone zurückgelassen hatte, bevor sie sich ins Unwetter hinausgewagt hatte. Sportlich schlank, wie sie war, bewegte Tanuja sich gewöhnlich elegant wie eine Tänzerin. Aber jetzt rutschte sie von Regenwasser triefend auf den Vinylfliesen aus und stürzte.

Die linke Tür verband den Schmutzraum mit der Küche, während die Tür geradeaus vor ihr in die Diele im Erdgeschoss führte. Sie rappelte sich auf, wobei ihre durchnässten Sneakers wie auf Eis rutschten, öffnete die Tür zur Diele und sah Sanjay. Er war aus seinem Arbeitszimmer gekommen, hatte die Diele durchquert, um in den kleinen Vorraum zu gelangen, und öffnete eben die Haustür.

Weil Tanuja zu spät kam, um noch eine Warnung rufen zu können, konnte sie nur hoffen, dass sie die Situation falsch gedeutet, dass ihre überaktive Fantasie ihr eine Gefahr vorgegaukelt hatte, die nicht wirklich existierte.

Den ersten Mann an der Haustür kannte sie: Lincoln Crossley, ein Deputy Sheriff, der zwei Häuser südlich von ihnen wohnte. Verheiratet war Linc mit Kendra, die Vollzugsbeamtin bei Gericht war. Die beiden hatten einen 16-jährigen Sohn namens Jeff und einen Labrador, der Gustav hieß. Sie waren gute Leute, sodass Tanuja einen Augenblick lang erleichtert aufatmete.

Aber statt abzuwarten, bis sie hereingebeten wurden, schoben Crossley und die beiden Männer hinter ihm Sanjay beunruhigend grob zurück und drängten ins Haus, sobald die Tür aufging. Keiner von ihnen trug Uniform, und unabhängig davon, was die beiden Fremden sein mochten, gehörte Crossleys Benehmen sich nicht für einen Polizeibeamten.

Tanuja konnte nicht verstehen, was Linc Crossley sagte oder was Sanjay antwortete, aber sie hörte den Deputy laut ihren Namen sagen. Sie schloss die Tür des Schmutzraums fast ganz, beobachtete die Szene durch den schmalen Spalt und kam sich wie ein Kind vor, wie ein ahnungsloses kleines Mädchen, das zufällig Zeugin einer rätselhaften, beunruhigenden Konfrontation von Erwachsenen wird.

Crossley legte Sanjay einen Arm um die Schultern, aber Tanuja sah darin etwas Bedrohliches, nicht nachbarschaftliche Freundlichkeit. Er war viel größer als Sanjay.

Einer von Crossleys Begleitern zog eine Pistole, durchquerte rasch die Diele und lief die Treppe hinauf, ohne sich groß darum zu kümmern, dass seine regennassen Stiefel und sein Kapuzenpulli Wasserspuren auf Teppich und Hartholzboden zurückließen.

Als der dritte Mann die Haustür hinter sich schloss, durch die Diele ging und im Wohnzimmer verschwand, als führe er eine Hausdurchsuchung durch, zog Tanuja im Schmutzraum ein Schubfach auf, nahm eine Stablampe heraus, schnappte sich ihr Smartphone von der Ablage neben der Tür und flüchtete. Sie überquerte die Terrasse, setzte mit einer Flanke über die Brüstung und rannte durch Wind und Regen in den Garten hinaus, ohne sich schon zu trauen, die Stablampe einzuschalten. Ihre lebhafte Fantasie malte ihr Gewaltexzesse und Vergewaltigungen und unerträgliche Erniedrigungen aus, während sie ihr zugleich verzweifelte Szenen vorstellte, in denen es ihr durch alle möglichen Mittel gelang, ihren Bruder und sich selbst zu retten.

VIER

Lange aufgestaute Ressentiments bewirkten, dass Sara Holdsteck mit zusammengekniffenen Lippen und rosa angehauchten Wangen sprach, während die Knöchel ihrer zu Fäusten geballten Hände weiß hervortraten, als sie berichtete, was sie vor über zwei Jahren durchgemacht hatte, als sie in einer einzigen Woche gleich von drei Kunden verklagt worden war, was sich allerdings als der harmloseste Anschlag auf sie erwiesen hatte. Weil ihr Schmerz und ihre Empörung darüber, betrogen und zum Narren gehalten worden zu sein, auch im Lauf der Jahre kaum abgeklungen waren, fand Jane es schmerzlich, sie dabei zu beobachten.

Saras Anwältin Mary Wyatt, der sie seit fünfzehn Jahren vertraute, hatte ihr versichert, die eingereichten Klagen seien substanzlos und ließen sogar auf eine konzertierte Aktion der Kläger mit dem Ziel, sie herabzuwürdigen, schließen, sodass sie sich keine unnötigen Sorgen machen solle. Drei Tage später legte Mary ohne Erklärung ihr Mandat nieder und war telefonisch nicht mehr für sie erreichbar. Ein neuer Rechtsanwalt übernahm ihre Vertretung – und überlegte sich die Sache am folgenden Tag anders. Während ein dritter Anwalt ihr zu einem Vergleich mit den Klägern riet, stand ihr Apartmentgebäude mit sechs Wohnungen plötzlich auf einer EPA-Liste von Bauten auf kontaminierten Grundstücken, und nur drei Tage später forderte die Gesundheitsbehörde sie auf, sich zu etwaigen Gesundheitsrisiken für ihre Mieter zu erklären. Zu diesem Zeitpunkt lief bei ihrer Buchhaltungsfirma schon seit sechs Tagen eine Steuerprüfung wegen des Verdachts auf Geldwäsche.

Jetzt tippte Sara mit dem Zeigefinger auf das vor ihr liegende Foto von Simon Yegg. »Das Ganze ist an einem Freitagabend passiert. Das feige Schwein hat ein ›Komm-zu-Jesus‹-Treffen mit mir veranstaltet. Er hat gesagt, meine Probleme seien das Werk von Freunden, die er nicht nennen wolle. Der Dreckskerl wollte eine Scheidung. Und er hat mir in Bezug auf die Vermögensaufteilung ein Ultimatum gestellt. Er würde alles behalten, was er vor kaum eineinhalb Jahren mit in die Ehe gebracht hatte, siebzig Prozent meiner Vermögenswerte mitnehmen und mir großzügig dreißig Prozent als Startkapital für einen Neuanfang lassen. Als Gegenleistung würde er dafür sorgen, dass die Klagen zurückgenommen, die Betriebsprüfung zu meinen Gunsten abgeschlossen und das Apartmentgebäude von der Liste belasteter Gebäude gestrichen würden.«

»Haben Sie ihm geglaubt, dass er das alles könnte?«, fragte Jane.

»Dieses ganze Erlebnis war so bizarr, surreal. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Wie er sich verändert hatte, war geradezu schockierend. Er war immer so freundlich, so … liebevoll gewesen. Plötzlich war er herablassend, grausam, voller Verachtung für mich. Ich habe ihn aufgefordert, sich zum Teufel zu scheren. Ich habe betont, dies sei vor unserer Ehe mein Haus gewesen und werde immer meines bleiben.«

»Aber was hat Sie dazu gebracht, doch nachzugeben?«

Sara sah von einer heruntergelassenen Jalousie zur anderen hinüber – nicht weil etwas von der Nacht zu sehen gewesen wäre, sondern vielleicht, weil es ihr peinlich war, Janes Blick zu begegnen.

»Ich wusste nicht, dass er drei Leute mitgebracht hatte. Sie sind aus der Garage reingekommen. Zwei Männer und eine Frau. Er hat mich ihnen ausgeliefert, dann ist er gegangen.«

»Er hat Sie ihnen ›ausgeliefert‹?«

Sara streckte die Finger und betrachtete dann ihre Hände, als schrecke sie vor Schmutz zurück, den nur sie sehen konnte. »Die Männer haben mich festgehalten.«

Nach kurzem Schweigen sagte Jane: »Vergewaltigung.«

»Nein. Sie haben mich nackt ausgezogen. Mir die Hände gefesselt. Gleichgültig. Als betrachteten sie mich nicht als eine Frau. Nicht als einen Menschen. Nur als eine Sache.«

Sie sprach jetzt ausdruckslos, bar jeglicher Emotionen, als habe sie diese Erinnerung schon so häufig analysiert, dass sie ihre scharfen Kanten und die Fähigkeit, sie zu verletzen, eingebüßt hatte. Wie sehr sie tatsächlich nachwirkte, zeigten jedoch ihre blassen Lippen, die hektisch roten Wangen und ihr sichtbar angespannter Körper, als mache sie sich auf harte Schläge gefasst.

»Sie haben mich ins Bad geschleppt«, fuhr sie mit fast unheimlich körperloser Stimme fort, die sich von den geschilderten Grausamkeiten distanzierte. »Die Frau hatte die Wanne mit kaltem Wasser gefüllt. Und mit Eis. Mit Eiswürfeln aus dem Eismacher in der Küche. Mit Unmengen von Eis. Sie haben mich gezwungen, mich in die Wanne zu setzen.«

»Hypothermie ist eine wirksame Foltermethode«, sagte Jane. »Die Iraner benutzen sie. Nordkoreaner. Kubaner. Sie wollen das Opfer nicht entstellen.«

»Ein Mann hat sich aufs WC gesetzt. Der andere hat sich einen Stuhl geholt. Die Frau hat auf dem Wannenrand gesessen. Sie haben über Kino, Fernsehen, Sport geredet, als sei ich überhaupt nicht da. Wollte ich etwas sagen, haben sie mir einen Elektroschocker ins Genick gedrückt und meinen Kopf dann an den Haaren aus dem Wasser gehalten, bis die Krämpfe aufgehört hatten.«

»Wie lange mussten Sie das aushalten?«

»Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Aber es ist nicht bei diesem einen Mal geblieben. Sie haben mich übers Wochenende mehrmals in die Wanne gesetzt.«

Jane zählte einige Symptome von Unterkühlung auf: »Unkontrollierbares Zittern, Verwirrtheit, Schwäche, Schwindel, undeutliches Sprechen.«

»Kälte ist ein ganz spezieller Schmerz«, sagte Sara. Als sie mit geschlossenen Augen den Kopf senkte, hätte man sie für eine Betende halten können, wenn ihre Hände nicht wieder zu Fäusten verkrampft gewesen wären.

Jane wartete geduldig schweigend, Sara in kaltem, gedemütigtem Schweigen, bis Jane sagte: »Dabei ist’s nicht nur um Schmerz gegangen. Natürlich sollten Sie sich elend fühlen. Und Angst haben. Aber der Hauptzweck war Ihre Demütigung. Damit Sie sich hilflos, ausgeliefert fühlten – und beschämt, um Ihren Willen zu brechen.«

Als Sara endlich sprach, zitterte ihre Stimme, als setze der nadelspitze Schmerz von damals ihr wieder zu. »Die Männer … wenn sie mussten …«

Jane ersparte es ihr, den Satz zu Ende bringen zu müssen. »Dann haben sie in die Badewanne uriniert.«

Nun hob Sara den Kopf und begegnete ihrem Blick. »Ich hätte mir so was nie vorstellen können, dass man einen Menschen mit solcher Verachtung behandelt.«

»Weil Sie nie mit solchen Typen zu tun gehabt hatten. Ich schon.«

Das Zittern in Saras Stimme veränderte sich: Es kam nicht mehr von Erinnerungen an Unterkühlung oder Demütigung, sondern von virulentem gerechtem Zorn. »Tun Sie Simon an, was diese drei mir angetan haben?«

»So arbeite ich nicht, Sara.«

»Er hätte’s verdient!«

»Er hat Schlimmeres verdient.«

»Ruinieren Sie ihn?«

»Wahrscheinlich.«

»Nehmen Sie ihm sein Geld weg?«

»Zumindest teilweise.«

»Legen Sie ihn um?«

»Zwinge ich ihn dazu, mir zu erzählen, was ich wissen muss, dürften andere Leute ihn als Verräter liquidieren.«

Sara dachte über diese Aussichten nach. »Worum geht es hier überhaupt?«

»Das wollen Sie lieber nicht wissen. Aber wenn Sie Ihre Selbstachtung zurückgewinnen, ganz zurückgewinnen wollen, müssen Sie mir helfen.«

Draußen tobte stürmisches Regenwetter. In Sara Holdstecks Kopf andere, aber ebenso heftige Turbulenzen.

Dann fragte sie: »Okay, was wollen Sie wissen?«

FÜNF

Tanuja Shukla, von Angst gegeißelt, aber von Pflichtbewusstsein angetrieben, weil sie ihrem Bruder nicht weniger als alles verdankte, rannte durch den dunklen Stall, in dem seit Jahren keine Pferde mehr standen, und schirmte die Stablampe mit der linken Hand ab, obwohl die Entfernung und das Unwetter es wenig wahrscheinlich machten, dass einer der Männer bei einem Blick aus dem Fenster den schwachen Lichtschein entdecken würde … Regen prasselte aufs Dach wie die Stiefel marschierender Legionen, und in den Erdgeruch des von Hufen festgetrampelten Bodens mischte sich der süßliche Modergeruch von altem Stroh, das in den Ecken leerer Pferdeboxen verrottete …

In der ehemaligen Sattelkammer, in der früher Sättel und Zaumzeug gehangen hatten, standen jetzt ein Aufsitzrasenmäher, ein Schubkarren und alle möglichen Gartengeräte. Eine langstielige Axt hätte als Waffe dienen können, aber sie hätte nicht ausgereicht, um einem zierlichen Mädchen zu ermöglichen, drei kräftige Männer zu vertreiben oder niederzustrecken, selbst wenn Tanuja die Nerven für solche Gewalt gehabt hätte, die sie nicht besaß.

Weil die Sattelkammer fensterlos war, brauchte sie die Stablampe nicht länger abzuschirmen. Sie ließ den Lichtstrahl rasch über Düngersäcke, Terrakottakübel in allen Größen und Redwood-Stäbe für Tomaten gleiten, bis er auf mehrere Sprühdosen mit Spectracide Wasp & Hornet Killer fiel …

Tanuja nahm eine Sprühdose mit Hornissenkiller aus dem Regal. Zog die Sicherungskappe ab. Die Dose war etwa fünfundzwanzig Zentimeter hoch. Wog ungefähr eineinhalb Pfund. Sie enthielt eine Menge Gift.

Ein böiger Wind verlieh dem Regen komplexe Rhythmen, als Tanuja zu der offenen Stalltür zurückhastete, wo sie die Stablampe ausschaltete und auf dem Boden abstellte.

Obwohl sie als Hindu geboren war, hatte sie den Glauben ihrer Eltern seit ihrem zehnten Lebensjahr nicht mehr praktiziert – seit die beiden beim Absturz einer Boeing 747 auf dem Flug von New Delhi nach London umgekommen waren. Trotzdem richtete sie jetzt ein Stoßgebet an die Göttin Bhawani, die den gütigen Aspekt der furchtbaren Kali darstellte: Bhawani, die alles Gebärende, zugleich die Spenderin aller Glückseligkeit. Schenke mir Kraft und lass mich siegen!

Sie stürmte in den kalten Regen hinaus und schüttelte die Spectracide-Dose kräftig, während sie zum Haus hinüberlief, in dem Sanjay vielleicht in Lebensgefahr schwebte. Ihr Zwillingsbruder hatte das Licht dieser bösen Welt kurz nach ihr erblickt, deshalb musste sie stets seine Rakschak – seine Beschützerin – sein.

SECHS

Eine Vase aus Kristallglas wie die Kristallkugel einer Zigeunerin, die aber die jetzige Gefahr nicht vorhergesagt hatte, schien voller aufgeblühter Rosen, deren abfallende Blütenblätter unheilverkündend wie Blutstropfen wirkten, auf dem halb durchsichtigen Glastisch zu schweben.

Sanjay Shukla, der unter Androhung von Waffengewalt am Küchentisch saß, empfand eine Mischung aus Angst und Aufregung. Er besaß genügend Eigenwahrnehmung, um darüber zu staunen, dass seine Angst selbst unter solch schlimmen Umständen mit gewissem Entzücken durchwoben war.

Was seine Schwester schrieb, ließ sich am besten als magischer Realismus charakterisieren, und ihr letzter, erst vor drei Wochen erschienener Roman war fast einhellig gelobt worden. Auch Sanjay galt als vielversprechender Autor, weil er Literatur durch bestimmte Elemente knallharter Thriller anzureichern versuchte. Manchmal fürchtete er, nicht genug von den Gefahren und der Brutalität der Welt mitbekommen zu haben, um schwarze Romane so wirkungsvoll schreiben zu können, wie er sich wünschte. Gewiss, seine Eltern waren bei einem Terroranschlag auf ein Verkehrsflugzeug gestorben. Ja, seine Tante Ashima Chatterjee und ihr Mann Burt hatten als Vormunde der Geschwister Shukla zwei Drittel ihres Erbes unterschlagen, bis ihre Nichte und ihr Neffe vor Gericht erstritten hatten, mit siebzehn für volljährig erklärt zu werden. Aber nichts davon wäre schlimm genug für einen guten Film noir mit Robert Mitchum gewesen; daher wünschte Sanjay sich oft, er hätte prägendere Erfahrungen mit Angst und Gewalt gemacht.

Nun saß er hier und starrte in die Mündung der Pistole eines Nachbarn, der ihm stets so ehrlich und aufrichtig wie Captain America erschienen war. Ein zweiter, unbekannter Bewaffneter stand in der Nähe der Tür zum Schmutzraum. Ein dritter Mann mit dicken schwarzen Raupen als Augenbrauen stellte eine kleine Kühlbox auf den Tisch und entnahm ihr eine steril verpackte Injektionsspritze und eine fast würfelförmige Edelstahlkassette mit zwanzig Zentimetern Seitenlänge. Die Kassette nahm er mit weißen Baumwollhandschuhen heraus, als sei sie so kalt, dass die Haut seiner Finger am Metall festkleben könnte.

Sanjay fand die Pistole weniger beunruhigend als die Injektionsspritze. Die von der Waffe ausgehende Bedrohung lag auf der Hand, aber die Nadel brachte etwas Unwägbares ins Spiel. Sie ließ ihn an Krankheit, an Seuchen denken. Er war nicht krank, und selbst wenn er’s gewesen wäre, waren diese Männer nicht hier, um ihn zu heilen. Folglich waren sie vielleicht gekommen, um ihn mit etwas zu infizieren.

Das ergab keinen Sinn, aber Menschen machten vieles, was keinen Sinn ergab.

Sanjay dachte an ein Wahrheitsserum, an Filmszenen von Verhören, aber auch das ergab keinen Sinn, weil er keine wertvollen Informationen besaß, die er irgendwem vorenthalten konnte.

Er hatte sie gefragt, was sie wollten, was sie machten, was dies alles bedeutete, aber sie hatten seine Fragen ignoriert, obwohl er ihre beantwortet hatte. Vielleicht errieten sie, dass er nicht wahrheitsgemäß antwortete, denn sie quittierten seine Fragen nur mit Schweigen. Er hatte ihnen erzählt, Tanuja sei mit ihrem Freund ausgegangen, und er wisse nicht, wann sie zurückkommen werde. Sanjay konnte nur hoffen, dass seine Schwester, die im Augenblick keinen Freund hatte, die auf der exzentrischen Suche nach realen Erfahrungen, die sie in ihren Romanen verarbeiten konnte, irgendwo draußen im Regen gestanden hatte, die Ankunft dieser Männer beobachtet, ihre bösen Absichten erkannt hatte und weggelaufen war, um Hilfe zu holen.

Weil ein ständiger erregter Monolog den Eindruck erwecken musste, er sei verzweifelt auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, quittierte Sanjay ihr Schweigen mit Schweigen und sank scheinbar hoffnungslos auf seinem Stuhl zusammen – bloß ein magerer indischer Junge mit einem Paar Golis in Erbsengröße, falls er überhaupt Golis zwischen den Beinen hatte. Je sicherer sie glaubten, er habe sich in sein Schicksal ergeben, desto eher konnte er überraschend flüchten.

Der Mann mit den Handschuhen öffnete die Metallkassette, aus der leichter farbloser Nebel aufstieg, als sei der Inhalt in Trockeneis eingepackt, das bei Kontakt mit der Umgebungsluft zu verdunsten begann.

Waren die Pistolen und die Injektionsspritze schon beängstigend, war das kollektive Auftreten der drei Eindringlinge noch einschüchternder: ihre demonstrative Autorität, mit der sie ins Haus eingedrungen waren und Sanjay in die Küche gestoßen und ihn auf einen Stuhl gedrückt und die Rosenschale weggeschoben hatten, dass Wasser auf den Glastisch spritzte; das arrogante Schweigen, mit dem sie seine Fragen und Proteste quittierten; ihre ausdruckslosen Gesichter und ihre direkten, mitleidlosen Blicke, als dächten sie, er gehöre einer anderen –minderen – Spezies als sie selbst an. Auch Linc Crossley war anders als sonst, schien seinen Humor verloren zu haben, und alle drei hatten etwas Maschinenartiges an sich.

Die Metallkassette enthielt zahlreiche mit silbrigem Isoliermaterial umhüllte Röhrchen, die bei fünfzehn Zentimetern Länge etwa zweieinhalb Zentimeter Durchmesser hatten. Als der behandschuhte Mann drei davon herausnahm und auf den Glastisch legte, führte sein Stirnrunzeln die raupenförmigen Augenbrauen zu widerstrebender Konjugation zusammen.

Crossley legte seine Pistole auf die Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank und zog aus der Innentasche seiner Jacke einen dünnen Gummischlauch, wie ihn Phlebologen als Abschnürbinde verwendeten, um die Armvene eines Patienten, dem Blut abgenommen werden sollte, leichter finden zu können.

Die ruhigen Bewegungen der schweigsamen, ernsten Männer, die Schauspielern glichen, die keine Unterhaltung bieten, sondern irgendeine Wahrheit mit schrecklichen Konsequenzen übermitteln sollten … Der rasiermesserscharfe Lichtblitz von den Kanten der Stahlkassette, als sie zugedrückt wurde … Ein paar letzte Nebelfäden von dem verdampfenden Eis, so ephemerisch wie die Geheimnisse Verstorbener, die aus den Kehlen erwürgter Geister kamen … Mit jedem Augenblick wurde die Szene traumähnlicher, während sie zugleich in allen Einzelheiten hyperreal blieb.

Die Pistole auf der Arbeitsplatte schien eine Möglichkeit zu sein. Passte Sanjay den richtigen Augenblick ab, in dem die Männer abgelenkt waren, warf er sich auf seinem Stuhl nach rechts, sprang auf und bewegte sich schnell, konnte er die Waffe bestimmt vor dem Deputy erreichen, obwohl natürlich zu bedenken war, dass Linc eine Polizeiausbildung hatte.

Als Nächstes zog Crossley eine kleine Folienpackung aus der Tasche, die vielleicht ein mit Alkohol getränktes Mullkissen zur Desinfektion der Einstichstelle enthielt.

Sanjays Aufmerksamkeit galt jetzt wieder den drei silbernen Röhren. Als Raupenmann den Klettverschluss der ersten aufriss, glitt eine Glasampulle mit einer trüben bernsteingelben Flüssigkeit in seine Hand.

Der Spinnenfaden aus Entzücken, mit dem Sanjays Angst durchwebt gewesen war, hatte sich verflüchtigt. In den letzten Minuten hatte er genug Gefahr und Gewalt erlebt, um für den Rest seiner Karriere inspiriert zu sein – falls er lange genug lebte, um eine zu haben.

Als Raupenmann die Membran der Ampulle mit der Nadel durchstieß und die bernsteingelbe Flüssigkeit aufzog, steckte der Mann an der Tür zum Schmutzraum seine Pistole weg und trat auf Sanjay zu, vermutlich um ihn notfalls festzuhalten. Er gähnte, als sei diese Arbeit solche Routine für ihn, dass sie ihn langweilte.

Einen Augenblick lang schien ein dicker glitzernder Strahl einer ätzenden Flüssigkeit aus seinem Mund zu schießen. Als Sanjay, der den Geruch erkannte, den Kopf zur Seite drehte, konnte er den Strahl zu seinem Ursprung verfolgen.

Nur einen Meter sechzig groß, kaum fünfzig Kilo schwer und bestimmt durchgefroren wirkte Tanuja wie eine Rachegöttin, als sie gleich einer Manifestation von Kali, der Göttin von Tod und Verderben, jedoch ohne Kalis sechzehn Arme mit einer Dose Spectracide auf Armeslänge vor sich gehalten aus der Diele hereinstürmte. Der unter hohem Druck stehende Behälter versprühte keinen Nebel, sondern einen massiven Strahl, der fünf, sechs Meter weit reichte.

Durch eine Ironie des Schicksals hatte Linc Crossley einmal erwähnt, dass Hornissenspray und Bärenschutzmittel effektive Waffen zur Verteidigung des eigenen Heims waren.

Der erste Mann, der von dem Insektizid würgen musste und wegen der giftigen Dämpfe keine Luft mehr bekam, stolperte auf den Ausguss zu. Anscheinend wollte er sich den Mund ausspülen, was alles nur schlimmer machen würde.

Graziös wie eine Tänzerin wandte Tanuja sich Lincoln Crossley zu, der nach seiner Pistole auf der Arbeitsfläche griff, und drückte wieder auf den Sprühkopf. Aus kaum zweieinhalb Metern Entfernung klatschte der kräftige Strahl ihm in Nase und Augen, machte ihn vorübergehend blind und ließ ihn noch lauter keuchen als ihre erste Zielperson.

Der Mann in den weißen Handschuhen ließ fluchend die Ampulle mitsamt der Spritze fallen. Sanjay glitt von seinem Stuhl und kroch auf allen Vieren unter dem Tisch hindurch, um aus der Schusslinie zu kommen.

Nun torkelten alle drei hustend und würgend und Schmerzenslaute ausstoßend umher und kollidierten mit Möbelstücken und einander.

Sanjay, der Stahlrohrstühle wegschob, um unter dem Tisch hervorzukommen, hörte seine Schwester seinen Namen rufen. Er sah sie an der Tür, die aus der Küche in die Garage führte, und im nächsten Augenblick fielen Schüsse. Die Glastür der Mikrowelle zersplitterte. Das nächste Geschoss prallte vom Kühlschrank ab und surrte als Querschläger davon. Die Tür eines Hängeschranks wurde durchlöchert, und das Porzellan dahinter zersplitterte klirrend.

Wenn Linc Crossley nicht durch Tränen und von dem über sein Gesicht strömenden Insektengift geblendet war, musste er eine Welt sehen, in der alles bis zur Unkenntlichkeit verschwamm. Er holte rau keuchend Luft, atmete explosiv aus, weil jeder Atemzug mehr Insektizid als reine Luft enthielt, und schwankte im Stehen, als würden seine Knie weich. Trotzdem hielt er weiter seine Dienstwaffe umklammert und schoss auf Phantome, die seine brennenden, blutunterlaufenen Augen ihm vorgaukelten.

Sanjay, der mit verzweifelter Hast weiterkroch, machte einen Bogen um den behandschuhten Eindringling, der sich auf der Seite liegend erbrochen hatte. Als der Mann jetzt mit beiden Händen seinen Magen umfasste, hatte er Schaum vor dem Mund, als sei er tollwütig.

Der Kerl, der an der Schmutzraumtür gestanden, eine volle Dosis Hornissenspray in den Mund bekommen und unwillkürlich geschluckt hatte, lag auf dem Rücken ausgestreckt und krallte so verzweifelt nach seinem Hals, dass seine Fingernägel blutige Spuren hinterließen – vielleicht weil er keine Luft bekam, vielleicht weil er vergiftet war und im Sterben lag. Neben ihm lag ein Smartphone, das ihm bei seinem Sturz aus der Tasche gerutscht sein musste.

Obwohl Sanjay es verdammt eilig hatte, aus der Küche und damit der ziellosen Ballerei des Geblendeten zu entkommen, besaß er die Geistesgegenwart, sich auf seinem Weg zu der offenen Tür, durch die Tanuja verschwunden war, das Smartphone zu schnappen.

Als Sanjay auf seinem Zickzackkurs den Hauswirtschaftsraum erreichte, in dem seine Schwester die Spraydose abgestellt hatte und an der Tür zur Garage wartete, richtete er sich auf. Dann hörte er, wie er sie trotz seiner Angst mit einem Lob bedachte, das aus dem Mund ihres Vaters hätte kommen können: »Shabash!«, auf Hindi: »Gut gemacht!« Während er Tanuja in die Garage folgte, schaltete er das Handy ein und sagte: »Ich rufe die Neun-eins-eins an.«

»Scheiß drauf«, sagte sie. »Wir hauen ab.«

SIEBEN

Jane, die nun zuversichtlich war, dass der Becher nicht nach ihr geworfen werden würde, goss einen zweiten Kaffee ein und stellte ihn Sara Holdsteck hin. Aromatischer Dampf schlängelte sich in dünnen Fäden in die Höhe.

Während sie sich selbst nachschenkte, sagte sie: »Auch wenn Sie sich bereit erklärt haben, mir zu helfen, müssen Sie erst mehr hören.«

»Das muss bedeuten, dass … meine Lage noch schlimmer ist, als ich denke.«

»Simon hat Ihnen nie erzählt, dass er schon dreimal verheiratet war?«

Sara war kurz überrascht – dann jedoch nicht mehr. »Er hat behauptet, er habe sich geschworen, Junggeselle zu bleiben. Aber mit mir wollte er ewig zusammenbleiben.«

»Seine dritte Frau sagt, dass er eine sehr überzeugende Art hat.«

»Ja. Und ein Herz aus Eisen.«

Jane stellte die Glaskanne auf die Warmhalteplatte zurück. »Seine Frauen scheint er nach zwei Aspekten auszusuchen. Erstens sind sie einander ähnlich. Schlank, brünett, blaue Augen, nicht über eins siebzig groß.«

»Und die andere Qualifikation?«

»Geld, das sie geerbt oder – wie in Ihrem Fall – selbst verdient haben. Kein riesiges, aber doch ein ansehnliches Vermögen. Drei andere Frauen mit vier verschiedenen Scheidungsanwälten. Trotzdem wollten sie alle keinen Cent von Simon, sondern haben ihm stattdessen fünfzig bis siebzig Prozent ihrer Vermögenswerte übertragen.«

»Nachdem sie durch eigene Höllen gegangen sind.«

Jane, die sich wieder hingesetzt hatte, sagte: »Durch ziemlich ähnliche Höllen. Leute haben sie verklagt, alle möglichen Bundesbehörden waren plötzlich hinter ihnen her, und auf dem Höhepunkt des Chaos … Eiswasserbäder oder dergleichen und gezielte Demütigungen.«

»Und alle sind eingeknickt wie ich«, vermutete Sara, aber das klang nicht so, als sei die Schwäche der anderen Frauen eine Art Entschuldigung für sie, sondern als empfinde sie die Nachricht von Simons wiederholten Triumphen als deprimierend.

»Sie können von Glück sagen, dass Sie so klug waren, seine Forderungen gleich nach dem ersten Folterwochenende zu erfüllen. Außerdem hätten Sie ihn alternativ nur umlegen können.«

»Ich wollte, ich hätte’s getan! Aber damals war ich noch eine andere Frau. So furchtsam.«

»Nicht furchtsam«, sagte Jane. »Naiv. Seine dritte Frau hat acht Tage lang durchgehalten. Eiswasserbäder, Foltersitzungen in einer überhitzten Sauna, Schlafentzug … und dann die brutalen Vergewaltigungen, denen Sie entgangen sind, jeweils drei Männer, aber immer wieder andere. Daran ist sie zerbrochen. Heute lebt sie von dem, was er ihr gnadenhalber gelassen hat. Sie leidet unter Panikattacken, fürchtet sich so sehr vor der Außenwelt, dass sie ihren kleinen Bungalow nie verlässt.«

Als Sara einen Schluck Kaffee nahm, klapperte der Becher an ihren Zähnen.

»Welche Misshandlungen die beiden anderen Frauen erdulden mussten, weiß ich nicht«, fuhr Jane fort, »aber Simon hätte schon das Geld seiner ersten Frau nicht gebraucht. Er war bereits ein erfolgreicher Unternehmer, dessen Firma vor allem wegen seiner Verbindungen zu Leuten in Machtpositionen hohe Gewinne abgeworfen hat.«

Sara umfasste den warmen Becher mit beiden Händen, schloss die Augen und schien auf den Regen zu horchen, der an die Fenster trommelte, aber vielleicht hörte sie eine Stimme aus der Vergangenheit, die höhnische Stimme ihres Exmanns. Nach einiger Zeit sagte sie: »Ich wusste schon immer, dass es ihm nur in zweiter Linie um mein Geld ging. Viel wichtiger war ihm meine totale Demütigung, meine Beschämung, meine Unterwerfung. Ich glaube, dass er mich nur deshalb am Leben gelassen hat. Damit er wissen kann, dass ich hier draußen bin: für immer verändert und leidend.«

Weil Sara clever genug war, um die Konsequenzen der beiden abschließenden Mitteilungen zu begreifen, beschränkte sich Jane auf die Tatsachen, ohne sie zu interpretieren. »Zweieinhalb Jahre nach der Scheidung hat seine erste Frau mit einer Cousine Urlaub in Frankreich gemacht. An ihrem dritten Tag in Paris sind die beiden Frauen verschwunden. Zwei Tage später wurden ihre Leichen in einem leer stehenden Gebäude in einem Arrondissement aufgefunden, in das sie sich nie gewagt hätten, denn dort fährt selbst die Polizei nicht gern Streife, weil sie die syrischen und iranischen Banden fürchtet. Sie waren ausgeraubt und mit Eisenrohren, die am Tatort zurückgeblieben waren, erschlagen worden. Im Fall seiner zweiten Frau hatte sie drei Jahre nach der Scheidung wieder den Mut, sich mit einem Mann anzufreunden. Die beiden haben eine Wanderung im Yosemite gemacht. An einer Stelle, wo der Weg durch einen Steilhang führte, scheint einer von ihnen ausgerutscht und abgestürzt zu sein. Der andere hat ihn vielleicht halten wollen und ist mitgerissen worden. Jedenfalls haben zuletzt beide hundert Meter tiefer zerschmettert auf den Felsen gelegen.«

Sara schien den Kaffee nur zu wollen, weil sie sich daran die Hände wärmen konnte. »Also bleiben mir noch sechs bis zwölf Monate.«

»Außer ich erschieße ihn in Notwehr, oder sonst jemand legt ihn wegen der Informationen um, die ich ihm abgepresst habe.«

»Ich habe schon gesagt, dass ich Ihnen helfen will.«

»Ja, ich weiß«, sagte Jane. »Und ich habe Ihnen das nur erzählt, weil ich möchte, dass Sie alles ernster nehmen: die Trageweise Ihrer verdeckten Pistole, das Funktionieren Ihrer Alarmanlage und Ihr Leben, das weiterhin fragil bleibt.«

ACHT

Das nach oben ratternde Sektionaltor der Garage, das dem Tor eines Mausoleums glich, das Gestalten freisetzte, die für tot und bestattet gegolten hatten, das jähe Prasseln des Regens auf der Frontscheibe, die wilde Nacht mit sturmgepeitschten Bäumen und durch die Luft fliegendem nassem Laub und vom Wind zerfransten Nebelschwaden, die aus Westen herangaloppierten … Dies alles wurde jetzt zu einem Hohelied auf das Leben.

Am Steuer eines Hyundai Santa Fe Sport sitzend war Sanjay Shukla von ihrer Flucht wie berauscht, aber auch wegen der zuvor erlebten Gewalt bekümmert. Als er auf das Tor am Ende der Einfahrt zuraste, das sich bei ihrer Annäherung automatisch öffnen würde, schaltete er die Scheinwerfer ein.

»Licht aus!«, verlangte Tanuja so energisch, dass er widerspruchslos gehorchte. »Sie haben die Einfahrt mit ihrem SUV blockiert.«

»Dann lösen wir die Bremse, nehmen den Gang raus und schieben ihn weg.«

»Aber vielleicht passt ein vierter Dreckskerl auf ihn auf.«

»Scheiße.« Sanjay wünschte sich, er hätte nicht das Handy, sondern die Pistole des Vergifteten mitgenommen.

Dann riefen seine Schwester und er wie aus einem Mund aus: »Das Pferdetor!«

Sanjay riss das Steuer nach links und lenkte den Hyundai vom Asphalt über den unebenen Rasen vor dem Haus, der seit der Zeit, als ihr Vater hier Pferde gezüchtet hatte, eine ungemähte Wiese war.

Während das Haus gebaut wurde, hatte das Tor zu den Pferdekoppeln als zweite Baustellenzufahrt gedient. Deshalb war es breit genug für einen Geländewagen. Hinter dem ungeteilten einfachen Torflügel begann ein Reitweg, der durch die Hügel im Osten verlief.

Im Dunkel ragten die mächtigen schwarzen Äste der Virginia-Eichen trotz des Sturms unbeweglich auf, aber die kleineren Zweige peitschten die Luft und warfen ovale Blätter ab, die über die Frontscheibe glitten und von den Scheibenwischern zur Seite geschleudert wurden.

Vor ihnen fiel das Gelände wie das Glacis einer halb versunkenen Stadt ab, bis die schwach erkennbaren weißen Planken des Ranchzauns aus der wässrigen Dunkelheit leuchteten.

Sanjay bremste und wollte aussteigen, um das Tor zu öffnen, aber Tanuja stieß bereits ihre Tür auf – »Lass mich!« – und sprang in den Regen hinaus.

Während Sanjay ihre geisterhafte Gestalt beobachtete, erschien Tanuja ihm klein, fast kindlich klein, als habe die Nacht sie geschrumpft, seine chotti bhenjii, seine kleine große Schwester. Erstmals seit sie den Krallen von Ashima und Burt Chatterjee entronnen waren, um durch Gerichtsbeschluss vorzeitig für volljährig erklärt zu werden, fürchtete Sanjay, er könnte sie verlieren. In den sieben Jahren davor hatten sie zu zweit gegen den Rest der Welt zusammengehalten – und genau das schien jetzt auf unerklärliche Weise wieder nötig zu sein.

Für zweieiige Zwillinge waren sie sich erstaunlich ähnlich: drahtig schlank, mit glänzend schwarzem Haar und noch dunkleren Augen. Beide waren begabte Gitarristen. Mit vierzehn waren sie unschlagbare Bridgespieler gewesen, aber Kartenspiele hatten ihren Reiz für sie verloren, als sie mit achtzehn ernstlich zu schreiben begonnen hatten. Sie würde eines Tages heiraten, er vielleicht auch, und obwohl ihm ihr Glück am Herzen lag, wusste er schon jetzt, dass er sich an diesem Tag wie in Stücke gehauen vorkommen würde.

Der Torflügel schwang auf, und Tanuja stieg wieder ein. Sanjay fuhr in die Wildnis hinaus, durch die ein Reitweg führte, der reichen Hobbyreitern, zu denen ihre Eltern gehört hatten, Abenteuer versprochen hatte. Er blieb auf der alten Fahrspur in Richtung County Road, ließ die Scheinwerfer noch ausgeschaltet und hoffte, dass der tausendstimmige Chor von Wind und Wasser ihr Motorengeräusch überdecken würde, falls ein vierter Mann bei dem SUV an der Einfahrt zurückgeblieben war.

»Sie wollten mir etwas injizieren. Dir auch, wenn sie dich gefunden hätten.«

»Ich habe die Spritze gesehen. Aber was injizieren?«, fragte sie.

»Jedenfalls nichts Gutes.«

»Das hier, was immer es ist«, sagte sie und zeigte ihm zwei der silbernen Isolierhüllen mit Ampullen, die sie von dem Tisch mitgenommen hatte, unter dem Sanjay hindurchgekrabbelt war.

Er sagte: »Echt verrückt, dass Linc Crossley mit ihnen zusammen war.«

»Ohne ihn ist’s genauso verrückt.«

Nach Westen hin fiel das Gelände leicht ab. An einer Engstelle kratzte und scharrte Buschwerk die Flanken des Hyundai entlang, als protestierten die Bewohner eines alten Gräberfelds mit knochigen dürren Fingern gegen diese Entweihung.

»Könnten dahinter Ashima und Burt stecken?«, fragte Tanuja sich.

»Was hätten sie dabei zu gewinnen?«

»Den kleinen Rest, den sie uns noch nicht gestohlen haben. Und Rache.«

»Nicht mehr nach acht Jahren. Sie können von Glück sagen, dass sie ohne Gefängnisstrafe davongekommen sind. Das wissen sie genau.«

Aus Regen und Nebel und formloser Dunkelheit manifestierte Ordnung sich in Form zweier paralleler Linien. Anfangs nur schwach sichtbar, vielleicht illusorisch, gewannen sie an Realität und zeigten klare Ränder: der doppelte Mittelstrich der County Road.

Die letzten Meter bis zum Asphalt waren noch einmal holprig, dann bog Sanjay links ab – weg von ihrem Haus und dem SUV, der ihre Einfahrt blockierte. Aber er bremste sofort wieder, denn vor ihnen stand ein Range Rover quer zu beiden Fahrbahnen und konnte weder vorn noch hinten passiert werden. Die Scheinwerfer brannten nicht, aber seine Warnblinkanlage war eingeschaltet, sodass die Blinker den Regen vorn silbern und hinten blutrot anstrahlten.

Die vorderen Türen wurden geöffnet, und zwei Männer stiegen aus: schemenhafte Gestalten, die sich ernst und methodisch und ohne Hast bewegten wie die anderen, die ins Haus eingedrungen waren.

Sanjay legte den Rückwärtsgang ein, stieß mit aufheulendem Motor zurück, schlug das Lenkrad bis zum Anschlag ein, fing den schleudernden Hyundai ab, schaltete die Scheinwerfer ein und flüchtete nach Norden an dem SUV vorbei, der ihre Einfahrt blockierte. Die Straße endete an einer Wendefläche, die in dem fast ebenen Gelände nicht mit Leitplanken gesichert war.

»Sie haben auch Allradantrieb«, warnte Tanuja ihn.

»Aber vielleicht weniger Mut«, sagte Sanjay, als sie übers Kiesbankett in wegloses Gelände fuhren, auf dem Ginster und Brombeerranken den Wagenboden peitschten.

Vor ihnen wurde der aus der Tiefe aufsteigende Nebel dichter, und der Wind trieb ihn wie eine Stampede aus Fantasiegestalten gegen den Hyundai, den sie umflossen, um sich hinter ihm wieder zusammenzuschließen. Ein Wald aus Eukalyptusbäumen, der den Hang vor dem Abrutschen bewahren sollte, ließ die Nebelschwaden durch, schien aber für alles andere unpassierbar zu sein.

Sanjay, der dieses Gebiet schon als Kind erkundet hatte, kannte die Architektur von Erde, Fels und Flora. Für ihn war diese Wildnis nicht wild, sondern ein Palast aus eleganten Sälen und Passagen. Er lenkte zwischen Felsen hindurch, holperte über eine felsige Schwelle und hielt in regennassem Gras auf die Bäume zu, als sei der Wall, den sie bildeten, so wenig substanziell wie der Nebel, der zwischen ihnen hervorquoll.

»Sanjay, nein«, sagte Tanuja warnend, als er nicht langsamer wurde.

»Ja.«

»Ja?«

»Ja.«

»Jhaw!«, rief sie aus – ein unanständiges Wort, das er noch nie von ihr gehört hatte. Sie stemmte sich gegen den bevorstehenden Aufprall ein.

Im letzten Augenblick fürchtete er, die falsche Stelle des Waldrandes angesteuert zu haben, aber dann erwies der geschlossene grüne Wall vor ihnen sich doch als Illusion. Die Bäume links vor ihnen waren älter, aber sie standen sechs, sieben Meter tiefer als die Bäume rechts, sodass sie gleich alt und gleich groß zu sein schienen, und der unsichtbare Steilabfall tarnte die Tatsache, dass die lange Baumphalanx in Wirklichkeit zweigeteilt war. Der SUV kippte nach vorn ab. Sanjay schlug das Lenkrad scharf rechts ein. Der Wagen überschlug sich nicht. Er fuhr hinter dem jüngeren Baumbestand vorbei, der als natürlicher Windschutz fungierte, aber kein richtiger Wald, sondern nur drei Bäume tief war. Hier ging es auf einer Terrasse mit Eukalyptusbäumen rechts und schwarzer Leere links weiter; hier fiel der steilere Hang hundert bis hundertfünfzig Meter bis zum Boden eines Canyons hinunter ab.

Ihnen war nichts anderes übrig geblieben, als von der Straße weg ins Gelände zu flüchten, aber Sanjay wusste, dass diese Terrasse allmählich schmaler wurde, bis sie abrupt an einem Felssporn der Canyonwand endete. Sie mussten in weniger unwegsames Gelände hinunter.

Hinter ihnen tauchten zwei leuchtende Kugeln auf, im Nebel von Halos umgeben, im Regen magisch schimmernd, ihre Ursache wie bei einer außerirdischen Vision nicht zu deuten. Aber das waren natürlich die Scheinwerfer des Range Rover.

Sanjay lenkte den SUV über die Felskante, ins Leere.

NEUN

Sara Holdstecks Vertrauen zu gewinnen hatte Jane Hawk sehr viel mehr Zeit gekostet, als sie brauchen würde, um Antworten auf die wenigen wichtigen Fragen zu erhalten, die sie ihr stellen wollte.

Sie warf eine Tablette in ihren Kaffee.

Sara zog die Augenbrauen hoch.

»Gegen Übersäuerung«, erklärte Jane ihr.

»Mit schwarzem Kaffee einzunehmen?«

»Von Kaffee bekomme ich kein Sodbrennen. Der jammervolle Zustand der Welt, die arrogante Elite, die ihn verursacht hat, die wie Ihr Exmann an nichts als Macht glaubt. Das sind die Säuren, gegen die ich Tabletten nehme.«

»Haben Sie eine für mich übrig?«

Jane kippte eine Tablette aus dem braunen Fläschchen und gab sie ihr. »Simon wohnt also in Ihrem ehemaligen Haus?«

Sara nahm die Tablette ein. »Wie ich höre, lebt er mit einem Flittchen zusammen.«

»Von dem Flittchen weiß ich. Aber ich brauche ein paar Informationen über das Haus, die ich sonst nirgends bekommen kann. Die brauche ich von Ihnen.«

»Klar doch. Fragen Sie nur. Aber … vielleicht wird’s Zeit, dass ich Ihren Namen erfahre.«

»Elizabeth Bennet«, log Jane.

»Wie in Stolz und Vorurteil.«

»Wirklich?«

»Nennen Sie sich manchmal auch Elizabeth Darcy?«

Jane lächelte. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Also gut, Lizzy. Was wollen Sie über das Haus wissen?«

Zehn Minuten später wechselte Jane das Thema. »Außerdem brauche ich ein paar Informationen über seine persönlichen Angewohnheiten.«

Als eine stärkere Bö Regentropfen gegen die Jalousien prasseln ließ, schrak Sara nicht wieder zusammen, sah nicht mal zu den Fenstern hinüber. Stattdessen sprach sie mit ruhiger Stimme leidenschaftslos über Simon Yegg, als sei sie nun davon überzeugt, dazu beitragen zu können, dass er zur Rechenschaft gezogen wurde.

Janes letzte Fragen betrafen seine Angehörigen. »Kennen Sie seinen Bruder?«

»Simon hat einen Bruder?«

»Einen Halbbruder. Eine Mutter, zwei Väter.«

»Sein Vater ist gestorben, als Simon acht war, seine Mutter sechs Jahre später.«

»Nein. Sie hat sich von seinem Vater scheiden lassen. Er ist später bei einem Brand umgekommen. Seine Mutter lebt noch.«

»Verdammt! Hat der Kerl denn nie die Wahrheit gesagt?«

»Dafür ist seine Zunge nicht geeignet. Kennen Sie einen Booth Hendrickson?«

»Nie gehört.«

»Er ist der Halbbruder. In Florida geboren, in Nevada und Kalifornien aufgewachsen. Groß. Aschblondes Haar. Blassgrüne Augen. Redet wie jemand aus der Bostoner Oberschicht. Fünftausenddollaranzüge.«

»Nie gesehen.«

»Er ist ein hohes Tier im Justizministerium. Nur wenige Sprossen unterhalb des Ministers. Durch seine Verbindungen scheint er großen Einfluss bei anderen Behörden zu haben.«

Sara verarbeitete diese Informationen. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie froh war, eine Tablette gegen Übersäuerung bekommen zu haben. »Bei anderen Behörden? Zum Beispiel bei der Finanzbehörde?«

»Nicht nur dort. Er ist ein begnadeter Netzwerker.«

»Was … Simon und er nehmen naive Frauen aus und teilen sich die Beute?«

»Ich bezweifle, dass Hendrickson einen Cent nimmt. Er tut es für seinen Bruder.«

»Wie rührend!«

»Sie haben unterschiedliche Nachnamen. Sie machen keine Reklame mit ihrer Verwandtschaft. Hendrickson verfolgt eigene, größere Ziele, will sich dabei nicht von Simon behindern lassen. Aber sie kommen gut miteinander aus, und ich habe die Verbindung herstellen können.«

»Sie haben gesagt, dass Sie’s auf Simon wegen der Leute, mit denen er umgeht, abgesehen haben. Damit meinen Sie Hendrickson?«

»Ja, ich will durch Simon an Hendrickson herankommen. Und danach … an andere, die ebenso korrupt sind wie diese beiden.« Jane stand auf, griff nach der Heckler & Koch und steckte sie ins Schulterholster. »Aus eigenem Interesse sollten Sie niemandem von mir und unserem Gespräch erzählen.«

»Wem sollte ich davon erzählen? Ich traue keinem mehr.«

»Das kann sich ändern, wenn Sie’s zulassen. Sie wissen jetzt mehr darüber, wen Sie meiden sollten. Aber denken Sie an das Pistolenholster und den Sicherheitscode.«

»Der Code heute Abend, das Holster morgen. Und ich reise weder nach Paris noch in Nationalparks.«

Jane ging zur Hintertür, die aus der Küche auf die Terrasse führte.

Hinter ihr sagte Sara: »O Gott!«

Jane drehte sich um. Auf dem Gesicht der Frau stand ein geradezu beunruhigend ehrfürchtiger Ausdruck.

»Ich weiß, wer Sie sind! Schwarzes Haar, nicht blond. Schwarze Augen, nicht blaue. Aber Sie sind’s trotzdem.«

»Ich bin niemand.«

Sara sagte nicht, dass Jane, einst eine mehrfach ausgezeichnete FBI-Agentin, jetzt als Staatsfeind Nummer eins das Objekt einer Medienhysterie war. Sie deutete auf die Schlagzeile der Los Angeles Times. »Von den Nachrichten ist kein Wort wahr, stimmt’s? Nicht in Bezug auf Sie, nicht in Bezug auf irgendwas. Wir leben in einer Welt aus Lügen.«

»Es gibt immer Wahrheit, Sara. Unter dem Lügenmeer liegt immer die Wahrheit verborgen.«

Die Müdigkeit der Frau wich einer Ernsthaftigkeit, einer nervösen Begeisterung, die Jane beunruhigte. »Was Sie auch getan haben, Sie lassen ihnen nichts durchgehen. Was sie auch verbergen wollen, Sie bringen es ans Licht.« Sie stand von ihrem Stuhl auf. »Die Leute, zumindest manche Leute, spüren, dass wir manipuliert werden, damit wir schlecht von Ihnen denken, aber wir wissen nicht, warum wir Sie so hassen sollen. Ich wollte … ich wollte, ich wäre wie Sie und könnte tun, was Sie tun.«

»Ich bin niemand«, wiederholte Jane, ohne damit ihre Identität zu leugnen. »Ich kann morgen schon tot sein. Wenn nicht heute Nacht.«

»Niemals! Nicht Sie.«

Die Inbrunst in Saras Stimme, das Leuchten in ihren Augen ließen Jane aus Gründen, die sie nicht völlig verstand, einen kalten Schauder über den Rücken laufen.

»Doch, ich«, sagte sie. »Eher früher tot als später. Oder schlimmer als tot.«

Um Sara nicht weiterreden zu lassen, trat sie mit dem letzten Wort ins Freie und schloss die Tür. Sie überquerte die Terrasse, hastete ums Haus herum auf die Straße zurück und machte sich auf den Weg zu ihrem eineinhalb Blocks entfernt geparkten Explorer.

Das eigenartige Kältegefühl, nicht nur von dem kalten Regen Ende März, saß ihr weiter in den Knochen. Unter den Straßenlampen warf sie einen Schatten, was gut war. Der steife Wind ließ ihr Gesicht brennen, und der schräg fallende Regen nahm ihr die Sicht, was ebenfalls gut war. Das Dunkel – das der tief hängenden Sturmwolken und vor allem das des bestirnten Himmels, der sich ewig unveränderlich über dem Sturm wölbte – machte, dass Jane sich klein und zerbrechlich vorkam, was gut und richtig zugleich war.

ZEHN