Gehen. Weiter gehen - Erling Kagge - E-Book

Gehen. Weiter gehen E-Book

Erling Kagge

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Beschreibung

»Das Leben ist ein langer Fußmarsch«, sagt Kagge, einer der größten Abenteurer unserer Zeit. Er war am Nordpol und am Südpol, hat den Mount Everest bestiegen, aber er war auch tagelang zu Fuß in Los Angeles unterwegs und ist hinabgestiegen in die Unterwelt Manhattans. Gemeint sind nicht nur riskante Märsche über Gletscherspalten, es kann auch der Spaziergang durch den städtischen Park sein. Der Effekt ist derselbe: Unsere Gedanken beginnen zu fließen, unser Kopf wird klar, äußere und innere Welt gehen ineinander über, wir werden eins mit der Welt – im Gehen. Denn »der Kopf braucht Bodenhaftung, die bekommt er durch die Füße«.

Der Abenteurer und Weltenwanderer Erling Kagge hat sich auf eine meditative Reise begeben, Philosophen, Autoren und Weggefährten befragt und mit seinen Füßen die Welt ausgeschritten und vergrößert. Das können wir auch. Denn »alle Menschen sind geborene Entdecker«.

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Seitenzahl: 130

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Erling Kagge

Gehen. Weiter gehen

Eine Anleitung

Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg

Insel Verlag

Ich danke meiner Mutter und meinem Vater, die mich auf Wanderungen mitnahmen, und Ingrid, Solveig und Nor.

You’re walking. And you don’t always realize itBut you’re always fallingWith each step, you fall forward slightlyAnd then catch yourself from fallingLaurie Anderson, Walking and falling

Klara Lidénuntitled, (poster painting) 2010

Titel der Originalausgabe: Å gå. Ett Skritt om gangen

I

Eines Tages konnte meine Großmutter nicht mehr gehen.

An diesem Tag starb sie. Physisch lebte sie noch eine Weile, doch die neuen Knie, die man ihr anstelle der alten eingesetzt hatte, waren abgenutzt und konnten ihren Körper nicht mehr tragen. Da sie im Bett liegen musste, schwand auch die Kraft ihrer Muskeln. Das Verdauungssystem versagte. Das Herz schlug langsamer, ihr Puls wurde unregelmäßig. Die Lungen nahmen immer weniger Sauerstoff auf. Am Ende rang sie um Atem.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich zwei Töchter. Die jüngere, Solveig, war dreizehn Monate alt. Während ihre Großmutter sich langsam in einer embryonalen Lage zusammenkrümmte, spürte Solveig, dass es an der Zeit war, gehen zu lernen. Wenn sie die Arme über ihren Kopf hob und sich an meinen Fingern festhielt, konnte sie über den Fußboden des Wohnzimmers stapfen. Jedes Mal, wenn Solveig losließ und versuchte, einige Schritte allein zu gehen, entdeckte sie nicht nur, was oben und unten heißt, sondern dass es auch den Unterschied zwischen hoch und niedrig gibt. Als sie stolperte und mit der Stirn gegen die Kante des Wohnzimmertischs stieß, lernte sie, dass manche Dinge hart und andere Dinge weich sind. Gehen zu lernen gehört möglicherweise zu den gefährlichsten Dingen, die man im Laufe seines Lebens erlebt.

Schon bald konnte sie allein durchs Wohnzimmer gehen, dabei streckte sie die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Aus Unsicherheit lief sie mit kurzen Schritten in einer Art Stakkato. Als ich sie die ersten Male beobachtete, war ich überrascht, wie sie dabei ihre Zehen spreizte. Als wollte sie sich mit ihrer Hilfe am Fußboden festkrallen. »Des Kindes Fuß weiß noch nicht, daß er Fuß ist und möchte Schmetterling oder Apfel sein«, lautet die erste Zeile von Pablo Nerudas Gedicht »Vom Fuß seines Kindes aus«.

Mit einem Mal ging sie mit etwas sichereren Schritten durch die offene Terrassentür in den Garten. Die Füße hatten nicht mehr nur Kontakt mit dem Fußboden, sondern mit der Erdoberfläche. Mit Gras, Stein, Erde und schon bald Asphalt.

Ihre Persönlichkeit – ihr Temperament, ihre Neugierde und ihr Wille –, so schien es, war viel präsenter, wenn sie ging. Vielleicht irre ich mich, aber wenn ich sehe, wie ein Kind gehen lernt, wird mir klar, dass die Freude, es zu entdecken und es zu beherrschen, die stärkste Kraft ist, die es gibt. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, Grenzen zu erforschen und zu überschreiten, liegt in unserer Natur. Wir beginnen nicht nur, auf Entdeckungsreisen zu gehen, wir hören auch nicht mehr damit auf.

Als meine Großmutter in Lillehammer geboren wurde, dreiundneunzig Jahre vor Solveig, war die Familie noch auf die Füße angewiesen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Wollte Großmutter weiter weg, konnte sie den Zug nehmen, allerdings gab es für sie nicht allzu viele Anlässe, Lillehammer zu verlassen. Stattdessen kam die Welt zu ihr. In ihrer Jugend in Oppland lernte sie Autos aus Serienproduktion, Fahrräder und Flugzeuge kennen. Großmutter hat mir erzählt, dass Großvater sie bat, ihn nach Mjøsa zu begleiten, um sich gemeinsam ein Flugzeug anzusehen. Sie erzählte mit einer solchen Inbrunst davon, dass man hätte glauben können, es sei am Vortag passiert. Der Himmel war nicht länger den Vögeln und den Engeln vorbehalten.

*

Der Homo sapiens ist immer gegangen. Seit unsere Vorfahren vor siebzigtausend Jahren aus Ostafrika auswanderten, handelt unsere Geschichte vom Gehen. Die Bipedie, also das Gehen auf zwei Füßen, legte die Grundlage für alles, was wir heute sind. Unsere Vorfahren durchquerten Arabien, gingen zu Fuß weiter über den Himalaya und verbreiteten sich im Osten in Asien und zogen über die zugefrorene Beringstraße bis nach Amerika oder südlich bis nach Australien. Andere gingen westwärts in Richtung Europa und erreichten schließlich Norwegen. Diese ersten Menschen gingen weite Strecken zu Fuß, sie jagten mit neuen Techniken in größeren Gebieten, und sie erlebten mehr. Ihre Lebensweise führte dazu, dass ihr Gehirn sich schneller entwickelte als bei irgendeiner anderen Spezies. Erst lernten wir gehen, dann lernten wir, wie man ein Feuer macht und Speisen zubereitet, dann kam die Sprache.

Die Sprachen, die Menschen entwickelten, spiegeln wider, dass das Leben ein einziger langer Fußmarsch ist. Auf Sanskrit, einer der ältesten existierenden Sprachen der Welt, die ihren Ursprung in Indien hat, hat man der Vergangenheit das Wort gata gegeben, »wo wir gegangen sind«, und die Zukunft heißt anaˉgata, »dort, wohin wir noch nicht gekommen sind«. Gata ist sprachlich verwandt mit dem norwegischen gått, »gegangen«. Auf Sanskrit wird die Gegenwart ganz natürlich als »das, was direkt vor uns ist«, bezeichnet, pratyutpanna.

*

Ich weiß nicht, wie viele Touren ich unternommen habe.

Ich bin auf kurzen Wanderungen gewesen, und ich bin auf langen Wanderungen gewesen. Ich bin aus Städten hinausgegangen, ich bin in Städte hineingegangen. Ich bin in der Nacht und am Tag gelaufen, bin von meinen Geliebten aufgebrochen und zu meinen Freunden hingelaufen. Ich bin durch Wälder und über Berge gegangen, über eisbedeckte Weiten und durch von Menschen geschaffene Wildnis. Ich bin gegangen und habe mich gelangweilt, ich bin gegangen, um meiner Nervosität zu entgehen. Ich bin mit Schmerzen gegangen, ich bin voller Freude gegangen. Aber egal, wo und warum, ich bin immer weiter gegangen. Ich bin buchstäblich bis ans Ende der Welt gegangen.

Alle meine Gänge waren verschieden, aber wenn ich zurückblicke, entdecke ich eine Gemeinsamkeit: eine innere Stille. Gehen und Stille hängen zusammen. Stille ist abstrakt, Gehen ist konkret.

Bis ich eine Familie, ein Zuhause und einen Beruf hatte, habe ich nie darüber nachgedacht, warum es so wichtig ist zu gehen. Aber Kinder wollen Antworten: Warum sollen wir gehen, wenn es mit dem Auto doch schneller geht? Auch Erwachsene, mit denen ich gesprochen habe, können diese Frage stellen: Was ist der Witz daran, sich langsam von einem Ort zum anderen zu bewegen?

Ich habe es bisher mit der programmatischen Erklärung versucht, die einem sofort einfällt – die also das Gegenteil von der Essenz des Gehens, des Langsamen ist: Ich habe erklärt, dass einer, der geht, länger lebt. Dass er über ein besseres Erinnerungsvermögen verfügt. Dass der Blutdruck sinkt. Dass man seltener krank ist. Aber jedes Mal, wenn ich es sagte, wusste ich, dass es nur die halbe Wahrheit ist. Gehen ist selbstverständlich etwas sehr viel Größeres als das Aufzählen von Pluspunkten, die man in jeder Werbung für Vitamine lesen kann. Was steckt also wirklich dahinter?

Warum gehen wir? Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin?

Ich glaube, wir alle haben unsere eigene Antwort. Sollten wir zwei eines Tages nebeneinander hergehen, werden wir dabei unterschiedliche Erlebnisse haben. Aber wenn ich mir die Schuhe anziehe und die Gedanken wandern lasse, bin ich mir einer Sache sicher: Einen Fuß vor den anderen zu setzen, gehört mit zum Wichtigsten, was wir tun.

Also lasst uns gehen.

II

Zu gehen verschafft ein Gefühl von Freiheit. Es ist das Gegenteil von »schneller, höher, weiter«. Alles bewegt sich langsamer, wenn ich gehe, die Welt scheint sanfter zu werden, und eine kurze Weile lebe ich nicht durch die alltäglichen Verrichtungen, wie daheim aufzuräumen, an Sitzungen teilzunehmen oder Manuskripte zu lesen. Zu gehen ist ein Freiraum. Die Meinungen, die Erwartungen und die Launen der Familie, der Kollegen und Bekannten werden für einige Minuten oder einige Stunden unwichtig. Ich spüre, dass ich das Zentrum meines eigenen Lebens bin, und kann mich gleich darauf selbst vollkommen vergessen.

Jeder glaubt zu wissen, dass Zeit gespart wird, wenn man von einem Ort zum anderen statt acht nur zwei Stunden unterwegs ist. Ja, mathematisch ist das sicher korrekt, aber meine Erfahrung ist eine andere: Die Zeit vergeht rascher, wenn ich das Tempo erhöhe. Die Geschwindigkeit, mit der ich unterwegs bin, passt sich an die Zeit an. Eine Stunde, die man gehend verbringt, vergeht schneller als eine Stunde auf der Uhr. Wenn ich mich unnötig beeile, kommt selten etwas Sinnvolles dabei heraus.

Wenn man mit dem Auto auf einen Berg zufährt und sieht, wie kleine Bäche, Hügel, Steine, Mose und Bäume an einem vorbeisausen, wird das Leben kürzer. Man spürt den Wind, die Gerüche, das Wetter und die Veränderungen des Lichts nicht. Die Füße werden nicht wund. Alles geht ineinander über.

Nicht nur die Zeit wird eingeschränkt, sobald die Geschwindigkeit erhöht wird, auch das Gefühl für den Raum. Plötzlich ist man am Fuße des Berges. Das Erlebnis der Entfernung verschwindet. Am Ziel meint man möglicherweise, viel erlebt zu haben. Ich bezweifle es.

Wenn man dieselbe Strecke geht und einen Tag anstelle einer halben Stunde unterwegs ist, wenn man ruhiger atmet, lauscht, den Boden unter den Füßen spürt, wird es ein ganz anderer Tag. Stück für Stück wächst der Berg, und man hat das Gefühl, als würde die Umgebung größer. Mit all den Dingen um sich herum vertraut zu werden, braucht Zeit. Als würde man eine Freundschaft aufbauen. Der Berg dort vorn, der sich langsam verändert, je näher du ihm kommst, wird zu einem guten Freund, noch bevor du ihn erreichst. Deine Augen, Ohren, Nase, Schultern, Bauch und Beine sprechen zu dem Berg, und der Berg antwortet. Die Zeit dehnt sich aus, du zählst sie nicht mehr in Minuten und Stunden.

Und genau hier liegt das große Geheimnis, das alle, die gehen, miteinander teilen: Das Leben dauert länger, wenn man geht. Gehen verlängert jeden Augenblick.

*

Wenn ich die Wahl zwischen verschiedenen Varianten habe, wähle ich immer die einfachste: diejenige, die am wenigsten Zeit kostet. Die angenehmste. Die herzlichste. Selbst wenn ich weiß, dass ich eine klügere Wahl hätte treffen können. An manchen Tagen wähle ich von morgens bis abends den Weg des geringsten Widerstands. Ja, manchmal tue ich das gleich mehrere Tage hintereinander. Ich ärgere mich über diese Schwäche

Mir das Leben freiwillig etwas unangenehmer zu gestalten, hat mir sehr viel gegeben. Solange ich denken kann, steckte ein kleiner Teufel in mir, der mir ständig riet, mich für die angenehmste Variante zu entscheiden, wenn ich die Wahl hatte: eine kürzere Strecke zu gehen, als ursprünglich geplant, den Besuch bei einem kranken Freund zu verschieben und stattdessen in ein Café zu gehen, nicht aufzustehen, obwohl ich es müsste. Wenn man sich daran gewöhnt hat, einfach ins Auto zu steigen, um von A nach B zu kommen, fällt es schwer, es nicht zu tun. Es ist einfach zu bequem. Das erlebe ich selbst immer wieder.

Folgen wir dieser verführerischen Stimme regelmäßig, flüchten wir gleichsam vor der Welt und missachten die Möglichkeiten, die wir im Leben haben. Der Philosoph Martin Heidegger wies darauf hin, dass wir dadurch leicht in eine Art sklavische Abhängigkeit von dieser inneren Stimme geraten könnten. Wir könnten fallen und mit beiden Füßen in einem tiefen, zähen Sumpf steckenbleiben. Für Heidegger ist es ein Unterschied, ob man auf diese Weise lebt oder sein Leben führt. Zu sein heißt nicht nur, in der Welt zu sein, wie es Steine sind, sondern sich zur Welt zu verhalten. Wir Menschen, betont Heidegger, müssen bereit sein, Bürden auf uns zu nehmen, um frei zu sein. Entscheidet man sich für den Weg des geringsten Widerstands, wird diese Alternative, die auf den ersten Blick die wenigsten Probleme mit sich bringt, immer Vorrang haben. Dann ist die Wahl vorherbestimmt, und man lebt nicht nur ein unfreies, sondern auch ein langweiliges Leben.

Bei so vielen Dingen in unserem Leben geht es um hohes Tempo. Gehen tut man langsam. Und ist damit das Radikalste, was du tun kannst.

*

Im Herbst 1987 wanderte ich mit meiner Freundin durch Jotunheimen, dort bestiegen wir den Store Skagadølstind, den dritthöchsten Berg Norwegens. Sie war eine erfahrene Bergsteigerin und führte uns hinauf. Auf dem Gipfel wurden wir von Schneeregen und schlechter Sicht überrascht. Um uns herum gab es nur steile Felswände, ein Weitergehen im Nebel war zu gefährlich, wir waren gezwungen, dort oben ohne Zelt und Schlafsack zu übernachten. Wir hüpften die Nacht über auf der Stelle, machten Schattenboxen und schlugen mit den Armen um uns, aber gefroren haben wir trotzdem. Doch wenn ich heute daran zurückdenke, war es das schönste Erlebnis, das wir zusammen hatten. Die dramatischen Verhältnisse hoben diese Nacht von vielen anderen, komfortableren Nächten ab. Als die Sonne aufging und wir sicher abstiegen, hatten die Stunden in der Dunkelheit uns einander nähergebracht.

Ich habe mich so oft verirrt, dass ich mir Gedanken darüber mache, ob ich tief in meinem Inneren diese Unsicherheit nicht suche und das kleine Mysterium genieße, wenn ich nicht weiß, wo ich mich gerade befinde. Wenn ich Google Earth nutze, ist das meiste vorhersehbar. Bisweilen ertappe ich mich dabei, dass ich mehr auf das Display als auf meine Umgebung achte. Also lasse ich die Elektronik zu Hause und hebe stattdessen den Blick. So lerne ich meine Umgebung, eine Stadt oder einen Wald kennen.

Wie mein Bruder Gunnar es ausgedrückt hat – wir waren vielleicht acht und elf Jahre alt und hatten uns in der Østmarka verirrt: »Hier habe ich mich schon einmal verirrt, ich weiß jetzt, wo wir sind.«

*

Man würde meinen, dass ein Mensch, der im Gefängnis sitzt, sich weniger bewegt als andere Menschen, aber so einfach ist es nicht. In Großbritannien verbringen drei Viertel aller Kinder weniger Zeit im Freien als die Leute im Gefängnis. Jedes fünfte Kind ist praktisch nie draußen, und jedes neunte Kind hat noch nie einen Park, einen Wald oder einen Strand betreten. Die Zeit wird in der Wohnung vor einem Bildschirm verbracht. Und die Eltern wissen, wie dumm das ist, unternehmen aber nichts dagegen, lese ich in einem Artikel der Zeitung The Guardian. Wer in der Wohnung bleibt, bekommt nichts mit vom Wechsel der Jahreszeiten, sieht die Tiere, die Sonne, den Regen nicht, kennt die Pfade nicht, die in die Welt hinausführen, weiß nicht, wo er sich befindet. Das kann höchst negative Folgen haben.

Ein Fall von Klassenzugehörigkeit. Laut einer Untersuchung, die die Stiftung Wildfowl & Wetlands Trust (WWT) 2016 vorgenommen hat, kann man davon ausgehen, dass sich Kinder aus armen Familien weniger im Freien aufhalten als andere.

*

Ungefähr fünfundsiebzig Schritte von meiner Haustür entfernt steht eine Eiche, an der ich jeden Tag vorbeigehe. Ich registriere die Veränderungen, die die Eiche im Laufe des Jahres erfährt. Vor Sonnenaufgang kann der Baum ohne Blätter im dunklen Winterlicht aussehen wie ein Monster. Später am Tag, im Tageslicht, wirkt er freundlicher. In der Baumkrone, in der Borke und im Holz gibt es Unmengen von winzigen Biotopen. Hunderte verschiedene Insekten, Pilze, Flechten und Mose, die hier ihr eigenes Leben führen.

Mit dem Frühjahr kommen die Blätter, die Farben. Die Eiche – der Baum, der laut der Legende fünfhundert Jahre braucht, um zu leben, und fünfhundert Jahre, um zu sterben – richtet sich ein wenig auf, und mit jedem Windstoß verstreut er Pollen um sich. Ich kann es nicht sehen, weiß aber, dass der Saft steigt.

Normalerweise bin ich nicht sonderlich aufmerksam, wenn ich in die Stadt fahre. An der Pilestredet geht es nur langsam voran, ein Autofahrer bekommt nicht mit, dass die Ampel auf Grün geschaltet hat, eine Fußgängerin läuft direkt vor mir auf die Straße und schreibt dabei eine SMS. Solche Dinge irritieren mich. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich in der Rushhour abschätzig auf Autofahrer blicke, die neben mir im Stau stehen und ihre Zeit verschwenden, dabei tue ich es doch auch! Bisher habe ich noch kein einziges glückliches Gesicht zu Rushhour-Zeiten gesehen.