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Eine Mutter, ein Junge und ihr verzweifelter Kampf gegen das Böse. Woody Bookman ist elf Jahre alt. Er hat noch nie ein Wort gesprochen, obwohl seine Mutter Megan alles tut, damit ihr Junge glücklich ist. Aber Woody wird von dunklen Ängsten geplagt. Er glaubt, dass ein monströses Übel hinter dem tödlichen Unfall seines Vaters steckt und nun ihn und seine Mutter bedroht. Es ist ein Mann, mit dem Willen, die Welt zu zerstören. Seine Kräfte werden immer stärker und er ist nicht allein. Doch auch Woody ist nicht allein. Er hat einen ihm unbekannten Verbündeten … The Times: »Dean Koontz ist nicht nur der Experte für unsere dunkelsten Träume, sondern auch ein literarischer Meister.«
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Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Devoted
erschien 2020 im Verlag Thomas & Mercer.
Copyright © 2020 by the Koontz Living Trust
Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-867-4
www.Festa-Verlag.de
Für Joe McNeely
Eine seiner vielen Tugenden ist die Fähigkeit,
über sich selbst zu lachen – zusammen mit uns anderen.
Er macht die Welt zu einem besseren Ort.
Alles Wissen, die Gesamtheit aller Fragen
und alle Antworten sind im Hund enthalten.
– Franz Kafka
Wir sind allein, völlig allein auf diesem Planeten.
Von all den Lebensformen um uns herum
hat sich außer dem Hund keine
auf ein Bündnis mit uns eingelassen.
– Maurice Maeterlinck
Wenn du einen verhungernden Hund aufnimmst
und ihn satt machst, wird er dich nicht beißen.
Das ist der Grundunterschied zwischen
Hund und Mensch.
– Mark Twain
Der Hund ist das einzige Wesen auf Erden,
das dich mehr liebt als sich selbst.
– Josh Billings
Dunkler als die Dunkelheit
Dienstag 16 Uhr – Mittwoch 17 Uhr
1
Drei Jahre nach dem Unfall war Megan Bookman körperlich wie geistig in guter Verfassung, auch wenn sie gelegentlich eine Beklemmung überkam, ein Gefühl, als ob ihr die Zeit davonliefe oder sich jeden Augenblick ein tiefes Loch unter ihr öffnen könnte. Das war keine höhere Intuition, nur eine Konsequenz der Tatsache, dass sie mit 30 Jahren bereits verwitwet war. Eine Liebe, die sie für beständig gehalten hatte, ein Mann, von dem sie geglaubt hatte, sie würde mit ihm alt werden: All das war ihr ohne Vorwarnung genommen worden. Aber diese Empfindung, dass irgendwo eine Glocke ihre letzte Stunde schlug, würde wieder vorbeigehen; so war es jedes Mal.
Sie stand an der Zimmertür ihres einzigen Kindes und sah zu, wie der Junge an seinem mit diversem Zubehör ausgestatteten Computer saß und Recherchen über irgendetwas anstellte, das ihn zurzeit faszinierte.
Woodrow Bookman, den alle Woody nannten, hatte in seinen elf Lebensjahren noch kein einziges Wort gesprochen. Bei seiner Geburt und noch ein paar Jahre danach hatte er geschrien, aber nie mehr, seit er vier Jahre alt geworden war. Er lachte, aber nur selten über etwas, das zu ihm gesagt wurde oder über einen komischen Anblick.
Oft lag die Ursache seiner Heiterkeit in seinem Inneren und blieb seiner Mutter ein Rätsel. Bei ihm war eine seltene Form von Autismus diagnostiziert worden, aber in Wirklichkeit wussten die Ärzte wohl einfach nicht, was sie von ihm halten sollten.
Zum Glück legte er nicht diejenigen mit Autismus in Verbindung gebrachten Verhaltensweisen an den Tag, die für das Umfeld besonders belastend waren. Er neigte nicht zu emotionalen Zusammenbrüchen, war nicht unflexibel. Solange er in Gesellschaft von Personen war, die er kannte, zog er sich nie zurück, wenn er berührt wurde, und litt auch nicht psychisch unter körperlichem Kontakt, wenngleich er Fremden mit Misstrauen, oft auch mit Angst begegnete. Wenn jemand etwas zu ihm sagte, hörte er aufmerksam zu, und er war mindestens so gehorsam, wie Megan es in ihrer Kindheit gewesen war.
Er ging nicht zur Schule, erhielt aber auch keinen Privatunterricht. Woody war der ultimative Autodidakt. Wenige Monate nach seinem vierten Geburtstag hatte er sich selbst das Lesen beigebracht, und drei Jahre später war er fähig gewesen, Texte auf College-Niveau zu lesen.
Megan liebte Woody. Wie hätte es auch anders sein können? Er war in Liebe gezeugt worden. Während er in ihr herangewachsen war, hatte sein Herz zu schlagen begonnen. Und ihrer Ansicht nach schlugen ihre Herzen auch all diese Jahre später immer noch im Gleichklang.
Davon abgesehen war er so niedlich wie die Kinder in der Süßigkeitenwerbung und auf seine eigene, spezielle Weise voller Zuneigung. Dabei ließ er zwar zu, dass man ihn umarmte und küsste, tat dies aber nie selbst. Doch in ungewöhnlichen Momenten legte er manchmal seine Hand auf ihre, oder er berührte erst ihr pechschwarzes Haar und dann sein eigenes, als ob er sagen wollte, er wisse, dass er es von ihr geerbt habe.
Er stellte selten Blickkontakt her, aber wenn er es tat, funkelten manchmal nie vergossene Tränen in seinen Augen. Damit sie zu diesen Anlässen nicht glaubte, dass er traurig sei, schenkte er ihr immer ein Lächeln, beinahe ein Grinsen. Wenn sie fragte, ob seine Tränen Freudentränen waren, nickte er. Aber er konnte – oder wollte – ihr nicht erklären, was ihn so freute.
Diese Kommunikationsschwierigkeiten führten dazu, dass sie ihr Leben nicht so teilen konnten, wie Megan es sich wünschte, und das machte sie immer wieder traurig. Der Junge hatte ihr tausendmal das Herz gebrochen, es mit seiner Liebenswürdigkeit aber auch tausendmal wieder geheilt.
Sie hatte sich nie gewünscht, dass er normal und gesund sei, denn dann wäre er ein anderer Junge gewesen. Sie liebte ihn trotz – zum Teil sogar wegen – der Herausforderung, der sie sich zusammen stellen mussten.
Jetzt fragte sie ihn von der Tür aus: »Ist alles okay, Woody? Geht’s dir gut?«
Er blieb ganz auf seinen Computer konzentriert und drehte ihr den Rücken zu, hob jedoch den rechten Arm, streckte ihn ganz aus und deutete mit dem Zeigefinger zur Decke. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, dass dies eine positive Geste war, die mehr oder weniger besagte: Ich bin auf dem Mond, Mom.
»Na gut. Es ist jetzt acht. Um zehn gehst du ins Bett.«
Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger. Dann sank seine Hand wieder auf die Tastatur herab.
2
Woody Bookman, elf Jahre alt, speicherte das Dokument ab, an dem er schon lange arbeitete und dem er den Titel Die Rache des Sohnes: Gewissenhaft gesammelte Beweise für monströse Bosheit gegeben hatte. Er schaltete den Computer aus und ging in sein Badezimmer, wo er sich die Zähne mit einer batteriebetriebenen Sonicare-Zahnbürste putzte. Eine nicht elektrische Bürste durfte er nicht benutzen, weil er zu exzessivem Putzen neigte und sich ohne Kontrolle von außen 20 Minuten lang energisch die Zähne geschrubbt hätte. Mit der Zeit hätte diese Angewohnheit sein Zahnfleisch zerstört und einen Zahnersatz erforderlich gemacht. Als er zehn Jahre alt war, waren bereits drei seiner Zähne unten links durch eine zahnchirurgische Behandlung gerettet worden.
Die Parodontologen benutzten heutzutage sterilisiertes, strahlenbehandeltes Leichengewebe für solche Reparaturen. Drei von Woodys Zähnen waren bereits vom Zahnfleisch eines Toten umhüllt, und er wollte nicht, dass es noch mehr wurden. Nicht dass die Verpflanzung des Leichengewebes irgendwelche merkwürdigen Folgen gehabt hätte. Woody erinnerte sich nicht an Szenen aus dem Leben des Spenders und verspürte auch nicht den Drang, jemanden aufzufressen, wie es in The Walking Dead passierte. Die Transplantation hatte ihn nicht zu einem Zombie gemacht. Das war aus wissenschaftlicher Sicht eine dümmliche Vorstellung.
Woody schämte sich für Menschen, die solche dümmlichen Vorstellungen hegten, und das waren nicht wenige. Er schämte sich auch für Leute, die sich über Kleinigkeiten aufregten, Leute, die andere beschimpften, Leute, die gemein zu Tieren waren. Eine ganze Menge Menschen sorgten aus einer Menge von Gründen dafür, dass er sich fremdschämte.
Er schämte sich auch für sich selbst, weil er seine eigenen Zähne in Gefahr brachte. Die Sonicare war mit einem Zwei-Minuten-Timer versehen; man sollte zum Putzen nicht die Borsten benutzen, sondern die Schallwellen den Zahnbelag entfernen lassen. Ohne den Timer wäre Woodys Mund der reinste Zahnfleischfriedhof gewesen.
Er schämte sich weiterhin dafür, dass er manchmal daran dachte, ein Mädchen zu küssen, eine Handlung, die ihm bis vor kurzer Zeit noch nie in den Sinn gekommen war. Eigentlich war Küssen eklig – bäh! Man tauschte dabei Spucke aus. Irgendetwas musste mit ihm nicht stimmen, wenn er sich danach sehnte. Außerdem – es hörte einfach nicht auf – schämte er sich, weil er einem Mädchen, wenn er es um einen Kuss bat, niemals von seinem implantierten Leichenzahnfleisch erzählen würde aus Angst, dass sie sich übergeben und davonrennen würde. Es wäre eine Lüge durch Verschweigen, und das war demütigend, denn das Lügen war eine der Hauptquellen menschlichen Leidens. Das Wort Demütigung ließ sich als eine schmerzhafte Erniedrigung definieren, schlimmer als bloße Beschämung.
Solange er zurückdenken konnte, hatte Woody sich für sich selbst und andere geschämt. Das war einer der Gründe, weshalb er nie sprach. Hätte er gewagt zu sprechen, hätte er den Leuten erzählt, dass das, was sie taten, ihm peinlich war, und er hätte ihnen auch gesagt, was ihm an sich selbst peinlich war – eine lange Liste. Er war eine Katastrophe. Wirklich. Die Leute wollten nicht hören, was er für eine Katastrophe war oder was sie selbst für eine waren. Aber es ihnen nicht zu sagen, wäre eine Lüge durch Verschweigen gewesen, und der Gedanke ans Lügen war so demütigend, dass ihm schlecht wurde. Es war besser, still zu sein, nichts zu sagen, dann mochten die Menschen einen vielleicht. Und wenn man ihnen nicht erzählte, was für eine peinliche Katastrophe man war, dann bemerkten sie es vielleicht nicht.
Das Peinlichste an den Leuten war, wie unaufmerksam sie waren.
Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, ging er ins Bett und schaltete die Nachttischlampe aus. Er hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Es gab keine Geister, Vampire, Werwölfe oder dergleichen, und die Chance, dass ein Toter sich in sein Zimmer schlich, um sich sein Zahnfleisch zurückzuholen, war gleich null.
Die einzigen Ungeheuer waren die Menschen. Nicht alle. Nur manche von ihnen. Wie die, die seinen Vater umgebracht hatten. Dad war jetzt seit drei Jahren tot, und niemand war für Mord ins Gefängnis gekommen. Alle glaubten immer noch, er sei durch einen Unfall gestorben. Aber Woody wusste es besser. Jetzt, da er Die Rache des Sohnes: Gewissenhaft gesammelte Beweise für monströse Bosheit endlich abgeschlossen hatte, würde man die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
Woody war sehr klug. Seit er sieben Jahre alt war, konnte er lesen wie ein College-Student, was aber vielleicht nicht viel bedeutete, denn viele College-Absolventen schienen von nichts eine Ahnung zu haben. Er war ein fähiger Computerhacker. In den letzten zwei Jahren war er in gut gesicherte Systeme eingedrungen und hatte dort Rootkits installiert, die es ihm ermöglichten, durch ihre Netzwerke zu schwimmen, ohne dass jemand bemerkte, dass ein fremder Fisch heimlich die Tiefen der Datenmeere erkundete. Seine Expeditionen hatten ihn außerdem an merkwürdige Orte im Dark Web geführt.
Während er auf den Schlaf wartete, versuchte Woody, an etwas Angenehmes zu denken. Er schämte sich, als er sich vorstellte, ein Mädchen zu küssen, das er auf einem Foto in einer Zeitschrift gesehen hatte. Seine Versuche, an etwas anderes zu denken, schlugen fehl. Er fragte sich, ob er vielleicht eines Tages, in ein paar Jahren, einem Mädchen begegnen würde, das ebenfalls Zahnfleischimplantate hatte, sodass sie etwas gemeinsam hätten. Man hatte ihn schon auf die Wange und die Stirn geküsst, aber noch nie auf den Mund, und er selbst hatte nie zurückgeküsst. Falls er einem solchen Mädchen begegnete, wäre das vielleicht ein guter Zeitpunkt, um damit anzufangen.
3
Dorothy roch nach Tod.
Sie war 76 Jahre alt. Kurz nach Sonnenaufgang würde ihr Leben enden.
Das war die bittere Wahrheit. Die Welt war ein schöner Ort, aber sie war auch voller bitterer Wahrheiten.
Die ambulante Hospizpflegerin Rosa Leon kümmerte sich im selben Schlafzimmer um Dorothy, in dem diese in den meisten Nächten ihres langen Lebens geschlafen hatte.
Rosa roch nach Leben, nach Shampoo mit Erdbeerduft und den Pfefferminzbonbons, die sie mochte.
In diesem Zimmer hatten Dorothy und ihr mittlerweile verstorbener Ehemann Arthur sich geliebt und ein Kind gezeugt: Jack.
Arthur war Wirtschaftsprüfer gewesen. Er war mit 67 Jahren gestorben.
Jack war im Alter von 28 in einem Krieg ums Leben gekommen. Seine Eltern hatten ihn um Jahrzehnte überlebt.
Der Verlust ihres Kindes war die größte Tragödie in Dorothys Leben gewesen.
Aber sie war stolz auf Jack, sie war zäh gewesen und hatte weitergemacht, hatte ein sinnerfülltes Leben geführt.
Kipp war weder Jack noch Arthur je begegnet. Er kannte sie nur, weil Dorothy so oft von ihnen gesprochen hatte.
Rosa saß in einem Sessel, las ein Taschenbuch und merkte nicht, dass der Tod auf dem Weg war.
Im Moment schlief Dorothy, betäubt und schmerzfrei.
Kipp litt, wenn Dorothy starke Schmerzen hatte. Er hatte erst drei Jahre mit ihr verbracht. Aber er liebte sie hingebungsvoll.
Es lag in seiner Natur, über jedes vernünftige Maß hinaus zu lieben.
Bevor der Zeitpunkt ihres Dahinscheidens kam, musste er sich stählen, sich auf den Verlust vorbereiten.
Er ging nach unten, verließ das Haus durch seine Tür und betrat die hintere Veranda, um frische Luft zu schnappen.
Das Haus lag knapp sieben Meter über dem Lake Tahoe. Schwache Flutwellen schwappten leise an den Strand und scharfkantige Spiegelbilder des sichelförmigen Mondes schimmerten auf der sich kräuselnden Wasseroberfläche.
Die leichte Brise trug eine reichhaltige Mischung aus Düften heran: Kiefern, Zedern, Holzrauch aus einem Kamin, Samen und Nüsse von Waldbäumen, Waldpilze. Eichhörnchen, Waschbären und vieles mehr.
Außerdem hörte Kipp ein seltsames, fortdauerndes Murmeln. Er hatte erst vor Kurzem begonnen, es wahrzunehmen.
Zuerst hatte er es für einen Tinnitus gehalten, an dem manche Leute litten, wie er wusste, aber das war es nicht.
Er konnte beinahe Worte ausmachen in diesem merkwürdigen, unablässigen Dahinfließen, das irgendwo aus dem Westen zu kommen schien. Richtung Westnordwest.
Nach Dorothys Tod würde Kipp der Sache auf den Grund gehen und den Ursprung dieses Geräuschs finden müssen. Er war dankbar dafür, ein klares Ziel vor Augen zu haben.
Kipp stieg von der Veranda in den Garten hinunter und starrte für eine Weile grübelnd zu den Sternen hinauf.
Obwohl er außerordentlich schlau war – nur Dorothy wusste, wie schlau –, hatte er nicht die geringste Ahnung, was all das zu bedeuten hatte.
Willkommen im Klub. Alle Philosophen der Geschichte, viele davon klüger als er, waren an dem Versuch gescheitert, eine Theorie zu erdenken, die alle zufriedenstellte.
Kurz nachdem er in Dorothys Schlafzimmer zurückgekehrt war, wachte sie auf.
Als sie sah, dass Rosa einen Roman las, sagte Dorothy mit schwacher Stimme: »Rosie, Liebes, Sie sollten Kipp was vorlesen.«
Um ihre Patientin bei Laune zu halten, ging die Pflegerin auf sie ein: »Meinen Sie nicht, dass Dickens ein bisschen zu hoch für ihn ist?«
»O nein, überhaupt nicht. Große Erwartungen hat ihm gut gefallen, als ich es ihm vorgelesen habe, und in Eine Weihnachtsgeschichte war er ganz vernarrt.«
Kipp stand am Bett, sah zu ihr hinauf und wedelte mit dem Schwanz.
Dorothy klopfte auf die Matratze – eine Einladung.
Kipp sprang aufs Bett. Er ließ sich neben ihr nieder und legte das Kinn auf ihre Hüfte.
Sie legte eine Hand auf seinen stattlichen Kopf, streichelte sanft seine Schlappohren und sein goldenes Fell.
Obwohl der grimmige Tod schon an der Türschwelle stand, teilten sich Glückseligkeit und Trauer einen Platz in Kipps Herz.
4
Die zweispurige schwarze Fahrbahn ist eine dunkle Schlange, die im fahlen Mondlicht durch das Ödland von Utah kriecht. In dieser weitläufigen, fast völlig verlassenen Gegend glimmen hier und da kleine Bündel von Lichtern in der Ferne auf wie außerirdische Drohnen, die auf irgendeiner schändlichen Mission vom Mutterschiff herabschweben.
Auf dem Weg von der Vorstadt von Provo in die noch größere Einsamkeit im Süden wagt Lee Shacket es nicht, die Interstate 15 zu benutzen. Er fährt auf weniger stark befahrenen Staatshighways sowie auf einspurigen Bundeshighways, wann immer es nötig ist, im nervösen Bestreben, so viel Distanz wie möglich zwischen sich und die Ereignisse in der Springville-Anlage zu bringen.
Zwar hat er Böses getan wie jeder andere historisch bedeutende Mann, aber er hat es mit den besten Absichten getan. Er glaubt, dass diese Absichten wichtiger sind als die Konsequenzen seines Handelns. Wie hätte die Menschheit ihre Höhlen verlassen und Raumstationen in den Erdorbit bringen können, wenn alle Männer und Frauen risikoscheu gewesen wären? Manche streben nach Wissen und stellen sich jeder Herausforderung, koste es, was es wolle, und wegen solcher Menschen gibt es den Fortschritt.
Aber am Ende wird vielleicht doch alles gut werden. Das Endresultat des Projekts ist noch nicht bekannt, man weiß nur, dass es in der mittleren Phase fehlgeschlagen ist. Rückschläge gehören zu jeder wissenschaftlichen Unternehmung. Wenn man aus Fehlern lernt, kann ein Fehlschlag schließlich der Vater des Erfolgs werden.
Vorerst jedoch betrachtet er sein Versagen als absolut.
Er fährt weder seinen Tesla noch seinen Mercedes SL 550, denn früher oder später werden die Behörden nach ihm suchen. Stattdessen donnert er in einem vollgepackten blutroten Dodge Demon dahin, den er für 146.000 Dollar von einer GmbH auf den Cayman Islands erworben hat. Nicht einmal der entschlossenste Ermittler wäre in der Lage, seinen Namen mit dieser Firma in Verbindung zu bringen. Das Fahrzeug ist mit einem Nummernschild aus Montana ausgestattet. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Polizei eine Verknüpfung zwischen seiner Person und dem Wagen herstellt, ist das GPS-Gerät aus dem Auto entfernt worden, sodass es nicht mehr per Satellit aufgespürt werden kann.
Einer der zwei Aktenkoffer im Kofferraum enthält 100.000 Dollar. Auf weitere 300.000 Dollar kann man zugreifen, wenn man zwei Druckverschlüsse an der Rückseite des Beifahrersitzes öffnet und das Geheimfach zum Vorschein bringt. In das Innenfutter seiner geschmeidigen schwarzen Lederjacke, die wie ein Sakko geschnitten ist, sind 36 hochwertige Diamanten eingenäht, für die jeder Juwelengroßhändler eine halbe Million bezahlen würde.
Dieses Vermögen ist nicht dazu gedacht, ihn für den Rest seines Lebens über Wasser zu halten. Es soll ihm ermöglichen, für ein paar Monate unterzutauchen, bis die Aufregung über das Springville-Fiasko sich gelegt hat. Auf einer indirekten Route durch fünf Länder und mit dreimaligem Wechsel seiner Identität will er die USA verlassen und sicher nach Costa Rica gelangen. Dort besitzt er unter dem Namen Ian Stonebridge ein Haus, in das er sich zurückziehen kann; außerdem verfügt er über einen gültigen Schweizer Pass zu dieser Identität.
Er ist der CEO von Refine, eines Milliarden Dollar schweren Zweigs eines steinreichen Mischkonzerns. Nur wenige CEOs von Multimilliarden-Dollar-Firmen verfügen über die Voraussicht, mit einer Krise zu rechnen, die so ernst ist, dass sie das Annehmen einer neuen Identität und das Verstecken von ausreichend Kapital im Ausland erforderlich macht, mit dem über Jahrzehnte ein hoher Lebensstandard gesichert werden kann. Shacket ist stolz darauf, dass er so weise und diskret ist für einen Mann, der so viel jünger ist als die meisten anderen CEOs.
Er ist 34, was nicht allzu jung ist für jemanden in seiner Position und in einem Wirtschaftssektor, in dem Firmen von Technikzauberern gegründet werden, die schon mit Mitte 20 zu Milliardären werden. Sein Vorgesetzter ist Dorian Purcell, der Aufsichtsratvorsitzende der Mutterfirma. Dieser wurde mit 27 zum Milliardär und ist jetzt 28, aber Shacket selbst verdient bloß 100 Millionen im Jahr.
Dorian wollte die Forschungen in Springville mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vorantreiben. Shacket ist dieser Forderung nachgekommen, denn bei einem Erfolg ihres Primärprojekts würden die Aktienoptionen ihn ebenfalls zum Milliardär machen, wenn auch wahrscheinlich nicht zum Multimilliardär. Dorians 50-Milliarden-Dollar-Vermögen hingegen würde sich höchstwahrscheinlich verdoppeln.
Diese Ungerechtigkeit bringt Shacket dazu, im Schlaf mit den Zähnen zu knirschen; oft wacht er mit schmerzendem Kiefer auf. Unter den Hightech-Prinzen ist man als einfacher Milliardär ein Niemand. Obwohl sie nach außen soziale Gerechtigkeit propagieren, sind viele dieser Leute Elitisten mit dem ausgeprägtesten Klassenbewusstsein, das die Welt je gesehen hat. Lee Shacket verabscheut sie fast ebenso sehr, wie er zu ihnen gehören will.
Falls es dazu kommt, dass er sich für den Rest seines Lebens mit mickrigen 100 Millionen verstecken muss, wird er eine Menge Freizeit haben, in der er die Zerstörung von Purcell planen kann, und ihm wird kaum nach etwas anderem zumute sein.
Von Anfang an ist sich Lee Shacket darüber im Klaren gewesen, dass er die Verantwortung zu tragen hätte, falls etwas gewaltig schiefläuft. Dorian Purcell wird für immer unantastbar bleiben, eine Ikone der Hightech-Revolution. Aber jetzt, da Shacket diesen Preis tatsächlich bezahlen muss, fühlt er sich dennoch betrogen, übertölpelt, übers Ohr gehauen.
Auf seiner frühabendlichen Fahrt plagen ihn Wut, Selbstmitleid und Beklemmung, aber auch etwas, das er für Kummer hält, eine Empfindung, die ihm neu ist. 92 Mitarbeiter von Refine befinden sich in der abgeriegelten Hochsicherheitseinrichtung bei Springville und sind in den letzten Stunden ihres Lebens von jedem Kontakt mit der Außenwelt abgeschnitten. Auf sie ist er genauso wütend wie auf Dorian. Irgendeiner dieser Schlaumeier – oder mehrere – hat etwas Leichtsinniges getan, das ihr Schicksal besiegelt und ihn in diese unmögliche Lage gebracht hat. Und doch sind einige von ihnen seine Freunde, zumindest in einem Maße, in dem ein Vorgesetzter sich auf Freundschaften zu seinen Untergebenen einlassen kann. Ihr Leiden belastet ihn so, wie es sollte.
Beim Bau des Komplexes hat er mit großer Sorgfalt darauf geachtet, dass das Modul, in dem sich sein Büro und diejenigen seiner unmittelbaren Mitarbeiter befinden – fünf an der Zahl –, im Krisenfall erst 90 Sekunden nach der hermetischen Versiegelung aller Labore abgeriegelt wird. Als der Alarm ertönte, hat er seinen Leuten eingeredet, dass sie sicher seien, dass sie auf ihren Posten bleiben sollten – und er selbst ist klammheimlich verschwunden.
Er hat keine andere Wahl gehabt als sie anzulügen. Der Alarm hat keine drohende, sondern eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe angekündigt. Sie sind genauso kontaminiert wie die Forscher in den Laboren. Auch Shacket ist kontaminiert, aber unter diesen tödlichen Umständen bringt er es nicht fertig, sich selbst mit derselben Leichtigkeit zu belügen, mit der er die anderen belogen hat.
Aber er ist schon immer schlau gewesen, wenn es darum geht, den Konsequenzen seiner Fehler aus dem Weg zu gehen. Vielleicht wird ihm das Glück bei dieser letzten Flucht noch einmal treu sein.
Bald wird man ihn jagen. Die Behörden werden hinter ihm her sein, aber auch Dorians skrupelloser Säuberungstrupp. Er hofft, dass alle Mitarbeiter in Springville sterben werden, bevor sie gegen ihn aussagen können, und er hält es für einen gnädigen Wunsch voller Trauer.
5
Als Rosa Leon nach unten ging, um sich ein Sandwich zu machen, war Kipp allein mit Dorothy.
Das Lampenlicht war schwach, die Schatten so weich wie stilles Wasser, die stattliche Kiefer vor dem Fenster glänzte silbern im Mondlicht.
Sie sagte: »Ich habe mit Rosa besprochen, dass du mit ihr gehst, wenn ich nicht mehr bin. Sie wird sich gut um dich kümmern.«
Um seine Zustimmung zu signalisieren, klopfte Kipp dreimal mit dem Schwanz auf die Matratze. Dreimal bedeutete Ja, in Ordnung. Ein Klopfen bedeutete Nein oder Das fühlt sich nicht richtig an.
Tatsächlich würde das Schicksal ihn nicht zu Rosa führen, sondern an andere Orte.
Aber es war nicht nötig, Dorothy zu beunruhigen.
»Kleiner, du hast eine Gabe, die mir nicht weniger wert ist als mein Sohn Jack oder mein geliebter Arthur.«
Kipp hob den Kopf von der Hüfte seines Frauchens, um ihre blasse Hand zu lecken, mit der sie ihm so oft das Fell glatt strich und ihn mit Leckerbissen fütterte.
»Ich wünschte, es wäre uns beiden zusammen gelungen, das Rätsel deiner Herkunft zu lösen.«
Mit einem langen Seufzen drückte Kipp seine Zustimmung aus.
»Aber letzten Endes kommen wir alle vom selben Ort. Wir stammen aus dem Herzen, das alles geformt hat.«
Kipp wollte ihr so vieles sagen, solange noch Zeit blieb.
Obwohl seine Intelligenz auf irgendeine Weise auf ein menschliches Maß gehoben worden war, fehlte ihm ein Stimmapparat, der ihm das Sprechen ermöglichte. Er konnte viele Laute erzeugen, aber keine Worte.
Sie hatte eine clevere Kommunikationsmethode entwickelt, aber das dazu Nötige befand sich in einem Zimmer im Erdgeschoss, und ihr fehlte die Kraft hinunterzugehen.
Aber es spielte keine Rolle. Alles, was er ihr sagen wollte, hatte er bereits gesagt. Ich liebe dich. Ich werde dich schrecklich vermissen. Ich werde dich nie vergessen.
»Liebes Kind«, sagte sie, »lass mich in deine Augen sehen.«
Er veränderte seine Haltung, legte ihr den Kopf auf die Brust und begegnete ihrem liebevollen Blick.
»Deine Augen und dein Herz sind so golden wie dein Fell, lieber Kipp.«
Ihre Augen waren blau, klar und tief.
6
Lee Shacket parkt seinen Dodge Demon in einer abgelegenen Ecke des Parkplatzes vor dem Best Western Motel in der kleinen Stadt Delta, Utah. Er bleibt im Wagen sitzen und rasiert sich den akkurat gestutzten Bart ab, den er getragen hat, seit er 24 war. Dann wäscht er sich die Hände mit Desinfektionsmittel und setzt sich Kontaktlinsen ein, die seine Augenfarbe von Wolframgrau zu Braun ändern.
Nachdem er eine Baseballmütze aufgesetzt hat, die den Großteil seiner blonden Haare verdeckt, fährt er auf der State Route 257 nach Süden, wechselt auf die Route 21, dann die Route 130. Nach 125 Meilen trifft er in Cedar City ein, wo er im Holiday Inn eincheckt. Er verwendet dabei einen Führerschein und eine Kreditkarte, die auf den Namen Nathan Palmer ausgestellt sind.
Bevor er sich in seinem Zimmer die Haare färbt, muss er erfahren, wie die Ereignisse in der Einrichtung in Springville in den Nachrichten dargestellt werden. Er steht vor dem Fernseher, und das Erste, das er sieht, ist ein Video, das kurz vor dem Ende des Arbeitstages aufgenommen wurde, vor Einbruch der Nacht. Als er geflohen ist, hat der Laborkomplex noch nicht in Flammen gestanden. Das Feuer ist wenige Minuten nach seiner hastigen Flucht ausgebrochen. Die gierigen Flammen schießen über dem Komplex 20 oder 25 Meter in die Höhe und hüllen diesen vom einen Ende zum anderen ein.
Das Feuer muss ausgelöst worden sein, um die Wahrheit über die Ereignisse zu verbergen. Ohne sein Wissen muss jemand irgendeine Art von Brennstoff und ein Zündsystem in dem Gebäude installiert haben, um sicherzustellen, dass alle Beweise über die Natur der dort verrichteten Arbeit im Katastrophenfall niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken.
Er hat keinerlei Zweifel daran, dass die Forscher absichtlich bei lebendigem Leib verbrannt worden sind – eingeäschert, bis auf die Knochen vernichtet, wenn überhaupt noch Knochen übrig waren –, damit kein Gerichtsmediziner Beweise finden kann. Obwohl sie vielleicht ohnehin innerhalb von Tagen oder Wochen gestorben wären, schockiert die tiefe Grausamkeit der Verbrennung der Mitarbeiter Lee und lässt ihn weiche Knie bekommen, sodass er sich auf die Bettkante setzen muss.
Ja, er hat diese Leute ihrem Schicksal überlassen, aber ihr Schicksal ist von Dorian entschieden worden. Es gibt verschiedene Grade des Bösen, und Lee Shacket sucht Zuflucht bei dem Gedanken, dass seine Taten verblassen im Vergleich zu dem, was sein Boss getan hat.
Sicherlich hat Dorian Purcell diese extreme Maßnahme insgeheim autorisiert, seine Vorstellung einer Fail-safe-Funktion. Dorian hält sich für einen Visionär so wie fast jeder von der Presse, der über ihn schreibt. Ein echter Visionär weiß, dass der Fortschritt Opfer erfordert, dass es nicht auf die kurzfristigen Verluste von Leben und Vermögen ankommt, sondern auf den großen Nutzen, den die Menschheit auf lange Sicht davon haben wird. Um die Ermordung vieler Millionen Menschen zu rechtfertigen, hat Stalin angeblich gesagt: »Ein Toter ist eine Tragödie; eine Million Tote sind eine Statistik.« Vielleicht sind auch 92 Tote für Dorian nicht mehr als eine Fußnote zu den großen Anstrengungen, die in den Refine-Laboren in Springville unternommen wurden und in einem Jahr irgendwo anders neu begonnen werden.
Mit ernster Miene berichtet der Nachrichtensprecher im Fernsehen, dass die Forschungen in dieser Einrichtung der Entdeckung eines revolutionären Heilmittels gegen Krebs galten. Das ist eine lächerliche Lüge, aber ohne Zweifel glaubt der Sprecher daran. Die Krebsforschung ist nicht so gefährlich, dass sie auf einem von Mauern umgebenen, isolierten Gelände eine Meile von den letzten Häusern eines Vorortes von Provo, Utah, stattfinden müsste. Aber in einer Zeit, in der die Budgets der Nachrichtenredaktionen knapp sind, neigen viele Medienvertreter dazu, alles zu glauben, was sie von Informanten hören, denen sie vertrauen, während sie sich die Mittel des investigativen Journalismus für diejenigen aufsparen, die sie für verdächtig oder nicht ehrenwert halten. Zumindest in der Öffentlichkeit nimmt Dorian Purcell zu den Themen, die für die Meinungsmacher wichtig sind, die richtigen Standpunkte ein und wird so gut wie überall für einen von den Guten gehalten.
Die vorläufige offizielle Erklärung für das Feuer lautet, dass die Einrichtung über ein eigenes Kraftwerk verfügt, um Stromausfälle zu verhindern, die die Forschungsprojekte beeinträchtigen würden. Dieses Kraftwerk wird mit Erdgas betrieben. Möglicherweise ist ein Leck unterhalb des Fundaments so lange unbemerkt geblieben, bis das Gebäude gewissermaßen auf einer Bombe stand.
»Ja, klar doch«, sagt Lee und schaltet den Fernseher aus.
Später, als er sich in einen braunhaarigen, braunäugigen, glatt rasierten Mann verwandelt hat, geht er zu Abend essen. Er ist nie ein Snob gewesen, hat im Laufe der Jahre schon oft das Essen des Holiday Inn und ähnlicher Ketten genossen, aber diesmal schmeckt ihm einfach nichts. Der grüne Salat schmeckt bitter. Das Gemüse hat einen vage metallischen Beigeschmack. Die Kartoffeln überhaupt keinen. Es gelingt ihm, das Hühnchen zu essen, aber auch das ist nicht so herzhaft, wie es sein sollte.
Er sehnt sich nach etwas anderem, weiß aber nicht, was ihn zufriedenstellen würde. Nichts, das auf der Speisekarte steht, spricht ihn an.
Als er wieder in seinem Zimmer ist, mischt er gewürzten Rum mit Coca-Cola und trinkt, bis er schlafen kann.
Um drei Uhr morgens wacht er schreiend und in kalten Schweiß gebadet aus einem Albtraum auf, kann sich jedoch an kein einziges Detail erinnern.
Die Orientierungslosigkeit, die Träume oft mit sich bringen, bleibt bestehen. Vom Fenster dringt ein fremdartiges kobaltblaues Licht um die Vorhänge herein, als ob eine stille Katastrophe in der Welt jenseits der Hauswände eine tödliche Strahlung freigesetzt hätte. Er ist nüchtern, aber der kleine Raum fühlt sich riesig an und das Bett treibt auf einem Meer wogender Schatten. Als Lee die Bettdecke zurückwirft und sich an den Rand der Matratze setzt, wimmelt es auf dem Boden unter seinen nackten Füßen, als würde er in einem Insektenschwarm stehen. Er tastet nach der Nachttischlampe, findet den Schalter. Das plötzliche, schwache Licht strandet auf dem schwimmenden Bett, bringt jedoch keine Insekten zum Vorschein. Das Zimmer birgt jedoch immer noch fast ebenso viele Schatten wie in der Dunkelheit, und es ist nicht weniger schaurig.
Nachdem er vom Bett aufgestanden ist, bleibt er unschlüssig stehen. Er ist sicher, dass der Albtraum die drängende Vorahnung eines sich rasch nähernden Übels enthielt, die mehr ist als eine Schlaffantasie. Sie ist eine Wahrheit, nach der er sein Handeln ausrichten muss, wenn er sich retten will. Aber er kann sich nach wie vor nicht an den Traum erinnern.
Er lässt sich auf einen Sessel nieder, greift mit beiden Händen die gepolsterten Armlehnen und schaukelt vor und zurück, obwohl der Sessel kein Schaukelstuhl ist und sich nicht mitbewegt. Er kann nicht still sitzen. Er muss sich bewegen, wie um sich dadurch zu beweisen, dass er am Leben ist.
In dem Albtraum … Jetzt fällt ihm etwas ein. Er ist gefangen, gelähmt, fest umwickelt gewesen wie in einem Kokon und hat ein weißes durchscheinendes Material über den Augen gehabt. Formlose Schatten, die anschwollen und sich wieder zurückzogen. Um ihn herum Geräusche, die lauter wurden und wieder verklangen.
Schaudernd fragt er sich, ob zum Spektrum des genetischen Materials, mit dem seine Zellen kontaminiert wurden, vielleicht auch das eines Wurms gehört, der stirbt, um aus einem Kokon neu geboren zu werden.
Im Traum ist er hilflos gewesen, und einsam. Unablässig schaukelt er in dem unbeweglichen Sessel. Er hat genug Geld, um sofort zu fliehen, ein elegantes Domizil in Costa Rica und 100 Millionen Dollar an einem Ort, an dem die Behörden sie nicht finden können. Aber eine abgrundtiefe Einsamkeit macht ihn verwundbar, gibt ihm das Gefühl, ein Dasein ohne Sinn und Zweck zu führen.
Er fühlt sich machtlos, so, wie er sich als Kind gefühlt hat unter dem eisernen Regime seines gewalttätigen, alkoholabhängigen Vaters und seiner psychisch kranken Mutter.
Machtlosigkeit kann er nicht ertragen. Er kann sie nicht hinnehmen.
Nicht nur die Wissenschaftler in Springville, sondern auch 2200 Angestellte von Refine waren ihm unterstellt. Jetzt hat er keine Untergebenen mehr. Er hatte Macht, Ansehen, Respekt, 20 Tom-Ford-Anzüge, die er in Kombination mit farbenfrohen Sneakern trug. Das alles ist jetzt verschwunden. Er ist allein.
Erst jetzt wird ihm klar, dass das schlimmste Elend, das das Herz eines Menschen heimsuchen kann, die Einsamkeit ist.
Lee Shacket ist nie gut darin gewesen, Beziehungen zu führen. Er hatte Freundinnen. Heiße. Er ist schließlich nicht hässlich. Sein Äußeres gefällt den Frauen. Sie bewundern seinen Ehrgeiz. Er hat Sinn für Humor. Er kann tanzen. Er hat Stil. Er ist gut im Bett. Er kann zuhören. Aber es ist ihm nie gelungen, eine Affäre in etwas Dauerhaftes zu verwandeln. Früher oder später kommt ihm jede Frau auf die eine oder andere Weise unzureichend oder unauthentisch vor. Die Beziehung fängt an, sich seicht anzufühlen, ihr fehlt der emotionale Nährwert, und am Ende fühlt er sich immer, als würde er in diesem knöcheltiefen Wasser ertrinken, könnte nicht mehr atmen, müsste fliehen.
Er sitzt jetzt still im Sessel. Seine Reglosigkeit erschreckt ihn, als ob sein Überleben davon abhinge, dass er in Bewegung bleibt. Er springt auf und läuft im Zimmer auf und ab, wird zunehmend nervös.
Etwas Merkwürdiges geschieht mit ihm.
Im schwachen Lampenlicht wirkt sein ruheloses Spiegelbild gespenstisch, als wäre er der Geist eines früheren Gastes, der hier gestorben ist und weder oben noch unten Einlass findet, keinerlei Ziel mehr hat.
Während er im Zimmer umherstreift, versucht er sich zu entsinnen, wann und wo sein Leben aus den Fugen geraten ist. Nicht erst was die Ereignisse in den Laboren angeht, sondern davor. Wann ist er zum letzten Mal wirklich glücklich gewesen? Sich daran zu erinnern kommt ihm wichtig vor. Wann hat seine Zukunft am vielversprechendsten gewirkt?
Lee hat zwar große Erfolge zusammen mit Dorian Purcell erzielt, aber jede Beförderung ist mit einem so deutlichen Anstieg des Stresslevels verbunden gewesen, dass er, obwohl er dabei ein Vermögen verdient hat, nicht ehrlich behaupten kann, er sei während dieser Jahre glücklicher gewesen als zuvor.
Selbst vor Purcell ist Lee nicht immer voller Begeisterung gewesen, aber seine Aussichten auf das Glück waren damals größer. Damals hat er noch Hoffnung gehabt. Seine Optionen schienen endlos zu sein. Jetzt hingegen hat er nur wenige, vielleicht sogar nur eine einzige.
Und er ist allein. Niemand hört ihm zu. Niemand kann ihn verstehen. Niemanden kümmert es. Keiner muss seinen Anweisungen Folge leisten.
Der Wendepunkt, die Motivation hinter der Veränderung in Lees Leben, ist Jason Bookman, ein Freund aus seiner College-Zeit. Anfangs ist Jason beruflich rasant aufgestiegen, während Lees Karriere sich dahinschleppte. Dann hat Jason ihn in Dorian Purcells inneren Kreis eingeführt.
Plötzlich erschrickt er über sein Bild im Spiegel an der Kleiderschranktür. Sein Gesicht. Etwas Merkwürdiges passiert mit seinem Gesicht; irgendetwas stimmt damit nicht.
Schnell läuft er ins Badezimmer, wo das Licht heller ist. Seine Augen sind braun, sein Haar ist braun, sein Bart verschwunden. Vielleicht werden ihn andere nicht wiedererkennen, aber er selbst kennt sich gut genug. Diese schlammbraunen Augen beeindrucken nicht, verglichen mit dem stechenden wolframgrauen Blick, mit dem er so viele Nachwuchsführungskräfte eingeschüchtert hat. Abgesehen davon fällt ihm nichts Ungewöhnliches an sich auf.
Aber er fühlt sich ungewöhnlich. Sein Gesicht ist starr wie eine Maske. Er betätigt seine Gesichtsmuskeln – Gähnen, Stirnrunzeln, eine Grimasse. Mit den Fingerspitzen massiert er Kinn, Wangen und Stirn, kneift sich in die Nase, zieht an seinen Lippen, sucht nach … irgendetwas, das falsch ist. Schließlich gelangt er zu der Auffassung, dass die Starrheit nur eine Folge seiner Nervosität ist. Auch sein Körper ist starr vor Furcht.
Jason Bookman hat Lees Leben verändert, was zu den derzeitigen, katastrophalen Umständen geführt hat. Aber das Schlimmste, das Jason getan hat, war nicht, dass er Lee mit Purcell in Kontakt gebracht hat. Viel schlimmer ist, dass Jason Megan geheiratet hat.
Als er sich selbst im Badezimmerspiegel anstarrt, hat Lee plötzlich eine Eingebung. Jason ist so weitsichtig gewesen, war sich der langfristigen Risiken so bewusst, die die Arbeit für einen machthungrigen Narzissten wie Dorian Purcell mit sich brachte, dass er Lee in die Firma gebracht hat, damit dieser als Sündenbock dienen konnte, eine Rolle, die Jason sonst vielleicht selbst gespielt hätte. Warum wird ihm das erst jetzt klar? Ist diese Vorstellung etwa unfair, paranoid? Nein, nein. Was ihm einmal als ein Akt der Freundschaft erschienen ist, enthüllt sich nun mit Verspätung als ein machiavellistisches Manöver. Jason hat Lee nicht nur Megan gestohlen; er hat Lee auch vorsorglich als Sündenbock aufgestellt für den Fall, dass bei Refine etwas schiefgeht.
Lee denkt an Megans warme Küsse zurück. Megan Grassley. Jetzt heißt sie Megan Bookman. Vor fast 14 Jahren sind sie zwei oder drei Monate lang miteinander ausgegangen. Mehr als einen Kuss hat er von ihr nie bekommen. Er war leichte Mädchen gewöhnt, und sie bestand auf einer festen Beziehung, bevor es zum Sex kam. Damals wollte er ihr eine Lektion erteilen, indem er sich von ihr abwandte und mit einer heißen Braut namens Clarissa ausging. Megan sollte begreifen, dass sie sich um die Bedürfnisse eines Mannes kümmern musste, wenn sie eine feste Beziehung mit ihm wollte. Aber nach einem Monat begann Jason, sich mit Megan zu treffen; schließlich heirateten sie. Damals hat Lee Jason dafür keine Vorwürfe gemacht. Er war großherzig. Er hat dem Paar alles Gute gewünscht und sich gesagt, dass sein Freund es noch bereuen werde, sich mit diesem frigiden Miststück eingelassen zu haben.
Offenbar ist es Megan bei Jason jedoch nicht schwergefallen, sich hinzugeben. Zusammen sind sie aufgeblüht. Sie hat jedes Jahr heißer ausgesehen, viel heißer als Clarissa. Okay. Kein Problem. Lee hat sie nicht gewollt; sie war ihm zu langsam. Sie war ein Honda, und er brauchte ein Ferrarimädchen. Er konnte bessere haben als sie. Die Welt ist voll mit gut aussehenden Frauen, vor allem, wenn man über ein siebenstelliges Jahresgehalt und haufenweise Aktienoptionen verfügt.
Aber jetzt ist er arbeitslos und allein. Bald wird er ein flüchtiger Gesetzloser sein.
Wäre er bei Megan geduldiger gewesen, hätte sie sich ihm vielleicht geschenkt. Sie hätten vielleicht geheiratet, und danach wäre sicher alles ganz anders gekommen.
Plötzlich wird ihm klar, wann er am glücklichsten gewesen ist, wann seine Zukunft ihm am vielversprechendsten erschienen ist: damals, als er mit Megan ausging.
Als er dem eigenen Blick im Spiegel begegnet, stellt er fest, dass mit seinem Gesicht alles in Ordnung ist. Das Problem, wenn es eines ist, befindet sich hinter seinem Gesicht. Etwas passiert mit seinem Verstand. In seinem Hirn wütet ein Fieber. Hätte er ein Fieberthermometer gekauft, hätte seine Temperatur sich bestimmt als normal herausgestellt; er zweifelte nicht daran, dass das Gerät exakt 37 Grad angezeigt hätte. Aber da ist ein Fieber der Erregung in seinem Kopf: Unruhe, Gärungsprozesse, überschäumendes Temperament. Das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Er ist aufgekratzt, wie elektrisiert, unter Hochspannung.
Er weiß, was er zu tun hat. Er kann zwar nicht 14 Jahre in der Zeit zurückreisen und Megan heiraten, aber er kann sie in Kalifornien aufsuchen, wo sie heute lebt. Sie ist verwitwet. Seit drei Jahren. Heute wird sie sich leichter hingeben als damals, als sie jünger waren, sie wird bereit sein für ein neues Leben, das richtige Leben, dasjenige, das sie zusammen verbracht hätten, wenn Jason Bookman nicht aufgetaucht wäre. Lee wird sie nach Costa Rica mitnehmen. Auch den Jungen, wenn sie sich wirklich weiter mit einem geistesgestörten, stummen Kind herumplagen will. Die heiße Megan und das schwüle Costa Rica: Diese Aussicht stimuliert Lee, heizt seine Fantasie an. Er kann wieder glücklich werden, sieht eine rosige Zukunft vor sich.
Sein Bild im Badezimmerspiegel spricht mit ihm, aber es ist nicht mehr er selbst, sondern Jason Bookman, dieser diebische, machiavellistische Verräter. »Du bist infiziert«, verkündet Jason. »Es wimmelt in dir. Irgendwas läuft mit deinem Verstand schief.«
»Lügner«, erwidert Lee. »Du willst mich nur nicht an sie ranlassen.« Er nimmt die Halbliterflasche mit dem gewürzten Rum und wirft sie.
Die zersplitternde Flasche zerbricht den Spiegel, enthauptet und zerstückelt Jason Bookman. Messer und Dolche, Stilette und Säbel aus Glas fallen aus dem Rahmen, treffen das Waschbecken und den falschen Marmor, der es umgibt, wobei sie klirren wie die silbrigen Glocken einer dämonischen Feenkirche. Gewürzrum voller Aromen – Orangenschalen, Zimt, Kokosnuss, Vanilleschoten – bespritzt Lee Shacket, klatscht an die Wand hinter ihm.
In einem Zustand hoher Erregung kehrt er zwei Stunden vor Tagesanbruch ins Schlafzimmer zurück und zieht sich rasch um für die lange Fahrt.
7
Ein paar Stunden lang ging Dorothy immer wieder vom Schlaf- in den Wachzustand über. Sie hatte die Hand auf Kipp gelegt und hielt sie entweder still oder streichelte ihn.
Er blieb wach, achtete aufmerksam auf ihren Zustand, wollte nur noch eine Minute lang ihre Gesellschaft genießen, und noch eine, und noch eine.
Dann starb sie.
Kipp konnte riechen, wie sein Frauchen zuerst ihren Körper, dann das Zimmer verließ.
Er weinte auf die einzige Art, wie seine Spezies weinen konnte – ohne eine Träne zu vergießen, dafür mit schwachem, kläglichem Winseln.
Rosa weinte, denn sie hatte Dorothy sehr gerngehabt. »O mein lieber Kipp, bitte, hör auf, hör auf. Du hörst dich so erbärmlich an, dass du mir gleich noch mal das Herz brichst.«
Aber lange Zeit konnte er nicht aufhören, weil Dorothy dorthin gegangen war, wohin er ihr nicht folgen konnte.
Er war jetzt nicht nur allein. Ihm fehlte die Hälfte seiner selbst.
8
Woody brauchte nie mehr als fünf Stunden Schlaf. Vielleicht hatte er als pausbäckiges Baby länger geschlafen, aber trotz seines außergewöhnlichen Gedächtnisses war ihm von seiner Kindheit nur die Erinnerung an ein Mobile geblieben, das über seinem Kinderbett hing: farbenprächtige Lucite-Vögel in Korallenrosa, Gelb und Saphirblau, die kreisten und kreisten und fröhliche prismatische Schatten an die Wände warfen. Vielleicht war dieses Mobile der Grund, weshalb er so viele Jahre später immer noch manchmal davon träumte, fliegen zu können.
Alle medizinischen Autoritäten waren sich darüber einig, dass der Mensch acht Stunden Schlaf pro Nacht benötigte. Weniger Schlaf führte angeblich zu Konzentrationsschwierigkeiten und Störungen der Denkprozesse. Wahrscheinlich wurden die meisten Leute, die als Landstreicher, Betrüger oder Serienkiller endeten, durch Schlafmangel zu dem, was sie waren. So lautete jedenfalls die Theorie. Wenn Woody hingegen zu lange im Bett blieb, führte gerade das dazu, dass er sich benebelt fühlte und an bleibenden Aufmerksamkeitsstörungen litt. Um Punkt 3:50 Uhr öffneten sich seine Augen mit einem beinahe hörbaren Klick! und er war hellwach ohne die geringste Chance, wieder einzuschlafen.
Das war ihm peinlich. Er unterschied sich auf unzählige Weisen von anderen Menschen. Wenn er auch acht Stunden Schlaf benötigt hätte wie jeder andere, hätte er sich weniger anders gefühlt.
An diesem Mittwochmorgen tat Woody das, was er nach dem Aufstehen immer tat. Er hatte seine festen Abläufe. Feste Abläufe waren seine Rettung. Die Welt war riesig und komplex, sie war Teil eines noch größeren und komplexeren Sonnensystems, einer gewaltigen Galaxie, eines endlosen Universums – Billionen von Sternen! –, und darüber wollte er lieber nicht allzu lange nachdenken. Es waren zahllose Entscheidungen zu fällen, es gab unzählige Dinge, die einem zustoßen konnten. Die vielen Möglichkeiten konnten zu lähmender Unentschlossenheit führen, und all die Gefahren konnten bewirken, dass man vor Angst regelrecht versteinerte. Aber feste Abläufe machten das Endlose endlich und beherrschbar. Also nahm er seine übliche Vier-Minuten-Dusche, zog sich an und ging leise nach unten.
Er durfte sich selbst ein Frühstück mit Getreideflocken und Toast machen, aber zum Essen war es noch zu früh.
Es war ihm ohnehin lieber, mit seiner Mutter zu frühstücken, wenn sie morgens aufstand. Er sagte zwar nie ein Wort dabei, hörte ihr aber gern zu. Manchmal sagte sie ebenfalls nicht viel, und auch das war für ihn in Ordnung, solange sie nicht aus Traurigkeit schwieg.
Er merkte es immer, wenn sie traurig war. Ihre Traurigkeit durchfuhr ihn wie ein heranwehender Eisregen und kühlte ihn zum gleichen Zustand ab, den er sonst nie erlebte.
Aus einer Küchenschublade nahm er eine Taschenlampe des Typs Bell and Howell Tac Light sowie seine altbewährte Attwood-Signalhupe. Letztere bestand aus einer kleinen Sprühdose, an deren oberem Ende eine rote Plastikhupe befestigt war, die ein ohrenbetäubendes WAAAAAAHHHH erzeugen konnte. Damit ließen sich gefährliche Tiere zuverlässig abschrecken, auch wenn er solche Tiere nur selten gesehen und die Hupe erst zweimal benutzt hatte.
So ausgerüstet trat er an das Tastenfeld der Alarmanlage an der Hintertür. Er gab die vier Ziffern ein, und die aufgenommene Stimme sagte: »System deaktiviert.« Die Lautstärke war sehr niedrig eingestellt, damit seine Mutter von nichts anderem geweckt werden konnte als dem Alarmton selbst.
Die hintere Veranda war mit zwei Teakholzstühlen mit dicken blauen Kissen ausgestattet, zwischen denen ein kleiner Tisch stand. Ein Schaukelsitz hing an Edelstahlketten. Überall um ihn herum war Dunkelheit.
Woody fürchtete sich nicht vor der Nacht.
Die Nacht konnte magisch sein. In den dunklen Morgenstunden, wenn seine Mutter noch schlief, waren ihm schon manche coole Dinge passiert. Einmal hatte er eine dicke Opossummutter über den Rasen watscheln sehen, gefolgt von ihren Babys. Ihre winzigen Augen hatten vor Neugier gefunkelt, als sie ihn entdeckt hatten. Er hatte Füchse, zahllose Kaninchen und ganze Hirschfamilien gesehen. Das Einzige, was er mit einem lang gezogenen Hupen vertrieben hatte, waren Waschbären gewesen, die sich ihm fauchend und mit gefletschten Zähnen genähert hatten.
Durch seinen Gehorsam hatte er sich das Recht verdient, nachts so lange auf der Veranda zu sitzen, wie er wollte, solange er immer darauf achtete, die Tür nicht abzuschließen, damit er sich jederzeit schnell zurückziehen konnte. Er durfte aber nicht allein in den Garten hinausgehen. Es war ein großer Garten, beinahe drei Morgen groß, und am hinteren Ende wartete der Wald.
Im Wald lebten Tiere, die noch gefährlicher waren als die angriffslustigen Waschbären. Mutter Natur hatte nichts Mütterliches an sich. Mom sagte, die Natur sei eher wie eine manisch-depressive Tante, die einen meistens freundlich behandelte, sich aber hin und wieder in eine richtige Hexe verwandeln konnte. Dann beschwor sie tödliche Stürme herauf und rief bösartige Tiere herbei, große Berglöwen mit langen Reißzähnen, die sich, wenn sie die Wahl hätten, immer für zartes Kinderfleisch entscheiden würden.
Er setzte sich auf die Verandatreppe. Seine Mutter erwartete von ihm, dass er auf einem der Stühle oder auf der Schaukel saß, dass er vielleicht am Geländer stand. Aber auf den Stufen war er näher am Geschehen, falls wirklich etwas geschah. Außerdem hielt er sich immer noch an die Regeln, vor allem an die Grundregel, dass er den Garten nicht betreten durfte. Die Taschenlampe lag unbenutzt neben ihm. Die Hupe hielt er in der rechten Hand.
Der Mond schwebte im Westen dahin, war noch nicht ganz hinter den Bergen verschwunden und strahlte hell wie eine exotische Qualle im Meer des Alls. Am Himmel funkelten mehr Sterne, als Woody jemals hätte zählen können. Nach dem Tod seines Vaters – Mord! – hatten sie die geschäftige Stadt im Silicon Valley verlassen, von dem seine Mutter sagte, dass es eher ein Gedanke als ein realer Ort sei. Sie waren hierhergekommen, an den Rand der Gemeinde Pinehaven in Pinehaven County, wo keine städtische Lichtverschmutzung das Licht der Sterne abschwächte.
Woody saß noch nicht länger als zehn Minuten auf der Treppe, als die drei Hirsche aus der Dunkelheit kamen: ein Bock mit einem prächtigen Geweih, eine Hirschkuh und ein vielleicht fünf Monate altes Kalb mit noch fleckigem Fell. Im Winter, wenn es ganz ausgewachsen war, würde es seine Flecken verlieren.
Hirsche zogen nicht immer im Familienverbund umher, oft reisten sie in kleinen Herden, ebenso oft allein. Aber im vorigen Jahr war eine Familie wie diese drei Monate lang fast jede Nacht hierhergekommen, angezogen vom Süßgras des Rasens. Woody hatte sich mit ihnen angefreundet, hatte Äpfel für sie zerteilt, die Stücke auf die Verandatreppe gelegt und sich zu einem Stuhl zurückgezogen. Nach und nach hatten sie genug Vertrauen gewonnen, um die Äpfel von der untersten Stufe zu fressen, während er auf der obersten saß. Am Ende hatten sie ihm die Stücke sogar mit ihren weichen Lippen aus den Händen genommen.
Aber diese drei Besucher waren nicht dieselben wie im letzten Jahr. Woody erinnerte sich an die Fellzeichnung der erwachsenen Tiere, und diese sahen anders aus. Die Hirsche bemerkten ihn und verhielten sich vorsichtig, blieben beim Grasen auf Abstand, wobei ein Hauch Mondlicht auf ihren schattenhaften Umrissen lag.
Manchmal fragte er sich, was mit dieser anderen Familie passiert war, ob eines oder mehrere der Tiere von Jägern getötet worden waren, ob vielleicht ein Berglöwe die Hirschkuh oder ihr Kalb erwischt hatte. Eine Familie zusammenzuhalten und zu beschützen war sehr, sehr schwer.
Er traute sich nicht, in die Küche zu gehen, ein paar Äpfel zu schneiden und zu versuchen, diese neuen Hirsche zur Treppe zu locken. Schon durch das Aufstehen allein konnte er sie verscheuchen. Aber wenn sie noch ein paarmal wiederkamen und sich an seine Anwesenheit gewöhnten, könnte er beginnen, sich mit ihnen anzufreunden.
Fürs Erste hatte er genug Freude daran, sie einfach nur zu beobachten. Sie bezauberten ihn. Sie waren schön und würdevoll, aber weder ihre Schönheit noch ihre Würde war das, was ihn am meisten berührte. Was ihn faszinierte, fesselte, bannte, war die Tatsache, dass es drei waren, die zusammen und in Sicherheit unter den Sternen ästen, furchtlose Wesen in dieser Welt der Furcht. Sie wirkten, als ob sie für immer zusammen sein würden.
Die Nacht war so still, dass Woody das Gefühl hatte, die Lichtjahre entfernten Sterne brennen zu hören. Aber was er hörte, war natürlich nur das Blut, das durch die Blutgefäße in seinen Ohren zirkulierte.
Er flüsterte: »Hallo.«
Obwohl der Junge mit leiser Stimme gesprochen hatte, hob der Bulle den gehörnten Kopf und starrte ihn an.
Für einen langen Moment betrachteten sie einander. Dann flüsterte Woody: »Ich hab dich lieb«, denn der Hirsch konnte den Augenblick durch kein falsches Wort verderben, und die Kluft, die zwischen den Arten lag, stellte sicher, dass keiner von ihnen sich oder den anderen in Verlegenheit bringen konnte.
9
Megan Bookman wurde von der Stimme der Alarmanlage geweckt, als Woody den Abschaltcode eingab. In den meisten Bereichen des Hauses war die Lautstärke niedrig eingestellt, damit er sich keine Sorgen machte, sie aufzuwecken, aber hier im Hauptschlafzimmer war die Anlage lauter, damit sie immer wusste, wann er auf der hinteren Veranda war.
Sie stieg aus dem Bett und schlich durch das dämmrige Licht zur in die Wand eingelassenen Crestron-Anlage. Der Bildschirm leuchtete auf, als sie ihn berührte. Sie wählte das Wort ›Kameras‹ aus dem Menü aus. An verschiedenen Punkten an der Außenseite des Hauses waren 14 Zwei-Kamera-Module installiert. Eine der beiden Kameras konnte entweder bei Tageslicht oder Lampenlicht aufzeichnen, die andere machte Infrarotaufnahmen, wenn es weder Sonnen- noch Umgebungslicht gab, so wie jetzt.
Das System übersetzte die roten Bilder in Wellenlängen im Bereich von 555 Nanometern, den grünen Teil des Spektrums, für den das menschliche Auge am empfänglichsten war. Dennoch waren die Kamerabilder nicht sehr detailreich. Megan konnte Woody zwar auf der obersten Treppenstufe sitzen und in den Garten und den Wald dahinter starren sehen, aber er war nur eine blassgrüne Gestalt unter anderen Schatten in verschiedenen Grüntönen, wie ein Waldgeist, den die Neugier dazu getrieben hatte, diese menschliche Behausung aufzusuchen.
Er hatte sicher seine Attwood-Signalhupe und seine Tac-Light-Lampe dabei. Diese Dinge vergaß er nie.
Beim ersten Anzeichen von Gefahr würde er die Hupe benutzen und ins Haus zurückrennen. Megan befürchtete nicht, dass Woody eine Gefahr vielleicht nicht erkannt hatte. Er hatte Angst vor Fremden und auch vor allem anderen, an das er noch nicht durch Routine gewöhnt war.
Pinehaven war kein Brennpunkt der Kriminalität. Auch die landesweite Drogenepidemie hatte diesen stillen, abgelegenen Ort bisher noch nicht ernstlich in Mitleidenschaft gezogen. Ihr Grundstück lag nicht weit außerhalb der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen war. Sie war hierhergekommen, weil sie sich hier sicher fühlte.
Woody allein auf der Veranda sitzen zu lassen war keine ideale Lösung. Aber er war elf Jahre alt und er wusste jedes Stück Unabhängigkeit zu schätzen, das sein Zustand zuließ. Sie konnte nicht rund um die Uhr an seiner Seite bleiben, und es wäre für sie beide nicht gut, wenn sie ihn mit Ketten der Angst an sich band, die ihn so einschränkten, wie es eine Hundeleine getan hätte.
Sie ging wieder ins Bett. Wahrscheinlich würde es eine halbe Stunde dauern, bis sie wieder schlafen konnte.
Am Rahmen des Bettes war ein kleiner Waffensafe befestigt. Sie öffnete ihn jede Nacht, um die Waffe schnell erreichen zu können. Wenn sie morgens aufstand, verriegelte sie ihn wieder. Die Pistole war eine Heckler & Koch USP, Kaliber 9 Millimeter, mit einem zehnschüssigen Magazin.
Sie hatte die Waffe eine Woche nach Jasons Tod gekauft. Ein ehemaliger Polizeibeamter, der eine Selbstverteidigungsschule führte, hatte ihr Schießunterricht gegeben. Jetzt, drei Jahre später, übte sie immer noch regelmäßig.
Während sie wach im Dunkeln lag, fragte sie sich, ob sie sich wirklich so sicher fühlte, wie sie behauptete.
10
Lee Shacket kann den Südwesten von Utah nicht leiden. Auf der 60-Meilen-Strecke über die State Route 56 von Cedar City zur Grenze des Bundesstaats, weit entfernt von jedem Starbucks und jedem guten Sushi-Restaurant, sieht er nichts als karge, mondbeschienene »Panoramen«. Aber er ist immer noch der Ansicht, dass es nötig ist, drittklassige Straßen zu benutzen, weil diese weniger stark von der Polizei überwacht werden als die Interstates.
Verglichen mit Südost-Nevada ist Utah jedoch ein üppiges Paradies. Die Countys Lincoln und Nye, die er auf zweispurigen Nebenstraßen bereist, erweisen sich als gähnend leere Höllenlandschaften, über denen sich die brennend heiße Sonne erhebt wie das böse Omen eines drohenden thermonuklearen Infernos. Vom verschlafenen Nest Caliente bis zum Hinterwäldlerkaff Rachel rast er durch 87 Meilen Nevada-Leere. Bis zur nächsten Stadt sind es noch einmal 54 Meilen Einsamkeit und leerer schwarzer Asphalt, eine Straße des Elends, auf der sich Klapperschlangen in verzweifelter Langeweile winden und auf die Räder des Schicksals warten, die sie vom Stumpfsinn des Wüstenlebens erlösen.
Auf beiden Seiten des Highways wachsen in einigen Meilen Entfernung Siedlungen wie Geschwüre aus dem Boden, die Namen wie Hiko oder Ash Springs tragen und über Staats- und Countystraßen erreichbar sind. Zu anderen wie Tempiute und Adaven führen nur unbefestigte Wege. Um 6:50 Uhr hält er an einer Tankstelle mit Ladengeschäft, weil er Benzin braucht. Hinter der Tankstelle steht ein Wohnhaus. Das Grundstück befindet sich an einer Kreuzung ein paar Meilen vor Warm Springs. Die zwei Pumpen liefern eine überteuerte Benzinmarke, von der er noch nie gehört hat. Das Gebäude, in dem sich das Geschäft befindet, ist von rissigem blassgelbem Gipsputz umhüllt und hat ein blaues Dach aus Keramikkacheln.
Seit er Cedar City verlassen hat, ist Shackets Stimmung mies. Sein altes Leben liegt in Trümmern und sein neues mit Megan ist noch weit entfernt in Kalifornien. Meile für Meile hat die trockene Mojave-Wüste ihm den letzten Rest Menschlichkeit geraubt, den die zahllosen Ungerechtigkeiten, die er erfahren hat, noch übrig gelassen haben.
Die Zapfsäulen sind zwar nicht so alt wie der fossile Brennstoff, den sie zutage fördern, aber sie entstammen einer Generation, die keine Kreditkarten annimmt. Shacket geht in den Laden, um dem Kassierer seine auf den Namen Nathan Palmer ausgestellte Visa-Karte zu geben und die Pumpe zu aktivieren.
Der Mann ist offenbar der Besitzer der Tankstelle und Shacket kann ihn auf Anhieb nicht leiden. Er ist alt und dick. Er trägt eine Kakihose mit Hosenträgern, ein weißes T-Shirt und einen Strohhut mit schmaler Krempe. Es sieht aus, als ob er ein Kostüm trägt – als ob er einen primitiven Wüstentölpel darstellen will.
Als Shacket den Tank befüllt hat und in den Laden zurückkehrt, um das Visa-Formular zu unterschreiben und seine Karte zurückzuholen, sagt der Alte: »Schöner Morgen, nicht?«
»Heiß wie im Backofen«, erwidert Shacket.
»Na ja, Sie sind nicht von hier. Für uns ist das noch angenehm.«
»Woher wissen Sie, dass ich nicht von hier bin?«
»Hab Ihr Kennzeichen gesehen beim Reinfahren. Ist nicht aus Nevada. Sah aus, als wären Sie aus Montana.«
Shacket unterschreibt den Zettel und sagt nichts. Er muss sich auf die Unterschrift konzentrieren, denn für einen Augenblick vergisst er den Namen, der auf der Kreditkarte steht, und unterzeichnet beinahe mit Lee Shacket.
Irgendetwas stimmt nicht mit seinem Kopf.
»Sind nur 82 Fahrenheit«, sagt der Kassierer. »Für diese Gegend und Jahreszeit ist das kühl.«
Shacket gelingt die Nathan-Palmer-Unterschrift.
Er sieht dem alten Kerl in die trüben Augen. »Was für eine Gegend? Ihre Genitalgegend?«
»Entschuldigung?«
»Wofür?«
Der Kassierer runzelt die Stirn und schiebt die Visa-Karte über den Tresen. »Einen schönen Tag noch.«
Shacket versteht nicht, warum dieser Fremde ihn mit einer solchen Wut und Verachtung erfüllt. Es macht ihm ein wenig Angst. Aber er kann nicht widerstehen.
»Wofür entschuldigen Sie sich?«, fragt er wieder. Der alte Knacker geht ihm auf die Nerven mit seiner gespielten Leutseligkeit. »Haben Sie einen fahren lassen? Wofür entschuldigen Sie sich?«
Der Kassierer wendet den Blick ab. »Ich hab’s nicht böse gemeint.«
»Haben Sie mich beleidigt?«
»Sir, ich bin sicher, das habe ich nicht.«
Ein Summen ertönt in Shackets Kopf, als hätte sich ein Wespenschwarm in seinem Schädel eingenistet. »So, da sind Sie sich also sicher?«
Der Mann sieht zum Fenster, zu den Zapfsäulen, vielleicht in der Hoffnung, dass ein neuer Kunde angefahren kommt. Draußen bewegt sich nichts, abgesehen vom Schatten einer Wolke, der als dunkler Schemen über den Highway huscht.
Die Anspannung des Alten, seine versteckte Angst, erregt Shacket. »Haben Sie eine Grundüberzeugung?«, fragt er und nimmt einen Schokoriegel aus einem Fach am Tresen.
Shacket selbst hatte einmal Grundüberzeugungen, ein Bewusstsein von Grenzen. Da ist er sicher. Er kann sich nur nicht mehr erinnern, wo diese Grenzen lagen.
»Wie meinen Sie das?«, fragt der alte Mann.
»Na ja, glauben Sie zum Beispiel an Gott?«
»Ja, Sir. Das tu ich.«
»Ach ja?«
»Ja, Sir.«
»Und wo ist er?«, fragt Shacket, während er den Riegel aus der Verpackung holt und diese zu Boden fallen lässt.
Der Alte sieht ihn wieder an. »Wo Gott ist?«
»Mich würde einfach mal interessieren, wo Sie glauben, dass er steckt.«
»Gott ist überall.«
»Ist er da drüben beim Kühlschrank mit dem Bier und der Limo?«
Der Kassierer erwidert nichts.
Shacket beißt von dem Riegel ab, kaut zweimal und spuckt den klebrigen Brocken auf den Tresen. »Das Ding schmeckt scheiße. Das ist doch seit zehn Jahren abgelaufen. Was hält Ihr Gott davon, dass Sie so einen Scheiß verkaufen? Oder merkt er das nicht? Wo ist er? Ist Gott vielleicht dahinten bei den Chips und den Doritos?«
Der Kassierer blickt auf den Kartenleser hinab. »Ich habe Ihre Karte durchgezogen, das geht elektronisch, über die Telefonleitung. Die Nummer und der Name sind schon an Visa gemeldet, der Kauf ist abgewickelt.«
Damit will er Shacket sagen: Falls ihm hier etwas Tödliches zustoßen sollte, wird es Beweise dafür geben, dass Nathan Palmer zur Tatzeit hier getankt hat.
Aber Shacket ist natürlich nicht Nathan Palmer.
Das wütende Summen in seinem Kopf wird noch wütender. Er muss etwas tun, damit es aufhört. Und er weiß, was es ist.
Er nimmt noch einen Bissen von dem Riegel, kaut einmal darauf und spuckt das Zeug auf den Tresen. »Ist Gott da vorne bei den Zeitschriften? Sie haben da doch bestimmt Schmuddelhefte, oder? Ein paar Pornos?«
Einer der Mundwinkel des dicken Alten beginnt zu zucken, und das erregt Shacket noch mehr.
Aber das Zucken erinnert ihn auch an seinen Großvater, ein freundlicher Mann, der an einem Tremor gelitten hat. Etwas wie Mitgefühl für den Kassierer überkommt ihn. Aber es vergeht schnell wieder.
»Ein großer Redner sind Sie nicht gerade, oder? Sie sagen nur, dass es ein schöner Morgen ist, und schon geht Ihnen die Luft aus und Ihnen fällt nichts mehr ein.«
Shacket bewirft den Alten mit dem Rest des Schokoriegels. Er bleibt an seinem weißen T-Shirt kleben.
Er ist nicht Nathan Palmer, aber er muss den Führerschein und die Kreditkarte auf diesen Namen noch für eine Weile benutzen. Hätte er bar bezahlt, hätte er jetzt tun können, was nötig wäre, um das Summen zu beenden.
»Sie sind ein richtiger Glückspilz, was?«
Der alte Mann antwortet nicht.
»Ich sagte: Sie sind ein richtiger Glückspilz, was?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Nicht dass Sie wüssten? Na, dann sind Sie noch dazu dumm. Sie sind ein Glückspilz. Heute ist dein Glückstag, Opa. Ich geh jetzt hier raus und lass dich weiteratmen. Wenn du den Sheriff anrufst, weißt du, was dann passiert?«
»Ich ruf niemanden an.«
»Wenn mich irgendein Bulle anhält, soll er mich besser schnell umbringen. Denn wenn er das nicht tut, dann mach ich ihn kalt, komm hierher zurück und schieb dir ’ne Pistole in deinen fetten Arsch.«
»Ich rufe niemanden an«, wiederholt der alte Mann.
Shacket geht zum Dodge Demon hinaus. Unter dem Fahrersitz steckt eine Heckler & Koch Compact .38 in einem Gürtelholster. Er muss seine ganze Willenskraft einsetzen, um sie nicht zu nehmen, damit in den Laden zurückzugehen und das Magazin in den alten Mann zu leeren.
Als er wieder unterwegs ist und auf dem Bundeshighway 6 an einem Kaff namens Warm Springs vorbei in Richtung Tonopah fährt, beschleunigt Shacket auf 190 Stundenkilometer, dann auf 210. Der Dodge röhrt und verschlingt den schwarzen Asphalt. Shacket ist unruhig, aufgeregt, wie elektrisiert, er braucht die Geschwindigkeit, um sich abzureagieren, sich zu beruhigen.