Das Nachthaus - Dean Koontz - E-Book

Das Nachthaus E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Ein wunderschöner Ort – zum Sterben

Gewalttaten, Mord und Wahnsinn prägten die Geschichte des Pendleton, eines prächtigen Wohnhauses auf Shadow Hill. Doch seit mehreren Jahrzehnten schon leben die Bewohner der Luxusappartements in Frieden. Bis eines Tages die alten Schatten wieder aufziehen und namenloses Grauen künden.

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Zum Buch

Auf dem höchsten Punkt der Stadt, dem Gipfel von Shadow Hill, thront das Pendleton. Im späten 19. Jahrhundert als städtischer Palast erbaut, sollte es seinem Eigentümer kein Glück bringen: Frau und Kinder von Andrew Pendleton verschwanden spurlos, er selbst wurde von dunklen Ahnungen in den Wahnsinn getrieben. Die fürchterliche Geschichte des Pendleton setzte sich fort. Erst seit es in den 1970ern in luxuriöse Eigentumswohnungen aufgeteilt wurde, schien Frieden zu herrschen. Doch nun erkennen die Bewohner – darunter eine erfolgreiche Songwriterin und ihr kleiner Sohn, ein schmieriger Ex-Senator, ein verwitweter Anwalt und ein Vermögensverwalter – mit Schrecken: Die alten bösen Kräfte sind wieder am Werk, und wer immer im Pendleton lebt, muss sich auf ein schreckliches Schicksal einstellen.

Pressestimmen

»Koontz kennt unsere tiefsten Ängste und geheimsten Gefühle.«

USA Today

Zum Autor

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren und lebt heute mit seiner Frau in Kalifornien. Seine zahlreichen Romane – Thriller und Horrorromane – wurden in 38 Sprachen übersetzt und sämtlich zu internationalen Bestsellern. Weltweit wurden bislang 400 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. Zuletzt bei Heyne erschienen: Der Rabenmann und das zugehörige exklusive E-Book Die schwarze Feder.

Parallel zu Das Nachthaus ist bei Heyne außerdem exklusiv als E-Book erschienen: Das Mondkind, ein meisterhafter Kurzroman, der ebenfalls auf Shadow Hill spielt.

Ein ausführliches Werkverzeichnis findet sich am Ende dieses Buchs.

DEANKOONTZ

DASNACHTHAUS

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Ursula Gnade

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. 

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Die amerikanische Originalausgabe 77 SHADOW STREET

erschien 2011 bei Bantam Books, an imprint ofThe Random House Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 12/2012

Copyright © 2011 by Dean Koontz

Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Henriette Zeltner

Umschlaggestaltung und Artwork: © Eisele Grafik.Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-08888-0V002

www.heyne.de

Von hier, im Land der Irren,

für Ed und Carol Gorman

dort draußen im Herzland

mit unverminderter Zuneigung

nach all den Jahren.

O Dunkel Dunkel Dunkel,

Sie alle gehen ins Dunkel …

– T. S. Eliot: East Coker

Erster Teil

Wo sich die Schatten sammeln

Wie langsam er kriecht, der Schatten; doch ist es so weit,

Wie rasch sich die Schatten dann senken. Wie rasch! Wie rasch!

– HILAIRE BELLOC: An eine Sonnenuhr

1 Der nördliche Aufzug

Verbittert und betrunken kehrte Earl Blandon, ehemaliger Senator der Vereinigten Staaten, an jenem Donnerstag um zwei Uhr fünfzehn morgens mit einem neuen Tattoo nach Hause zurück: eine Unflätigkeit aus zwei Wörtern, die er sich in blauen Blockbuchstaben zwischen die Knöchel des Mittelfingers seiner rechten Hand hatte tätowieren lassen. Am früheren Abend hatte er in einer Cocktailbar einem anderen Gast, der kein Englisch sprach, diesen steifen Finger entgegengereckt. Der Mann war nur zu Besuch hier und kam aus einer rückständigen Region irgendwo in der Dritten Welt, wo die Bedeutung der anstößigen Geste trotz unzähliger Hollywoodfilme, in denen zahllose Leinwandidole anderen den Stinkefinger zeigten, offenbar nicht bekannt war. Tatsächlich schien der ignorante Ausländer den erhobenen Finger sogar als eine Art freundliche Begrüßung aufzufassen und reagierte darauf mit mehrfachem Nicken und einem Lächeln. Earl war dermaßen frustriert, dass er die Cocktailbar schleunigst verließ und sich auf direktem Wege zu einem Tätowierer in der Nähe begab, wo er den Rat des Nadelkünstlers missachtete und sich im Alter von achtundfünfzig Jahren seine erste Körperverzierung zulegte.

Als Earl durch den Haupteingang das Foyer des exklusiven Pendleton betrat, grüßte ihn Norman Fixxer, der Nachtportier, mit Namen. Norman saß auf einem Hocker hinter dem Empfangsschalter auf der linken Seite, hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen und sah aus wie die Puppe eines Bauchredners: die Augen weit aufgerissen, blau und glasig, tief eingekerbte Marionettenfalten wie auffällige Narben im Gesicht, den Kopf in einem eigentümlichen Winkel schief gelegt. In dem maßgeschneiderten schwarzen Anzug, einem strahlend weißen Hemd, mit einer schwarzen Fliege und weißem Einstecktuch, das perfekt aus der Brusttasche seiner Anzugjacke schaute, war Norman für die Begriffe der beiden anderen Portiers, die ihre Schichten vor ihm absolvierten, overdressed.

Earl Blandon konnte Norman nicht leiden. Er traute ihm nicht. Der Pförtner bemühte sich zu sehr. Er war übertrieben höflich. Earl traute keinen höflichen Menschen, die sich zu sehr bemühten. Bei ihnen stellte sich immer heraus, dass sie etwas zu verbergen hatten. Manchmal verbargen sie den Umstand, dass sie FBI-Agenten waren, und gaben sich stattdessen als Lobbyisten mit Koffern voller Bargeld und großem Respekt vor dem Einfluss eines Senators aus. Earl verdächtigte Norman Fixxer nicht, ein getarnter FBI-Agent zu sein, doch er war mit Sicherheit mehr als das, wofür er sich ausgab.

Earl quittierte Normans Begrüßung mit nichts weiter als einem finsteren Blick. Er hätte gern seinen frisch beschrifteten Mittelfinger gehoben, aber er hielt sich zurück. Es wäre eine schlechte Idee, einen Pförtner zu kränken. Post konnte verloren gehen. Der Anzug, den man am Mittwochabend aus der chemischen Reinigung zurückerwartete, mochte erst eine Woche später in der Wohnung abgegeben werden. Mit Essensresten bekleckert. Einerseits war es ihm ein Bedürfnis, Norman den Mittelfinger zu zeigen, aber andererseits würde eine umfassende Entschuldigung erfordern, dass er die übliche Weihnachtszulage verdoppelte.

Daher hielt Earl die Hand mit dem verzierten Finger fest zur Faust geballt, während er mit finsterer Miene über den Marmorboden des Foyers lief. Durch die Zwischentür, deren Summer Norman betätigt hatte, betrat er den Gemeinschaftsflur, wo er sich nach links wandte und auf dem Weg zum nördlichen Aufzug bei der Aussicht auf einen Schlummertrunk genüsslich seine Lippen leckte.

Seine Wohnung befand sich im zweiten Stock und somit in der obersten Etage. Er hatte keinen Ausblick auf die Stadt, nur Fenster zum Innenhof. Das Stockwerk bot sieben weiteren Wohnungen Platz, doch die Lage der seinen war gut genug, um von einem Penthouse zu sprechen, insbesondere, da es sich bei dem Gebäude um das renommierte Pendleton handelte. Earl hatte früher ein Herrenhaus mit siebzehn Zimmern besessen, umgeben von zwei Hektar Land. Das Anwesen und andere Werte hatte er zu Geld gemacht, um die horrenden Honorare von blutsaugenden Strafverteidigern zu bezahlen – verlogene Schurken, die alle in der Hölle schmoren sollten, das reinste Natterngezücht.

Als sich die Türen des Aufzugs schlossen und die Kabine nach oben zu fahren begann, betrachtete Earl das handgemalte Wandgemälde über der weißen Täfelung, das auch die Decke einbezog: Rotkehlchen, die sich freudig in einen Himmel aufschwangen, dessen Wolken von Sonnenschein vergoldet wurden. Manchmal, jetzt zum Beispiel, erschienenen ihm die Schönheit der Szene und die Freude der Vögel gekünstelt und unangenehm aufdringlich, und er hätte sich gern eine Dose Sprühfarbe besorgt und das gesamte Bild unkenntlich gemacht.

Vielleicht hätte er es tatsächlich in einem Akt von Vandalismus zerstört, wenn die Sicherheitskameras in den Fluren und im Aufzug nicht gewesen wären. Aber die Wohnungseigentümergemeinschaft würde es ja doch nur restaurieren und ihn die Arbeit bezahlen lassen. Ihm wurden keine großen Summen mehr in Koffern, Reisetaschen, dicken gelbbraunen Umschlägen, in Einkaufstüten, in Donutkartons oder durch kostspielige Edelnutten überbracht, die Bündel von Scheinen mit Klebeband an ihren Körpern befestigt hatten und bei ihrem Eintreffen unter den ledernen Trenchcoats nackt waren. Derzeit verspürte der ehemalige Senator so häufig den Drang, so viele Dinge zu verunstalten, dass er sich dringend um Selbstbeherrschung bemühen musste, wenn er sich nicht durch mutwillige Zerstörung ins Armenhaus bringen wollte.

Er schloss die Augen, damit er die schmalzige Szene nicht länger zu sehen brauchte – Rotkehlchen am sonnendurchfluteten Himmel. Als die Lufttemperatur von einem Moment auf den anderen abrupt um vielleicht zehn Grad sank, während der Lift durch den ersten Stock fuhr, riss Earl erschrocken die Augen auf und drehte sich bestürzt um, sowie er sah, dass ihn das Wandgemälde nicht mehr umgab. Auch die Sicherheitskamera fehlte. Die weiße Wandtäfelung war ebenfalls verschwunden. Kein Marmor mit Einlegearbeiten unter seinen Füßen. An der Edelstahldecke verströmten Kreise aus einem undurchsichtigen Material blaues Licht. Die Wände, die Türen und der Fußboden bestanden samt und sonders aus gebürstetem Edelstahl.

Ehe Earl Blandons Gehirn, das gründlich in Martini mariniert war, die Verwandlung des Aufzugs vollständig verarbeiten und akzeptieren konnte, beendete die Kabine ihre Fahrt nach oben – und sackte in die Tiefe. Sein Magen schien sich zu heben und dann ebenfalls herabzustürzen. Er taumelte zur Seite, umklammerte den Handlauf und schaffte es, auf den Füßen zu bleiben.

Die Kabine wackelte nicht und sie wankte auch nicht. Kein Surren von Schachtseilen. Die Kabel liefen geräuschlos über gut geschmierte Rollen. Mit der Geschwindigkeit eines Expresslifts raste der Stahlkasten geschmeidig und lautlos nach unten.

Vorher war die Positionsanzeige des Lifts – U, E, 1, 2 – ein Teil des Bedienungsfelds rechts neben der Tür gewesen. So war es immer noch, doch jetzt begannen die Zahlen bei 2, führten abwärts zu 1 und zu E und zu U, gefolgt von einer neuen Zahlenreihe von 1 bis 30. Das hätte ihn selbst dann verwirrt, wenn er nüchtern gewesen wäre. Während die Ziffern im Anzeigefeld stiegen – 7, 8, 9 –, sank die Kabine immer tiefer. Er konnte eine Aufwärtsbewegung nicht irrtümlich für eine Abwärtsbewegung halten. Der Boden schien unter ihm herauszufallen. Außerdem hatte das Pendleton nur vier Etagen und davon drei über dem Boden. Die Etagen, die auf diesem Bedienungsfeld dargestellt waren, mussten unterirdisch sein. Sie mussten alle unter dem Keller liegen.

Aber das war nicht einleuchtend. Das Pendleton hatte nur ein Kellergeschoss, ein einziges unterirdisches Stockwerk, nicht dreißig oder einunddreißig.

Also konnte das hier nicht mehr das Pendleton sein. Was noch weniger einleuchtend war. Es war sogar vollkommen unsinnig.

Vielleicht war er ohnmächtig geworden. Ein Wodka-Albtraum.

Doch kein Traum konnte so lebhaft sein, von einer derart ausgeprägten Körperlichkeit. Sein Herz donnerte. Der Puls pochte in seinen Schläfen. Säurereflux ließ seine Kehle brennen, und als er schwer schluckte, um die bittere Flüssigkeit gewaltsam nach unten zurückzudrängen, traten ihm vor Anstrengung Tränen in die Augen und ließen alles verschwimmen.

Er tupfte die Tränen mit dem Ärmel seines Jacketts weg. Blinzelnd starrte er auf die Leuchtanzeige: 13, 14, 15 …

Plötzlich versetzte ihn die intuitive Überzeugung in Panik, dass er an einen Ort befördert wurde, der ebenso grauenerregend wie geheimnisvoll war, und er ließ den Handlauf los. Earl trat auf die andere Seite der Kabine und suchte das von hinten erleuchtete Bedienungsfeld nach einem Nothalteknopf ab.

Es gab keinen.

Als die Kabine an der 23 vorbeikam, presste Earl einen Daumen fest auf den Knopf für die 26, doch der Aufzug hielt nicht an und wurde nicht einmal langsamer, bis er an der 29 vorbeifuhr. Erst dann ließ der Schwung rasch und doch reibungslos nach. Mit einem schwachen feuchten Zischen wie von Hydraulikflüssigkeit, die in einen Zylinder gepresst wird, kam die Kabine vollständig zum Stehen, anscheinend dreißig Stockwerke unter der Stadt.

Durch eine übernatürliche Angst ernüchtert – er hätte allerdings nicht sagen können, wovor er sich fürchtete – wich Earl Blandon von der Tür zurück. Mit einem dumpfen Geräusch prallte er gegen die Rückwand der Kabine.

In seiner sagenumwobenen Vergangenheit als Mitglied des Senatsausschusses zur parlamentarischen Kontrolle des Verteidigungsministeriums und zur militärischen Handlungsfreiheit der Vereinigten Staaten hatte er einmal eine Zusammenkunft besucht, die in dem Bunker tief unter dem Weißen Haus stattgefunden hatte, wo der Präsident eines Tages versuchen könnte, einen nuklearen Holocaust zu überstehen. Diese Festung in der Tiefe war hell und sauber gewesen, und doch hatte sie auf ihn einen bedrohlicheren Eindruck gemacht als jeder Friedhof bei Nacht. Aus seinen frühesten Zeiten als Landesgesetzgeber, zu denen er noch geglaubt hatte, an solchen einsamen Orten könnte niemand aus Erde, Gräbern und Staub wiedererweckt werden, um die Übergabe einer Bestechungssumme zu bezeugen, besaß er einige Erfahrung mit Friedhöfen. Und dieser stille Aufzug kam ihm sogar noch viel bedrohlicher vor als der Präsidentenbunker.

Er wartete darauf, dass sich die Tür öffnete. Und wartete.

Während seines ganzen Lebens war er nie ein furchtsamer Mann gewesen. Stattdessen löste er in anderen Furcht aus. Es überraschte ihn, dass es möglich war, ihn so plötzlich und so vollständig in Panik zu versetzen. Aber ihm war klar, was ihn in diesen erbärmlichen Zustand versetzte: Anzeichen für etwas Jenseitiges.

Als strikter Materialist glaubte Earl nur an das, was er sehen, anfassen, schmecken, riechen und hören konnte. Er verließ sich auf nichts als sich selbst und er brauchte niemanden. Er glaubte an seine mentale Stärke, an seine einzigartige Gerissenheit, jede Situation zu seinem Nutzen manipulieren zu können.

Doch in Gegenwart des Unheimlichen war er wehrlos.

Schauer durchzuckten ihn mit einer solchen Heftigkeit, dass es schien, als könnte er hören, wie seine Knochen aneinanderschlugen. Er versuchte seine Hände zu Fäusten zu ballen, erwies sich jedoch als so schwach vor Grauen, dass es ihm nicht gelang. Er hob sie seitlich in die Höhe und sah sie an, um ihnen seinen Willen aufzuzwingen – sie mit reiner Geisteskraft dazu zu bewegen, dass sie sich zu Waffen mit festen Knöcheln schlossen.

Er war wieder nüchtern genug, um zu begreifen, dass dem ahnungslosen Besucher aus der Dritten Welt die beabsichtigte Kränkung in der Cocktailbar nicht einmal durch die beiden Wörter, die jetzt auf den Mittelfinger seiner rechten Hand tätowiert waren, klarer geworden wäre. Wahrscheinlich konnte der Typ die englische Sprache genauso wenig lesen wie sprechen.

Earl kam einer negativen Selbstbeurteilung näher denn je, als er vor sich hin murrte: »Du Idiot.«

Als die Türen des Aufzugs zur Seite glitten, schien sich seine vergrößerte Prostata ganz im Gegensatz zu seinen Händen zu fest zusammenzuziehen. Er stand bedrohlich dicht davor, sich in die Hose zu pinkeln.

Jenseits der offenen Tür lag nichts anderes als eine so vollkommene Dunkelheit, dass sie ein Abgrund zu sein schien, riesig und vielleicht bodenlos, den das blaue Licht des Aufzugs nicht durchdringen konnte. In dieser eisigen Grabesstille stand Earl Blandon regungslos da und war jetzt sogar für das Pochen in seiner Brust taub, als sei sein Herz plötzlich blutleer. Das war die Stille an der Grenze der Welt, wo es keine Luft zum Atmen gab und wo die Zeit endete. Es war das Grauenhafteste, was er jemals gehört hatte – bis aus der Schwärze jenseits der offenen Tür ein noch alarmierenderes Geräusch drang, das Geräusch von etwas, das näherkam.

Ein Klicken, ein Kratzen, ein gedämpftes Rascheln: Es war entweder die blinde, aber beharrliche Suche von etwas Großem und Seltsamem, das das Vorstellungsvermögen des Senators überstieg … oder die einer Horde von kleineren, aber deshalb nicht weniger mysteriösen Geschöpfen, eines emsigen Schwarms. Ein schrilles Wehklagen, von seinem Wesen her beinah elektronisch und doch unverkennbar eine Stimme, zuckte durch die Schwärze, ein Heulen, das dem Hunger oder dem Verlangen entspringen mochte oder auch dem Blutrausch, einer blutrünstigen Raserei, aber mit Sicherheit war es ein Schrei akuter Not.

Als Earls Panik über sein lähmendes Grauen siegte, sprang er mit einem Satz zum Bedienungsfeld und suchte es nach einem Knopf zum Schließen der Tür ab. Jeder Aufzug bot diese Funktion. Außer diesem. Es gab weder einen Knopf zum Schließen noch zum Öffnen der Tür, weder einen Knopf mit dem Aufdruck NOTHALT noch einen, auf dem ALARM stand, noch ein Telefon oder eine Notrufanlage, nur die Zahlen und die beiden Buchstaben, als handele es sich um einen Lift, der störungsfrei funktionierte und nie gewartet werden musste.

Aus dem Augenwinkel sah er etwas in der offenen Tür aufragen. Als er sich umdrehte, um eine direkte Gegenüberstellung herbeizuführen, glaubte er, bei diesem Anblick würde sein Herz stehen bleiben, doch ein so leichtes Ende war ihm nicht bestimmt.

2 Der Wachraum im Keller

Nachdem fünfmal auf ihn geschossen worden war, als er einem Notruf wegen häuslicher Gewalt Folge geleistet hatte, nachdem er im Krankenwagen fast gestorben wäre, auf dem Operationstisch fast gestorben wäre, sich anschließend einen schlimmen Fall von viraler Lungenentzündung zugezogen hatte, an dem er fast gestorben wäre, während er sich im Krankenhaus von seinen Schusswunden erholte, war Devon Murphy vor zwei Jahren aus dem Polizeidienst ausgeschieden. Obwohl er früher Streifenpolizist gewesen war, also ein echter Bulle, war es ihm überhaupt nicht peinlich, den Rest seiner beruflichen Laufbahn als private Sicherheitskraft zu verbringen, als das, was manche seiner früheren Kollegen in Blau einen »Mietbullen« nannten. Devon hatte kein Problem damit. Er brauchte nicht zu beweisen, wie tough er war. Er war erst neunundzwanzig und er wollte leben, und im Vergleich dazu, jedem Gangster und Irren auf den Straßen der Stadt als Zielscheibe zu dienen, waren seine Überlebenschancen als Sicherheitskraft im Pendleton beträchtlich größer.

Der Wachraum befand sich auf der Westseite des Kellers, zwischen der Wohnung des Hausmeisters und dem Versorgungsraum mit der großen Heiß- und Kühlwasseranlage. Der fensterlose Raum, fünfeinhalb auf elf Meter, wirkte behaglich, aber nicht klaustrophobisch. Ein Mikrowellengerät, eine Kaffeemaschine, ein Kühlschrank und ein Spülbecken versorgten ihn mit den meisten Annehmlichkeiten, die er gewohnt war.

Die Kakiuniform war irgendwie doof, und das Einzige, was Devon davor bewahrte, wie ein Hausmeister auszusehen, war ein Waffengurt. Daran hingen außer einer Gürteltasche, die einen kleinen Behälter Pfefferspray enthielt, Arbeitsschlüssel, eine kleine LED-Taschenlampe, ein Handyhalter und ein schwenkbares Halfter, in dem eine Springfield Armory XDM steckte, die für Kaliber 45 ACP ausgelegt war. In einer luxuriösen Wohnanlage wie dem Pendleton war die Wahrscheinlichkeit, dass er die Pistole benutzen musste, kaum höher als die Wahrscheinlichkeit, dass er eines Tages auf dem Heimweg von der Arbeit von Außerirdischen entführt würde.

In erster Linie wurde von ihm verlangt, dass er sich die vierundzwanzig Überwachungskameras im Gebäude der Reihe nach vornahm. Und zweimal zu unregelmäßigen Zeiten während jeder Schicht konnte er frische Luft schnappen, wenn er eine Runde durch den Keller, das Erdgeschoss und den Innenhof drehte, eine Streife, die fünfzehn Minuten erforderte.

Sechs an der Wand angebrachte Plasmabildschirme waren in Viertel unterteilt und zeigten in diesem Format jeweils die Ansichten von vier Überwachungskameras. Mit einem Crestron konnte Devon sofort jede beliebige Kamera für ein Vollbild auswählen, falls er etwas Verdächtiges sah, was nie der Fall war. Die Shadow Street 77 war die friedlichste Adresse der ganzen Stadt.

Sowohl nette Leute als auch Arschlöcher wohnten im Pendleton, doch die Eigentümergemeinschaft behandelte Angestellte gut. Devon wurde ein bequemer Herman-Miller-Bürostuhl zur Verfügung gestellt. Der Kühlschrank war mit Wasserflaschen, frischer Sahne, Kaffee in diversen Geschmacksnoten und allem bestückt, was der diensthabende Wachmann für die Zubereitung des Kaffees seiner Wahl brauchen könnte.

Er trank gerade eine jamaikanisch-kolumbianische Mischung mit einem Hauch von Zimt, als ein akustisches Signal ihn darauf aufmerksam machte, dass jemand die Tür des Foyers geöffnet hatte, um von der Straße aus einzutreten. Er sah auf den entsprechenden Plasmabildschirm, stellte die Kamera im Foyer auf Vollbild und sah Senator Earl Blandon aus der Dezembernacht hereinkommen.

Blandon war eines der Arschlöcher. Er gehörte ins Gefängnis, doch er hatte sich seine Freiheit damit erkauft, dass er Anwälte in Fünftausend-Dollar-Anzügen zusammentrommelte. Zweifellos hatte er auch angedroht, die Hälfte seiner politischen Partei mit sich in den Abgrund zu reißen, wenn seine Parteigenossen die Fäden ihrer Marionettenankläger und ihres Marionettenrichters nicht zu seiner Zufriedenheit zogen, um zu gewährleisten, dass die Muppet Show, die sich Justiz nannte, den von ihm bevorzugten Verlauf nahm.

Durch die Polizeiarbeit war Devon ziemlich zynisch geworden.

Mit seinem dichten weißen Haar und seinem Profil, das eine römische Münze hätte zieren können, sah Blandon immer noch aus wie ein Senator, und er schien zu glauben, allein schon dieses Äußere sollte ihm weiterhin den Respekt verschaffen, den man ihm entgegengebrachte, bevor er Schande über sein Amt gebracht hatte. Er war schroff, herablassend und arrogant, und die Haare in seinen Ohren hatten es dringend nötig, geschnitten zu werden, eine Kleinigkeit, die Devon faszinierte, da er selbst geradezu pedantisch war, wenn es um seine Körperpflege ging.

Blandon hatte im Lauf der Jahre so viel Alk in sich hineingeschüttet, dass er gegen sichtbare Anzeichen von Trunkenheit immun war; sein Rausch zeigte sich nicht mehr an verschliffenen Worten oder einem unsicheren Gang. Statt zu wanken, wenn er voll war, lief er aufrechter, nahm seine Schultern weiter zurück und reckte sein Kinn majestätischer in die Luft als in nüchternem Zustand. Die verräterischen Symptome waren bei ihm eine tadellose Haltung und ein nahezu großspuriges Auftreten.

Norman Fixxer, der Nachtportier, betätigte den Öffner der Zwischentür im Foyer. Der Türmonitor im Wachraum ließ ein Signal ertönen.

Blandon gehörte zwar ins Gefängnis und nicht in eine hyperluxuriöse Wohnanlage, war aber trotzdem einer der Wohnungsbesitzer. Wie jeder andere Bewohner des Hauses erwartete auch er, dass seine Intimsphäre gewahrt wurde, sogar in den gemeinschaftlich genutzten Räumen des Pendleton. Devon Murphy verfolgte nie mit den Kameras einen der Bewohner durch Flure und in Aufzüge – mit Ausnahme des ehemaligen Senators, der ungemein unterhaltsam sein konnte.

Einmal war er so sturzbetrunken gewesen, dass er seine täuschend majestätische Haltung, sowie er das Foyer durchquert und den Flur im Erdgeschoss erreicht hatte, nicht länger aufrechterhalten konnte und auf alle viere gesunken und zum nördlichen Aufzug gekrochen war – und im zweiten Stock war er schießlich hinausgekrabbelt. Bei einer anderen Rückkehr nach Mitternacht lief er selbstsicher an dem Aufzug vorbei, bog um die Ecke in den Nordflügel, schien plötzlich die Orientierung zu verlieren, öffnete die Tür zum Büro des Portiers, hielt es offenbar für ein Badezimmer und urinierte dort auf den Boden.

Dieses Büro wurde jetzt immer abgeschlossen, wenn es nicht in Gebrauch war.

Diesmal fand Blandon den Aufzug ohne Schwierigkeiten und bestieg ihn mit einer Aura von Würde, die einem König geziemt hätte, der in seine Staatskarosse steigt. Als sich die Tür schloss und nachdem er den Knopf für den zweiten Stock gedrückt hatte, blickte er einmal kurz zu der Überwachungskamera in der Kabine auf und sah sich dann mit einem Ausdruck reiner Verachtung das Wandgemälde mit den Vögeln und den Wolken an.

Der ehemalige Senator hatte zwei lange Briefe an die Eigentümergemeinschaft geschrieben, in denen er das Wandgemälde in einer Form kritisiert hatte, die er für die Gelehrsamkeit eines Kunstkenners gehalten haben musste. Der Vorstand, in dem mindestens ein echter Kunstkenner saß, empfand den Brief stattdessen als verachtenswert, provokativ und besorgniserregend. Dem Wachpersonal war zwar nicht unverblümt aufgetragen worden, ein Auge auf Earl Blandon im Aufzug zu werfen, wenn er angetrunken nach Hause kam, doch man hatte es indirekt angedeutet.

Als der Fahrstuhl jetzt am ersten Stock vorbeifuhr, passierte etwas noch nie Dagewesenes. Ein Ausdruck des Erstaunens trat auf das Gesicht des Senators, als erfülle ihn das Wandgemälde mit Abscheu, und er schloss die Augen … und plötzlich spülten wirbelnde Ströme blauer Statik, die nichts ähnelten, was Devon jemals zuvor gesehen hatte, das Bild vom Schirm. Die fünf anderen Bildschirme, die die Aufnahmen der anderen zwanzig Kameras zeigten, erlagen ebenfalls atmosphärischen Störungen, und das Überwachungssystem fiel aus.

Gleichzeitig hörte Devon leise Kesselpaukenschläge, hohle, eigenartige und kaum vernehmbare, lang gezogene Töne. Durch seine Schuhsohlen fühlte er Vibrationen im Zementboden, subtile Wellen, die im Takt der Trommeln mitschwangen.

In ihm regte sich keine Sorge, da die Tür- und Fenstermonitore weiterhin in Betrieb waren und sämtliche Kontrolllämpchen grün leuchteten. Niemand verschaffte sich an irgendeiner Stelle gewaltsam Zutritt. Wenn das Geräusch an Lautstärke zugenommen und die Vibrationen, die es begleiteten, sich verstärkt hätten, dann wäre aus Devons Verwirrung und Bedenken vielleicht Besorgnis geworden.

Das Phänomen setzte sich jedoch auf einem gleichbleibenden Pegel fort, und nach etwa einer halben Minute verklang das leise Trommeln, die letzten Vibrationen kamen durch den Fußboden und die blaue Statik verschwand allmählich wieder von den Plasmabildschirmen. Die vielen Perspektiven der Überwachungskameras kehrten zurück.

Die Kamera im Aufzug hatte ein Weitwinkelobjektiv und war dicht unter der Decke in einer hinteren Ecke der Kabine angebracht, um das gesamte Innere des Lifts zu erfassen, darunter auch die Tür – die geschlossen war. Earl Blandon war fort. Anscheinend war die Kabine im zweiten Stock angelangt und der ehemalige Senator war ausgestiegen.

Devon schaltete auf die Kamera in dem kurzen gemeinschaftlichen Flur um, der zu den Wohnungen 3-A und 3-C führte, und dann auf die Kamera, die einen Ausblick auf den kompletten langen Flur im Nordflügel des zweiten Stocks bot. Nirgendwo war etwas von Earl Blandon zu sehen. Seine Wohnung war die erste in diesem Flügel, 3-D, mit Blick auf den Innenhof. Er musste während des Zeitraums, in dem die Videoüberwachung versagt hatte, aus dem Aufzug gestiegen, um die Ecke gebogen sein und die Wohnungstür aufgeschlossen haben.

Devon sah sich der Reihe nach die Aufnahmen aller vierundzwanzig Kameras an. Die allgemein zugänglichen Bereiche waren ausnahmslos menschenleer. Im Pendleton blieb es weiterhin still und ruhig. Offenbar waren das düstere Trommeln und die Vibrationen oberhalb des Kellers so schwach gewesen, dass, falls überhaupt jemand davon aufgewacht war, niemand besorgt genug gewesen war, um aus seiner Wohnung zu kommen und sich umzusehen.

3 Der Pool im Keller

Ob gleich nach dem Aufstehen um vier Uhr morgens, wie jetzt, oder nach der Arbeit – Bailey Hawks zog es vor, seine Bahnen nur mit der Unterwasserbeleuchtung zu schwimmen, während der Rest des langen Raums im Dunkeln lag, der Pool ein riesiger funkelnder Edelstein war und helle, wässrige Spiegelungen wie lichtdurchlässige Flügel über die weißen Keramikfliesen an den Wänden und der Decke flatterten. Der angenehm warme Pool, der astringente Chlorgeruch, die Geräusche, mit denen seine Gliedmaßen das Wasser teilten, das sanfte Aufbäumen kleiner Wellen, die gegen die blassblauen Kacheln schwappten … Die angespannte Erwartungshaltung, die einem Handelstag an der Börse vorausging, und die geistig-seelische Ermattung, die auf einen solchen Tag folgte, wurden aus ihm herausgeschwemmt, wenn er seine Bahnen zog.

Er stand vor dem Morgengrauen aus dem Bett auf, um zu schwimmen, zu frühstücken und an seinem Schreibtisch zu sitzen, bevor die Märkte öffneten, aber das frühe Aufstehen war nicht der Grund für die Erschöpfung, die er jeden Freitagabend verspürte. Ein Tag, den er damit zugebracht hatte, das Geld anderer Menschen zu investieren, konnte ihn so abgekämpft zurücklassen wie ein Tag an der Front, als er noch bei den Marines gewesen war. Mit achtunddreißig war er in seinem sechsten Jahr als unabhängiger Vermögensverwalter, nachdem er im Anschluss an seine militärische Laufbahn drei Jahre lang bei einer großen Investmentbank gearbeitet hatte. Während seines ersten Jahres bei der Bank hatte er geglaubt, mit der Zeit, wenn der Erfolg seine Zuversicht stärkte, würde ihn die Verantwortung, das Anlagevermögen seiner Klienten zu schützen und zu vermehren, weniger drücken. Aber die Last wurde nie leichter. Geld konnte eine Form von Freiheit sein. Wenn er einen Teil der Investitionen einer anderen Person verlor, wäre das gleichbedeutend damit gewesen, einen bestimmten Teil der Freiheit dieses Klienten achtlos fortzuwerfen.

Als er ein Junge war, hatte seine Mutter ihn »mein Beschützer« genannt. Dass es ihm nicht gelungen war, sie zu beschützen, war ein Dorn in seinem Fleisch, der sich selbst nach all diesen Jahren noch fortwährend durch seine Seele vorarbeitete und zu tief saß, um sich rausziehen zu lassen. Er konnte, wenn überhaupt, nur dadurch Buße tun, dass er anderen zuverlässige Dienste erwies.

Am Ende seiner fünften Bahn stellte er sich hin und drehte sich zum fernen Ende des langen schimmernden Rechtecks um, wo er die Stufen ins Wasser hinuntergestiegen war. Der Pool war einen Meter fünfzig tief und Bailey maß einsachtundachtzig, und daher reichte ihm das Wasser nicht ganz bis an die Schultern, als er sich an den Beckenrand zurücklehnte, um sich auszuruhen, ehe er weitere fünf Bahnen schwamm.

Er strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht zurück … und sah unter Wasser eine dunkle Gestalt auf sich zukommen. Er hatte nicht gemerkt, dass nach ihm noch jemand in den Pool gestiegen war. Die gekräuselte Wasseroberfläche wob aus dem bebenden Licht und den Schatten der kleinen Wellen plätschernde Muster, die dafür sorgten, dass die näher kommende Gestalt erheblich verzerrt wurde. Wenn man unter Wasser war, wurde die Fortbewegung durch den größeren Widerstand erschwert. Es war einfacher, Bahnen an der Oberfläche zu schwimmen, doch dieser Schwimmer bohrte sich wie ein Torpedo durch das Wasser. Die Anstrengung, die erforderlich war, um so rasch voranzukommen, hätte den Mann eigentlich zwingen müssen aufzutauchen, um Luft zu holen, ehe er eine Bahn von dreißig Metern Länge bewältigen konnte, doch er schien sich unter Wasser so absolut in seinem Element zu fühlen wie ein Fisch.

Zum ersten Mal seit seinen Zeiten im Marine Corps nahm Bailey eine tödliche und unmittelbar bevorstehende Bedrohung wahr. Er vergeudete keinen Moment darauf, an seinen Instinkten zu zweifeln, sondern drehte sich um und presste die Hände flach auf die Pooleinfassung, stemmte sich hoch und schwang sich aus dem Pool und auf die Knie. Jemand packte von hinten seinen linken Knöchel. Er wäre ins Wasser zurückgezerrt worden, wenn er nicht mit dem rechten Fuß heftig zugetreten und das getroffen hätte, was das Gesicht seines Angreifers zu sein schien.

Sowie er sich befreit hatte, rappelte Bailey sich auf, um auf die Füße zu kommen, wankte auf den Fliesen mit der matten Oberfläche zwei Schritte weit und drehte sich um, plötzlich atemlos und von der irrationalen Furcht überwältigt, er befände sich in Gegenwart von etwas Unmenschlichem, des einen oder anderen mythischen Ungeheuers, das jetzt nicht mehr ein reines Fabeltier war. Nichts stellte sich ihm entgegen.

Die Unterwasserlampen strahlten nicht mehr so hell wie zuvor. Tatsächlich hatten sich die Eigenschaften des Lichts verändert. Es war von einem strahlenden Weiß zu einem düsteren Gelb übergegangen. In diesem schwefligen Schimmer wirkten die blauen Kacheln am Beckenrand grün.

Der dunkle Umriss bewegte sich unter der Oberfläche und kehrte geschmeidig und blitzschnell zu den Stufen zurück. Bailey eilte am Beckenrand entlang und versuchte den Schwimmer genauer zu sehen. Das Wasser im Pool war jetzt säuregelb und wirkte verschmutzt, an einigen Stellen klar, doch an anderen trüb. Es erwies sich als schwierig, Einzelheiten der Person – oder des Dings – im Wasser zu erkennen. Er glaubte, Beine, Arme und eine den groben Umrissen nach menschliche Gestalt auszumachen, und doch entstand der Gesamteindruck von etwas zutiefst Befremdlichem.

Zuerst einmal setzte der Schwimmer keinen Frogkick ein, was nahezu unerlässlich war, um ohne Schwimmflossen unter Wasser gut voranzukommen, und er machte auch nicht die Schwimmstöße eines Brustschwimmers. Er schien sich mit dem muskulösen Winden eines Hais dahinzuschlängeln und auf eine Weise voranzukommen, die einem Menschen unmöglich war.

Wenn Baileys Besonnenheit größer gewesen wäre als seine Neugier, dann hätte er sich seinen dicken Frotteebademantel von dem Haken geschnappt, an dem er hing, wäre hineingeschlüpft, hätte die Füße in seine Flipflops gesteckt und wäre zu dem nahen Wachraum im Westflügel des Kellers geeilt. Dort würde Devon Murphy Dienst haben. Aber die gespenstische Natur des Schwimmers und die jenseitige Stimmung, in die der Raum getaucht war, hatten Bailey in ihren Bann gezogen.

Das Gebäude bebte kaum merklich. Ein leises Grollen stieg aus der Erde unter dem Fundament des Pendleton auf, und Bailey blickte auf den Boden vor sich und rechnete beinah damit zu sehen, wie sich in den Mörtelfugen zwischen den Kacheln Haarrisse bildeten, was jedoch nicht passierte.

Gleichzeitig mit der schwachen Erschütterung veränderte sich das Licht im Pool wieder und ging diesmal von dem unappetitlichen Farbton von Urin, der sich durch eine Krankheit dunkler verfärbt hat, zu Rot über. Dicht vor den Stufen machte der Schwimmer mit dem mühelosen Schlängeln eines Aals kehrt und schwamm an das Ende des Pools zurück, von dem Bailey geflüchtet war.

Dort, wo das Wasser klar war, hatte es die Farbe von Cranberrysaft. Wo es so trüb war, als sei Schlick aufgewirbelt worden, ähnelte es Blut, und dieser widerwärtige Fleck breitete sich jetzt rascher im Pool aus.

Die flatternden, wässrigen Spiegelungen auf den schimmernden weißen Kacheln der Wände und der Decke verwandelten sich in züngelnde Flammen, die auf die Kacheln gemalt zu sein schienen. Der lange Raum wurde dämmriger und düsterer und Schatten schwollen an wie sich aufblähende Rauchschwaden.

Als er sich dem anderen Ende des langen Pools näherte, war der Schwimmer schwerer zu sehen, obwohl er in dem besudelten Wasser noch sichtbar war. Kein Mensch hätte drei Bahnen so schnell schwimmen können, ohne an die Oberfläche aufzutauchen, um Atem zu holen.

Die Erschütterung dauerte fünf oder sechs Sekunden, und eine halbe Minute, nachdem sie nachgelassen hatte und es wieder still im Gebäude geworden war, gingen die Poollampen schrittweise von Rot zu Gelb über und wurden schließlich wieder weiß. Die aufgemalten Flammen, die an den schimmernden Wänden hinaufgezüngelt waren, wurden wie zuvor zu tanzenden Flügeln aus Licht, und im Raum wurde es heller. Das trübe Wasser wurde von Neuem kristallklar. Der geheimnisvolle Schwimmer war verschwunden.

Bailey Hawks hatte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt; Wasser tropfte von ihm herab und in die Pfütze, in der er stand. Sein Herz schlug nicht ganz so heftig, wie es das in den alten Zeiten unter feindlichem Beschuss möglicherweise getan hätte, aber doch so stark, dass er selbst es hämmern hörte.

4 Apartment 3-C

Um vier Uhr dreizehn wurde Silas Kinsley von einem leisen Donnern geweckt und glaubte, das Haus wackle. Aber das kurze Grollen und die Bewegung waren bereits vorüber, als er sich aufsetzte und vollständig zur Besinnung kam. Er wartete im Dunkeln, lauschte einen Moment lang und entschied dann, die Unruhe sei Bestandteil eines Traums gewesen.

Als er seinen Kopf wieder auf das Kissen sinken ließ, stieg jedoch im Innern der Wand, an der sein Bett stand, ein Geräusch auf. Der zischelnde, schlüpfrige Klang ließ vor seinen Augen Bilder von Schlangen aufziehen, die sich zwischen den Streben hinter der Gipsfaserplatte wanden, was unwahrscheinlich, wenn nicht gar undenkbar schien. Von so etwas hatte er nie zuvor gehört. Er hatte den Verdacht – die Intuition –, es müsse etwas mit der beunruhigenden Geschichte des Hauses zu tun haben.

Die Ruhestörung dauerte vielleicht fünf Minuten. Er lag da, lauschte und machte sich Gedanken, nicht furchtsam, aber durchaus auf der Hut; er achtete wachsam auf jede Veränderung des Geräuschs, die ihm dabei helfen könnte, die Ursache zu identifizieren.

Die nachfolgende Stille war eine erwartungsvolle, die Schlaflosigkeit erzeugt. Er war kürzlich neunundsiebzig geworden und für gewöhnlich erwies sich der Schlaf als etwas, das sich ihm entzog, wenn er einmal gestört worden war. Silas war ein pensionierter Anwalt für Zivilrecht, aber in seinem Kopf herrschte dieser Tage ein so reges Treiben wie damals, als sein Terminkalender noch vollständig mit Mandanten ausgebucht gewesen war. Er stand vor dem Morgengrauen auf, duschte, zog sich an und briet sich Eier in Butter, während vor dem Küchenfenster das grelle Rosa des Morgenlichts Korallenriffe an den Himmel malte.

Später, nach dem Mittagessen, schlief er in einem Sessel ein. Als er sich nach einer Stunde alarmiert aufrichtete, hatte er nicht viel von dem Albtraum in Erinnerung, dem er entronnen war, nur, dass darin Katakomben aus Tropfstein vorgekommen waren, in denen es nicht, wie in den meisten Katakomben, Überreste von Skeletten gab, sondern nur leere Bestattungsnischen, die in die gewundenen Wände gemeißelt waren. Etwas Stummes, Unsichtbares, etwas mit unversöhnlichen Absichten, hatte ihn in diesem Labyrinth gesucht und durch die Gänge verfolgt.

Seine Hände waren so kalt wie die einer Leiche. Er starrte den aufgehenden Mond am unteren Ende jedes seiner Fingernägel an.

Noch später an jenem düsteren Dezembernachmittag stand Silas an einem der Wohnzimmerfenster seines Apartments im zweiten Stock des Pendleton, auf der Kuppe des Shadow Hill, und beobachtete, wie die tiefer gelegenen Boulevards hinter einer aufziehenden Regenwand verblassten. Gebäude aus gelbbraunem Backstein, aus rotem Backstein, aus Kalkstein, sowie die neueren und höheren und hässlicheren Türme mit verglasten Außenwänden wurden sofort zu einem einheitlichen Grau ausgebleicht, als das Unwetter sie überflutete, und wurden so zu den geisterhaften Bauten einer längst ausgestorbenen Stadt in einem Albtraum von Pest und Trostlosigkeit. Weder das warme Zimmer noch sein Kaschmirpullover konnten die Kälteschauer mildern, die wie eine geflügelte Horde durch ihn hindurchfegten.

Die offizielle Geschichte besagte, vor 114 Jahren seien Margaret Pendleton und ihre Kinder Sophia und Alexander aus diesem Haus verschleppt und ermordet worden. Silas bezweifelte mittlerweile, dass es vor so langer Zeit tatsächlich zu dieser Entführung gekommen war. An jenem Tag war den dreien etwas Seltsameres als Mord widerfahren, etwas Schlimmeres.

Shadow Hill stieg bis zum höchsten Punkt dieser Stadt im Landesinneren, an und der zweite Stock war die oberste Etage des Pendleton. Das nach Westen gerichtete Gebäude schien über die vom Regen gepeitschte Großstadt zu herrschen, die sich unter ihm ausbreitete. Sowohl der Hügel als auch die Straße waren nach den Schatten von Bäumen und Gebäuden benannt, die an einem sonnigen Nachmittag stündlich länger wurden, bis sie in der Abenddämmerung auf den Gipfel krochen und dort auf die Nacht trafen, die von Osten her kam.

Das Pendleton war nicht einfach nur ein grandioses Haus, nicht lediglich ein Herrenhaus, sondern genau genommen ein Palast im Beaux-Arts-Stil, 1889 erbaut, zur Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft, rund fünftausendfünfhundert überdachte Quadratmeter, ohne den riesigen Keller oder das separate Kutschenhaus mitzuzählen. Das Gebäude war ein Stilmix aus klassizistischer Architektur und französischer Renaissance, mit Kalkstein verkleidet und mit kunstvoll gemeißelten Fenstereinfassungen. Weder die Carnegies noch die Vanderbilts und noch nicht einmal die Rockefellers hatten jemals ein prächtigeres Haus besessen.

Nachdem er kurz vor Weihnachten 1889 eingezogen war, hatte Andrew North Pendleton – ein Milliardär in einer Ära, als eine Milliarde Dollar noch richtig viel Geld war – sein neues Haus Belle Vista getauft. Und unter dem Namen war es 84 Jahre lang bekannt; 1973 wurde es dann in eine Eigentumswohnanlage umgewandelt und erhielt seinen neuen Namen – das Pendleton.

Andrew Pendleton verbrachte eine glückliche Zeit im Belle Vista, bis im Dezember 1897 seine Frau Margaret und ihre beiden kleinen Kinder angeblich entführt und nie mehr gefunden wurden. Danach wurde Andrew zu einem bemitleideten Einsiedler, dessen Exzentrik sich zu einer vornehmen Form von Wahnsinn auswuchs.

Silas Kinsley hatte seine Ehefrau im Jahr 2008 verloren, nach dreiundfünfzig Ehejahren. Er und Nora waren nie mit Kindern gesegnet gewesen. Da er jetzt selbst seit drei Jahren Witwer war, konnte er sich vorstellen, wie die Einsamkeit und der Kummer Andrew Pendleton seines Verstandes beraubt haben mochten.

Dennoch war Silas zu dem Schluss gelangt, dass Einsamkeit und Verlust vor langer Zeit nicht die Hauptursachen für den Niedergang und den Selbstmord des Milliardärs gewesen waren. Andrew North Pendleton war auch von einer grässlichen Erfahrung in den Wahnsinn getrieben worden, von einem mysteriösen Erlebnis, das er sieben Jahre lang mit großer Anstrengung zu verstehen versucht hatte und auf das er fixiert blieb, bis er sich selbst das Leben nahm.

Eine gewisse Fixierung hatte auch Silas infolge von Noras Tod gepackt. Nachdem er das Haus verkauft hatte, in dem sie gemeinsam gelebt hatten, und diese Wohnung erworben hatte, hatte er sich die Zeit damit vertrieben, mehr über die Geschichte dieses Gebäudes zu erfahren, das den Status eines Wahrzeichens besaß. Diese Neugier wuchs sich zu einer derartigen Besessenheit aus, dass er auf der Suche nach Fakten, und seien sie noch so alltäglich, zahllose Stunden damit zubrachte, über Unterlagen in Staatsarchiven zu brüten, Ausgaben von Zeitungen zu studieren, die mehr als hundert Jahre alt waren, und sich in diversen Archiven herumzutreiben.

Jetzt wich Silas, obwohl er beobachtet hatte, wie die Legionen des Sturms aus dem Tiefland heranmarschiert waren und den langen Nordhang des Shadow Hill erklommen hatten, erschrocken einen Schritt zurück, als die erste nasse Salve gegen die Fensterscheiben schlug, als sei der Regen, den man irrtümlich für nichts weiter als ein Wetterphänomen hielt, ein böswilliger Angreifer, der es auf ihn persönlich abgesehen hatte. Die Stadt verschwamm, der Tag schien dunkler zu werden und die versilbernde Wirkung der Wohnzimmerlampe machte das Fenster zu einem schwachen Spiegel. In der nassen Glasscheibe war sein Gesicht durchscheinend und es fehlte ihm an ausreichenden Einzelheiten, als sei es nicht sein Spiegelbild, sondern müsse stattdessen das Gesicht eines anderen sein, das bleiche Antlitz von etwas, das nicht ganz und gar menschlich war, eines Besuchers aus einer okkulten Sphäre, die durch die Kraft des Unwetters vorübergehend mit dieser Welt in Verbindung stand.

Kantige Blitze spalteten den sich verdüsternden Tag und Silas wandte sich vom Fenster ab, als Donnerschläge auf den Himmel einhieben. Er ging in die Küche, wo die Leuchtstofflampen unter den Hängeschränken die Arbeitsflächen aus goldenem Granit leuchten ließen und wo alle anderen Lichter ausgeschaltet waren. Seine Unterlagen über das Pendleton lagen auf dem Tisch in der Essecke verstreut: Zeitungsartikel, Fotokopien von Dokumenten aus Staatsarchiven, schriftliche Protokolle der Befragungen von Menschen, die behaupteten, vor 1974 Erfahrungen mit dem Gebäude gemacht zu haben, und Fotokopien der elf Papierschnipsel, die von einem handgeschriebenen Tagebuch übrig waren, das Andrew North Pendleton unmittelbar vor seinem Selbstmord vernichtet hatte.

Jedes der Blätter, die nicht in Flammen aufgegangen waren, stellte ein unvollständiges Fragment von Pendletons Notizen dar und jedes war an den Rändern braun und angesengt, da er das Tagebuch im Kamin seines Schlafzimmers verbrannt hatte, ehe er sich den Lauf einer Schrotflinte in den Mund gesteckt und eine tödliche Mahlzeit aus grobem Schrot zu sich genommen hatte. Jeder der elf kurzen Prosatexte war faszinierend und schien darauf hinzuweisen, Andrew Pendleton hätte eine so außergewöhnliche Erfahrung gemacht, dass man sie schon als jenseitig bezeichnen konnte. Aber vielleicht hatte ihn in den letzten Stadien seines Wahnsinns auch nur eine Demenz geplagt, die ihn Albträume und Halluzinationen irrtümlich für Erinnerungen an reale Ereignisse halten ließ.

Unter den elf Fetzen Papier, die den Brand halbwegs überstanden hatten, wandte sich Silas am häufigsten einem kryptischen, verstörenden Fragment über Pendletons Tochter Sophia zu, die bei ihrem Verschwinden sieben Jahre alt gewesen war. Die Worte und all ihre möglichen Bedeutungen verfolgten ihn so beharrlich, dass er sie sich eingeprägt hatte: … und ihre einst rosige Haut grau, ihre Lippen so grau wie Asche und ihre Augen wie Rauch, ein humorloses, eisengraues Grinsen, nicht mehr meine Sophie und ihr mit jedem Moment unähnlicher.

Andrew Pendletons Verlust seiner Familie war nicht die einzige Tragödie in der Geschichte des prachtvollen Hauses. Der zweite Besitzer, Gifford Ostock, Alleinerbe eines beträchtlichen Vermögens, das im Steinkohlebergbau und der Anfertigung von Kohlenwagen für die Eisenbahn zusammengekommen war, lebte von 1905 bis 1935 im Belle Vista und ließ es sich dort richtig gut gehen. Doch eines Nachts im Dezember ’35 schlachtete der Butler Nolan Tolliver die Familie Ostock und das gesamte Personal, das im Haus wohnte, ab, ehe er sich selbst das Leben nahm. Tolliver hinterließ eine unzusammenhängende handschriftliche Notiz, in der er behauptete, sie ermordet zu haben, um »die Welt vor dem ewigen Dunkel zu bewahren«, und obwohl er die Verantwortung für sämtliche sechzehn Morde übernahm, wurden acht der Toten nie gefunden. Bis dato war unbekannt, wie Tolliver die Hälfte seiner Opfer beseitigt hatte und warum er sich der anderen acht nicht gleichermaßen entledigt hatte.

5 Apartment 2-C

Bailey Hawks hatte dem Wachdienst die Begegnung im Pool nicht gemeldet. Aus Rücksicht auf die Privatsphäre der Bewohner hatte man in diesem Raum auf eine Überwachungskamera verzichtet; daher gab es nun keinen Beweis dafür, dass sich der bizarre Vorfall tatsächlich ereignet hatte.

Fünf Bewohner des Pendleton gehörten zu seinen Klienten: Die Schwestern Edna und Martha Cupp in 3-A; Rawley und June Tullis in 2-D und Gary Dai in 3-B. Es war nicht anzunehmen, dass Menschen mit einem beträchtlichen Investmentportfolio ihr Anlagevermögen weiterhin einem Mann anvertrauten, der anfing, sich über ein übernatürliches Erlebnis zu ereifern, selbst wenn seine Leistungen in der Vergangenheit noch so zuverlässig gewesen waren.

Bailey verbrachte den größten Teil des Morgens und den frühen Nachmittag in seinem Arbeitszimmer, wo er auf drei Computern, die über normale Standleitungen verbunden waren, die Preise von Aktien, Anleihen und Rohstoffen verfolgte, während er auf einem vierten Nachforschungen und Analysen anstellte. Nur einer seiner beiden Vollzeitbeschäftigten, Jerry Allwine, arbeitete hier mit ihm, und obwohl Jerry Grippe hatte und nicht zur Arbeit erschienen war, war es kein hektischer Tag. Weder auf dem Aktien- noch auf dem Rohstoffmarkt war viel in Bewegung, und als um vierzehn Uhr seiner Zeit die großen Börsen schlossen, erwies es sich als ein flauer Tag.

Normalerweise war Bailey ungeheuer zielgerichtet und besaß ein enormes Konzentrationsvermögen, was ihm auf den Schlachtfeldern des Finanzmarkts ebenso gute Dienste erwies wie in den Kriegen in Afghanistan und im Irak. An jenem Donnerstag schweiften seine Gedanken jedoch wiederholt zu der Erinnerung an die mysteriöse Gestalt im Pool ab, und das Gefühl von Gefahr, das ihn in dem Moment gepackt hatte, stellte sich von Neuem ein und ließ ihn nicht los, wenn es auch nicht so akut war wie während der Begegnung.

Vor ausgeschalteten Computern saß er lange nach fünfzehn Uhr im Lichtschein einer einzigen Lampe immer noch an seinem Schreibtisch, als heftige Regenschauer, die gegen das Fenster nach Norden prasselten, seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Erst jetzt merkte er, wie düster der Tag geworden war. Die Abenddämmerung hatte sich zwei Stunden vor der Zeit angeschlichen. Die finsteren Wolken schienen sich nicht nur über der Stadt aufzublähen, sondern sich auch um sie herum zu winden, als machten sie es sich für einen langen verträumten Abend bequem.

Es blitzte ununterbrochen. Das grelle Flackern bewirkte, dass geometrische Schatten der Mittelpfosten und der Sprossen des Fensters durch das schummerig beleuchtete Zimmer flatterten und sich vorübergehend auf den Wänden abzeichneten.

Die schnell folgenden Donnerschläge, laut genug, um Armageddon anzukündigen, ließen Bailey nicht von seinem Stuhl aufspringen. Aber als während des nächsten Bombardements durch Blitze das Licht seiner Schreibtischlampe schwächer wurde, war er im Nu auf den Füßen, denn diesmal bewegte sich durch die geometrischen Schatten, die das Sprossenfenster warf, ein anderer Schatten. Geschmeidig und biegsam, nur flüchtig zu sehen. Der Schatten raste nicht etwa so durch das Zimmer, als könnte er die Silhouette von etwas Unbelebtem sein, die durch die grellen Blitze an die Wand projiziert und in Bewegung gesetzt wurde, sondern als müsse es sich um einen Eindringling handeln, der sich verraten hatte.

Die dunkle Gestalt ohne Merkmale war so groß wie ein Mann, als sie sprang, doch sie schien mehr von einem Panther zu haben, als der Sprung zu einem federnden Schritt wurde. Bailey, der sich bereits beim Aufspringen auf seinem Stuhl umgedreht hatte, nahm jetzt die Verfolgung des Schemens auf, falls es sich um einen solchen handelte. Das Ding entzog sich dem Blick, denn es war flink und quecksilbrig, seine Bewegungen wirkten geschmeidig, und es hielt keinen Moment lang still, während die von den Blitzen erzeugten Schatten des Fensterrahmens stroboskopisch im Sturm flackerten und zuckten.

Der schwarze Umriss zeichnete sich nicht gemeinsam mit den Fenstersprossen an der Wand ab, sondern schien sich durch den Verputz zu bewegen. Die Kette von Blitzen warf ihr letztes leuchtendes Glied aus, der Schein der Messinglampe auf dem Schreibtisch wurde wieder heller und Bailey eilte aus dem Arbeitszimmer, um dem Ding zu folgen, das von Wänden nicht aufzuhalten war.

6 Apartment 3-C

Nachdem er einen Moment lang dagestanden und die Unterlagen auf dem Küchentisch angestarrt hatte, die sich allesamt mit dem Pendleton befassten, ging Silas zur Kaffeemaschine. Er füllte einen weißen Keramikbecher, holte eine Flasche Brandy aus dem Küchenschrank und goss etwas davon in den Kaffee. Auf der Wanduhr war es fünfzehn Uhr sieben, und obwohl Silas vor der Abendessenszeit nie etwas trank und selbst dann nicht unbedingt, verspürte er das Bedürfnis, sich für einen Termin um siebzehn Uhr zu stärken.

Er lehnte sich an die Anrichte, mit dem Rücken zu den beiden Spülbecken und dem Fenster darüber. Blitze flackerten und belebten seinen Schatten, der in der halbdunklen Küche nach vorn und wieder zurücksprang, nach vorn und wieder zurück, als sei die verzerrte Silhouette ein Wesen mit einem eigenen Willen und dem heftigen Verlangen, sich von ihm zu befreien.

Er nippte an dem Kaffee, der so heiß war, dass er es gerade noch aushielt, vielleicht nicht nur ein Heilmittel für seine flatternden Nerven, sondern auch gegen die Kälteschauer, die ihn plagten. Er war drauf und dran, das vereinbarte Treffen ausfallen zu lassen, hierzubleiben und Kaffee mit Schuss zu trinken, bis seine Augenlider schwer würden und er sich nicht mehr wach halten könnte. Er war jedoch sogar als Rentner noch Anwalt. Und zwar einer, der nicht nur die Gesetze von Bund, Land und Stadt respektierte, sondern auch und vor allem das Naturgesetz, den Kodex, von dem er glaubte, er sei allen Menschen von Geburt an eigen, ein Kodex von Verantwortlichkeiten, zu denen auch die Pflicht zählte, die Wahrheit zu lieben und ihr stets nachzugehen.

Doch manchmal war die Wahrheit eben schwer zu fassen …

Nachdem Tolliver, der Butler, 1935 die Familie Ostock und seine Kollegen ermordet hatte, stand Belle Vista drei Jahre lang leer, bis ein Junggeselle aus der Ölindustrie, ein Mann namens Harmon Drew Firestone, den die Gewalttaten der Vergangenheit nicht abschreckten, das prachtvolle Haus zu einem Spottpreis erwarb. Er gab ein Vermögen dafür aus, es zu restaurieren, bis es wieder in seinem alten Glanz erstrahlte. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Belle Vista zum Mittelpunkt des pulsierenden gesellschaftlichen Lebens der Stadt geworden. Der alte Harmon Firestone starb im Frühjahr 1972 still im Schlaf eines natürlichen Todes.

Der Nachlassverwalter des Firestone-Erbes verkaufte Belle Vista an einen Bauträger, der das Gebäude in dreiundzwanzig Wohneinheiten unterschiedlicher Größe umwandelte. Die hohen Decken, die aufwendigen und gut ausgeführten architektonischen Details, die Aussicht durch den erhöhten Standort und die eleganten, gemeinschaftlich genutzten Räume sorgten dafür, dass sich die Wohnungen 1974 schnell verkaufen ließen, zum höchsten Quadratmeterpreis in der Geschichte der Stadt. Siebenunddreißig Jahre später lebten nur zwei der ursprünglichen Besitzer noch in ihren Wohnungen, etliche Apartments waren schon mehr als einmal in andere Hände übergegangen.

Erst am Vortag hatte Silas in Erfahrung gebracht, dass die Geschichte des Blutvergießens im Pendleton nicht mit Nolan Tollivers Amoklauf geendet hatte. Es war nicht nur in jüngerer Zeit zu Gewalttaten einer bizarren Natur gekommen, sondern allem Anschein nach traten die Vorfälle auch mit vorhersagbarer Regelmäßigkeit mehr oder weniger auf den Tag genau alle achtunddreißig Jahre auf, was vermuten ließ, dass es demnächst zu einer weiteren Gräueltat kommen konnte.

Margaret Pendleton und ihre beiden Kinder Sophia und Alexander waren in der Nacht des 2. Dezember 1897 verschwunden.

Achtunddreißig Jahre später waren am 3. Dezember 1935 die Familie Ostock und sieben Angehörige ihres Personals ermordet worden.

1973, achtunddreißig Jahre nach der Ostock-Tragödie, war das Belle Vista unbewohnt gewesen, weil es gerade zu Luxuswohnungen umgebaut wurde; kein Bewohner kam ums Leben. Dennoch hatten Ende November und Anfang Dezember jenes Jahres Handwerker und Facharbeiter, die mit dem Umbau befasst waren, derart beunruhigende Erlebnisse gehabt, dass einige ihre Jobs kündigten und in all den Jahren seither Schweigen darüber bewahrt hatten, was sie als Zeugen miterlebt hatten. Einer von ihnen, Perry Kyser, war um siebzehn Uhr mit Silas verabredet.

Vor der Kaffeemaschine füllte er seinen Becher nach. Den Brandy hatte er noch nicht in den Schrank zurückgestellt. Nach kurzem Zögern beschloss er, den Kaffee diesmal nicht mit Alkohol zu mischen.

Als er die Flasche zuschraubte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, ein dunkles Etwas, das er nur flüchtig zu sehen bekam. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er sich zu der offenen Tür zum Flur umdrehte. Das Licht von zwei Kristallglaslampen an der Decke fiel auf cremeweiße Wände, einen persischen Läufer und den schimmernden Mahagoniboden, aber nicht auf einen Eindringling.

Seine jüngsten Entdeckungen hatten dafür gesorgt, dass seine Nerven angespannt waren. Falls es dem Pendleton bestimmt war, ein weiteres Mal wie im Dezember mehrerer anderer Jahre ein Totenhaus zu sein, dann konnte die Zeit knapp werden. Es war Donnerstag, der 1. Dezember 2011.

Silas war nicht in der Stimmung, die flüchtige Erscheinung im Flur als Sinnestäuschung abzutun. Er stellte seinen Kaffeebecher hin, wagte sich aus der Küche hinaus und lauschte mit zur Seite geneigtem Kopf auf die Geräusche eines Eindringlings.

Das Esszimmer lag links von ihm, das Arbeitszimmer und die Gästetoilette rechts. In keinem der Räume hielt sich jemand auf.

Hinter dem Esszimmer befand sich das geräumige Wohnzimmer mit seinem gusseisernen Kamineinsatz und der kunstvoll verzierten Kamineinfassung aus Kalkstein, die bis zu einer vier Meter zwanzig hohen verzierten Stuckdecke mit einem geriffelten Eierstabprofil reichte. Direkt gegenüber dem Kamin wanden sich Schlangen aus Regen die hohen Fensterscheiben hinab.

Am hinteren Ende des Wohnzimmers war im Flur sowohl der Riegel der Wohnungstür vorgeschoben als auch die Sicherheitskette vorgelegt.

Auf der anderen Seite des Flurs, dem Wohnzimmer gegenüber, lauerte niemand im Schlafzimmer oder in einer der beiden Ankleiden. Die Stille erschien ihm tiefer als sonst, wie ein erwartungsvolles Schweigen, doch den unheimlichen Charakter dieser Geräuschlosigkeit mochte er sich einbilden.

Als er sich der halb offenen Tür zu dem geräumigen Badezimmer näherte, einem Reich aus weißem Marmor mit goldenen Adern und großen verspiegelten Flächen, glaubte er, säuselnde Stimmen oder vielleicht das zischelnde Geräusch zu hören, das während der Nacht aus dem Innern der Mauer zu vernehmen gewesen war. Aber als er über die Schwelle trat, erwies sich auch das Bad als still – und menschenleer.

Er sah sich den Raum erst in einem Spiegel und dann in einem anderen an, als könnte ein Spiegelbild etwas enthüllen, was nicht zu sehen war, wenn man den Blick direkt darauf richtete. Da die Spiegel einander gegenüberhingen, stand er zwischen einer Vielzahl von Silas Kinsleys, die entweder im Gänsemarsch auf ihn zukamen oder ihm den Rücken zukehrten und sich von ihm zurückzogen.

Es war lange her, dass er sein Gesicht das letzte Mal ganz bewusst in einem Spiegel betrachtet hatte. Er wirkte viel älter, als er sich fühlte. In den drei Jahren seit Noras Tod war er um zehn Jahre gealtert.

Er sah von einem Gesicht zum anderen und rechnete fast damit zu entdecken, dass eines von ihnen das eines Fremden war, eines böswilligen Anderen, der sich zwischen einer Unzahl von immer kleiner werdenden Silas Kinsleys verbarg. Was für ein seltsamer Gedanke. Natürlich waren die Spiegelbilder lauter identische alte Männer.

Als er in den Flur zurückkehrte, stieg unter seinen Füßen ein leises und bedrohliches Rumpeln auf, kein Donner, sondern eher so, als führe unterirdisch ein Zug unter dem Gebäude durch, obwohl es in der Stadt kein U-Bahn-Netz gab. Das Pendleton erschauerte und Silas wankte mit ihm. Er dachte: Erdbeben, aber in den fünfundfünfzig Jahren, die er in dieser Stadt verbracht hatte, hatte er nie ein Erdbeben gefühlt und auch nur das Geringste von einer größeren Verwerfung unter irgendeinem Teil des Bundesstaats gehört. Das Beben dauerte zehn oder fünfzehn Sekunden und legte sich dann, ohne Schäden zu hinterlassen.

* * *

Im Arbeitszimmer drehte sich Zeuge im Kreis, weil er sich zuerst einen Eindruck von der Räumlichkeit verschaffen wollte. Es konnte durchaus sein, dass er nur für ein paar Sekunden hier sein würde, bestenfalls ein oder zwei Minuten. Es war das Zimmer eines Mannes, aber es strahlte Wärme aus und eine Wand war einer Fotogalerie vorbehalten, die Silas Kinsley mit einigen der Mandanten zeigte, die er so erfolgreich vertreten hatte, Silas und seine verstorbene Frau Nora an diversen exotischen Schauplätzen sowie die beiden zusammen mit verschiedenen Freunden bei festlichen Anlässen.

Im Flur ging Kinsley an der offenen Tür vorbei in Richtung Küche. Er warf keinen Blick hinein. Zeuge wartete darauf, dass der Anwalt wieder auftauchte, weil ihn das, was er aus dem Augenwinkel gesehen hatte, erst mit Verspätung in Alarmbereitschaft versetzte, doch häusliche Geräusche in der Küche wiesen darauf hin, dass keine unmittelbare Konfrontation zu erwarten war.

Wie würde er reagieren, wenn er einen Fremden – einen kräftigen jungen Mann in Stiefeln, Jeans und Pullover – wie durch Zauberhand in seiner Wohnung vorfand? Mit der Furcht eines Mannes, der vom Alter geschwächt war, oder mit der ruhigen Autorität eines Anwalts, der nach Jahrzehnten der Triumphe im Gerichtssaal immer noch selbstbewusst auftrat? Zeuge hatte den Verdacht, dass es sich hier um einen Mann handelte, der nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war.

Zwei Wände des Zimmers nahmen Bücherregale ein, die vom Boden bis zur Decke reichten und mit Büchern vollgepackt waren. Die meisten waren juristische Bücher, über Fälle, die aufzeigten, wie die Gesetze auszulegen waren, und dicke Biografien bedeutender Persönlichkeiten in der Geschichte der amerikanischen Jurisprudenz.

Ehrfürchtig ließ Zeuge eine Hand leicht über die Buchrücken gleiten. Dort, wo er herkam, gab es keine Gesetze, keine Anwälte, keine Richter, keine Geschworenen, keine Prozesse. Die Unschuldigen waren von einer brutalen Strömung des Glaubens an die Vorherrschaft des Primitiven fortgeschwemmt worden, durch den Glauben an die falschen Dinge, durch die Auflehnung gegen die Realität und die Erhebung idiotischer Überzeugungen in den Rang der alleinigen Wahrheit. Er hatte zu seiner Zeit viele Menschen getötet und war sich sicher gewesen, für das Blut, das er vergossen hatte, würde er nie zur Verantwortung gezogen werden. Dennoch hatte er Hochachtung vor dem Gesetz, ebenso wie ein Mensch, der in gottloser Verzweiflung lebt, die Idee eines Gottes, die er sich nicht zu eigen machen kann, wertschätzen könnte.

7 Apartment 2-A

Das Unwetter war ein Geschenk. Der Text von »One Rainy Night in Memphis« brauchte eine Melodie mit Schwung, aber auch mit einem melancholischen Unterton, eine Kombination, die nicht leicht zu erreichen war, und schon gar nicht für Twyla Trahern. Der muntere Teil machte ihr keine Schwierigkeiten, aber Melancholie war für sie eine Erfahrung, die sie nur aus zweiter Hand kannte, etwas, was anderen Menschen widerfuhr, und obwohl sie bereits einige melancholische Songs geschrieben hatte, brauchte sie eine trübsinnige Atmosphäre, um sich inspirieren zu lassen. Mit ihrer Gitarre saß sie auf dem Hocker an einem Fenster des Arbeitszimmers ihrer Wohnung im ersten Stock des Pendleton, schaute in den Regen hinaus, der ihr so gelegen kam, auf die funkelnden Lichter der Großstadt in der vorzeitigen Abenddämmerung, die dem Tag durch die schweren Gewitterwolken aufgedrückt worden war, zupfte Töne und probierte auf der Suche nach dem Klang des Kummers verschiedene Akkorde aus.

Sie komponierte zwar nicht immer so, doch diesmal nahm sie sich den Refrain zuerst vor, denn dort musste sich die Munterkeit besonders ausgeprägt zeigen. Sie arbeitete daran – die letzten Feinheiten würden am Klavier erfolgen – und ließ die Überleitung von acht Takten vorerst weg, denn die würde sie erst schreiben, nachdem sie die klaren Linien der Melodie aus dem Refrain extrapoliert hatte.

Wie üblich hatte sie den Text zuerst verfasst, Vers um Vers, Strophe um Strophe, und jede Texteinheit geschliffen, bis sie glänzte und doch nicht zu glatt war. Schliff ohne Glätte war ein Ziel, das nicht leicht zu erreichen war. Viele Texter konnten einen ganzen Song auf einen Rutsch hinschreiben, obwohl sie wussten, dass einige Verse nicht gut genug waren und dass sie sich später damit befassen und sie umschreiben mussten, aber so konnte Twyla nicht arbeiten. Manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass sie an den Worten feilen musste, wenn die Melodie fertig war, damit die Synkopen stimmten und die Silben sich anmutig mit der Musik verbanden, aber über ein letztes Feilen ging es dann doch nie hinaus.

Sie schrieb Countrymusic und sie wusste, worüber sie schrieb. Sie war die Tochter eines Farmers, der in der Rezession von 1980, als sie zwei Jahre alt gewesen war, seine Farm verloren hatte. Er hatte anschließend als Wartungsmechaniker in einem Kohlekraftwerk gearbeitet, die meiste Zeit über in fensterlosen Kammern, wo die Hitze über fünfzig Grad steigen konnte. Zehn Stunden am Tag, fünf und manchmal sogar sechs Tage in der Woche. Und dabei unablässig geschwitzt. Oft hatte er gefährliche Arbeiten ausgeführt, in verräucherter Luft, in der die feine Asche pulverisierter Kohle qualmte, die in einer ständigen kontrollierten Explosion verbrannt wurde. Winston Trahern ertrug seinen Job zweiundzwanzig Jahre lang, um seine Familie einzukleiden, zu ernähren und ihr einen gewissen Wohlstand zu bieten. Twyla hatte ihren Dad nie klagen hören, und er duschte immer nach seiner Schicht noch im Betrieb, sodass er frisch und sauber aussah, wenn er nach Hause kam. Als Twyla zweiundzwanzig war, explodierte im Kraftwerk ein Kohlebrecher und tötete ihren Vater und zwei weitere Männer.

Von ihm hatte sie das sonnige Gemüt, das es ihr schwer machte, melancholische Songs zu schreiben, und das war ein besseres Vermächtnis als ein Topf voller Geld.

Als sich Regenfahnen über der Stadt entrollten und an den Fensterscheiben hinunterrannen, verfestigte sich die Musik um den Text herum und verschmolz mit ihm. Twyla wurde klar, dass sie einen Song schrieb, den niemand besser singen konnte als Farrel Barnett, ihr früherer Ehemann. Sein erster großer Hit auf der Bühne und ihr erster Titel als Songwriterin, mit dem sie in die Top Ten kam, war »Leaving Late and Low« gewesen. Sie heirateten, nachdem sie vier Songs für seine zweite CD geschrieben hatte.