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Lisa Schwaiger

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Beschreibung

Die digitale Transformation der Öffentlichkeit führte zu einem Aufschwung von alternativen Nachrichtenmedien im Netz, die den professionellen Informationsjournalismus konkurrieren. Als Gegenöffentlichkeiten stehen sie in Opposition zur hegemonialen Öffentlichkeit aus Politik und Medien. Lisa Schwaiger nimmt eine Bestandsaufnahme alternativer Nachrichtenmedien im deutschsprachigen Raum vor und ordnet diese typologisch ein. Mit einem netzwerkanalytischen Ansatz untersucht sie die Relationen zwischen Alternativ- und Mainstreammedien in der Twitter-Sphäre und liefert neue Erkenntnisse zu einem gesellschaftlich hochrelevanten Thema.

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Seitenzahl: 498

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Lisa Schwaiger (Dr. phil.), geb. 1990, ist Soziologin und Medienwissenschaftlerin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) und am Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Strukturwandel der Öffentlichkeit, digitale (Gegen-)Öffentlichkeiten, Religion und Medien sowie qualitative Forschungsmethoden.

Lisa Schwaiger

Gegen die Öffentlichkeit

Alternative Nachrichtenmedien im deutschsprachigen Raum

Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-No- Derivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

© 2022 transcript Verlag, Bielefeld

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-6121-7 PDF-ISBN 978-3-8394-6121-1 EPUB-ISBN 978-3-7328-6121-7https://doi.org/10.14361/9783839461211 Buchreihen-ISSN: 2702-8852 Buchreihen-eISSN: 2702-8860

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort und Dank

I    Einleitung

I.1 Problemstellung

I.2 Relevanz

I.3 Vorgehen

II    Zum Begriff der Öffentlichkeit

II.1 «Öffentlichkeit» in Kommunikationswissenschaft und Soziologie

II.1.1 Der Idealtyp der «Öffentlichkeit»

II.1.2 Eine systemtheoretische Betrachtung von «Öffentlichkeit»

II.1.3 Analytische Sicht: Öffentlichkeitsebenen

II.1.4 Stärken und Schwächen klassischer Öffentlichkeitskonzepte

II.2 Der Strukturwandel der Öffentlichkeit

II.3 Die digitale Transformation der Öffentlichkeit

II.3.1 Netzwerkgesellschaft und -öffentlichkeit

II.3.2 Plattformöffentlichkeit und Plattformisierung

II.3.3 Herausforderungen digitaler Öffentlichkeit(en)

II.3.4 Zwischenfazit: «Digitale» vs. «klassische» Öffentlichkeitskonzepte

III    Zur Etablierung von Gegenöffentlichkeiten

III.1 Der Gegenöffentlichkeitsbegriff

III.2 Sozialer Wandel als Bedingung

III.2.1 Aufschwung autonomer Öffentlichkeiten in Krisenphasen

III.2.2 Vom Aufstand zur Rückkehr der Massen

III.3 Medialer Wandel als Bedingung

III.4 Alternativmedien als Gegenöffentlichkeiten

III.4.1 Alternativmedien im digitalen Zeitalter

III.4.2 «Fake News», Desinformation und alternative Nachrichtenmedien

III.4.3 Verschwörungstheorien auf alternativen Nachrichtenmedien

III.4.4 Alles «Fake News» und Verschwörung?

IV    Relationen zwischen Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit

IV.1 Relationale Soziologie und digitale Räume

IV.1.1 Georg Simmel: Soziale Kreise

IV.1.2 Norbert Elias: Figurationen

IV.1.3 Pierre Bourdieu: Feldtheorie

IV.2 Relationen auf digitalen Plattformen

IV.2.1 Aktuelle Ansätze zur Untersuchung digitaler Netzwerke

IV.2.2 Relational soziologische Ansätze und ihre Anwendbarkeit auf die Untersuchung von digitalen Öffentlichkeiten

V    Theoretische Zwischenbilanz und empirische Forschungsfragen

V.1 Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit als relationale Theoriefiguren

V.2 Zum Stellenwert von Gegenöffentlichkeiten in digitalen Gesellschaften

V.3 Empirische Forschungsfragen

VI Methodisches Design und Datenerhebung

VI.1 Sampling alternativer Online-Nachrichtenmedien im DACH-Raum

VI.2 Qualitative Analyse alternativer Newswebsites

VI.3 Datenerhebung auf Twitter

VI.4 Relationale Analyse der Digitalplattform Twitter

VII Datenauswertung und Resultate

VII.1 FF1: Bestandsaufnahme alternativer Online-Nachrichtenmedien im DACH-Raum — Ein deskriptiver Überblick

VII.2 FF2: Typologie alternativer Nachrichtenmedien

VII.2.1 Offenes Kodieren

VII.2.2 Axiales Kodieren

VII.2.3 Selektives Kodieren und Theoriebildung

VII.2.4 Zusammenfassung: Typologie alternativer Nachrichtenmedien

VII.3 FF3: Twitter-Netzwerke alternativer Nachrichtenmedien

VII.3.1 Follower-Netzwerkstrukturen

VII.3.2 Retweet-Netzwerkstrukturen

VII.3.3 Zwischenfazit: Netzwerkstrukturen alternativer Nachrichtenmedien

VII.4 FF4: Relationen alternativer Nachrichtenmedien in der Twittersphäre

VII.4.1 Engagement-Driver

VII.4.2 Demonstration der Alternative

VII.4.3 Homophilie

VII.4.4 Länderübergreifende Vernetzung

VII.4.5 Bezugnahme auf Politik/Politiker_innen

VII.4.6 Bezugnahme auf gesellschaftliche Akteur_innen/Organisationen

VII.4.7 Bezugnahme auf Expert_innen/Wissenschaftler_innen

VII.4.8 Bezugnahme Typ I — Mainstream

VII.4.9 Bezugnahme Typ II — Mainstream

VII.4.10 Bezugnahme Typ III — Mainstream

VII.4.11 Bezugnahme Typ IV — Mainstream

VII.4.12 Media-Watchdogs

VII.4.13 Bezugnahme Mainstream — Alternativmedien

VII.4.14 Zwischenfazit: Relationen alternativer Nachrichtenmedien und theoretische Einordnung

VIII Ergebnisdarstellung und Fazit

VIII.1 Gesamtresümee

VIII.2 Limitationen

VIII.3 Ausblick

Literatur

Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Anhang 1a: Sample alternativer Nachrichtenmedien

Anhang 1b: URLs deutschsprachiger (professioneller) Nachrichtenmedien

Anhang 2a: Follower-Netzwerk (Alternative Nachrichtenmedien)

Anhang 2b: Follower-Netzwerk (Alternative und professionelle Nachrichtenmedien)

Anhang 2c: Retweet-Netzwerk (Alternative Nachrichtenmedien)

Anhang 2d: Retweet-Netzwerk (Alternative und professionelle Nachrichtenmedien)

Vorwort und Dank

Als ich mit der Planung dieses Forschungsprojektes begonnen habe, war mir noch nicht bewusst, welche Relevanz das Thema «Alternative Nachrichtenmedien» noch einnehmen würde. Die Fertigstellung dieser Monographie traf sich mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie, einer weltweiten gesellschaftlichen Krise, wie sie meine Generation noch nicht erlebt hat. Als sich das Virus global verbreitete, wurden auch alternative Stimmen lauter, die sich gegen die politische und mediale Öffentlichkeit, den «Mainstream», richteten. Darunter nicht nur kritische, demokratisch fundierte Stimmen, sondern auch desinformative, verschwörungstheoretische Narrative, denen viele von uns im Alltag begegnen. Obwohl sich die empirische Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand auf die Zeit vor dem Ausbrauch der Pandemie beschränkt, sehe ich viele meiner Annahmen und Forschungsergebnisse aktuell bestätigt, wenn sich auch deutlich zeigte, dass noch weiterer Forschungsbedarf besteht und uns das Thema «Gegenöffentlichkeiten» noch weiterhin beschäftigen wird und muss.

Obwohl nur ein Name in der Autorenangabe dieses Buches aufscheint, wäre es in dieser Form nicht ohne die Unterstützung vieler Personen zustande gekommen, die mich während des Forschungsprozesses begleitet und inspiriert haben. Mein Dank gilt insbesondere meinem Doktorvater Prof. Dr. Mark Eisenegger, der mir nicht nur die Möglichkeit gegeben hat, an seinem Lehrstuhl zu doktorieren, sondern mir den Weg an die Universität Zürich und meine neue Wahlheimat geebnet hat und mit höchstmöglichem Zuspruch, Vertrauen, Hilfestellung und ich meine auch Stolz diese Arbeit im Speziellen und meine bisherige wissenschaftliche Reise generell betreut hat. Ebenso beteiligt am Entstehen dieses Buches war mein Zweitbetreuer Prof. Dr. Adrian Rauchfleisch, der mir trotz 10’000 km Distanz und sieben Stunden Zeitverschiebung insbesondere in technischen Fragen stets betreuend zur Seite stand. Ein besseres (oder für mich passenderes) Betreuerteam hätte ich mir nicht wünschen können, und das nicht nur in fachlicher, sondern auch in menschlicher Hinsicht. Nicht alle Doktorierenden haben das Glück, mit Respekt, Begeisterung und stets auf Augenhöhe behandelt zu werden. Das schätze ich sehr.

Meine lieben Kolleg_innen vom IKMZ und Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) dürfen an dieser Stelle nicht fehlen. Ich danke euch allen für eure Begeisterungsfähigkeit, Unterstützung und Inspiration. Ein gros-ser Dank richtet sich zudem an meine Professor_innen, Lehrbeauftragten und Kolleg_innen der Salzburger Soziologie und Kommunikationswissenschaft, die meine Begeisterung für die Wissenschaft erst geweckt haben.

Nur mit meinen Freund_innen konnte ich viele herausfordernde Zeiten in den letzten Jahren meistern. Daher richte ich einen ganz besonderen Dank an diese lieben Menschen in meinem Leben, die in unterschiedlicher Weise zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben: Urs Christen, Camilla Freinek, Andrea Häuptli, Lucie Hauser, Romana Lindemann, Jens Lucht, Franziska Oehmer, Jörg Schneider, Julia Schwaiger, Anna Staender, Mario Taferner und Daniel Vogler. Und ohne dich, Lino Moser, würde ich heute noch an diesem Buch schreiben.

Ohne meine lieben Eltern Monika und Georg wäre ich tatsächlich nicht da, wo ich gerade bin. Was ihr mir bisher ermöglicht und an mir ertragen habt, kann ich nicht in Worte fassen. Dafür widme ich euch dieses Buch. Es geht um Alternativmedien – das habt ihr jetzt davon.

IEinleitung

«Man interessiert sich für Alternativen in der Annahme, daß eine Alternative auf jeden Fall besser sei als das, was vorliegt.»

(Luhmann, 2016[1996], S. 75)

Alternative Stimmen sind wesentlich für demokratische, deliberative Diskurse in der öffentlichen Kommunikation. Ohne Gegenrede und Diskussion können Entscheidungen auf Gesellschaftsebene nicht getroffen werden, eine Aushandlung des besseren Arguments (Habermas, 2018[1962], S. 119) würde gar nicht erst zum Tragen kommen. Alternative Öffentlichkeiten nehmen demnach seit jeher eine potentiell demokratische Funktion ein, indem sie die hegemoniale mediale und politische Öffentlichkeit kritisieren und kontrollieren, ihre Stimme erheben und alternative Deutungsmuster in den Diskursraum bringen; sie richten sich gegen die Öffentlichkeit. Über die Ausdrucksform der gedruckten Presse konnten so bereits im Zuge der Französischen Revolution Bürger_innen im «Kampf gegen Zensur» (Habermas, 2018[1962], S. 14) für Meinungsfreiheit einstehen; die neuen sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre äusserten mittels ihrer Alternativpresse politischen Protest (Wimmer, 2015). In den vergangenen Jahren hat der digitale Wandel dem Begriff der Alternativpresse respektive Alternativmedien jedoch eine neue Rahmung verschafft. Als Alternative gegen den Mainstream richten sich alternative Medien oppositionell gegen die mediale und politische Öffentlichkeit und nutzen vor allem die partizipativen Möglichkeiten des Internets, z. B. Social-Media-Plattformen oder Blogs, um sich Gehör zu verschaffen. Während dies einerseits als Chance für deliberative Prozesse betrachtet werden kann, werden alternative Medien in aktueller Forschung vor allem negativ konnotiert und als gefährlich für die soziale Ordnung respektive Demokratie eingestuft (z. B. Figenschou & Ihlebæk, 2018; Haller & Holt, 2018; Holt, 2020). So sorgte beispielsweise die US-amerikanische Nachrichtenseite Breitbart für Diskussionen, die sich als Sprachrohr der Alternativen Rechten etablierte, sich gegen das politische Establishment und politische Korrektheit positioniert und mit extremen und teilweise nachweisbar falschen Äusserungen vor allem im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 öffentliche Bekanntheit erlangte (Hendricks & Vestergaard, 2018, S. 60–64). Ähnliche Tendenzen zeigen sich auch im deutschsprachigen Raum; so beschreibt sich die deutsche Epoch Times als «frei von Propaganda und Medienzensur»1, das österreichische Online-Medium Unzensuriert verweist auf «Fake News» öffentlich-rechtlicher Medien2 und die Schweizer Website Alles Schall und Rauch versucht, eine Verschwörung hinter den Terroranschlägen des 11. September aufzudecken3. Gleichzeitig etablieren sich im DACH-Raum seit einigen Jahren Nachrichtenseiten, die für vertiefte Recherchen und Hintergrundberichterstattung einstehen und sich von der Kommerzialisierung des Mainstream-Mediensystems abzugrenzen versuchen, so beispielsweise die deutsche Nachrichtenseite Krautreporter, die Schweizer Republik oder das österreichische Online-Magazin Addendum. Die Schwierigkeit, den Begriff «Alternativmedien» in digitalen Öffentlichkeiten zu fassen, verdeutlichen Beispiele wie diese, die auf den ersten Blick unterschiedliche Ausrichtungen und Ziele zu verfolgen scheinen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll daher das Phänomen alternativer Nachrichtenmedien in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz (dem DACH-Raum) explorativ untersucht werden. Alternative Nachrichtenmedien werden in diesem Kontext als eine mögliche Form von Gegenöffentlichkeit und als Gegenpol zur massenmedial hergestellten Öffentlichkeit durch professionelle Nachrichtenmedien betrachtet. Die Begriffe «Alternativmedien» und «alternative Nachrichtenmedien» werden in weiterer Folge synonym verwendet, zumal in der bisherigen wissenschaftlichen Literatur vor allem der erste Begriff tragend ist. Dennoch wird der Begriff «alternative Nachrichtenmedien» für den Fokus dieser Arbeit bevorzugt, zumal die empirische Untersuchung auf Nachrichtenmedien fokussiert, die regelmässig Beiträge mit Aktualitätswert verbreiten. Der Fokus auf den DACH-Raum ist nicht nur durch den diesbezüglich vorhandenen Forschungsbedarf begründet, sondern vor allem durch die Annahme, dass alternative Nachrichtenmedien im digitalen Raum länderübergreifend agieren und im gesamten deutschsprachigen Raum vernetzt agieren (Vogler, 2017). Die konkrete Problem- und Fragestellung wird folgend erläutert.

I.1Problemstellung

Die von Medien ausgehende Kritik- und Kontrollfunktion gegenüber politischen Machtträger_innen ist unzweifelhaft eine wesentliche Funktion öffentlicher Kommunikation. Medien als sogenannte Vierte Gewalt neben Legislative, Exekutive und Judikative informieren die Gesellschaft über das politische Geschehen und können dadurch gegebenenfalls auch Missstände aufdecken. Als etablierte Medien bezeichnete Massenmedien haben dahingehend lange Zeit eine Gatekeeping-Funktion eingenommen (vgl. hierzu auch Wallace, 2017), selektierten und kontrollierten Informationen, die dann in der Öffentlichkeit verbreitet wurden. Dieser Prozess hat sich durch die Digitalisierung stark gewandelt, da es über Plattformen auch Lai_innen möglich ist, öffentlich Nachrichten aufzubereiten und zu verbreiten (Eisenegger, 2017; Neuberger & Quandt, 2010; Nuernbergk, 2012; Wallace, 2017). Die vorliegende Arbeit fokussiert auf ebendiese neuen öffentlichen Kommunikator_innen und stellt die Frage, inwiefern sich durch den digitalen Wandel potentielle Gegenöffentlichkeiten ausformieren, etablieren und ihre Netzwerke online aufbauen. Unter Gegenöffentlichkeit wird «eine gegen eine hegemoniale Öffentlichkeit gerichtete Teilöffentlichkeit [verstanden], die um einen spezifischen gesellschaftlichen Diskurs oder Standpunkt herum strukturiert ist» (Krotz, 1998, S. 653). Demzufolge liegt der Fokus dieser Studie auf gesellschaftlichen Gruppen, die sich gegen den (häufig von diesen Gruppen selbst verwendeten und negativ konnotierten Begriff) «Mainstream» positionieren, der die öffentliche Meinung vorzugeben scheint. Gegenöffentlichkeiten richten sich demnach gegen politische, aber auch mediale Eliten und deren Äusserungen. Die vorliegende Arbeit interessiert sich konkret für Gegenöffentlichkeiten im digitalen Zeitalter und widmet sich in diesem Kontext dem Phänomen alternativer Nachrichtenmedien. Obwohl alternative Nachrichtenmedien ihre Ursprünge beispielsweise in der politisch links positionierten Alternativpresse der 1960 und 70er Jahre haben, fokussiert die aktuelle Forschung vorwiegend rechtspopulistische oder desinformative Medien, die unter den Titel «Alternativmedien» oder «alternative Nachrichtenmedien» subsumiert und als potentielle Gefahr für die demokratische Ordnung gedeutet werden. Fraglich ist allerdings, ob in der zunehmend pluralen Medienöffentlichkeit eine dahingehende einschränkende Einordnung alternativer Nachrichtenmedien ausreichend ist. Aus diesem Grund wird in dieser Studie eine differenziertere Betrachtung alternativer Medien angestrebt und basierend auf einem phänomenologischen Ansatz erstmals das aktuelle Feld alternativer Online-Nachrichtenmedien im deutschsprachigen Raum analysiert und definiert. Folgende übergeordnete Fragestellung ist für die vorliegende Studie forschungsleitend:

Wie lassen sich Gegenöffentlichkeiten wie alternative Online-Nachrichtenmedien in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz definitorisch einordnen und welchen Stellenwert nehmen sie in der öffentlichen Kommunikation auf digitalen Plattformen ein?

Neben einer theoretischen Einordnung der Öffentlichkeits- und Gegenöffentlichkeitsbegriffe wird das Thema empirisch anhand von vier Forschungsfragen bearbeitet. Dabei wird im Rahmen von Forschungsfrage 1 untersucht, welche alternativen Nachrichtenmedien im DACH-Raum aktuell online via Website und Accounts auf Digitalplattformen agieren. Forschungsfrage 2 legt den Fokus auf das Selbstverständnis alternativer Nachrichtenmedien, um diese zu definieren und typologisch einzuordnen. Forschungsfrage 3 widmet sich schliesslich einer netzwerkanalytischen Betrachtung alternativer und professioneller deutschsprachiger Nachrichtenmedien auf der Plattform Twitter. Dieser deskriptive Zwischenschritt ist massgeblich für die Beantwortung von Forschungsfrage 4, im Zuge derer jene Netzwerkrelationen interpretativ analysiert werden.

I.2Relevanz

Was passiert, wenn sich in Zeiten digitaler Kommunikation der erweiterte Kreis an Kommunikator_innen oder «pseudojournalistischen» Anbietern (Eisenegger, 2017) nicht an journalistische Standards, wie beispielsweise Quellentransparenz oder Objektivität, halten? Wenn desinformative, verschwörungstheoretische Beiträge öffentlich zirkulieren? Oder politisch gefärbte, polarisierende Meinungen und Nachrichten verbreitet werden? Die Auseinandersetzung mit alternativen Nachrichtenmedien ruft ebensolche Fragen hervor. Die Relevanz, alternative Nachrichtenmedien im deutschsprachigen Raum zu untersuchen, ergibt sich unbestreitbar aufgrund potentieller Gefahren für die soziale Ordnung respektive Demokratie. Die von der Etablierung digitaler Plattformen geprägte digitale Öffentlichkeit bietet aufgrund ihres partizipativen Charakters den idealen Nährboden für alternative Kommunikator_innen. Ein auf Vernunft und Argumenten basierter Diskurs als Basis unserer Demokratie ist bei alternativen Kommunikator_innen aber gerade dann in Frage zu stellen, wenn absichtlich Sachverhalte verdreht, Falschnachrichten verbreitet, oder Gruppen diffamiert werden. Ausserdem impliziert der Begriff «Alternativmedium» eine relationale Abgrenzung zu klassischen Medien. Sie positionieren sich gegen die mediale und politische Öffentlichkeit, wodurch einerseits die Gefahr besteht, dass sich Publika von Alternativmedien ein Bild der Wirklichkeit in abgeschlossenen Teil- respektive Gegenöffentlichkeiten machen und mit professionellen journalistischen Beiträgen kaum oder gar nicht in Berührung kommen. Darüber hinaus können alternative Nachrichtenmedien eine Polarisierung der Gesellschaft weiter fördern – im Sinne von: Wir gegen die anderen. Nichtsdestoweniger erscheint es wesentlich, das Spektrum alternativer Nachrichtenmedien genauer unter die Lupe zu nehmen. Eine dichotome Unterscheidung in Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit – respektive: professionelle und alternative Nachrichtenmedien – erscheint vor allem in der digitalen Öffentlichkeit mit einer Vielzahl an Kommunikator_innen fraglich. Bezugnehmend auf die Ursprünge alternativer Nachrichtenmedien wird es zudem als zu stark einschränkend erachtet, Alternativmedien per se als demokratiefeindlich und gefährlich einzustufen. Gesellschaftliche Implikationen können nur dann getroffen werden, wenn das Spektrum alternativer Nachrichtenmedien möglichst wertfrei und unvoreingenommen erforscht wird.

I.3Vorgehen

Die vorliegende Arbeit bemüht sich darum, die Bedeutung von Online-Gegenöffentlichkeiten in Form alternativer Nachrichtenmedien im deutschsprachigen DACH-Raum aus einer phänomenologischen Perspektive explorativ zu erforschen. Neben einer multimethodischen Herangehensweise dient der theoretische Rahmen basierend auf Öffentlichkeits- und Gegenöffentlichkeitstheorien wie auch relational-soziologischen Ansätzen einer Einbettung des zu analysierenden Phänomens.

Dem Begriff der Öffentlichkeit widmet sich Kapitel II. Hierbei wird angestrebt, unterschiedliche Öffentlichkeitstheorien (Kapitel II.1) und den Strukturwandel der Öffentlichkeit zu skizzieren (Kapitel II.2) und in Anbetracht einer antizipierten digitalen Transformation (oder eines digitalen Strukturwandels) der Öffentlichkeit zu reflektieren (Kapitel II.3). Das Thema «Gegenöffentlichkeiten» wird in Kapitel III erörtert. Im Zuge dieses Kapitels wird neben einer obligatorischen Begriffsdefinition (Kapitel III.1) ein Schwerpunkt auf gesellschaftliche Bedingungen hinsichtlich der Etablierung von Gegenöffentlichkeiten gelegt. Dabei konzentriert sich Kapitel III.2 auf den Einfluss des sozialen Wandels und Kapitel III.3 auf den medialen Wandel. Das konkrete Untersuchungsphänomen dieser Arbeit – alternative Nachrichtenmedien als Gegenöffentlichkeiten – wird in Kapitel III.4 unter Einbindung des aktuellen Forschungsstandes zu den Themen «Desinformation» und «Verschwörung» theoretisch erarbeitet. Neben einer explorativen Untersuchung alternativer Nachrichtenmedien interessiert sich diese Studie insbesondere für deren Vernetzung im DACH-Raum, da von einem relationalen Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit ausgegangen wird und die Logik der Vernetzung vor allem digitale Öffentlichkeiten massgeblich prägt. Theoretisch stützt sich diese Arbeit diesbezüglich auf die relationale Soziologie (Kapitel IV), die anhand klassischer soziologischer Schriften von Georg Simmel, Norbert Elias und Pierre Bourdieu aufgearbeitet wird (Kapitel IV.1). Diese theoretischen Ansätze werden aktuellen Forschungstrends hinsichtlich der empirischen Analyse von Netzwerken auf digitalen Plattformen gegenübergestellt (Kapitel IV.2). Nach einer theoretischen Zwischenbilanz und Darstellung der empirischen Forschungsfragen (Kapitel V) widmet sich Kapitel VI dem methodischen Design und der Datenerhebung für dieses Projekt. Die einzelnen Forschungsschritte dienen gleichzeitig der Beantwortung der vier Forschungsfragen, die im Rahmen der Datenauswertung (Kapitel VII) detailliert analysiert werden. Zunächst werden die deskriptive Bestandsaufnahme alternativer Nachrichtenmedien im DACH-Raum und deren genutzte Plattformen beschrieben, um einen ersten Überblick über das Feld dieser Medien zu geben (Kapitel VII.1). Hierfür wurden mittels einer iterativen, induktiven Samplingstrategie 178 Websites alternativer Nachrichtenmedien aus den drei Untersuchungsländern erhoben und deren Reichweiten auf den Plattformen Facebook, Twitter und YouTube festgehalten. Die Selbstbeschreibungen alternativer Nachrichtenmedien wurden unter Verwendung der Methodologie der Grounded Theory im Detail untersucht, um mit einer daraus resultierenden typologischen Unterscheidung alternative Nachrichtenmedien neu zu definieren (Kapitel VII.2). Am empirischen Ausschnitt Twitter wurden während des politischen Wahlzeitraums im September und Oktober 2019 sowohl alternative als auch professionelle Nachrichtenmedien im DACH-Raum analysiert (Kapitel VII.3). Dabei wurden einerseits Follower-Netzwerkstrukturen untersucht, um Communities alternativer und professioneller Nachrichtenmedien zu identifizieren (Kapitel VII.3.1). Andererseits wurden Relationen im Sinne gegenseitiger Bezugnahmen anhand von Retweet-Netzwerken analysiert (Kapitel VII.3.2). Kapitel VII.4 widmet sich einer qualitativ inhaltsanalytischen Interpretation der aus den Netzwerken resultierten Relationen. Gefragt wird danach, welche Narrative vorhanden sind bzw. welcher Sinn zwischen den Verbindungen besteht, mit Rückbezug auf die Annahmen der relationalen Soziologie. Ein Resümee der Ergebnisse der vier Forschungsfragen erfolgt in Kapitel VIII. Eine kritische Reflexion des Projektes wie auch Limitationen und ein Ausblick für zukünftige Studien runden diese Arbeit ab.

1https://www.epochtimes.de/thema/epoch-times/epoch-times-epochtimes-a4717.html(Stand: 14.11.2018)

2https://www.unzensuriert.at/?s=fake+news (Stand: 14.11.2018)

3http://alles-schallundrauch.blogspot.com (Stand: 16.11.2020)

IIZum Begriff der Öffentlichkeit

«In der bürgerlichen Öffentlichkeit entfaltet sich ein politisches Bewußtsein, das gegen die absolute Herrschaft den Begriff und die Forderung genereller und abstrakter Gesetze artikuliert, und schließlich auch sich selbst, nämlich öffentliche Meinung, als die einzige legitime Quelle dieser Gesetze zu behaupten lernt.»

(Habermas, 2018 [1962], S. 118)

Der Öffentlichkeitsbegriff ist nicht nur in der Kommunikationswissenschaft fundamental, sondern auch in der interdisziplinären Forschung und in alltäglichen Lebenswelten (Wimmer, 2007, S. 21). Nicht verwunderlich ist daher, dass «Öffentlichkeit» je nach Disziplin in unterschiedlicher Weise untersucht und gedeutet wird, existieren doch selbst innerhalb der Kommunikationswissenschaft verschiedene Zugänge, beispielsweise fokussierend auf eine normative, systemtheoretische oder analytische Betrachtung von Öffentlichkeit. Der digitale Wandel brachte zudem wesentliche strukturelle Veränderungen, die bisherige Öffentlichkeitskonzepte noch stärker hinterfragbar gemacht haben. In diesem Kapitel wird ein Überblick über wesentliche Öffentlichkeitstheorien und -konzepte kommunikationswissenschaftlicher und soziologischer Forschung gegeben (Kapitel II.1, II.2), wobei ebendiese unter Berücksichtigung des digitalen Wandels zudem reflektiert werden sollen (Kapitel II.3). Die Definition von Öffentlichkeit in modernen, digitalen Gesellschaften erscheint dabei als elementar für die vorliegende Studie, die sich mit dem Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit theoretisch und empirisch auseinandersetzt.

II.1«Öffentlichkeit» in Kommunikationswissenschaft und Soziologie

Der Öffentlichkeitsbegriff selbst hat seinen Ursprung im 18. Jahrhundert und erlangte aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen und Demokratisierungsprozessen vermehrt an Aufmerksamkeit in der Sozialwissenschaft (Gerhards, 1998). In seiner ursprünglichen Bedeutung wurde der Begriff vom Adjektiv «öffentlich» abgeleitet und bezieht sich auf jene Sphäre, die nicht geheim und allgemein zugänglich ist, unter Bezugnahme auf staatliche Angelegenheiten. Erst im 19. Jahrhundert wurde diese abstrakte Begriffsdefinition durch die Bedeutung des Publikums ergänzt und erlangte somit einen normativen Charakter, in Anlehnung an die aufklärerische Rede, in der die Stimme der Bürger_innen in den Diskurs miteingebunden wird (Gerhards & Neidhardt, 1991). Generell erscheint der Öffentlichkeitsbegriff über unterschiedliche Werke hinweg stark positiv konnotiert; er impliziert den «volunté general» und steht somit für einen bedeutsamen Prädiktor für die demokratische Ordnung (Gerhards & Neidhardt, 1991, S. 3). Sozialwissenschaftliche Klassiker, wie Marx, Durkheim, Weber und Simmel, räumten dem Thema «Öffentlichkeit» ausnahmsweise nur einen geringen Stellenwert ein (Gerhards & Neidhardt, 1991). Eine Begriffsschärfung erfolgte jedoch spätestens bei Habermas (2018 [1962]) und seiner historisch-theoretischen Abhandlung über den «Strukturwandel der Öffentlichkeit». Diese setzt sich im Detail mit dem Öffentlichkeitsbegriff selbst und der Transformation der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrhunderten auseinander und stellt somit ein wesentliches Basiswerk für die sozialwissenschaftliche Öffentlichkeitsforschung im Generellen wie auch die vorliegende Arbeit im Speziellen dar (Gerhards, 1998). Wie folgend geschildert (Kapitel II.1.1), ist Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff stark normativ geprägt, was durchaus kritisiert werden kann. Um die Begrifflichkeit zu schärfen und dem Gegenöffentlichkeitbegriff gegenüberstellen zu können, bedarf es daher einer kontrastierenden Betrachtungsweise durch weitere Öffentlichkeitskonzepte. Zu diesem Zweck wird in Kapitel II.1.2 der systemtheoretische Ansatz von Luhmann (2017 [1995]) vorgestellt, um aus diesen beiden Ansätzen eine Art Synthese der Autoren Gerhards und Neidhardt (1991) mit Blick auf eine analytische Betrachtung von «Öffentlichkeit» zu präsentieren (Kapitel II.1.3). Die unterschiedlichen Ansätze werden anschliessend gegenübergestellt (Kapitel II.1.4).

II.1.1Der Idealtyp der «Öffentlichkeit»

Habermas’ (2018 [1962], S. 96–99) normatives Verständnis von Öffentlichkeit stützt sich auf drei wesentliche Kriterien: Erstens basiert Öffentlichkeit auf einer statusunabhängigen Zugänglichkeit von Bürger_innen im gesellschaftlichen Verkehr, unabhängig davon, in welcher Form dieses Zusammenkommen stattfindet. So waren typische Beispiele für öffentliche Räume des 18. Jahrhunderts Tischgesellschaften, Salons und Kaffeehäuser. Von einer «Gleichheit des Status» wird demnach dezidiert abgesehen, das Publikum (bestehend aus Privatleuten) zeichnet sich durch eine Ebenbürtigkeit aus und Argumente sollten sich unabhängig vom Status der Diskursteilnehmenden durchsetzen. Ebenso dürfen wirtschaftliche Abhängigkeiten keine Rolle spielen, wenn dies auch in den Salons des 18. Jahrhunderts noch nicht unbedingt verwirklicht wurde. Habermas (2018 [1962], S. 97) zufolge soll diese Idee zumindest bereits institutionalisiert worden sein. Zweitens streicht Habermas die Diskussion des «Allgemeinen» oder allgemein Relevanten heraus. Dabei handelt es sich vor allem um Themen, die bis ins 18. Jahrhundert hinein kirchlichen und staatlichen Autoritäten vorbehalten waren und entsprechend beim Publikum unhinterfragt blieben. Wesentlich für die öffentliche Kommunikation sei aber, dass sich Privatleute autonom, kritisch und rational über allgemeine Themen verständigen. Drittens definiert Habermas (2018 [1962], S. 98) die «Unabhängigkeit des Publikums» als wesentlich für den Begriff der Öffentlichkeit. Darunter ist eine offene Zugänglichkeit von Privatpersonen am öffentlichen Diskurs zu verstehen, die nicht an bestimmte Kriterien (z. B. Bildung oder Status) geknüpft ist: «‹Öffentlich› nennen wir Veranstaltungen, wenn sie, im Gegensatz zu geschlossenen Gesellschaften, allen zugänglich sind» (Habermas, 2018 [1962], S. 54). Demnach bezieht sich das «Allgemeine» nicht nur auf den Diskurs relevanter Themen, sondern auch auf die Zugänglichkeit. Deutlich wird bei Habermas (2018 [1962]) die Wichtigkeit nicht nur der Kommunikator_innen, sondern vor allem auch des Publikums. Öffentlichkeit kann demnach mit einem Theater verglichen werden, das schliesslich auch erst dann öffentlich wird, wenn Zusehende und Zuhörende teilnehmen. Das Publikum ist laut Habermas das «Subjekt dieser Öffentlichkeit» und «Träger der öffentlichen Meinung» (Habermas, 2018 [1962], S. 55). Die öffentliche Meinung resultiert aus der rationalen Auseinandersetzung unterschiedlicher Meinungen, dem argumentbasierten Diskurs in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Gleichwohl reflektiert Habermas (2018 [1962], S. 345), unter Bezugnahme auf Hennis, dass in modernen Gesellschaften und durch das Aufkommen von Massenmedien, das teils von unklaren und popularisierenden Meinungen geprägt sei, die Herausbildung einer öffentlichen Meinung sich schwieriger gestalte denn je. Entsprechend gross sei gleichbedeutend die Zahl nichtöffentlicher Meinungen, im Vergleich zu den «formellen, institutionell autorisierten Meinungen», die wesentlich für die Verfassungsrealität des Sozialstaates seien (Habermas, 2018 [1962], S. 353).

Habermas (2018 [1962], S. 56) bezieht sich in seinen Ausführungen auf die Wurzeln der Öffentlichkeit in der griechischen Antike («res publica»). Die Agora, der Marktplatz, galt als Ort des öffentlichen Lebens, des «bios politikos» (ebd.). Bereits in seinen griechischen Wurzeln, so zumindest die römische Tradierung, ist die Öffentlichkeit als Gegenpol zur Privatsphäre zu betrachten, als «Reich der Freiheit und Stetigkeit» (Habermas, 2018 [1962], S. 57). Zentral war dabei die Gleichheit der Bürger_innen und die Integrationsfunktion dieser – in der Öffentlichkeit «wird allen alles sichtbar» (ebd.), es werden die Sachen, die alle angehen, die res publica, übermittelt, besprochen und diskutiert.

Auch Imhof (1996) zufolge zeichnet sich Öffentlichkeit vor allem durch die potentielle Teilhabe aller aus, womit gleichzeitig die Vorstellung impliziert wird, dass alle involviert sind. Somit kann Öffentlichkeit auch als «Referenzrahmen für Dinge, die als allgemein bekannt vorausgesetzt werden oder von denen Kenntnis zu nehmen allen möglich ist», definiert werden (Imhof, 1996, S. 202). Öffentlichkeit ist demzufolge auch Bedingung für die Gesellschaft, da sich nur durch die Vorstellung von einer für alle zugänglichen Öffentlichkeit das Kollektivsubjekt Gesellschaft erst ausformieren kann – oder: «In der Öffentlichkeit spiegelt sich die Gesellschaft – und nur, weil sie sich darin spiegelt, ist sie sich ihrer selbst bewußt.» (Imhof, 1996, S. 203). Imhof modelliert Öffentlichkeit weiter in Form einer Arena, in der Deutungsmuster und Ideologien diffundieren, an Bedeutung verlieren und gewinnen (vgl. Kapitel III.2.1). Öffentlichkeit impliziert weiter bestimmte normative Funktionen (Imhof, 2008): Bürger_innen müssen durch Öffentlichkeit in der Gesellschaft integriert sein und sich selbst als Mitglieder der Gesellschaft wahrnehmen, die durch gemeinsamen, demokratischen Konsens gesellschaftliche Probleme lösen (im Sinne einer Integrationsfunktion der Öffentlichkeit); Öffentlichkeit erfüllt die Deliberationsfunktion, indem ein auf Vernunft und Grundrechten begründeter Diskurs stattfindet. Eine Kritik- und Kontroll- bzw. Legitimationsfunktion ist gegeben, indem Individuen basierend auf Bürger_innen- und Wahlrechten an der politischen Entscheidungsfindung teilhaben und somit politische Eliten legitimieren. Imhof (2008) spricht der Öffentlichkeit demnach eine «seismographische» Funktion zu, im Sinne eines Frühwarnsystems für die Gesellschaft. In ähnlicher Weise bezeichnet Habermas (1992, S. 435) Öffentlichkeit als «ein Warnsystem mit unspezialisierten, aber gesellschaftsweit empfindlichen Sensoren. Aus demokratietheoretischer Sicht muß die Öffentlichkeit darüber hinaus den Problemdruck verstärken, d. h. Probleme nicht nur wahrnehmen und identifizieren, sondern auch überzeugend und einflußreich thematisieren […] [Kursivsetzung im Original]».

Bezugnehmend auf Habermas streicht auch Peters (1994) folgende (normative) Merkmale von Öffentlichkeit heraus: Gleichheit und Reziprozität, Offenheit und ihre diskursive Struktur. Unter Gleichheit und Reziprozität fasst der Autor die Möglichkeit für jede_n, sich an öffentlicher Kommunikation zu beteiligen, wie auch die Balance zwischen dem Zuhören und der öffentlichen Äusserung. Eine Beschränkung auf ein «gebildetes Publikum» solle in diesem Zusammenhang aus historischer Sicht aufgehoben sein, aus einer normativen Perspektive sollten sozialstrukturelle Merkmale die Teilnahmechancen am Diskurs nicht beeinflussen (Peters, 1994, S. 46). Die Offenheit als weiteres Kriterium verweist auf die Themen- und Beitragsvielfalt, die sich zwar auf das Allgemeininteresse beziehen solle, de facto sollten aber keine Themen und Beiträge grundsätzlich ausgeschlossen werden – die Relevanz dieser ergebe sich schliesslich im öffentlichen Diskurs. Unter diskursiver Struktur versteht Peters die argumentbasierte Auseinandersetzung mit Themen, gründend auf einer – so auch bei Habermas (2018 [1962]) – «zwanglos erzielte[n] Überzeugung» (Peters, 1994, S. 47). Die «öffentliche Meinung» resultiert Peters (1994) zufolge aus öffentlichen Diskursen im Sinne von Argumenten, Kritik und Aushandlung; tragend sind gemeinsame Einsichten, die auf Rationalität beruhen. Peters selbst reflektiert, dass es sich dabei um ein idealisiertes Modell von Öffentlichkeit handele, das in modernen Gesellschaften ob ihrer strukturellen Grundbedingungen nicht immer erfüllt werde. So wären beispielsweise Gleichheit und Reziprozität schon dann nicht mehr in ihrer Idealform verwirklicht, wenn Redezeiten nicht gleichverteilt würden, was beispielsweise bei grösseren Veranstaltungen und Versammlungen jedoch kaum zu verwirklichen ist. Zudem können Ungleichheiten resultieren, wenn bestimmte Personengruppen von der Öffentlichkeit exkludiert werden – historisch betrachtet beispielsweise Frauen (vgl. Fraser (1996); Kapitel III.1) –, oder aber, wenn nicht alle Teilnehmer_innen über einen gleich grossen Adressatenkreis verfügen, was beispielsweise auch durch die Massenmedien kontrolliert und gesteuert werden kann. Ebenso können unterschiedliche Wissensvoraussetzungen oder eine ungleiche Verteilung an Wissen den gleichberechtigten Diskurs negativ beeinflussen. Das Kriterium der Offenheit im Sinne einer Themen- und Beitragsoffenheit ist weiter aufgrund einer zunehmenden Aufmerksamkeitsknappheit bei einer Vielzahl von Themen, die in Konkurrenz zueinanderstehen, gefährdet. Daher spricht Peters (1994) auch von einer notwendigen Differenzierung des Publikums in Teilöffentlichkeiten, in denen unterschiedliche Themen detailliert und spezialisiert besprochen werden – eine einzige öffentliche Agenda scheint in diesem Zusammenhang realistischerweise kaum denkbar. Eine Unterscheidung in wichtige (oder relevante) und unwichtige (ignorierte) Themen evoziert dabei weitere Ungleichheiten. Die diskursive Verständigung – als wesentliches Kriterium von Öffentlichkeit – ist schliesslich dann gefährdet, wenn Raum für Dissens, also Gegenargumente, gar nicht erst eingeräumt wird, oder der Widerspruch eine Ingroup-Outgroup-Dynamik weiter verstärkt. In diesem Zusammenhang darf nach Peters (1994) eine diskursive Auseinandersetzung nicht mit a priori erwartetem Konsens verwechselt werden.

Das normative Konzept von Öffentlichkeit, das vor allem von Habermas’ (2018 [1962]) Ausführungen geprägt ist, muss durch seine normative Ausrichtung entsprechend idealtypisch betrachtet werden – was mitunter auch kritisiert werden kann und muss. Dennoch repräsentiert es eine zentrale «Schule» öffentlichkeitssoziologischer respektive kommunikationswissenschaftlicher Forschung. Wesentlich ist vor allem die Frage, inwiefern die Theorie der normativen Öffentlichkeit in modernen, digitalen Gesellschaften tragbar und fruchtbar ist. Zur Beantwortung dieser Frage müssen auch weitere Öffentlichkeitskonzepte diskutiert werden. Das folgende Kapitel widmet sich einer weiteren und konträr dazu stehenden Theorieschule: der Systemtheorie.

II.1.2Eine systemtheoretische Betrachtung von «Öffentlichkeit»

«Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, wissen wir durch die Massenmedien» (Luhmann, 2017 [1995], S. 9). Luhmanns Werk über die «Realität der Massenmedien» verdeutlicht bereits in den ersten (vielzitierten) Zeilen die gesellschaftliche Relevanz der Massenmedien für die öffentliche Kommunikation. Unter Massenmedien versteht Luhmann sämtliche gesellschaftlichen Einrichtungen, die mittels technischer Mittel Kommunikation verbreiten und vervielfältigen, unabhängig davon, ob in Form von Print, Funk oder visuellen Medien (Luhmann, 2017 [1995], S. 10). In jedem Fall ausgeschlossen ist dabei die «Interaktion zwischen Sender und Empfängern» aufgrund einer «technisch bedingten […] Kontaktunterbrechung (Luhmann, 2017 [1995], S. 11). Der Begriff «Interaktion» bezieht sich hier auf den kopräsenten Austausch zwischen Individuen. Die Rolle oder Funktion der Massenmedien für die Öffentlichkeit ergibt sich aufgrund ihres Beitrags zur Realitätskonstruktion der Gesellschaft. Wesentlich ist in diesem Kontext Luhmanns (2017 [1995], S. 15) Unterscheidung in erste Realität und zweite Realität (beobachtete Realität). Insofern erfüllen Massenmedien selbst die Rolle eines Beobachters, indem sie die Realität konstruieren. Es handelt sich dabei um kein normatives Öffentlichkeits-Konzept, sondern um eine systemtheoretische Einordnung respektive eine kybernetische Betrachtung. Die beobachtete Realität kann auch als Beobachtung zweiter Ordnung, eine Beobachtung der Beobachtung, bezeichnet werden. Luhmanns Theorie wird in diesem Zusammenhang auch als Spiegelmodell bezeichnet, wonach die Massenmedien als Spiegel der Gesellschaft fungieren und die Wirklichkeit konstruieren (vgl. hierzu auch Theis-Berglmaier, 2015). Von der Beobachtung zu unterscheiden ist weiter auch der Begriff der «Operation». Unter letzterer versteht Luhmann (2017 [1995], S. 169) «das faktische Stattfinden von Ereignissen». Die Massenmedien nehmen demnach die Rolle ein, die Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems erst zu ermöglichen. Dies geschieht, indem dem Publikum gesellschaftliche Ereignisse vermittelt werden, unter Rückbezug auf den binären Code «Information» bzw. «Nichtinformation» (Görke, 2003). Die «Nichtinformation» fungiert dabei als Reflexionswert, ohne den das System nicht operieren könnte – eine Selektion von Informationen also gar nicht möglich wäre (Luhmann, 2017 [1995], S. 28). Luhmann (2017 [1995], S. 118) zufolge besteht die Funktion der Massenmedien entsprechend im «Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems», im Sinne einer universalen Beobachtung. Das System der Massenmedien unterscheidet zudem zwischen Selbst- und Fremdreferenz, indem es über sich selbst oder anderes berichtet. Indem Massenmedien Realität konstruieren und über die tägliche Masse an Kommunikation berichten ist es – so Luhmann (2017 [1995], S. 13) – ausgeschlossen, dem klassischen Wahrheitsdiskurs im Sinne einer Unterscheidung zwischen wahr oder falsch gerecht zu werden, da diese nicht die massgeblichen Codes des Systems sind. Das System der Massenmedien reproduziert sich in diesem Sinne selbst; es agiert autopoietisch, ist auf «Vermittlung durch Interaktionen unter Anwesenden» nicht angewiesen und auf schnelles «Erinnern und Vergessen» – aufgrund der Informationsfülle – programmiert (Luhmann, 2017 [1995], S. 26f.). So wird eine Information, sobald das entsprechende Ereignis beendet ist, binnen kürzester Zeit zur Nichtinformation und ist gleichbedeutend stets auf neue Informationen angewiesen (Luhmann, 2017 [1995], S. 31). Durch die ständige Verbreitung von Informationen erzeugt das System der Massenmedien Irritation oder Überraschungen in der Gesellschaft; sie halten «die Gesellschaft wach» (Luhmann, 2017 [1995], S. 35). Dies versteht Luhmann (2017 [1995], S. 119) gleichzeitig als die Funktion der Massenmedien: Ziel sei es, dass für Irritation gesorgt werde und nicht etwa ein Erkenntniszuwachs erfolge (wie es beispielsweise beim Wissenschaftssystem der Fall ist), im Sinne einer Sozialisations- oder erzieherischen Funktion basierend auf Normen.

Vom System der Massenmedien grenzt Luhmann klar den Begriff der «Öffentlichkeit» bzw. des «Öffentlichen» und der «öffentlichen Meinung» ab. Öffentlichkeit bezieht sich laut Luhmann (2017 [1995], S. 126) auf die «Reflexion jeder gesellschaftsinternen Systemgrenze, oder anders: als gesellschaftsinterne Umwelt der gesellschaftlichen Teilsysteme, also aller Interaktionen und Organisationen, aber auch der gesellschaftlichen Funktionssysteme und der sozialen Bewegungen». Wesentlich ist demnach die Beobachterrolle der Öffentlichkeit gegenüber sämtlichen Teilsystemen. Sendungen von Massenmedien sind weiter nur ein Teilbereich des Öffentlichen, da das Öffentliche durch seine Zugänglichkeit für jedermann eine gewisse Unvorhersehbarkeit impliziert. Entgegen den Forderungen des 18. Jahrhundert, dass über die Öffentlichkeit Vernunft durchgesetzt werde (vgl. hierzu auch Habermas (2018 [1962]), sieht Luhmann diese Definition zu verengt und konstitutionalistisch. Luhmann (2017 [1995], S. 127) versteht Öffentlichkeit vielmehr als «gesellschaftliches Reflexionsmedium», das «das Beobachten von Beobachtungen registriert». «Öffentliche Meinung» im Luhmannschen Sinne bezieht sich im Unterschied dazu auf die «politiksysteminterne Umwelt politischer Organisationen und Interaktionen» (Luhmann, 2017 [1995], S. 126). Öffentliche Meinung spielt folglich im politischen System die Rolle, zu beobachten, wie Politik fremdbeobachtet wird (Görke, 2003). Während Habermas die öffentliche Meinung als einen diskursiv ausgehandelten und auf Vernunft basierten Konsens von diskutierenden Kreisen betrachtet, versteht Luhmann darunter weniger ein politisches Ergebnis als eine «thematische Struktur öffentlicher Kommunikation». Über «Themen» im Luhmannschen Sinne können entsprechend auch unterschiedliche Meinungen existieren. Die öffentliche Meinung basiert vielmehr auf der «Akzeptanz von Themen öffentlicher Kommunikation» (Luhmann, 1971; Theis-Berglmaier, 2015, S. 406).

Habermas’ (2018 [1962]) und Luhmanns (1971, 2017 [1995]) Öffentlichkeitstheorien folgen einer grundsätzlich unterschiedlichen Logik. Während Habermas’ Diskursmodell eine normative, idealtypische Sicht auf Öffentlichkeit darlegt, basiert Luhmanns Ansatz auf einer Beobachtung gesellschaftlicher Teilsysteme. Das System der Massenmedien selbst fungiert autopoietisch und agiert basierend auf der Logik binärer Codes. Beide Theorien gründen jedoch nicht auf einer analytischen Untersuchung, weshalb nachfolgend diese Perspektive unter Bezugnahme auf Gerhards’ und Neidhardts (1991) Öffentlichkeitsebenen aufgegriffen werden soll.

II.1.3Analytische Sicht: Öffentlichkeitsebenen

Wie auch Habermas (2018 [1962]) streichen Gerhards und Neidhardt (1991) die «öffentliche Meinung» als wesentlichen Bestandteil ihrer Öffentlichkeitstheorie heraus. Dennoch kritisieren die beiden Autoren sowohl bei Habermas als auch bei Luhmann eine mangelnde empirische Überprüfbarkeit ihrer Öffentlichkeitsmodelle (vgl. hierzu auch Wimmer, 2007). Die Autoren sprechen daher von drei Öffentlichkeitsebenen: Medienöffentlichkeit, Themen- und Versammlungsöffentlichkeit und Encounterebene. Sie betrachten Öffentlichkeit als Kommunikationssystem, das von anderen Teilsystemen abgegrenzt ist (Gerhards & Neidhardt, 1991). Basierend auf Habermas’ (2018 [1962]) normativem Öffentlichkeitsverständnis verstehen Gerhards und Neidhardt (1991; Neidhardt, 1994) Öffentlichkeit als eine Art Forum, bestehend aus Sprecher_in und einem unabgeschlossenen Publikum, in dem Öffentlichkeit entsteht. Als weitere, dritte und in modernen Gesellschaften besonders relevante Grösse betrachten die Autoren die Massenmedien, die als Intermediäre zwischen den Sprechenden und dem Publikum vermitteln. Diese wiederum verlieren durch diese vermittelnde Grösse ihre Interaktivität, wenn auch gleichzeitig Reichweite und Grösse der Sprechenden und Zuhörenden in hohem Masse steigen können (Neidhardt, 1994, S. 10). Diese Ebene der Medienöffentlichkeit (in ihrer Konstellation mit Sprecher_innen und Publikum) erzeugt gleichbedeutend die öffentliche (oder auch «herrschende») Meinung als spezifisches Wissen – eine Meinung, die sich im öffentlichen Diskurs durchsetzt und breite Zustimmung gewinnt. Die vermittelnde Rolle der Distribution der öffentlichen Meinung an die Bürger_innen spiegelt dabei eine wesentliche politische Funktion von Öffentlichkeit wider. Hierfür müssen bestimmte Kriterien erfüllt werden, die teilweise von Habermas abgeleitet werden können: Eine Unabgeschlossenheit des Publikums (unabhängig von Stand, Status oder sonstigen Merkmalen); eine Lai_innenorientierung, wonach alle Themen in einer allgemein verständlichen Form wiedergegeben werden müssen; und schliesslich die Funktion der Massenmedien als vermittelnde Rolle zwischen An- und Abwesenden in modernen Gesellschaften (Wimmer, 2007, S. 108f.). Die Massenmedien sind demnach als wesentliche Öffentlichkeitsebene vor allem hinsichtlich (politischer) Kommunikation in strukturzentrierten Phasen (oder dem «Normalbetrieb») moderner Demokratien zu betrachten (Imhof, 1996; Neidhardt, 1994, S. 10). Im Gegensatz dazu spielt die Ebene der Versammlungsöffentlichkeit für Protestbewegungen – und dies häufig in Phasen gesellschaftlicher Umbrüche – eine wesentliche Rolle. Die öffentliche Kommunikation in modernen Gesellschaften beruht zwar zum grossen Teil auf der Massenkommunikation, dennoch wäre dies kaum denkbar ohne die beiden weiteren Ebenen, die Versammlungs- und die Encounteröffentlichkeit, durch die die Medienöffentlichkeit erst angeregt wird.

Die zweite Ebene der Themen- und Versammlungsöffentlichkeit kann auch als «thematisch zentriertes Interaktionssystem» bezeichnet werden (Gerhards & Neidhardt, 1991, S. 22; Jarren & Donges, 2011). Hierbei handelt es sich um Diskurse mit einem thematischen Fokus oder um Handlungszusammenhänge in Form von öffentlichen Veranstaltungen, Versammlungen, wie beispielsweise Demonstrationen von Protestbewegungen, aber auch Vorträgen und Vorlesungen. Innerhalb dieser Öffentlichkeitsebene kommt eine Rollenausdifferenzierung zum Tragen, wonach in der Regel zwischen Sprechenden und Publikum unterschieden wird. Die Teilnahme des Publikums erfolgt entweder spontan oder in einer organisierten Form (Jarren & Donges, 2011; Wimmer, 2007). Dabei handelt es sich meist um homogene Gruppen von Teilnehmenden, die eine Meinung vertreten und entsprechend eine öffentliche Meinung bilden können (Gerhards & Neidhardt, 1991). Wie bereits angedeutet, erweist sich die Versammlungsöffentlichkeit vor allem für nichtetablierte Akteur_innen als von hoher Relevanz. So können beispielsweise für Protestbewegungen Veranstaltungen dieser Art eine Möglichkeit darstellen, Resonanz herzustellen, Teilnehmende zu mobilisieren und schliesslich auch die öffentliche Meinung (die durch die Massenmedien vermittelt wird) in Frage zu stellen (Neidhardt, 1994).

Die Encounterebene stellt die Basis der Öffentlichkeitsebenen dar und verfügt über die geringste strukturelle Verfestigung. Gemeint sind hiermit spontane, einfache Interaktionszusammenhänge, die von einem Wechsel zwischen Sprecher_innen- und Publikumsrolle geprägt sind. Die Encounteröffentlichkeit charakterisiert sich dementsprechend beispielsweise durch spontane Kommunikation auf der Strasse («Kommunikation au trottoir» nach Luhmann (1986, S. 75), oder «Encounters» nach Goffman [1961]) in der die Teilnehmenden unterschiedliche Rollen einnehmen können (Gerhards & Neidhardt, 1991). Die Rede ist hier von einer unorganisierten Form der Öffentlichkeit, die in der Regel auch zeitlich, räumlich und sozial beschränkt ist (Jarren & Donges, 2011). Ob ihrer Strukturlosigkeit sind Encounters zerbrechlich, einhergehend mit einer hohen Themenfluktuation und wechselnden Teilnehmenden, im Sinne eines episodischen Charakters (Gerhards & Neidhardt, 1991).

Gerhards und Neidhardt (1991) betrachten Öffentlichkeit weiter als intermediäres, kybernetisches Kommunikationssystem, bestehend aus drei Prozessschritten: Informationssammlung, -verarbeitung und -verwendung. Die Informationssammlung, oder der «Input» des Öffentlichkeitssystems, bestimmt das Ausmass der Offenheit gegenüber seiner Umwelt bzw. Teilsystemen und Themen der Bürger_innen. Im Zuge der Informationsverarbeitung («Throughput») werden jene Informationen verdichtet, d. h. in Kontext und Sinnzusammenhänge gesetzt, um eine Ordnung herzustellen. Herausfordernd in diesem Prozessschritt ist die Balance zwischen Überkomplexität und Unterkomplexität im Sinne einer Synthese. Nur wenn diese Syntheseleistung gegeben ist, können die Informationen angewendet werden («Output»), das heisst, die Informationen werden in Entscheidungen übersetzt (Gerhards & Neidhardt, 1991). Auf allen drei beschriebenen Öffentlichkeitsebenen sind diese Prozessschritte in unterschiedlicher Form ausgestaltet. Eine wesentliche Rolle nehmen zudem die Akteur_innen innerhalb des Öffentlichkeitssystems ein, die auf Basis der Unabgeschlossenheit und Lai_innenorientierung der Öffentlichkeit als Sprechende oder Publikum auftreten, woran bestimmte Erwartungshaltungen gebunden sind. Je nach Öffentlichkeitsebene, teilweise aber auch ebenenübergreifend, leiten spezifische Themen den Diskurs an, der von unterschiedlichen Akteur_innen belebt wird. Unter Akteur_innen sind nicht nur Einzelpersonen zu subsumieren, sondern beispielsweise auch Parteien, Regierungen, soziale Bewegungen oder sonstige Interessengruppen. Diese Akteur_innen versuchen im Diskurs, ihre Meinung durchzusetzen (und nach einer idealtypischen Vorstellung wie bei Habermas (2018 [1962]) setzt sich das beste oder vernünftigste Argument durch) (Gerhards & Neidhardt, 1991).

Fraglich und in der kommunikationswissenschaftlichen und soziologischen Forschung viel diskutiert ist die Anwendbarkeit dieser «klassischen» Öffentlichkeitskonzepte für moderne, digitale Öffentlichkeiten. Das folgende Kapitel fasst aus diesem Grund wesentliche Punkte der drei diskutierten Konzepte zusammen, bevor der Öffentlichkeitswandel diskutiert wird.

II.1.4Stärken und Schwächen klassischer Öffentlichkeitskonzepte

Es existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Öffentlichkeitstheorien in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Die hier besprochenen stellen lediglich eine Auswahl dar und stehen repräsentativ für unterschiedliche Paradigmen, die gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit für die vorliegende Arbeit ausgewählt wurden. Eine normative Perspektive auf Öffentlichkeit, wie sie vor allem von Habermas (2018 [1962]) geprägt wurde, ist gleichbedeutend eine idealtypische Vorstellung, die in Anbetracht realer Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften aus mehreren Gründen problematisch erscheint. Die Theorie repräsentiert den Soll-Zustand demokratischer Öffentlichkeit: Ein_e jede_r soll unabhängig von ihrem oder seinem Status am frei zugänglichen, öffentlichen Diskurs teilhaben können. Das beste Argument soll sich durchsetzen, unabhängig davon, wer Absender_in ist. Fraglich ist indes, inwiefern eine Zugänglichkeit für jede_n tatsächlich gegeben ist und ob unterschiedliche Gruppierungen nicht per se benachteiligt oder gar vom Diskurs ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Funktion der Massenmedien wesentlich, die tragend mitbestimmen, welche Themen veröffentlicht werden und welchen Akteur_innen Raum und Deutungsmacht gegeben wird. In diesem Zusammenhang wird der Rolle von Gegenpositionen, Meinungen von Teilöffentlichkeiten respektive von Gruppierungen, die nichtöffentliche Meinungen vertreten, (zu) wenig Beachtung geschenkt. Es stellt sich die Frage, inwiefern der zwanglose Zwang des besseren Arguments (Habermas, 2018 [1962]) trägt, wenn deutungsmächtige Akteur_innen schlicht mehr Redezeit und -raum erlangen. Dies ist vor allem in digitalen Öffentlichkeiten kritisch zu hinterfragen, in denen sämtliche Akteur_innen vor allem via Online-Kommunikation am Diskurs teilhaben können, gleichzeitig aber auch unterschiedliche, polarisierte Stimmen aufeinander treffen, die wiederum über resonanzreiche Akteur_innen massgeblich getragen werden.

Aus einer gänzlich anderen Perspektive argumentiert indes Luhmann. Die Systemtheorie grenzt sich stark von normativen Aspekten ab; wesentlich ist vor allem die Beobachterrolle der Öffentlichkeit über Teilsysteme, wie auch das System der Massenmedien, das mittels des binären Codes «Information vs. Nichtinformation» operiert. Eine Unterscheidung in wahr und falsch – so Luhmann (2017 [1995]) – ist hingegen keine mögliche und relevante Codierung, schon aufgrund der Fülle an Informationen, die das System verarbeiten muss. Dies ist aus einer normativen Perspektive stark zu hinterfragen, vor allem, wenn an die professionell journalistische Praxis gedacht wird, die, sofern es die jeweiligen Ressourcen zulassen, journalistische Qualitätsstandards gewährleisten muss oder zumindest sollte. Dennoch erscheint gerade die Logik einer Codierung als wesentlich im Hinblick auf die öffentliche Kommunikation in digitalen Sphären. Die öffentliche Kommunikation im digitalen Zeitalter wird in hohem Masse durch Digitalplattformen getrieben, die mittels algorithmischer Selektion in Form von Codes agieren (vgl. Kapitel II.3).

Gerhards und Neidhardt (1991) argumentieren aus einer stärker analytischen Perspektive und kritisieren gleichzeitig sowohl normative als auch systemtheoretische Ansätze. Dabei unterscheiden sie in Öffentlichkeitsebenen, die von unterschiedlicher Organisation und Reichweite geprägt sind. Weiter betrachten sie Öffentlichkeit als ein kybernetisches System, das Informationssammlung, -verarbeitung und -veröffentlichung prozessiert – eine ebenso systemtheoretische Perspektive. Fraglich ist dabei vor allem die Unterscheidung in Öffentlichkeitsebenen, die in digitalen Gesellschaften in dieser Form kaum standhaft sind. Vielmehr scheinen die Ebenen der Spontan-, Versammlungs- und Medienöffentlichkeit vor allem in der digitalen Sphäre zunehmend miteinander zu verschmelzen. Zudem stellt sich die Frage, welche Akteur_innen die Prozessschritte hin zur Informationsveröffentlichung durchführen und ob die Kybernetik des Systems durch alternative Akteur_innen, die sich eine Verbreitung von Informationen selbst auferlegt, standhält (vgl. Kapitel II.3).

Gesamthaft betrachtet scheinen alle drei Theorieperspektiven wesentlich für die Beschreibung öffentlicher Kommunikation in modernen, digitalen Gesellschaften. Eine normative Perspektive zeigt das Soll – also wie öffentliche Kommunikation funktionieren sollte. Die systemtheoretische Perspektive gibt Aufschluss über die Funktionen von Öffentlichkeit und den Massenmedien. Der Gedanke einer binären Codierung ist insofern wesentlich, als auch Online-Kommunikation in Form von Codes oder Logiken operiert – im Sinne von: Was hat Nachrichtenwert? Wie steuern Plattformen öffentliche Kommunikation (hierzu ausführlicher in Kapitel II.3)? Eine analytische Betrachtung repräsentiert eine dazwischenliegende Betrachtung, die sowohl normative als auch systemtheoretische Indizien enthält. Fraglich ist in diesem Zusammenhang vor allem die Unterscheidung in Öffentlichkeitsebenen, die sich in digitalen Sphären zunehmend überschneiden.

Die Einordnung der unterschiedlichen Theorieperspektiven ist vor allem deshalb wesentlich, da von einem Wandel der öffentlichen Kommunikation durch die Digitalisierung auszugehen ist. Alle beschriebenen Theorien beziehen sich auf die Zeit vor dem 21. Jahrhundert, das – aus einer Medienperspektive – vor allem durch die Digitalisierung geprägt ist. Das folgende Kapitel skizziert den Wandel der Öffentlichkeit, bevor aktuelle öffentlichkeitstheoretische Aspekte und eine Neu-Einordnung bisheriger Theoriefiguren erfolgt. Zu diesem Zweck wird auf Habermas’ (2018 [1962]) Ausführungen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit eingegangen. Habermas’ Theorie skizziert die Historie der öffentlichen Kommunikation, was in Anbetracht der Frage, wie digitale Öffentlichkeiten zu skizzieren sind und ob es Neudefinitionen hinsichtlich des Öffentlichkeitsbegriffes bedarf, wesentlich ist.

II.2Der Strukturwandel der Öffentlichkeit

Habermas (2018 [1962]) beschreibt in seinem Werk «Strukturwandel der Öffentlichkeit» wesentliche historische Eckpfeiler, wie Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrhunderten hergestellt wurde und sich schliesslich veränderte. Habermas’ Theorie ist nicht zuletzt ob seiner definitorischen Stärken hinsichtlich des Öffentlichkeitsbegriffes für die kommunikationswissenschaftliche und soziologische Öffentlichkeitsforschung von hoher Relevanz, sondern vor allem wegen seiner historischen Aufarbeitung, die zu einer Reflexion von Öffentlichkeit in digitalen Gesellschaften einlädt.

Jürgen Habermas skizziert – wie bereits im vorigen Kapitel erörtert – einen Idealtypus von Öffentlichkeit und nimmt dabei Bezug auf die bürgerliche Öffentlichkeit des 17. und 18. Jahrhunderts. Die «bürgerliche Öffentlichkeit» bezieht sich auf Versammlungen von Privatleuten, ursprünglich im Bereich der Familie und später in Kaffeehäusern und Salons, die als Zentren literarischer und politischer Öffentlichkeit gesehen werden können. Leitend war dabei der Gedanke des öffentlichen Räsonnements, also die Berufung auf die Vernunft (Habermas, 2018 [1962], S. 86). Die politische Öffentlichkeit vermittelt zwischen der Sphäre des Privaten, im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft, und der Sphäre der öffentlichen Gewalt, also dem Staat. Habermas streicht durch seine Ausführungen die vor allem in der Soziologie prominent thematisierte Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre heraus, wobei sich letztere auf die bürgerliche Gesellschaft im engeren Sinn bezieht, wie die familiäre Intimsphäre, den Bereich des Warenverkehrs oder der gesellschaftlichen Arbeit (Habermas, 2018 [1962], S. 89f.). Im 18. Jahrhundert entwickelte sich die öffentliche Meinung durch Institutionen der Kunst-, Literatur-, Theater- und Musikkritik weiter, bis schliesslich die Zeitschrift zum publizistischen Kritikinstrument wurde, zunächst in Form kunst- und kulturkritischer Journale. Die Presse und ihre Kritik lösten entsprechend die Kaffeehäuser, Salons und Tischgesellschaften als Vermittlungsinstanzen des Publikums ab. In dieser Zeit entwickelte sich innerhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit auch zunehmend ein politisches Bewusstsein, wonach die öffentliche Meinung «als die einzig legitime Quelle» (Habermas, 2018 [1962], S. 119) der Gesetze galt. Das öffentliche Räsonnement, die Vernunft, bildete sich dabei unabhängig von sozialen und politischen Rängen, basierend auf «der Kraft des besseren Arguments» (Habermas, 2018 [1962], S. 119). Im 18. Jahrhundert entwickelte sich, zunächst in Grossbritannien und später in Frankreich, zudem nach und nach der selbständige Journalismus, als Dirigent der öffentlichen Meinung. Journalismus war fortan davon geprägt, eine Kommentierung, kritische Position und öffentliche Opposition gegenüber der Regierung einzunehmen, und galt gleichsam als kritisches Organ des räsonierenden Publikums, im Sinne eines «fourth Estate» (Habermas, 2018 [1962], S. 126).

Dieses Idealbild der Öffentlichkeit ändert sich Habermas zufolge (2018 [1962]) im Zuge des sozialen Struktur- und politischen Funktionswandels. Habermas erachtet die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre als wesentliche Grundvoraussetzung für eine funktionierende Öffentlichkeit. Diese wurde im Zuge des sozialen Strukturwandels ab dem späteren 19. Jahrhundert brüchig, da es zu Eingriffen des Staates respektive der öffentlichen Gewalt in die gesellschaftliche Sphäre kam. Sozialstaatliche Massnahmen führten zu einer Verschränkung der privaten und öffentlichen Sphäre. Weiter sieht Habermas (2018 [1962], S. 257) einen «Zerfall einer literarischen Öffentlichkeit» durch «die Ablösung eines kulturell räsonierenden Lesepublikums durch das Massenpublikum der Kulturkonsumenten». Entsprechend entwickelte sich auch die Presse vom politischen Format zur kommerziellen Massenpresse (oder Sensationspresse) – nicht zuletzt, um breiteren Bevölkerungsschichten einen Zugang zur Öffentlichkeit zu gewähren. Habermas (2018 [1962], S. 259) schätzt den sozialen Strukturwandel wie folgt ein:

Der Kulturkonsum ist freilich von literarischer Vermittlung in hohem Maße entlastet; nicht-verbale Mitteilungen oder solche, die, wenn nicht überhaupt in Bild und Ton übersetzt, durch optische und akustische Stützen erleichtert sind, verdrängen in mehr oder minder großem Maße die klassischen Formen der literarischen Produktion.

Dieses Zitat verdeutlicht mit Blick auf die Gegenwart, dass der soziale Strukturwandel nicht nur bis heute seine Spuren hinterlässt, sondern sich dahingehend noch weiter in diese Richtung (z. B. der Audiovisualisierung) entwickelt hat, was als potentielle Gefahr für die demokratische Funktion des Journalismus und dessen Qualität zu werten ist. Auch aus Publikumssicht scheint somit das «Räsonnement […] tendenziell dem ›Geschmacks-‹ und ›Neigungsaustausch‹ von Konsumenten» auszuweichen (Habermas, 2018 [1962], S. 261), womit sich die Nachfrage des Publikums an Aufmerksamkeitswerte richtet. Insofern spricht Habermas (2018 [1962]) gleichbedeutend von einer Privatisierung des Öffentlichen, wonach vor allem die Berichterstattung über private Lebensgeschichten an Zugkraft und Aufmerksamkeit gewinnt. Auch im privaten Bereich stellt Habermas eine Veränderung fest, insofern, als die literarische Ausdruckform im Generellen wie der Briefwechsel und die Buchlektüre durch den Konsum der Massenmedien (wie Zeitungsredaktionen und Fernsehstationen) an Bedeutung verloren habe. Der Prozess vom «kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum» (Habermas, 2018 [1962], S. 267) impliziert gleichzeitig eine «neue» Funktion der Öffentlichkeit, nämlich in Form der Integration von Werbung und Public Relations: «Je mehr sie [die Öffentlichkeit] als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, um so unpolitischer wird sie im ganzen und dem Schein nach privatisiert.» (Habermas, 2018 [1962], S. 267). Diese zunehmende Privatisierung und Implementierung privater Interessen sind folglich als wesentlicher Rückschritt (oder Desorganisation) des Idealbildes einer demokratischen Öffentlichkeit zu betrachten, da die bürgerliche Öffentlichkeit im Habermasschen Sinne von der Trennung zwischen öffentlichem und privatem Bereich lebt.

Neben dem sozialen Wandel spricht Habermas (2018 [1962]) weiter von einem politischen Funktionswandel. Er argumentiert hier auf Basis der eben beschriebenen Kommerzialisierung des Mediensystems, in dem private und öffentliche Interessen zunehmend verschwimmen würden. Der Autor spricht dabei von einem Ende der Öffentlichkeit, wenn öffentliche Institutionen (wie die Medien selbst) ihre Unabhängigkeit verlieren würden und auf den politischen Bereich angewiesen bzw. von diesem abhängig wären. Die Presse, ursprünglich auf dem Räsonnement des Publikums basierend und als Art verlängerter Arm der Bürger_innen fungierend, entwickele sich im Zuge der Kommerzialisierung zu einer Verlängerung politischer und wirtschaftlicher Interessen. Insofern könne die Presse auch ihre kritische Funktion zunehmend verlieren.

Habermas bezieht sich in seiner Schrift «Strukturwandel der Öffentlichkeit» (2018 [1962]) auf die Entwicklung der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrhunderten bis hin zum 20. Jahrhundert. Dabei handelt es sich um detaillierte theoretische und historische Beobachtungen des Mediensystems, die mit Blick auf aktuelle Entwicklungen im 21. Jahrhundert noch immer in hohem Masse griffig sind. Dennoch brachten der digitale Wandel und die Etablierung neuer Medien erneut die Frage hervor, inwiefern sich die öffentliche Kommunikation weiterentwickelt. In diesem Kontext wird in aktueller, vor allem theoretischer Forschung häufig von einer digitalen Transformation oder einem digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit gesprochen (z. B. Eisenegger, 2017; Fraser, 2010; Hagen, Wieland & In der Au, 2017; Helmond, 2015; Thiel, 2016). Diese Annahmen basieren in erster Linie auf der Annahme einer Veränderung des öffentlichen Raumes aufgrund neuer Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation über das Internet oder über Social-Media-Plattformen. Für die vorliegende Arbeit ist diesbezüglich von einer zentralen theoretischen Überlegung zu sprechen, die eine Neudeutung des Öffentlichkeits- und Gegenöffentlichkeitsbegriffs in Frage stellt. Das folgende Kapitel gibt daher einen Überblick über aktuelle theoretische Überlegungen zum Öffentlichkeitsbegriff, wobei vor allem auf die Veränderung des Mediensystems respektive der Öffentlichkeit basierend auf dem digitalen Wandel eingegangen wird.

II.3Die digitale Transformation der Öffentlichkeit

Habermas’ Ausführungen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit laden dazu ein, diese für das 21. Jahrhundert und allenfalls zukünftige Entwicklungen weiterzudenken. In aktuellen theoretischen Arbeiten wird in diesem Zusammenhang oftmals von einem dritten Strukturwandel der Öffentlichkeit oder einer digitalen Transformation der Öffentlichkeit gesprochen (z. B. Eisenegger, 2017; Fraser, 2010; Hagen et al., 2017; Helmond, 2015; Thiel, 2016). Der erste und der zweite Strukturwandel lassen sich von Habermas (2018 [1962]), Münch (1995) oder Imhof (2000) ableiten (vgl. hierzu auch Eisenegger, 2021). Zusammenfassend lässt sich der erste Strukturwandel der Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert verorten, als durch das Leitmedium der Zeitung erstmalig Öffentlichkeit massenmedial hergestellt wurde, die sich vormals insbesondere im Rahmen von Debattierklubs, Salons oder Kaffeehäuser konstituierte. Es handelte sich hierbei um Partei- und Gesinnungspresse, die entsprechend Positionen der jeweiligen Trägerorganisation vermittelte, seien es politische Parteien, religiöse Organisationen (Kirchen) u. ä., die bis ins 20. Jahrhundert öffentlich wirkmächtig waren. Der zweite Strukturwandel schaffte einen Abbruch dieser meinungsorientierten, politisch-ideologischen Gesinnungspresse; das Mediensystem wandelte sich nach ökonomischen Prämissen und unterlag einer Kommerzialisierung: Massgeblich wurden die Publikumsinteressen, private Medienkonzerne etablierten sich und konzentrierten sich nicht nur auf die Publikation von Informationen, sondern vor allem auch von Unterhaltungsbeiträgen, beispielsweise in Form von Boulevard- oder Special-Interest-Medien, und das Fernsehen entwickelte sich zum zentralen Leitmedium. Die Bereitschaft, für Nachrichten zu zahlen, war in dieser Zeit noch hoch (Eisenegger, 2017, 2021).

Aktuell stellt sich die Frage nach einem dritten oder digitalen Strukturwandel (oder auch einer digitalen Transformation) der Öffentlichkeit. Aktuelle Öffentlichkeitskonzepte streichen dabei vor allem den Stellenwert von Digitalplattformen heraus. Einige Ansätze, die aktuelle theoretische Überlegungen repräsentieren, sollen an dieser Stelle erwähnt werden. Vorweggenommen werden muss jedoch, dass sich auch die Begrifflichkeit von «Öffentlichkeit» gewandelt hat respektive von verschiedenen Autor_innen in unterschiedlicher Weise gefasst wird. Diese sollen folgend – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – skizziert werden.

II.3.1Netzwerkgesellschaft und -öffentlichkeit

Basierend auf dem Netzwerkcharakter des Internets sind in diesem Kontext vor allem Konzepte der «Netzwerköffentlichkeit» oder «Netzwerkgesellschaft» hervorzuheben. Castells (2007, 2010 [1996]) ist für den Kontext dieser Arbeit als wesentlich herauszustreichen. In seiner Theorie zur Netzwerkgesellschaft beschäftigt sich Castells (2010 [1996]) schon vor der Wende zum 21. Jahrhundert mit der Transformation der Gesellschaft hin zu einer globalen Verknotung von Individuen, basierend auf Macht, Kapital, Information respektive Kommunikation und technisch basierten Logiken. Es handelt sich auch hierbei um keinen empirisch basierten, netzwerkanalytischen Ansatz. Zentral in Castells Theorie ist die Annahme einer zunehmend globaler werdenden Netzwerkökonomie, die über Finanzströme getrieben wird. Zudem betont der Autor eine dahingehende Rolle von Macht und damit einhergehenden Ungleichheiten, die beispielsweise durch soziale Bewegungen thematisiert werden. Weiter sieht Castells als wesentliches Kriterium der Netzwerkgesellschaft den virtuellen Raum, indem Kommunikation zwischen Individuen ort- und zeitunabhängig stattfindet – im Sinne einer Vernetzung von Akteur_innen. In diesem Kontext spielen sowohl Individualisierungs- als auch Fragmentierungsprozesse eine Rolle, die von einer Suche nach Identität geprägt sind. Dies kann sich in Form sozialer Protestbewegungen oder zivilgesellschaftlichem Engagement äussern – beispielsweise via Social Media (von Kardoff, 2019).

In Castells (2007) Aufsatz «Communication, Power and Counter-power in the Network Society» beschäftigt sich der Autor konkret mit den Relationen zwischen Kommunikation und Macht. Castells sieht Medien als jenen Raum, in dem Macht auf Basis von Information und Kommunikation ausgehandelt wird, und bezieht sich dabei vor allem auf die dahingehende Rolle des Internets. Macht definiert Castells (2007, S. 239) als die Kompetenz eines Akteurs/einer Akteurin, den eigenen Willen gegenüber anderen sozialen Akteur_innen durchzusetzen – ähnlich der Weberschen (1984 [1921], S. 89) Definition: «Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht». In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der Gegenmacht (counter-power) wesentlich, definiert als die Kompetenz von Akteur_innen, sich institutionalisierten Machtbeziehungen zu widersetzen (Castells, 2007, S. 239). Gesellschaftlichen Wandel sieht Castells vor allem in den Dynamiken dieser Machtbeziehungen begründet. Eine wesentliche Rolle nehmen in diesem Zusammenhang die Massenmedien, als Raum für die Aushandlung von Macht, und deren Transformation im Internetzeitalter ein. Während die Massenmedien von einer One-way-Kommunikation geprägt sind, basiert die Netzwerkgesellschaft auf interaktiver, ort- und zeitunabhängiger Kommunikation. Durch die digitale Transformation haben Individuen zudem ihr eigenes System der (Massen-)Kommunikation entwickelt, nämlich über mobile Kommunikation, Blogs, Wikis und insgesamt Social-Media-Plattformen. Castells (2007, S. 246) subsumiert diese Entwicklung unter dem Begriff «mass self-communication», worunter die Verbreitung von selbstgeneriertem Inhalt für ein globales Publikum gefasst wird. Im Kontext der Gegenmacht fungiert diese mass self-communication als Möglichkeit, institutionalisierte Machtverhältnisse zu transformieren oder zumindest zu hinterfragen, beispielsweise in Form von sozialen Bewegungen. Gleichzeitig nutzen auch politische Eliten die mass self-communication im digitalen Zeitalter, um mit ihrem Publikum in Diskurs zu treten. Castells (2007) streicht zudem die Koexistenz von Massenmedien und neuen Medien heraus, die nicht in Widerspruch oder Konkurrenz zueinanderstehen, sondern auch unterstützend agieren können, beispielsweise indem Digitalplattformen die Nachrichtenbeiträge von Massenmedien weiter streuen.

Auch weitere Autor_innen heben den Netzwerkcharakter der Gesellschaft respektive öffentlicher Kommunikation hervor. So sprechen beispielsweise Reese und Shoemaker (2016) von einer «Networked Public Sphere», einer vernetzten Öffentlichkeit. Die Autor_innen beziehen sich dabei vor allem auf die Veränderung des Journalismus durch die Digitalisierung, der nicht nur mit ökonomischer Ressourcenminimierung zu kämpfen hat, sondern auch aufgrund von freiverfügbaren Online-Inhalten (die eben nicht nur von professionell journalistischen Akteur_innen erstellt werden) seine Gatekeeping-Funktion, im Sinne der Auswahl, Verarbeitung und Distribution von Nachrichtenbeiträgen, zunehmend verliert (vgl. hierzu auch Wallace, 2017). Reese und Shoemaker (2016) fokussieren in diesem Zusammenhang mit ihrem «Hierarchy of Influences»-Modell unterschiedliche Ebenen, die Medieninhalte beeinflussen. Diese Ebenen beziehen sich sowohl auf Einflüsse der Makro-, Meso- als auch Mikrobene, darunter soziale Systeme, soziale Institutionen, Medienorganisationen, journalistische Routinen und schliesslich die Ebene der Individuen. Auch Friedland, Hove und Rojas (2014) arbeiten mit dem Begriff der «Networked Public Sphere» und beziehen sich dabei auf Habermas’ Öffentlichkeitstheorie (2018 [1962]), unter der Annahme, dass es einer Revision der Theorie mit Blick auf die Netzwerkgesellschaft bedürfe. Die Autoren gehen in diesem Zusammenhang erstens davon aus, dass die kommunikative Sozialisation, die Habermas (2009 [1981]) in seiner «Theorie des kommunikativen Handelns» vor allem durch Familie und Institutionen wie die der Schule geprägt sieht, durch die Mediensozialisation ergänzt werden müsse, um einen rationalen Diskurs führen zu können. Zweitens nehmen Friedland et al. (2014) an, dass das Modell öffentlicher Kommunikation in Netzwerkumgebungen nicht mehr halte; so steige beispielsweise die Reflexivität des Diskurses durch entstehende Online-Öffentlichkeiten, die im Online-Diskurs argumentieren, diskutieren und politische Eliten kritisieren könnten. Drittens prophezeien die Autoren (ähnlich wie Castells (2010 [1996]) komplexer werdende Kommunikationsflüsse in der Netzwerköffentlichkeit. Auch Benkler (2006) versteht unter «Networked Public Sphere» die Praktiken, Organisationen und Technologien vernetzter Kommunikation, die eine alternative Arena für öffentlichen Diskurs, Interaktion und Mobilisierung ermöglichen (Benkler, Roberts, Faris, Solow-Niederman & Etling, 2015, S. 596; vgl. hierzu auch Keller, 2019).

Nicht verwunderlich beziehen sich auch aktuelle Arbeiten, die sich mit der empirischen Analyse von Social-Media-Netzwerken beschäftigen, auf den Begriff der «Networked Public Sphere». Beispielhaft können in diesem Zusammenhang Arbeiten von Ausserhofer und Maireder (2013; Maireder & Schlögl, 2016) genannt werden, die sich mit der österreichischen Twittersphäre netzwerkanalytisch auseinandersetzen, oder auch von Bruns und Kollegen (Bruns, Burgess, Highfield, Kirchhoff & Nicolai, 2010; Bruns & Stieglitz, 2012, 2013), die soziale Netzwerke auf Digitalplattformen in Australien analysieren. Es ist naheliegend, dass sich vor allem durch den Untersuchungsgegenstand von Digitalplattformen, die auf Netzwerklogiken basieren, der Öffentlichkeitsbegriff selbst entsprechend transformiert hat. In ähnlicher Weise werden in weiteren aktuellen Studien und theoretischen Arbeiten ebendiese Plattformen selbst als tragend für den Öffentlichkeitswandel betrachtet. Im folgenden Kapitel soll daher näher auf den Begriff der «Plattformöffentlichkeit» eingegangen werden.

II.3.2Plattformöffentlichkeit und Plattformisierung

Die Etablierung von Digitalplattformen wird in vielen aktuellen Arbeiten als massgeblich für den Öffentlichkeitswandel betrachtet. In diesem Zusammenhang wird häufig – bezugnehmend auf Habermas’ (2018 [1962]) Schrift zum Strukturwandel der Öffentlichkeit – von einem weiteren Strukturwandel gesprochen. Die genaue Begrifflichkeit variiert – so sprechen beispielsweise Hagen, Wieland und In der Aue (2017) von einem algorithmischen Strukturwandel. Die Autor_innen gehen davon aus, dass der durch die Massenmedien definierte Strukturwandel durch die Logik von Algorithmen abgelöst wurde, wonach Informationsintermediäre (im Sinne von Plattformen) eine neue Gatekeeper-Funktion der Medien einnehmen. Als problematisch erachten sie dabei die Tatsache, dass durch personalisierte Algorithmen eine Verzerrung, Fragmentierung und Polarisierung der Öffentlichkeit hervorgerufen wird (vgl. Kapitel II.3.3). Häufig fällt im Zusammenhang mit dem digitalen Wandel der Öffentlichkeit auch der Plattform-Begriff. Helmond (2015) beispielsweise spricht von einer «Platformization» respektive «Plattformisierung». Darunter fasst sie vor allem das ökonomische Modell von Plattformen und deren Ausweitung, die wesentlich für das Social Web und schliesslich die öffentliche Kommunikation sind. Helmond (2015) geht von einer dualen Logik der Plattformisierung aus, wonach Plattformen einerseits eine Infrastruktur für andere Websites und Apps schaffen, andererseits externe Daten (so beispielsweise die Beiträge von Newssites) für das eigene ökonomische Modell verwendet werden. Ebenso aus einer ökonomischen Perspektive argumentieren Kirchner und Beyer (2016), indem sie davon ausgehen, dass ökonomische Aktivitäten zunehmend auf digitale Märkte respektive Plattformen verlegt werden, was kennzeichnet für den Strukturwandel ist. Sie betrachten digitale Marktordnungen als «Plattformlogik».

Auch Eisenegger (2017) zufolge zeichnet sich der dritte oder digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit seit den frühen 2000er Jahren ab. Geprägt ist dieser Öffentlichkeitswandel nicht nur durch die Digitalisierung, sondern im Speziellen – so Eisenegger (2021) – auch durch eine Plattformisierung. Darunter ist ein Aufschwung von globalen Tech-Plattformen, wie Google, Facebook, Twitter und Co., zu verstehen, die eine Funktion als Intermediäre einnehmen und massgeblich «auf die Struktur und die Inhalte öffentlicher Kommunikation» einwirken (Eisenegger, 2021, S. 18). Das Internet und soziale Netzwerke in Form von Digitalplattformen werden dabei als zentrale Instanz moderner Öffentlichkeit betrachtet, wobei vor allem mit der Entwicklung hin zu einer «Longtail»-Öffentlichkeit argumentiert wird (Anderson, 2006; Eisenegger, 2017; Neuberger, 2009, 2011). Der von Chris Anderson (2006) massgeblich geprägte «Longtail»-Begriff bezieht sich ursprünglich auf den Erfolg von Online-Verkaufsplattformen, wie z. B. Amazon und Ebay, und deren breites Angebot an Nischenprodukten. Diese sind im Gegensatz zu Bestsellern am «langen Schweif» der Umsatzkurve einzuordnen, wodurch unterschiedlichste Zielgruppen erreicht werden können. Die Longtail-Öffentlichkeit repräsentiert analog dazu ein Kontinuum an verschiedenen öffentlich agierenden Akteur_innen, die über unterschiedliche Reichweiten verfügen. Dieses Öffentlichkeitsbild grenzt sich z. B. von Gerhards’ und Neidhardts (1991) Drei-Ebenen-Modell ab, da nicht mehr von getrennt voneinander zu betrachtenden Öffentlichkeitsebenen ausgegangen wird. Die Longtail-Öffentlichkeit kann in diesem Zusammenhang als Weiterentwicklung dieses Ebenenmodells betrachtet werden, die notwendigerweise aufgrund der digitalen Transformation der Öffentlichkeit erfolgen muss. Diese Longtail-Öffentlichkeit ist entsprechend dadurch gekennzeichnet, dass im vorderen Teil eine zunehmende Medienkonzentration reichweitenstarker Medien festzustellen ist, während am «langen Schweif» – aufgrund ökonomischer und sozialer Einflüsse und insbesondere durch den Einfluss globaler Tech-Intermediäre – das Angebot reichweitenschwacher Informationsangebote zunimmt (Eisenegger, 2017, 2021). Die «ökonomische Plattformisierung» (Eisenegger, 2017, S. 15) bezieht sich auf traditionelle Kommunikator_innen der Massenmedien, die in diesem Zusammenhang aus ökonomischer Sicht mit den Digitalplattformen konkurrieren. Diese Plattformen (vor allem Google und Facebook) beziehen mittlerweile einen Grossteil der Werbegelder1