Gegen den Strom der Gestressten - Stefan Höchsmann - E-Book

Gegen den Strom der Gestressten E-Book

Stefan Höchsmann

4,4

Beschreibung

Viele suchen den Traumjob ohne Dauerstress, aber immer mehr erleben den Dauerstress ohne Traumjob. Sie sind Getriebene im Strom der Gestressten. Auch Stefan Höchsmann war einer von ihnen. Auf seiner Jagd nach Ansehen und Erfolg verbreitete er Hektik und Chaos. Doch nachdem er jahrelang vergeblich gegen den Stressmacher in sich angekämpft hatte, entschied er sich zu einer Radikalkur. In seiner Autobiografie beschreibt der Unternehmer seinen Spaziergang zum Erfolg und verrät, welcher Kompass ihn zu seinem ungewöhnlichen Jobmodell "Business as unusual" geleitet hat.

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STEFAN HÖCHSMANN

GEGEN DEN STROM DER GESTRESSTEN

Ein ungewöhnlicher Geschäftsmann. Eine ungeschönte Geschichte.

Die Bibelzitate sind unterschiedlichen Übersetzungen entnommen und wie folgt gekennzeichnet:

L – Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

NeÜ – NeÜ bibel.heute © 2010 Karl-Heinz Vanheiden, www.derbibelvertrauen.de, und Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg, www.cv-dillenburg.de.

EL – Revidierte Elberfelder Bibel © 1985/1991/2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

NL – Neues Leben. Die Bibel © 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

EÜ – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

S – Bibeltext der Schlachter. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

GN – Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

© 2016 Brunnen Verlag Gießen

Lektorat: Konstanze von der Pahlen

Umschlagfoto: Jonathan Schwalm, jschwalm.com

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN Buch 978-3-7655-4303-6

ISBN E-Book 978-3-7655-7463-4www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Kurzgeschichte

Mit dem Strom der Gestressten

Gegen den Strom der Gestressten

Lebensgeschichte

An den fernen Quellen meiner Vorzeit

Zwischen den mächtigen Strömungen meiner Kindheit

In den wilden Wellen der Pubertät

An riskanten Schluchten während der Ausbildung

Im Augen öffnenden Fluss der Reifezeit

Mit dem Strom des lebendigen Wassers (1)

In den ersehnten Hafen der Ehe

Durch die rauschenden Stromschnellen der Aufbauzeit

In ruhigeren Wassern mit dem Unternehmen

Über das tückische Wehr der Bewährung

Am erquickenden Brunnen der Genugtuung

An der Mündung der Entscheidung

Mit dem Strom des lebendigen Wassers (2)

Nachwort

Vorwort

Mir wurde beigebracht: „Man fängt nicht mit dem Wort ‚Ich‘ an.“

Ich heiße Stefan Höchsmann. Mein Familienname lässt vermuten, dass es sich bei meinen Vorfahren um eine stolze Sippe handelte, für die Rang und Namen große Bedeutung hatten. Mein Großvater war Ortsgruppenleiter für eine deutsche Partei (…) in einem sudetendeutschen Dorf mit gut 1000 Einwohnern. Mein Vater hatte als Firmengründer und Unternehmer eine höhere Position inne als die anderen Männer in seinem Betrieb. Mein Bruder ist ebenfalls Unternehmer und der einzige männliche Höchsmann in seiner Firma. Unser Name wird zwar nicht mit „t“ geschrieben, wie ich ihn naiverweise in der Grundschule buchstabierte, aber dennoch assoziiert man Höchsmann mit dem Superlativ von hoch. Das entspricht auch exakt meinen Erfahrungen mit unserem Klan – wir haben eine Neigung zu Superlativen und einen inneren Drang nach oben.

Und was mich anbetrifft, bilde ich da keine Ausnahme: 1962 wurde ich im Gebärmutterhaus als hochmütiger Höchsmann empfangen und dann im Geburtskrankenhaus als stolzer Stefan geboren. Ja, mein Vorname setzt noch eins drauf auf den hochtrabenden Nachnamen: Stefan stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet „der Gekrönte“; sozusagen jener, der in der Antike den olympischen Siegeskranz ergatterte. Meine Eltern machten sich, glaube ich, bei meiner Namensgebung keine allzu tiefen Gedanken, aber sie leisteten dabei Maßarbeit. Sie hätten keinen treffenderen Namen für mich aussuchen können, denn tief in mir steckt ein leidenschaftlicher Sportler, dem ein unwiderstehliches Streben nach der Mittelposition auf dem Siegertreppchen innewohnt.

Ich bin also sowohl vom Namen als auch vom Wesen her ein nach dem Höchsten Strebender. Und damit gehöre ich zu jener wenig beliebten Personengruppe der Perfektionisten, über die man geringschätzige Bemerkungen macht wie: „Diese Nervensägen und Stressverbreiter! Sie haben immer unrealistisch hohe Ansprüche, mit denen sie permanent ihre Mitmenschen plagen und sich selbst ständig enttäuschen, weil sie diese nicht erreichen.“ So weit zu meinem Namen, dessen Bedeutung für das, was noch kommen wird, nicht unbedeutsam ist.

Wer dieses Buch trotz Titel und Vorwort liest, sollte sich auf eine etwas unkonventionelle Lektüre einstellen. Ich halte es für durchaus zumutbar für diese Spezies Leser, mit meiner Autobiografie nicht genau am Anfang, sondern ungefähr in der Mitte meines Lebens zu beginnen – zwischen meinem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr.

Mein schon immer zu Extremen neigendes Temperament lief in dieser Zeit zur Höchstform auf. Erst zu Tode erschrocken und dann wie im Himmel frohlocken – die Bandbreite meines Gefühlsrepertoires war groß in dieser Zeit. Besonders markant drückte sich das im Umgang mit dem Stress aus. Innerhalb von zehn Jahren wurde aus mir, der einstigen Unruheinkarnation, fast die Ruhe in Person. Anders ausgedrückt: Mit dreißig stürzte ich mich mit Enthusiasmus in den Strom der Gestressten, mit vierzig ruderte ich dann mit Entschlossenheit gegen ihn an.

Es geht in diesem Buch also vornehmlich um das, was wir Stress nennen. Damit meine ich nicht etwa jede Mühe, jegliche Anstrengung oder jedwede Belastung! Wenn ein Brautpaar seine Hochzeit organisiert und dabei voll unter Strom steht, fühlt es sich danach in der Regel beglückt und nicht belastet – trotz der massiven Herausforderungen empfindet es „positiven Stress“. Ich bin nicht gegen Ehrgeiz, Engagement und Einsatzfreude im Leben oder am Arbeitsplatz. Ganz im Gegenteil: Ich wünsche mir diese für mich und meine Mitarbeiter. Mir geht es hier um „negativen Stress“, welcher sich nicht unbedingt manifestiert durch ein zu hohes Maß an Belastungen, sondern durch die mangelnde Möglichkeit der Bewältigung. Wie sich das in meinem Leben gezeigt hat, erzähle ich jetzt.

Kurzgeschichte

Mit dem Strom der Gestressten

Radebeul, 1992–1995

Neuanfang im Osten

Während sich 1989/1990 in Deutschland die politische Wende vollzog, arbeitete ich in unserem Familienunternehmen in Langen, einer Kleinstadt in Hessen. Als Helmut Kohl dann westdeutsche Pioniere zum Aufbau blühender Landschaften in die neuen Bundesländer sandte, schickten meine Eltern mich zum Aufbau einer Niederlassung unseres Handelsunternehmens nach Sachsen. Also zog ich 1992 gen Osten und konnte mich mit meinen dreißig Jahren endlich der ständigen Supervision meiner elterlichen Vormünder entziehen. Ein neuer Lebensabschnitt begann und meine Aussichten als Lebenskünstler, für den ich mich hielt, waren glänzend. Meine persönliche Stressampel stand auf Grün und meine Zukunft sah ich in Rosarot. Ich wusste nicht genau, wo die Lebensreise hingehen würde, aber eines wusste ich: Auf keinen Fall wollte ich so viel arbeiten und Stress haben wie mein Vater oder andere Stresstypen, deren Freizeit nur aus schweißtreibendem Schuften und deren Hobbys einzig aus mühsamer Maloche zu bestehen schienen. Ich wollte lieber tun, was mein Vater manchmal abschätzig als „Privatisieren“ bezeichnete. Jetzt, da ich geschäftlich endlich frei und ungebunden war, wollte ich meine Prioritäten Urlaub, Freizeit und Erlebnis nach Herzenslaune zelebrieren.

In dieser Zeit ergriff eine Art Goldgräberstimmung die Kaufleute aller Wirtschaftszweige im Westen. Montags schob sich eine zäh fließende Fahrzeugkarawane Richtung „Wilder Osten“, freitags zogen die Herren Verkäufer und Frauen Vertreter dann wieder zurück und ihre wuchtigen Wessi-Wagen stauten sich in langen Schlangen. Die A4 war anno dazumal noch eine üble Hubbelpiste, auf der man durchgeschüttelt wurde wie auf einem wilden Rodeo-Pferd.

Einer dieser ostwärts ziehenden Glücksritter war ich. Mit meinem Fahrzeug fuhr ich im Pendlerstrom von West nach Ost. Mit meinem Job war ich jedoch Teil einer viel größeren Bewegung: Ich schwamm mit dem mächtigen Wirtschaftsstrom des Westens, welcher nach der Wende die ganze Welt mit einer neuen Art des Arbeitens überschwemmte: Man stellte in allen Büros auf Business am Bildschirm um.

Ich hatte in jenen Tagen meinen ersten Laptop im Gepäck und versorgte auch die neu eingestellten Mitarbeiter mit Computern. Aufgrund meines Bildungsdefizits hatte ich zu der Zeit noch keine EDV-Vorkenntnisse und als einzigen Lehrer lediglich das unhandliche Handbuch von Microsoft Word. Wenige Jahre vorher hatte ich erstmals die deutsche Vokabel „Autodidakt“ mitgeschnitten. Als ich mir nun den Umgang mit dem PC selbst beibrachte, dämmerte es mir, dass ich wohl autodidaktisch veranlagt sein musste. Der Effizienzgewinn durch den Einsatz von PCs war phänomenal. Alles ging auf einmal viel rascher als vorher; unvorstellbar, wie viel Zeit wir plötzlich einsparten und welches Potenzial für Ruhe und Konzentration vor unseren Füßen lag!

Arbeitsplatz im Stressgefängnis

Aber daraus wurde nichts. Im Gegenteil – ich arbeitete mehr und steckte die gewonnene Zeit einfach in Expansion und Optimierung. Nun entwickelte sich der höchste Streber in mir schnell zum höchsten Stresser. Ich tappte also, voller Begeisterung und Tatendrang für meinen neuen Job, in die Stressfalle. Der Traum vom gemütlichen Leben war Geschichte. Meine Füße glitten ins kollektive Nass der ausgepowerten Workaholics und meine Vorsätze bezüglich eines entspannten Jobs schwammen von dannen. Schleichend und unbemerkt wurde ich vom Strom der Gestressten vereinnahmt. Anfangs war mir das Wasser des Stroms gar nicht so unsympathisch. Als leidenschaftlicher Windsurfer, der schon die Wellen vor Hawaii, Neuseeland und Australien abgeritten hatte, fand ich Gefallen an der Schubkraft des Wirtschaftsstroms, der mir dynamischen Vortrieb ermöglichte.

Beim Unternehmensaufbau entwickelte der emsige Eiferer in mir ehrgeizige Eigendynamik. Sein Argument klang plausibel: „Wer in den neu entdeckten und erschlossenen Bundesländern geschäftliches Gold bergen will, muss der Erste sein, der eine schlagkräftige Vertriebsmannschaft aufgebaut hat und die besten Schürfgründe besetzt hält.“ So galt es, wie ich folgerte, keine Zeit zu verlieren. Ich ließ mich also von dem eigensinnigen Wettkämpfer in mir breitschlagen und stürzte mich Hals über Kopf in das abenteuerliche Unterfangen, mit meinem frisch gegründeten Unternehmen mal schnell regionaler Marktführer zu werden. Die langweiligen Hotelabende unterwegs wurden mir eine willkommene Ausrede dafür, regelmäßige Abendschichten nach Feierabend einzulegen. Um flotter vorwärtszukommen, stellte ich fleißig – und leider auch völlig planlos – Mitarbeiter ein. Ich kann mich erinnern, wie sich circa drei Jahre nach der Niederlassungsgründung ein Freund nach dem Vorankommen meiner Firma erkundigte und ich selbstzufrieden anmerkte: „Ich habe schon zwanzig Mitarbeiter.“

Später wurde mir mein überstürztes Wachstum in der Anfangsphase fast zum Verhängnis. Als Gründer, Ideengeber, Hauptverkäufer, Personalseelsorger und Marketingchef stand ich ständig unter Strom. Ich zog mir täglich etwa doppelt so viel Arbeit auf meinen Schreibtisch, als ich Zeit zum Abarbeiten hatte. Um dieses Ungleichgewicht auszugleichen, versuchte ich es einfach mit erhöhter Geschwindigkeit: Ich verhaspelte mich immer häufiger beim Sprechen, streifte nicht selten beim schwungvollen Verlassen des Büros den Türrahmen oder stürmte gegen die Schreibtischkante. Die ständig wachsende Anzahl an Notizen arbeitete ich – sofern ich sie überhaupt entziffern konnte – chaotisch ab, um keine kostbare Zeit für das Strukturieren zu vergeuden.

Ich war eine Unruhemaschine und meine Rastlosigkeit übertrug sich auch auf meine Mitarbeiter. Ich beobachtete, wie sie in meiner Gegenwart plötzlich nervös und hektisch wurden. Viele unnötige, nicht zu Ende gedachte Initiativen behinderten zu dieser Zeit unsere Effizienz. Statt Marktführer zu werden, wäre mein Start-up im Jahr 1996 fast in die Insolvenz gerutscht, hätte uns nicht das Langener Stammhaus über Wasser gehalten.

Gesundheitsattacke im Hamsterrad

Eines Nachts im Büro, als mir mein ehrgeiziges Arbeitstempo mal wieder massiv über den Kopf wuchs, erhielt ich eine Kurznachricht. SMS gab es noch nicht, dafür meldete sich eine alarmierte Stimme aus meinem Inneren. Das geplagte Organ Herz verschaffte sich Aufmerksamkeit durch ein mir bis dahin unbekanntes kräftiges Stechen und veranlasste eine jähe Unterbrechung meiner Arbeit. Panik bemächtigte sich meines Verstandes und ich grübelte, ob diese Symptome nicht die Vorstufe eines Herzinfarktes sein könnten. Mir war es noch nie so leichtgefallen wie in diesem Moment, einen nach Erledigung schreienden Stapel Arbeit einfach unerledigt liegen zu lassen. Während ich noch zwischen „Notaufnahme sofort“ oder „Arztbesuch am nächsten Morgen“ abwog, sagte ich mir: „Stopp! Keinen Schritt weiter in diesem wahnsinnigen Tempo!“

Noch einige Wochen zuvor hätte ich mir nicht eingestehen wollen, wie belastend und bedrückend sich der selbst auferlegte und selbst verschuldete Effizienzdruck auf mich auswirkte. Nicht, dass ich keine Wahrnehmung für Stress gehabt hätte. Ich erkannte ihn überall um mich herum und verachtete den Lebensstil der Stressakteure in meinem Umfeld – nur für meinen eigenen Stress war ich blind. Nun, durch diese Attacke auf meine Gesundheit, erkannte ich plötzlich meine Megastressnatur und wurde sogleich einsichtig wie ein reuiger Hund. Der Anfangspunkt einer grundlegenden Reform meiner persönlichen Arbeitskultur war gesetzt.

Das Ergebnis der aufwendigen diagnostischen Untersuchung war: „Alles nur psychisch“ – dennoch war ich gewarnt. In den darauffolgenden Wochen ignorierte ich die Berge an Arbeit, gönnte mir ein Meer von Ruhe und fuhr in den Urlaub an einen Bergsee. Erholung war nötig, denn mein physisches Belastungslevel war an einem Tiefpunkt angelangt. Sobald ich nur ein wenig gefordert wurde, spürte ich so etwas wie einschnürende Fesseln um meinen Brustkorb und meine Atemwege verengten sich. Ein Arzt kommentierte: „Immer in Eile, gell?“ Wie recht er doch hatte!

Aber die jahrelang eingeübten Stressgewohnheiten ließen sich nicht auf Knopfdruck abschalten. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich mich von dem allgemeinen Stressmob, den ich schon lange um mich herum wahrnahm, hatte anstecken lassen. Ich saß genau in der Stressfalle fest, um derentwillen ich viele meiner Mitmenschen bemitleidet hatte. Vor mir lag nun ein langer und mühsamer Prozess der Veränderung.

Klipphausen, 1995–2001

Antistresskampf ohne schnellen Erfolg

Diese Lebensphase war für mich einschneidend, denn ich bin – wie man vielleicht schon mitbekommen hat – ein Hypochonder. Mit anderen Worten: Ich gehöre zu den Menschen, die äußerst inspiriert sind, wenn es darum geht, Fantasien zu entwerfen, wie sich aus Belanglosigkeiten tödliche Krankheiten entwickeln können. Aber aus heutiger Sicht bereue ich diese physische Grenzerfahrung keinesfalls, denn daraus resultierte: Meine Stressnatur bekam ein Stoppschild vorgesetzt und mein Sportlernaturell wurde zum Stresswächter berufen.

In den darauffolgenden Jahren bemühte ich mich, meine destruktive Stressneigung zu überwinden, und gelangte zu der Überzeugung, dass es einen Weg heraus aus der Stressfalle geben müsse. Ich stellte mich gegen meine Stressmarotten: Multitasking sollte nicht länger mein Hirn überfordern. Statt meine Gedanken mit vielem zu fragmentieren, wollte ich lernen, mich auf weniges zu konzentrieren. Während rasanter Autofahrten interessante Radio-Reportagen zu hören, gleichzeitig schmierige Drive-in-Burger zu mampfen und simultan unangenehme Business-Telefonate entgegenzunehmen – solche Parallelbeschäftigungen schienen effizient, aber sie überforderten mein Gehirn und stressten mich. Das sollte sich ändern.

Allerdings war das Ausbrechen leichter gesagt als getan, denn ich musste nicht nur angehen gegen den „Sohn der Gestressten“ in mir, sondern auch gegen den Strom der Gestressten um mich herum. Mein einsames Gefecht gegen meine eigenen Gewohnheiten in einer eilenden Gesellschaft mutete an wie der Kampf eines Anti-Stress-Davids gegen einen Pro-Stress-Goliath. Ich sah mich der Übermacht eines Wirtschafts- und Kulturstromes ausgesetzt, der seine Vorliebe für mehr Lärm, mehr Stress, mehr Druck, mehr Unterbrechungen und mehr Ablenkungen gnadenlos vorantrieb – und irgendwie war mein Leben auch noch Teil dieses Stromes. Kaum hatte ich mancherlei alte Stressneigung abgestellt, wurde ich schon wieder von allerlei neuen Stressgewohnheiten gequält.

So scheiterten meine ersten Versuche, den inneren Unruhestifter zu besänftigen, kläglich. Zwar hatte ich seit meiner unfreiwilligen Auszeit einen mentalen Wachhund, der bei Versagen augenblicklich zu bellen anfing, doch der bereitete mir nur zusätzlichen Seelenstress. Immer wieder stellte er meinen Mangel an Selbstbeherrschung bloß und zeigte mir, dass ich ein Gefangener der Gewohnheit war. Natürlich war die Manifestation meiner Stressaktion nirgends ärger als in meinem Job. Mein Arbeitsplatz mitten im Tagesgeschäft der Firma mit seinem schnellen und hektischen Betrieb war einfach eine Überforderung für meine zu überstürztem Handeln neigende Natur.

So gab es einige erfolglose, zermürbende und frustrierende Jahre des Kampfs gegen den Stress. Danach ging es mir nicht besser als davor, aber meine Entschlossenheit war immer noch da – nur mit dem Unterschied, dass meine Lösungsansätze langsam radikaler wurden. Eines Abends sagte ich mir: „Persönlicher Frieden ist mir wichtiger als geschäftlicher Erfolg“ und „Entweder meine Stressnatur wird überwunden (indem ich einen Stressstand erreiche, mit dem ich zufrieden bin) oder ich werfe das Handtuch und gebe das Unternehmen auf“. Mir war das bitterernst. Dass ich rechtlich und finanziell in dem Unternehmen gefangen war und gar nicht freiwillig – ohne Insolvenz – hätte aufhören können, war mir zu dieser Zeit nicht wirklich bewusst. Ich war jung und blauäugig, aber das schadete meinem Werdegang Gott sei Dank nicht.

Als ich diesen Entschluss traf, waren meine Frau und ich bereits acht Jahre im Osten. Meine Resolution eröffnete mir den Weg in Richtung einer radikalen Reform, die mich im weiteren Verlauf zum Durchbruch führte. Eines Nachts im Jahr 2000, während einer Zeit der andächtigen Stille, kam mir eine total schräge Idee: „Warum überlässt du das schnelle Tagesgeschäft nicht einfach deinen Mitarbeitern? Die kommen mit der ganzen Hektik anscheinend besser klar als du. Warum verlegst du nicht einfach deinen Wohnsitz weit weg von der Firma und kommst nur noch einige Male im Jahr ins Unternehmen?“ Dann schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf: „Das ist die Lösung und eine offene Tür aus dem Stressgefängnis.“

Seltsam, dass ich sofort so überzeugt von dieser Idee war, denn was mein Hirn da ersponnen hatte, klang reichlich unrealistisch. Was würden die Mitarbeiter dazu sagen, wenn ihr Chef ihnen mitteilte: „Hier ist es mir zu stressig – ich bin dann mal weg“? Meine Frau und ich hatten gerade zwei Jahre zuvor ein Haus in der Nähe des Unternehmens in Klipphausen gebaut und zwei Vorschulkinder zu versorgen. Sie lehnte meine Idee als „mal wieder völlig unrealistisch“ ab. Aber ich ließ mich davon nicht beirren und den Traum von einem stressärmeren Alltag abseits vom Tagesgeschäft weiter in meinen Gedanken Gestalt gewinnen. Ich dachte mir: „Im Zeitalter von Internet, E-Mail und Mobiltelefonie muss es doch möglich sein, auch ganz woanders zu arbeiten“. Ich fantasierte: „Gehen wir doch dorthin, wo es am schönsten ist; am liebsten in das Land meiner Träume – nach Neuseeland, an den Strand und in die Berge, da lässt sich’s sicher entspannter arbeiten.“ Das Land der Kiwis hatte ich vorher zweimal bereist und dort schien das Leben irgendwie entspannter und langsamer.

Es bedurfte einer Menge Überredungskünste, um meine englische Frau dazu zu bewegen, mit mir und unseren Kindern auf eine zehnwöchige Urlaubsgeschäftsreise nach Neuseeland und Australien zu kommen, um dabei unter anderem auszuloten, ob hier unsere Zukunft liegen könnte. Für mich war das auch ein Test, ob das Unternehmen gut ohne mich klarkommen würde. Als ich nach neun Wochen Abwesenheit mal wieder mit den Verantwortlichen im Unternehmen telefonierte, merkte ich, dass es Zeit für mich wurde zurückzukommen. Die Umsätze gingen drastisch zurück. Auch wenn das vielleicht nicht unmittelbar mit meiner Abwesenheit zusammenhing – ich erkannte, dass meine Idee mit einem Arbeitsweg von zwanzigtausend Kilometern doch ein wenig unrealistisch war.

Dennoch war die Reise nach Down Under wegweisend. Als wir eines verregneten Tages in dem wunderschönen australischen Küstenort Eden unter einem Regenbogen in unserem Leihwohnmobil saßen, konfrontierte ich meine Frau mit einer neuen Idee: „Wie wäre es, wenn wir nicht ins Ausland, sondern zurück in die alten Bundesländer ziehen würden und ich von dort aus die Firma leiten würde, weit genug weg vom turbulenten Tagesgeschäft?“ Bisher hatte sie immer nur ein klares „Nein“ zu all meinen Wegzugsplänen gehabt; sicher auch, weil sie meine innere Unruhe nicht als dramatisch oder Problem erkannte. Aber auf diesen Vorschlag entgegnete sie: „Das kann ich mir schon eher vorstellen.“

Gegen den Strom der Gestressten

Bad Hersfeld, ab 2002

Neuanfang im Westen

Im Jahr darauf kauften wir ein Haus in Bad Hersfeld und bereiteten unseren Umzug vor. Dieser führte uns wieder zurück nach Hessen, in das Bundesland meiner Kindheit. Ich verabschiedete mich von meinen Mitarbeitern, denn in Zukunft würde ich nur noch als Gast in meine Firma kommen. Die Belegschaft nahm die Nachricht von meinem überraschenden Entschluss, nach zehn Jahren dem Freistaat den Rücken zu kehren, erstaunlich gelassen hin, wenn auch keine richtige Begeisterung aufkam.

Mein Wegzug ging mit einer entscheidenden personellen Umbesetzung einher. Es war ein gewagter und riskanter Schritt: Mein bester Verkäufer wurde mit sofortiger Wirkung seiner Aufgaben enthoben. Diese Maßnahme war Bestandteil einer Anti-Stress-Kur der radikalen Art, die ich mir auferlegte, denn dieser Verkäufer war ich selbst. Ab sofort würde ich nicht mehr für die Vertriebsarbeit zur Verfügung stehen und mich ausschließlich auf den Einkauf konzentrieren. Dieser sagte mir sowieso mehr zu, weil man dabei mit weniger Aufwand mehr Geschäft generieren konnte.

So brachen wir als Familie die Zelte in Sachsen ab und lagerten unsere Umzugskartons vor den großen Ferien 2002 im Unternehmen ein. Vor dem Umzug fuhren wir erst einmal drei Wochen in den Urlaub. Nach etwa zwei Wochen auf Korsika war ich verblüfft: Der innerliche Druck und die Unzufriedenheit über meine Hastigkeit, die mich in den Jahren zuvor auch in Urlaubszeiten ständig begleiteten, waren wie weggefegt. Dieser Moment markierte den Wendepunkt meiner beruflichen Karriere. Nun konnte ich sagen: „Ich bin dem Stressmob entronnen und habe den Traumjob gewonnen!“

An dem Tag, als wir nach dem Urlaub in unserer neuen Heimat in Waldhessen ankamen, begrüßte uns wieder ein Regenbogen. Und von diesem Tag an bis heute war das Arbeiten gut dreihundert Kilometer abseits vom Unternehmen und Tagesgeschäft eine wunderbar entspannende Sache. Vorher war ich stets unzufrieden mit meiner ständigen inneren Unruhe im Job, danach war ich stets zufrieden. Das klingt vielleicht übertrieben, ist es aber nicht. Vorher war ich sicherlich manchmal unzufrieden, obwohl es gar nicht so schlimm war, und nachher zufrieden, obwohl es gar nicht so gut war – aber was soll’s: Die permanente Unzufriedenheit wurde zur ständigen Zufriedenheit.

Allein schon die Tatsache, dass ich nach dem Umzug nicht mehr hundertzwanzig Tage pro Jahr im Büro in Klipphausen unter pausenlosem mentalen Dauerbeschuss saß, sondern nur noch an etwa zwanzig Tagen, wirkte wie eine wahrhafte Wunderwaffe gegen den Stress. Da ich bald nur noch alle zwei Monate das Unternehmen besuchen sollte, wurde meine zu Aktivismus und Ungeduld neigende Natur schön ausgebremst. Die vielen Ideen, die vor dem Umzug manchmal fast im Stundentakt aus mir heraussprühten und meine Mitarbeiter häufig überforderten und verwirrten, wurden auf das Wesentliche komprimiert und standen danach nur noch alle zwei Monate zur Disposition.

Arbeitsplatz im Wald

Vor dem Umzug hatte ich etwa fünfzig Prozent meiner Arbeitszeit für den Verkauf aufgewendet. Das war nun Geschichte. Die Vertriebsarbeit war delegiert und Verkaufsanfragen wurden von mir kaum noch akzeptiert. So erlebte ich nach dem Neubeginn eine Jobrevolution. Meine Arbeitszeiten am neuen Bürostandort Bad Hersfeld schrumpften drastisch, das Stresslevel sank rapide auf Tiefststände.

Wir wohnten nun am Waldrand. Mein hypochondrisches Gespür analysierte, dass mein Bürojob eigentlich Gift war für meine trockene Rachenschleimhaut und meine mit Krampfadern übersäten Unterschenkel. Da erfand ich das „Büro auf Schusters Rappen“: Ich verlegte meinen Arbeitsplatz in den Wald und führte ab dieser Zeit die meisten meiner Geschäftstelefonate nicht mehr sitzend, sondern gehend. Die Nachbarn drückten Verwunderung aus, als sie beobachteten, wie ich regelmäßig mit Diktiergerät und Mobiltelefon in den Wald spazierte, während andere Leute sich durch den Verkehr an ihre Arbeitsplätze durchkämpften. Ich komme auf diese Art gefühlt doppelt so schnell durch meine täglichen Telefonlisten als am Rechner, wo die vielen Ablenkungen die Effizienz bremsen. Außerdem bleibt mein Kreislauf beim Spazierengehen in Wallung, was beim ungeliebten Hocken vor dem Bildschirm nicht gerade der Fall ist. Am Rechner bin ich bei der Arbeit schon einige Male eingeschlafen (…), beim Wandern noch nie! Darüber hinaus wird mein Gedächtnis trainiert. Damit die vielen Details auf den langen Spaziergängen nicht verloren gehen, diktiere ich nach jedem Telefonat Gesprächsnotizen und Arbeitsanweisungen an unsere geschätzten Sachbearbeiterinnen. Die Angewohnheit dieser Telefonspaziergänge habe ich mir bis heute in der warmen Jahreszeit bewahrt, auch wenn wir seit drei Jahren leider nicht mehr am Waldrand, sondern nur noch am Rand eines Wäldchens wohnen. Das Ambiente unter den Bäumen bietet reichlich Entspannung und wenig Ablenkungen. Und wenn mir doch einmal, wie schon einige Male passiert, eine Wildschweinherde über den Weg läuft und meine Aufmerksamkeit kurzzeitig abschweift, dann habe ich am Familientisch etwas Kurzweiliges zu erzählen.

Meine britische Frau und ich sind extrem unterschiedlich geartet. Ihr Mädchenname Dunkerley kommt von dem Verb „to dunk“, was so viel heißt wie tunken oder tauchen oder taufen. Anders ausgedrückt: „in die Tiefe streben“ – welch ein Kontrast zu den hochstrebenden Höchsmännern! Das spiegelt sich auch im Alltag zu Hause wieder. Sie hat ihren Blick eher nach unten auf die „Basics“ oder das Erdreich gerichtet und sieht zu, dass im Haushalt alles seinen gewohnten Gang geht. Ich hingegen richte mein Augenmerk eher nach oben auf die „Specials“ oder Luftschlösser und zermartere mir den Kopf, was man optimieren, umgestalten oder wegrationalisieren könnte. Als ich anfing, viel Zeit im Wald zu verbringen, wo mich singende Vogelstimmen erquickten, und sie parallel dazu viel Zeit im Haushalt verbrachte, wo sie saugenden Vakuumlärm zu erdulden hatte, da neckte ich sie einmal ein wenig und meinte: „Ich habe für morgen noch sieben freie ungeplante Stunden und weiß nicht so recht, was ich da machen soll. Hast du eine Idee?“ Ich wollte sie damit ein wenig piesacken und zum Umdenken animieren. Erreichen konnte ich natürlich nichts, aber witzig fand ich mich schon.

Geschäftsreisen mit dem Fahrrad

Neben dem Stress gab es noch einen anderen Grund, warum ich den Wohnort wechselte, und dieser hatte etwas mit der Region zu tun. Bis Ende der Neunziger war das Unternehmen hauptsächlich regional tätig gewesen; danach zunehmend international. Meine Reiseziele lagen nun in Westeuropa, nicht mehr in Sachsen. Vom deutschen Autobahnmittelpunkt Bad Hersfeld aus konnte ich meine Reisetätigkeit effektiver ausüben. Denn trotz Entspannung legte ich mich nicht auf die faule Haut. Ganz im Gegenteil: Ich hatte einen bärigen Reisehunger und setzte mir das Ziel: „Ich will alle bedeutenden westeuropäischen Hersteller und Händler für Holzbearbeitungsmaschinen besuchen und ihre Unternehmen von innen sehen. Ich wusste, dass ich dieses Ziel nie ganz erreichen würde, aber bis heute habe ich immerhin schätzungsweise sechzig Prozent davon geschafft, was mir einen guten Überblick über die Branche verliehen hat.

Das Verhältnis zwischen meinen Büro- bzw. „Wald-“ und Reisetagen war seinerzeit wie auch heute etwa siebzig zu dreißig. Die vielen Tage zu Hause waren sehr relaxed. Das Telefon klingelte selten, es gab keine spontanen Kundenbesuche oder Mitarbeitergespräche. Nur die täglichen E-Mails mussten abgearbeitet werden, was allerdings im Wald nicht zu bewerkstelligen war. Die Tage unterwegs dagegen waren eher ambitioniert und ausgefüllt mit Autofahrten, Kundenterminen, Telefonieren, Diktieren und abends mit Büroarbeit. Trotzdem empfand ich diese ausgefüllten Reisetage nicht als furchtbare Plackerei, sondern als Ausgleich zu den sonst extrem stressarmen Tagen.

Später merkte ich, dass auf diesen nicht gerade ruhigen Reisen noch etwas fehlte – nämlich der Faktor Entspannung. Also fing ich an, meine Mehrtagesreisen länger als nötig zu planen, und legte Pausen für Muße ein. Ich bin ein leidenschaftlicher Entdecker. Landschaften und Naturschönheiten haben mich schon seit früher Kindheit fasziniert. Ich stellte fest, dass man dafür gar nicht bis nach Neuseeland reisen musste. Im Umfeld der Holzbearbeitungsmaschinenbranche gibt es reichlich Ziele dieser Art. Na ja, Ostwestfalen war okay. Der Schwarzwald war schon besser. Mich zog es jedoch etwas weiter weg: nach Venetien, an die Costa Brava, an die portugiesische Westküste, nach Norwegen, nach Schweden – überall fand ich hoch attraktive Businessprojekte in der unmittelbaren Umgebung von traumhaften Landschaften. So machte ich Flussfahrradtouren, Küstenspaziergänge, Bergwanderungen und Skilanglaufrunden, während ich manchmal gleichzeitig tolle Geschäfte am Telefon abwickelte und Denkpausen einlegte.

Bis heute habe ich mir die Angewohnheit frisch gehalten, je nach Jahreszeit mein Faltfahrrad oder meine Langlaufskier als Reisebegleiter im Auto mitzuführen. Zuweilen kombiniere ich auch Außendienstreisen und Fahrradtouren und fahre dann mit dem Drahtesel bei Kunden vor. Öfter kam ich etwas verschwitzt an, aber noch nie bin ich dadurch negativ aufgefallen. Meistens waren mir mein Spezialvehikel und meine Sportkleidung sogar dabei behilflich, der Empfangsdame eine heitere Abwechslung zu bescheren, sodass sie sich bei ihrem Chef dafür einsetzte, dass dem ungewöhnlichen Klinkenputzer eine Spontanaudienz zugestanden wurde. Nicht selten nehme ich ein Kind oder die ganze Familie mit auf meine kombinierten Geschäfts-Urlaubs-Reisen.

Spaziergang zum Unternehmenserfolg

Nach dem Umzug erhielt ich Mahnungen aus dem familiären Umfeld, dass ich mich als maßgeblicher Motor und Motivator nicht von meinen Mitarbeitern zurückziehen dürfe, da ich ansonsten den Betrieb samt seiner Mannschaft in die Misere stürzen würde. Auch wenn solche Warnungen durchaus nicht aus der Luft gegriffen waren, schlug ich sie in den Wind. Dass dann ausgerechnet nach meinem Wegzug die entscheidenden Wachstumsimpulse für das Unternehmen kamen, war umso erstaunlicher und lässt sich vielleicht erklären durch das Sprichwort „In der Ruhe liegt die Kraft“. Als der Unternehmer von seinem Leiterposten vor Ort abtrat, trat das Unternehmen seinen Siegeszug in der Branche an.

Ungläubig fragten mich diverse Geschäftspartner, wie das in einem mittelständischen Unternehmen ginge, einerseits Chef und andererseits fast nie anwesend zu sein. Ich erklärte: „Meine Mitarbeiter brauchen mich nicht vor Ort. Seit ich weg bin, geht alles besser.“ Es mag wie Höchsmann’scher Hochmut klingen, aber es darf hier ruhig erwähnt werden: Die Höchsmann GmbH, während meiner Zeit im Strom der Gestressten bedeutungsloser Maschinenhändler im Dresdner Umland, hat sich nach meinem Umzug zu einem der international erfolgreichsten Unternehmen für gebrauchte Holzbearbeitungstechnik entwickelt.

Zum Thema der Marktführerschaft in unserer Branche darf Folgendes festgehalten werden: Bei den Neumaschinenherstellern schreiben sich gleich vier Herstellergruppen die Marktführerschaft zu. Man könnte das auch als einen Wettstreit der Farben bezeichnen. Da gibt es zunächst die rote Allrounder-Group aus Italien, die damit wirbt, mehr Exemplare an Einzelmaschinen zu verkaufen als alle anderen. Weiterhin gibt es die grüne Möbelmaschinen-Group, ebenfalls ansässig an der Adria, die von sich sagt, dass sie die meisten CNC-Maschinen verkauft und diese auch am effizientesten produziert. Die grüne Vollholz-Group aus Deutschland wiederum outet sich als unangefochtene Nummer eins im Massivholzbereich. Last but not least ist da noch die blaue Group aus dem schwarzen Wald, die von der Mitarbeiterzahl und dem Umsatz her unangefochten die Poleposition innehat. Andere Hersteller und Farben sind in Teilsegmenten bedeutend und marktführend. Besonders hervorzuheben ist der rote Möbelmaschinenbauer, der als Lokalmatador wie die Made im Speck die Klientel der Möbelhochburg Ostwestfalen bedient, sich als technologisch führend versteht und sich 2015 von einem Hightech-Sägenbauer vom Bodensee schlucken ließ, der ebenfalls für die Farbe Rot streitet. So weit zur Marktführerschaft bei den Neumaschinenherstellern.

In unserer Gebrauchtbranche handelt es sich bei den Marktakteuren nicht um Hersteller, sondern um Händler. Sie streiten weitgehend für dieselben Farben: In Blau gibt es die führenden Massivholzspezis – der eine genial in Fenstermaschinen, der andere unerreicht in Kehlautomaten. Ebenfalls in Blau agiert ein italienischer Standardmaschinen-Gigant, der mehr Lagerfläche als alle weltweit in der Branche haben dürfte und dessen Seniorchef mit seinem Erinnerungsvermögen für Lagermaschinen und Einkaufspreise einmal als einziger Computer des Unternehmens bezeichnet wurde. Die Farbe Blau ist auch sehr dominierend bei unseren Kollegen, die sich insbesondere auf Gebrauchte für die Plattenbearbeitung eingefuchst haben, zum Beispiel den italienischen „Hansdampf in allen Gassen“, der uns von der Unternehmensstruktur her ähnlicher ist als alle anderen. Weiterhin gibt es zwei blaue Platzhirsche aus Ostwestfalen, denen in Sachen Generalüberholung niemand etwas vormacht – außer vielleicht der absolute Genius für den weltweiten Vertrieb deutscher Möbelmaschinen: ein Italiener, dessen Logo in Weiß strahlt und damit originell ist wie die Firmenköpfe selbst. Nicht zu vergessen ist noch die rote Internet-Lokomotive aus dem Ruhrpott, ein unfassbar dynamisches und dampfendes Unternehmen, welches den Markt in Bezug auf komplette Betriebsauflösungen ganz schön aufgewühlt hat und für uns der Wettbewerber ist, auf den wir im Einkauf am häufigsten stoßen. Beim Thema Internet darf auch eine grüne Firma aus Bayern nicht ungenannt bleiben, die bei Standardmaschinen zweifellos mehr Vermarktungskompetenz und Erfolg hat als wir. Davon abgesehen sind da noch unsere gelben Freunde aus Nordamerika mit dem lächelnden Löwen als Maskottchen, der auch mal kräftig brüllen kann, wenn eine ordentlich in einen Seefrachtcontainer verpackte Maschine wegen einer von uns nicht zu verantwortenden Zwischenumladung schlampig bei ihm ankommt. Und dann gibt es eben auch noch uns – die wiederum blaue Truppe aus Sachsen, die von der Personal- und Umsatzstärke her ebenfalls vorne in der Branche anzusiedeln ist, sich als Universalexperte für Möbel- und Massivholzmaschinen etabliert hat und deren Internetpräsenz, was Kompetenz und Information angeht, derzeit ihresgleichen sucht.

Lebensgeschichte

An den fernen Quellen meiner Vorzeit

Vor Meiner Geburt, 1945–1962

Kind des Wirtschaftswunders

In dieser Autobiografie will ich zwei Fragen auf den Grund gehen: erstens, wie ich zu dieser ungestümen Stressneigung kam, und zweitens, wie ich sie dann wieder losbekam. Bezüglich der ersten Frage sehe ich nicht nur mein Elternhaus als bedeutungsvoll an, sondern vor allem auch den vorherrschenden Zeitgeist, der meine Eltern am Anfang ihrer Ehe prägte. So beginne ich meine Lebensgeschichte vor meiner Geburt, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.