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Als Virginia Grimwood den Marquis von Thane aufsucht um ihm vom Tod seiner alten Gouvernante zu berichten, fällt ihm gleich ihr schönes schneeweißes Haar auf. Doch an wen erinnert ihn Virginia? Als ihm klar wird, daß es sich um die heimliche Tochter seines Erzfeindes handelt, beginnt der Marquis, Pläne für das unschuldige Mädchen zu schmieden. Kann Virginia den erbitterten Krieg zwischen ihm und dem Herzog von Accrington zum Ende verhelfen?
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Seitenzahl: 209
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2016
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
Wie gewöhnlich waren im White’s Club die elegantesten und vornehmsten Männer der Londoner Gesellschaft anzutreffen. Sie hatten sich in einem der geschmackvoll eingerichteten Salons zusammengefunden und nippten plaudernd an ihrem Portwein.
Plötzlich wurde die Türe aufgerissen.
„Die Teufel sind wieder am Kartentisch“, verkündete eine laute Stimme.
Diese Nachricht löste einen allgemeinen Tumult aus. Von allen Seiten hörte man belustigtes Gelächter und wie auf Kommando hatten sich alle erhoben und drängten der Tür entgegen.
„Was ist denn passiert?“
Fassungslos blickte ein Gutsherr aus Northumberland zu seinem Gastgeber, Lord Hornblotten.
„Lieber Freund, haben Sie denn noch nichts von den beiden Männern gehört, die allgemein als ,Alter Teufel’ und als ,Junger Teufel’ bekannt sind?“ erwiderte dieser. „Ist es denn möglich, daß man in Northumberland so gar nichts von dem Londoner Gesellschaftsklatsch erfährt?“
„Was hat es mit den beiden auf sich?“ fragte der Gutsherr.
„Nun, das ist eine lange Geschichte.“ Lord Hornblotten schenkte sich noch ein Glas Portwein ein und lehnte sich wieder in seinen Ledersessel zurück. „Der ,Alte Teufel’ ist der Herzog von Accrington. Wie ich zugeben muß, kann ich ihn nicht ausstehen.“
„Denn wie schon sein Spitzname verrät, ist er durch und durch böse.“
Der Gutsherr lachte amüsiert.
„Offen gestanden, ja“, entgegnete Lord Hornblotten kurz. „Er ist eine Schande für den gesamten englischen Adel!“
„Nicht, wenn man bedenkt, wie schmählich der Herzog von Accrington seinen Freund, den Marquis von Thane, betrogen hat. Der Marquis von Thane - übrigens der Vater des sogenannten ,Jungen Teufel’ - war eine allseitig geachtete und beliebte Persönlichkeit.“
„Wie gut Sie doch das Gute vom Bösen zu trennen wissen,“ scherzte der Gutsherr.
„In diesem einen Falle entspricht es leider den Tatsachen.“ Nachdenklich sah Lord Hornblotten vor sich hin. „Vor sehr langer Zeit war der Herzog von Accrington mit einem unbeschreiblich schönen Mädchen verlobt. Kurz bevor der Hochzeitstermin offiziell bekanntgegeben wurde, brannte dieses liebliche Wesen, dem die gesamte Männerwelt zu Füßen lag, mit dem Marquis von Thane durch.“
„Wie ärgerlich für den Herzog“, warf der Gutsherr trocken ein.
„Er schäumte vor Zorn, aber die öffentliche Meinung stand trotzdem ganz auf der Seite der Braut, denn der Herzog war noch nie besonders beliebt gewesen. Außerdem hatte sich herumgesprochen, daß das Mädchen von ihren Eltern zu dieser Heirat gezwungen werden sollte, da sie eine glänzende Partie für sie gewesen wäre.“
„Der Marquis war sicherlich auch kein schlechter Fang.“
„Das ist richtig. Sein Adelstitel war natürlich von niedrigerem Rang. Aber davon abgesehen nahm er eine bedeutende gesellschaftliche Stellung ein und sein Vermögen war noch größer als das des Herzogs. Obendrein war er eine sehr anziehende Persönlichkeit. Wahrscheinlich wäre es jeder Frau schwer gefallen, seinem Charme und seiner Liebe zu widerstehen. Aber zweifellos hat er Lady Harriet aus ganzem Herzen geliebt.“
„Und fortan waren sie glücklich und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, spottete der Gutsherr.
„Es war tatsächlich eine glückliche Ehe. Der Marquis ließ sich hier in London kaum noch sehen. Er hatte sich auf seine Landgüter zurückgezogen und widmete sich ganz seiner Familie. Seine Frau hatte ihm bald einen Erben geschenkt.“
„Und der Herzog“, fragte der Gutsherr, der ungeduldig auf die Pointe der Geschichte wartete.
„Der Herzog heiratete eine irische Schönheit, der es letztlich zu verdanken ist, daß sich die beiden Männer wieder versöhnten.“
„Das ist ihr wirklich geglückt?“
„Sie schlossen sogar Freundschaft! Der Herzog und seine irische Frau setzten dann nacheinander sieben Töchter in die Welt bis endlich, als man bereits jegliche Hoffnung aufgegeben hatte, der langersehnte Sohn geboren wurde.“
„So hatten also beide einen Erben. Was hätte ihr Glück jetzt noch trüben können?“
„Der Marquis verunglückte eines Tages auf der Jagd. Seine Verletzungen waren so verhängnisvoll, daß wir alle um sein Leben bangten. Wir, seine Freunde, konnten schließlich nichts anderes mehr für ihn tun, als mit tiefer Trauer sein nahes Ende abzuwarten.“
Es entstand eine lange Pause.
„Und das war der Augenblick, auf den der Herzog jahrelang gewartet hatte“, fügte Lord Hornblotten schließlich hinzu.
„Was soll das heißen?“ Verständnislos blickte der Gutsherr auf.
„Der Herzog hatte von dem langsamen Dahinscheiden seines einstigen Rivalen erfahren. Er meldete unverzüglich seinen Besuch auf Schloß Thane an. Ich vergaß zu erwähnen, daß die beiden Besitztümer aneinander grenzten. Im Verlauf des Gespräches, das sie am Krankenbett führten, schlug der Herzog vor, eine Schule in einem abgelegenen Dorf errichten zu lassen, das zur Hälfte auf dem Besitz des Herzogs lag und zur anderen Hälfte auf dem des Marquis. Beide Männer mußten also ihre Einwilligung dazu geben. Eine völlig unbedeutende Angelegenheit.“ Lord Hornblotten hob die Schultern. „Ohne groß darüber nachzudenken, gab der Marquis seine Zustimmung. Daraufhin ließ der Herzog einen Notar ins Krankenzimmer rufen, den er vorsichtshalber mitgebracht und in der Halle hatte warten lassen. Er entwarf mit ihm ein Dokument, das er dem Marquis zur Unterzeichnung vorlegte.“
„Ich ahne ein böses Ende“, unterbrach ihn der Gutsherr.
„Mit Recht“, entgegnete Lord Hornblotten. „Der Marquis war nämlich so kurzsichtig, daß die Worte auf dem Schriftstück vor seinen Augen verschwammen. Er ließ sich deshalb den Text von seinem vermeintlichen Freund vorlesen und setzte dann vertrauensvoll seinen Namenszug unter das Dokument. Als ihn der Herzog dann darum bat, auch noch eine Abschrift desselben Dokumentes zu unterschreiben, kam er auch dieser Aufforderung nach, ohne auch nur einen Augenblick lang Verdacht zu schöpfen.
Nach seinem Tode kam dann der ganze Betrug ans Licht. Man entdeckte, daß das zweite Schriftstück, das der Marquis unterzeichnet hatte, ein Testament war. Darin wurde dem Herzog das gesamte Vermögen des Marquis vermacht.“
„Was für ein teuflischer Plan“, rief der Gutsherr entsetzt.
„Es war vor allem ein genau ausgeklügelter Plan. Der Herzog muß ihn jahrzehntelang in seinem Kopf gehabt haben.“
„Und was geschah dann?“
„Der Sohn des Marquis, ein ungewöhnlich sympathischer junger Mann, erhob selbstverständlich Einspruch gegen das Testament. Von dem riesigen Vermögen, das einst seinem Vater gehört hatte, besaß er nur noch das Familienschloß und das wenige Land, das es unmittelbar umgab. Aber juristisch gesehen war das Testament einfach nicht anzufechten, denn es war ja ein Notar zugegen gewesen, der es beglaubigt hatte.“
„Wie unerträglich für einen jungen Menschen, sein Leben, seine Zukunft derart ruiniert zu sehen!“
„Es war so unerträglich für den jungen Marquis, daß er sich über Nacht in das verwandelte, was man inzwischen als ,Jungen Teufel’ bezeichnet.“
„Was hat er denn getan?“
„Haß ist eine seltsame Leidenschaft“, erklärte Lord Hornblotten. „Aus Haß nahm der Herzog Rache an seinem Feind. Er hatte das Gift über mehr als dreißig Jahre in sich genährt, ohne daß auch nur einer von uns etwas davon gemerkt hätte. Der junge Marquis dagegen hat nie versucht, seinen Haß zu verbergen. Jeder weiß, daß er seine Lebensaufgabe darin sieht, den Verrat an seinem Vater zu rächen und das ihm zustehende Erbe doch noch anzutreten.“
„Aber welche Chance hat er denn dazu?“
„Ich vergaß zu erwähnen, daß der Herzog ein leidenschaftlicher Spieler ist“, fügte Lord Hornblotten hinzu. „Ein sehr erfahrener und schlauer Spieler, dem das Glück meist zur Seite steht.“
„Umso schlimmer für den jungen Marquis!“
„Das habe ich anfangs auch gedacht. Aber heute wird es wohl in ganz England niemanden geben, der ein besserer Kartenspieler wäre als der Marquis. Den Herzog von Accrington natürlich ausgenommen. Das nötige Wissen hat er sich in den finstersten Spelunken Londons angeeignet, von Falschspielern, Scharlatanen, kurz Gaunern aller Art. Ein Jahr lang hat er mit diesem ganzen Pöbel zusammengelebt und Tag und Nacht Karten gespielt, bis ihm das mehr bedeutete als Essen und Trinken. Als er schließlich zu seinen Freunden zurückkehrte, hatte er sich grundlegend geändert.“
„Das ist doch nicht möglich!“
„Leider doch. Er schien um Jahre gealtert zu sein. Von seinem einstigen Charme und seiner Liebenswürdigkeit war nichts mehr zu spüren. Er ist heute ein zynischer, unzugänglicher, vom Haß zerfressener Mann, der nur noch an einer einzigen Person Interesse zu haben scheint - an dem Herzog von Accrington.“
Lord Hornblotten beugte sich vor und füllte das Glas seines Freundes mit Portwein.
„Und was ist aus seinem Erbe geworden?“
„Er versucht es vom Herzog zurückzugewinnen. Sie spielen niemals um Geld, sondern immer nur um Teile des Besitzes, der einst dem Vater des Marquis gehört hatte. So wechseln diese Ländereien heute ständig ihren Besitzer, wie es der Zufall der Karten gerade will. Mit anderen Männern spielt der Marquis selbstverständlich um Geld. Er scheint auf diese Weise inzwischen wieder zu einem beachtlichen Vermögen gekommen zu sein, so daß er sich eigentlich auf sein Familienschloß zurückziehen und ein komfortables Leben führen könnte. Leider hat er daran kein Interesse. Er ist von dem Gedanken besessen, sich eines Tages an dem Herzog zu rächen. Das scheint sein einziges Lebensziel zu sein.“
„Und wie steht es mit Frauen?“
„Haben Sie jemals einen reichen Lebemann gesehen, der nicht von schönen Frauen umgeben wäre, die alle darauf hoffen, ihn durch ihre Liebe ändern zu können?“ Lord Hornblotten lächelte böse. „Oliver ist ein junger Mann, der eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf das schöne Geschlecht ausübt. Er nimmt sich bedenkenlos, was er bekommen kann.“
„Und im Augenblick sitzt er wieder mit dem Herzog am Spieltisch?“
„So ist es. Der Marquis ist immer darüber informiert, wo sich der Herzog gerade aufhält. Kaum sitzt der Herzog am Kartentisch, läßt sich der Marquis auf der anderen Seite des Tisches nieder.“
„Sie haben mich neugierig gemacht. Lassen Sie uns hinaufgehen, damit ich die beiden mit eigenen Augen sehen kann.“
Lord Hornblotten erhob sich schwerfällig und führte seinen Freund die geschwungene Treppe hinauf in das erste Stockwerk. Sie blieben in der Tür zum Kartenzimmer stehen, da es unmöglich schien, noch weiter vorzudringen. In dichten Reihen standen die Zuschauer um den kleinen Kartentisch herum und verschlangen mit ihren Blicken jede Bewegung der Spieler. Auf Zehenspitzen versuchte der Gutsherr, einen Blick auf die beiden erbitterten Feinde zu werfen.
Der Herzog von Accrington, bekannt als der ,Alte Teufel’, hatte ein fast gespenstisches Aussehen. Sein Gesicht war grau und verfallen und von scharfen Linien gezeichnet. Nur seine Augen über der stark hervorspringenden Nase zeigten, daß noch Leben in ihm war. Mit leidenschaftlicher Anteilnahme schienen sie jede Bewegung seines Partners wahrzunehmen.
Der Marquis von Thane dagegen, bekannt als ,Junger Teufel’, konnte nicht älter als achtundzwanzig sein, obwohl er wesentlich reifer wirkte. Er hatte sich lässig zurückgelehnt und verfolgte mit provozierender Gleichgültigkeit das Spiel. Nur seine engsten Freunde wußten, daß er sich hinter seinen halb geschlossenen Lidern aufmerksam und angespannt auf seinen Gegner konzentrierte.
Man hätte ihn als außergewöhnlich gutaussehend bezeichnen müssen, wäre nicht dieser verächtliche, zynische Ausdruck in seinem Gesicht gewesen. Es war kaum möglich, sich vorzustellen, daß er jemals lächeln würde oder daß er überhaupt an irgendetwas im Leben Anteilnahme zeigen könnte.
Sie spielten schweigend, und als der Marquis ein As auslegte, schienen die Zuschauer erleichtert aufzuatmen.
Mit keiner Regung verriet der Herzog, daß er verloren hatte. Er verharrte schweigend und unbewegt, bis ein Lakai wie in einem sich häufig wiederholenden Ritual ein Glas Wein brachte.
Wortlos nippte der Herzog an dem Getränk, bis ein anderer Lakai mit einem Dokument und Schreibzeug erschien. Er setzte seinen Namenszug auf das Papier und warf den Federkiel aus der Hand, so daß sich ein schwarzer Tintenklecks auf dem grünen Filz des Spieltisches bildete.
Ebenso wortlos nahm der Marquis von Thane das unterzeichnete Schriftstück an sich, erhob sich abrupt und wandte sich der Tür zu. Die Umstehenden wichen auseinander, um ihm Platz zu machen.
„Guten Abend, Oliver“, grüßte Lord Hornblotten.
„Guten Abend, Mylord.“
Die Stimme des Marquis war kalt und abweisend. Ehe Lord Hornblotten das Wort wieder an ihn richten konnte, war er bereits an der Treppe angelangt und ging hinunter in die Halle.
„Was ist denn los? Warum spielt er nicht weiter?“ fragte der Gutsherr leise seinen Freund.
„Sie spielen niemals länger als zwei Stunden“, erklärte Lord Hornblotten. „Manchmal treffen sie sich mehrmals im Laufe eines Tages, aber eine Sitzung dauert immer nur zwei Stunden.“
Der Marquis hatte inzwischen Hut und Mantel entgegengenommen und schickte sich an, das Haus zu verlassen, als ein großer, breitschultriger Mann in die Halle trat. Er trug die Uniform der Königlichen Gardedragoner und sein gutmütiges Gesicht hellte sich beim Anblick des Marquis auf.
„Wie ist es heute ausgegangen, Oliver?“ fragte er.
„Ich habe Chelsea zurückgewonnen. Zum dritten Mal übrigens. Und zum ersten Mal gehört mir Lambeth.“
„Was für ein Triumph. Schade, daß ich zu spät komme. Ich empfinde unendliche Genugtuung dabei, wenn mein Onkel verliert. Das ist der einzige Moment, wo er wie ein ganz normaler Sterblicher leidet, wenn man es ihm auch nicht ansieht.“
„Laß uns später darüber sprechen, Alistair“, unterbrach ihn der Marquis gelangweilt. „Ich möchte jetzt nach Hause fahren. Bist du später im Club?“
„Bei meinem bescheidenen Einkommen bleibt mir wohl gar nichts anderes übrig.“
„Dann trinken wir nachher einen Schluck auf den Niedergang Seiner Hoheit, des Herzogs von Accrington“, versprach der Marquis mit gleichgültiger Stimme und verließ mit eiligen Schritten das Haus.
Seine Kutsche, ein prachtvolles Viergespann, schien in London ebenso viel Aufsehen zu erregen wie die königlichen Fahrzeuge. Denn obwohl das Gefährt erst vor wenigen Sekunden vorgefahren war, hatte sich bereits eine Menschenansammlung gebildet, die neugierig auf den Marquis sah. Bewundernde Blicke folgten ihm, als er sich mit elegantem Schwung auf den Kutschbock setzte, die Zügel ergriff und davonbrauste. Sein Kutscher, der respektvoll in einigem Abstand gewartet hatte, konnte gerade noch rechtzeitig auf den Sitz neben seinem Herrn springen.
Der Marquis trieb die Pferde zu beträchtlicher Geschwindigkeit an, denn die Straßen in London waren fast menschenleer. Die Geschäfte waren bereits geschlossen und die Menschen hatten sich zurückgezogen, um sich auf den Abend vorzubereiten.
Sie fuhren die Berkeley Street entlang bis zum Berkeley Square und als sie von hier aus in die Charles Street einbogen, lief plötzlich völlig unerwartet eine Frau vom Bürgersteig auf die Straße.
Die Pferde waren fast schon über ihr. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte sie die Gefahr, in der sie schwebte. Sie versuchte, sich wieder auf das Trottoir zu retten, glitt jedoch auf dem durchweichten Boden der Straße aus und fiel der Länge nach hin. Geistesgegenwärtig riß der Marquis die Pferde herum. Wie durch ein Wunder gelang es ihm, die Kutsche auf die Mitte der Straße zu lenken, so daß die Frau nicht von den Rädern überrollt wurde. Dann hielt er mit einem kräftigen Ruck die Pferde an, warf die Zügel seinem Kutscher zu und sprang auf die Straße.
Als er bei der Frau anlangte, sah er, daß ein Herr ihr bereits wieder auf die Beine geholfen hatte. Er erkannte Sir Roger Crowley, einen schwerreichen Mann der Londoner Gesellschaft, der für seine Aufdringlichkeit gegenüber Frauen bekannt war.
Prüfend heftete er seinen Blick auf die Frau, die bestürzt zu ihm aufsah. Überrascht stellte er fest, daß sie fast noch ein Kind war. Ihr einfaches, altes Musselinkleid war über und über mit Schlamm bedeckt und ihr billiger Strohhut, den ein munteres blaues Band schmückte, hing schief auf ihrem Kopf. Ihre winzigen Hände zitterten, als sie versuchte, ihn wieder zurecht zu schieben.
„Sind Sie verletzt, Madam?“ erkundigte er sich höflich.
„Sie hat nur einen kleinen Schock bekommen“, ergriff Sir Roger das Wort. „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, Mylord, ich werde mich um die junge Dame kümmern.“
„Vielen Dank“, antwortete das Mädchen mit einer leisen, eigentümlich lieblichen Stimme. „Ich fühle mich durchaus imstande, mir selbst zu helfen.“
„Ein Glas Wein wird Ihnen guttun“, versuchte Sir Roger sie zu überreden. „Geben Sie mir Ihren Arm.“
Der Marquis wollte sich gerade wieder abwenden, als ihn die aufgebrachte Stimme des Mädchens aufhorchen ließ.
„Lassen Sie mich endlich in Ruhe, Sir. Genügt es nicht, daß ich Ihretwegen so kopflos auf die Straße gelaufen bin?“
„Darüber plaudern wir besser an einem gemütlicheren Ort“, beruhigte sie Sir Roger und ergriff ihren Arm.
„Ich gehe auf keinen Fall mit Ihnen!“ Das Mädchen hatte sich aus seinem Griff befreit und blickte trotzig auf. „Ich habe Sie nur gebeten, mir den Weg zum Thane House zu zeigen.“
„Haben Sie Thane House gesagt?“ fragte der Marquis gedehnt.
„Ja, Mylord.“ Eifrig drehte sie sich ihm zu. „Können Sie mir vielleicht den Weg dorthin erklären? Dieser Herr hier scheint mich nicht zu verstehen.“
„Vielleicht wollte er Sie nicht verstehen“, spottete der Marquis.
„Mylord, das können Sie wohl kaum beurteilen.“ Sir Roger blickte ärgerlich zum Marquis hinüber. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit schlaffen und verlebten Gesichtszügen.
„Ganz zweifellos möchte die junge Dame zum Thane House“ erwiderte der Marquis scharf. „Niemand wird bestreiten, daß ich den Weg am besten kenne.“
Damit verbeugte er sich ironisch und reichte dem Mädchen, das verständnislos von einem zum andern sah, den Arm.
„Gestatten Sie mir, Sie zum Thane House zu begleiten, Madam. Es liegt nur ein paar Häuser weiter, noch auf dieser Seite des Platzes.“
„Vielen Dank“, sagte das Mädchen leise. „Ich glaube, ich kann mich jetzt allein zurechtfinden.“
Sie übersah seinen Arm und begann leichtfüßig in die angegebene Richtung zu laufen. Der Marquis war sofort an ihrer Seite, ohne Sir Roger noch eines Blickes zu würdigen.
„Ihre Begleitung ist wirklich ganz unnötig“, erklärte sie nervös, als sei sie von seiner bloßen Gegenwart eingeschüchtert. Sie war so winzig, daß sie neben seinen langen, gleichmäßigen Schritten fast zu rennen schien.
„Ich nehme an, daß Sie im Thane House eine ganz bestimmte Person aufzusuchen wünschen?“
„Natürlich. Ich möchte zum Marquis von Thane.“
Verwundert hob der Marquis die Brauen. Bevor er jedoch weitere Fragen stellen konnte, waren sie vor seinem Haus angelangt.
Die Kutsche war vor ihnen angekommen, der rote Teppich war ausgerollt und die Dienerschaft stand wie gewöhnlich in respektvoller Haltung zu seiner Begrüßung bereit.
Bei diesem Anblick zauderte das Mädchen einen Moment lang, dann warf sie entschlossen den Kopf nach hinten und ging auf den ihr am nächsten stehenden Diener zu.
„Würden Sie mich bitte Seiner Lordschaft, dem Marquis von Thane melden.“
Verdutzt suchte der Diener den Blick seines Herrn, der direkt hinter dem Mädchen stand.
„Ich bin der Marquis von Thane.“
Mit einem Ruck wandte ihm das Mädchen ihr zartes, herzförmiges Gesicht zu und blickte ihn mit ihren übergroßen Augen erstaunt an.
„Sie sind also der Marquis!“ rief sie. „Natürlich, das hätte ich mir wirklich denken können, daß Sie in einer Kutsche auf mich zu brausen würden.“
Einen Augenblick lang war das Gesicht des Marquis alles andere als gelangweilt. Verblüfft blickte er auf sie herunter und wandte sich dann kopfschüttelnd ab.
„Gehen wir ins Haus“, sagte er kurz.
Er reichte seinem Butler Hut und Mantel und ging durch die marmorne Halle voraus in die Bibliothek.
Die Bibliothek war ein großzügig angelegter Raum, der die ganze Rückfront des Hauses einnahm. Die Fenster gingen auf einen kleinen Innenhof hinaus.
„Mir fällt ein Stein vom Herzen, daß ich Sie endlich gefunden habe.“ Nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen war, sah das Mädchen den Marquis aus großen aufgeregten Augen an. „Ich hatte schon Angst, Sie könnten nicht zu Hause sein. Als ich den Herrn nach dem Weg fragte, erzählte er mir die sonderbarsten Dinge. Ich glaube, er war nicht ganz richtig im Kopf. Trotzdem hätte ich natürlich nicht davonlaufen sollen. Das war feige. Gilly hätte sich sicherlich für mich geschämt.“
„Gilly?“ wiederholte der Marquis mit zusammengezogenen Brauen.
„Miss Gillingham“, entgegnete das Mädchen. „Können Sie sich nicht an sie erinnern? Sie hat mich zu Ihnen geschickt.“
„Miss Gillingham – Gilly! Natürlich. Ich habe sie völlig aus den Augen verloren. Warum hat sie nie etwas von sich hören lassen?“
„Sie war der Meinung, es würde Sie langweilen, Briefe von Ihrer alten Gouvernante zu lesen. Deshalb hat sie nie geschrieben. Aber sie liebte Sie. Sie liebte Sie bis zu dem Augenblick, als sie starb.“ Die Stimme des Mädchens schwankte. „Außerdem hätte es gar keinen Grund gegeben, Ihnen zu schreiben, denn es ging uns wirklich gut“, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu. „Ihr Vater hatte ihr wohl eine Leibrente überschrieben und ihr auch das Haus überlassen, in dem wir bis zu ihrem Tode lebten.“
„Weshalb wir?“
„Oh, ich lebte bei ihr. Das heißt, Gilly hat mich aufgezogen. Und das ist der Grund, weshalb ich hier bin.“
„Ich glaube, es ist am besten, wenn Sie Ihre Geschichte von vorne beginnen“, schlug der Marquis etwas verwirrt vor.
„Natürlich. Darf ich vorher meinen Hut abnehmen?“ fragte das Mädchen. „Er sitzt nicht mehr richtig, seitdem ich hingefallen bin.“
„Aber selbstverständlich! Möchten Sie sich kurz zurückziehen? Dann lasse ich meine Hausdame kommen.“
„Vielen Dank. Das ist wirklich nicht nötig. Ich hasse ganz einfach Hüte. Auf dem Land brauchte ich mich niemals so unbequem anzuziehen. Ich glaube, ich bin überhaupt ziemlich altmodisch gekleidet.“
Mit diesen Worten nahm sie den Hut vom Kopf. Der Marquis sah sie mit unverhüllter Überraschung an.
Sie hatte ganz ungewöhnliches Haar. Es war fast weiß, mit leichten goldenen Strähnen darin, die sanft in der Abendsonne schimmerten. Noch auffallender waren jedoch ihre Augen, die er erst jetzt ganz deutlich sehen konnte. Sie waren nicht blau, wie er vermutet hatte, sondern von einem tiefen dunklen Grau. Die dichten, schwarzen Wimpern schienen so gar nicht zu den weißen Haaren und der hellen, durchsichtigen Haut zu passen.
So eigenartig und ausgefallen ihr Aussehen auch ist, dachte der Marquis, ich habe schon einmal etwas Ähnliches gesehen.
„Jetzt fühle ich mich wesentlich wohler“, unterbrach sie seinen Gedankengang. Sie hatte ihren Hut und ihren Wollschal auf den nächsten Stuhl gelegt und lächelte ihn an.
„Wie heißen Sie?“ fragte der Marquis.
„Virginia“, erwiderte sie. „Virginia Grimwood.“
„Grimwood?“ wiederholte der Marquis.
„Das ist kein besonders wohlklingender Name, nicht wahr?“
Sie rümpfte ihre kleine zierliche Nase.
„Jetzt erzählen Sie mir alles der Reihe nach.“
„Dazu muß ich Ihnen einen Brief übergeben, einen Brief von Miss Gillingham an Sie.“ Sie zog aus einem kleinen Beutel, der an ihrer schmalen Taille angebunden war, einen zerknitterten Umschlag hervor.
Der Marquis erbrach das Siegel und starrte mutlos auf sechs dicht beschriebene Seiten.
„Wissen Sie, was in dem Brief steht?“ erkundigte er sich.
„Natürlich. Ich habe ihn selbst geschrieben.“
„Sie haben ihn geschrieben?“
„Ja, Gilly konnte in der letzten Zeit ihre Hand nicht mehr gebrauchen, da sie einen Schlaganfall hatte. Deshalb diktierte sie mir den Brief. Es hat ziemlich lang gedauert, denn sie ermüdete sehr schnell. Als der Brief fertig war, befahl sie mir, damit sofort nach ihrem Tod zu Ihnen zu gehen. Hier bin ich nun.“
„Vielleicht geht es schneller, wenn Sie mir in kurzen Worten mitteilen, was in diesen Zeilen steht“, schlug der Marquis vor.
„Ich habe noch etwas mitgebracht.“ Wieder griff sie in ihren kleinen Beutel und holte einen anderen Umschlag hervor. „Das hier hat Gilly wie ihren Augapfel gehütet. Sie hat es jahrelang in einer verschlossenen Schatulle aufbewahrt.“
Der Marquis legte den Umschlag ungeöffnet auf einen der kleinen Tische, die neben ihm standen.
„Jetzt erzählen Sie bitte mit eigenen Worten, was Gilly mir mitzuteilen hat.“
„Nun gut. Ich fange von vorne an“, erklärte sie bereitwillig. Sie saß noch immer auf der vordersten Kante ihres Stuhles, wie ein Schulkind, das seine Lektion aufsagen muß.
„Es war am 30. August 1801 . . .“, begann sie.
„Wie alt sind Sie?“ unterbrach er sie.
„In vier Monaten werde ich achtzehn Jahre.“
„Gut. Erzählen Sie weiter“, forderte er sie auf.
„Gilly saß am Abend dieses Tages an ihrem Schreibtisch, als jemand an die Tür klopfte. Sie öffnete und stand einer Frau mit einem neugeborenen Kind in den Armen gegenüber. Sie erkannte Mrs. Grimwood, eine Bauersfrau, die auf einem nahegelegenen Gehöft lebte. Die Bäuerin reichte ihr das Baby mit der Erklärung, daß sie und ihre Familie weit fortgehen würden und sie das neugeborene Kind nicht behalten könne. Dann drehte sie sich um und rannte davon. Gilly sah ihr überrascht nach und vermutete, daß die Geburt ihren Geist ein wenig verwirrt haben mußte. Sie trug das Baby ins Haus, damit es sich nicht erkältete und beschloß, es am nächsten Tag zurückzubringen. Als sie das Baby aus dem Schal wickelte, stellte sie zu ihrem größten Erstaunen fest, daß es sehr klein und zerbrechlich war, gar nicht wie die anderen Kinder der Grimwoods, die sie aus der Schule kannte. Sie hatte sie als kräftige, dunkelhaarige Kinder in Erinnerung. Das Kind, das sie vor sich hatte, war blond und helläugig. Gilly glaubte im ersten Moment, einen Albino in den Armen zu halten.“
„Einen Albino“, wiederholte der Marquis nachdenklich.
„Das hat mir Gilly erzählt. Glücklicherweise bin ich kein Albino. Schließlich habe ich keine roten Augen, wie Sie sehen können. Aber man hat mich immer wegen meines Haares aufgezogen.“
„Fahren Sie fort“, befahl der Marquis.
Obwohl man es ihm nicht ansah, hörte er gespannt zu.
„Am nächsten Tag bat Gilly den Doktor, sie zu den Grimwoods hinauszufahren, aber als sie dort ankamen, lag das Haus wie ausgestorben vor ihnen. Die Frau hatte also die Wahrheit gesagt. Die Familie hatte noch in derselben Nacht ihr Heim verlassen.“
„Wo sind sie hin?“
„Das schien niemand genau zu wissen. Und als Gilly mit dem Verwalter des Herzogs darüber sprach ...“
„Des Herzogs? Welchen Herzog meinen Sie?“ Die Stimme des Marquis klang unnatürlich laut.
„Natürlich den Herzog von Accrington“, antwortete Virginia. „Der Hof der Grimwoods lag auf seinem Besitz, obwohl Little Waterless schon zu dem Besitz Ihres Vaters gehörte.“ Sie hielt einen Moment erschrocken inne. „Jetzt gehört natürlich alles dem Herzog“, fügte sie leise hinzu. „Als Gilly damals von dem Betrug erfuhr, war sie so zornig, wie ich sie noch niemals zuvor erlebt hatte.“