Geht's dir gut oder hast du Kinder in der Schule? - Anke Willers - E-Book

Geht's dir gut oder hast du Kinder in der Schule? E-Book

Anke Willers

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Beschreibung

Vom Ernst des Lebens, der keinen Spaß versteht

Wer heute sein Kind einschult, wird als Mutter gleich miteingeschult. Weil Lehrer im Unterricht vieles nur anreißen und dann die Eltern in die Pflicht nehmen. So wird der Schulerfolg eines Kindes auch zum Erfolg der Eltern: Stimmen die Noten, haben sie alles richtig gemacht. Wenn nicht, kommen die Selbstzweifel. Und die Angst: Wird das Kind später mithalten können?

Auch Anke Willers, berufstätige Mutter von zwei Mädchen, ging es so. Anschaulich erzählt sie von der Schulzeit ihrer Töchter und wie sie seit Jahren als Hilfslehrerin überlebt. Im Austausch mit renommierten Experten beschreibt sie, warum Schule heute so kompliziert ist, wie man sich ein Stück Gelassenheit zurückholt und bei all dem nicht den Humor verliert.

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Seitenzahl: 255

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Anke Willers ist Mutter zweier aufgeweckter Töchter, und sie selbst kam auch ohne die Hilfe ihrer Eltern gut durch die Schule. Entsprechend entspannt ging sie das Thema bei ihren Kindern an. Doch sie irrte: Schnell wurde der Alltag ihrer Familie von Kämpfen um Hausaufgaben, Noten und Abschlüssen bestimmt. Und das, obwohl ihre Töchter keine spektakulären Schulversagerinnen waren, sondern ihnen das Lernen einfach nur schwerfiel. Anke Willers wurde zur Hilfslehrerin und zur Expertin für Lehrpläne, Schulbücher und Motivationstricks – und die ganze Familie war gewaltig im Stress.

Jetzt, da eine ihrer Töchter bereits einen Abschluss hat, erzählt sie die Geschichte ihrer Familie. Für ihr Buch hat Anke Willers zahlreiche Studien gelesen und den Rat von Psychologen, Pädagogen und Soziologen eingeholt: Müssen wir uns abfinden mit einer Schulkultur, die alle irre macht? Wo könnte es Auswege geben? Und warum ist es so wichtig, dass sich Eltern um Abstand bemühen und den Humor nicht verlieren? Die Autorin macht sich auf die Suche nach Antworten. Und nicht zuletzt erzählt sie auch von Erfolgen, überraschenden Wendungen und vom Licht am Ende des Tunnels.

Anke Willers

Was der Schulwahnsinn mit uns undunseren Kindern macht undwie wir ihn überleben – eine Mutter erzählt

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 08/2019

Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Carina Heer

Umschlaggestaltung: Guter Punkt – Agentur für Gestaltung,unter Verwendung eines Motives von Shutterstock / Valenty

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-23908-4V002

www.heyne.de

Inhalt

Vorwort

23 Jahre vorher

Mein letzter Schultag

Grundschuljahre

Vom Ernst des Lebens, der keinen Spaß verstand | Wenn Oma am Lamm ist – und kein Wort das andere ergibt | Ihr Kind ist überfordert. Gehen Sie doch mal zum Schulpsychologen | Im Diagnosedschungel | Unser Montessori-Biotop: Hilf mir, es selbst zu tun! | Mit dem Zweiten lernt man besser? Ich nicht! | Ringelpiez mit Anfassen | Wie ich versuchte, eine eierlegende Wollmilchsau zu werden

Jetzt mal mit Abstand: Warum kriegen heute so viele Kinder eine Diagnose?

Der Übertritt

Das bayerische Grundschulabitur: Wenn alle durchdrehen | P wie »Pest« – oder wie »Probeunterricht« | C wie »Cholera« – oder wie »Check das, aber schnell!«

Jetzt mal mit Abstand: Warum haben wir Mittelschichtseltern eigentlich heute so eine Schulpanik?

Realschuljahre (Unterstufe)

Lernst du noch – oder brüllst du schon? | Was schulgeschädigte Mütter so denken – und sich meistens nicht zu sagen trauen | Wir brauchen Noten, Noten, Noten! | Die Schritte auf der Treppe | »Du siehst das zu eng.« »Tu ich nicht!« »Doch!« | Die therapeutischen Kräfte der Frau Katja Stingel | Was uns noch beim Durchhalten half | Und die Lehrer? Ein Appell für mehr Artenschutz | Bitte ein Funkloch!

Jetzt mal mit Abstand: Was brauchen Kindergehirne, um gut zu lernen – und was verändert sich in der Pubertät?

Die Wende (Mittelstufenjahre)

Das Jahr, in dem vieles anders wurde | Wie das Russische Reich zerfiel und ich nicht dabei war | Von Fernbeziehungen und Lernbeziehungen | Schulfreie Zonen | Und ihr so? | Girls, Girls, Girls

Jetzt mal mit Abstand: Warum sind Hilfslehrer meistens weiblich – und warum ist das keine gute Nachricht für die Emanzipation?

Höhere Schulen (der Erkenntnis)

Man lernt nie aus – die Theorie | Man lernt nie aus – die Praxis | Sambastunden – und die Schule des Lebens | Reifezeugnis: Eine Mutter erreicht das Klassenziel

Jetzt mal mit Abstand: Und was sagt ihr dazu? Ein Interview mit meinen Töchtern Greta, 18, und Ida, 15

Anmerkungen

Vorwort

Stehen zwei Münchner Mütter auf einer Party.

Fragt die eine:

»Und – auf welches Gymnasium gehen deine Kinder?«

Sagt die andere:

»Auf gar kein Gymnasium. Sie gehen auf die Realschule.«

Sagt die eine:

»Oh!«

Warum ich dieses Buch geschrieben habe? Weil Dialoge wie der oben kein Witz sind. Und weil ich bei derartigem Partygeplänkel mehr als einmal »die andere« war.

Ja, es gibt viele Bücher über Schule. Über den Sinn und Unsinn des deutschen Schulsystems. Über unterschiedliche Schultypen und pädagogische Ansätze. Über unfähige Lehrer und überehrgeizige Eltern, die über ihren Kindern schweben wie Helikopter und nur einen Schulabschluss gelten lassen: Abitur. Dieses Buch soll etwas anderes beschreiben. Es soll beschreiben, was es mit einer Familie macht, wenn Kinder in der Schule Probleme haben.

Nein, meine Töchter sind keine spektakulären Schulversagerinnen, sie haben keine ausgeprägten Teilleistungsstörungen, sie wechselten nicht ständig die Schule, sie haben nicht mal Verweise bekommen. Die Schule ist ihnen einfach nur schwergefallen. Doch das allein hat ausgereicht, um unsere Familie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und gewaltig zu stressen. Und zwar über ein ganzes Jahrzehnt.

Dieses Buch beschreibt den Kampf um die Noten, die Prüfungen, die Abschlüsse – und die immer wiederkehrende Niedergeschlagenheit, die sich damit oft über unsere Familie legte wie ein dunkles Tuch. Es beschreibt aber auch, wie wichtig es ist, dass wir Mütter und Väter uns selbst erziehen, uns um Abstand bemühen, den Humor behalten. Wie wichtig es ist, dass wir verstehen, warum Schule in unserer Gesellschaft eine so große Bedeutung für Eltern bekommen hat. Dass wir uns wehren gegen eine Vereinnahmung als Hilfslehrkräfte – und gegen eine Schulpanik, die in Mittelschichtsfamilien manchmal geradezu hysterische Züge annimmt. Und nicht zuletzt handelt dieses Buch auch von Erfolgen, überraschenden Wendungen. Und vom Licht am Ende des Tunnels.

Meine Geschichte ist aus der Sicht einer Mutter geschrieben. Sie ist ganz und gar subjektiv. Mein Mann würde das wahrscheinlich alles ganz anders erzählen. Und doch ist es eine Geschichte, die vielen Schulkind-Müttern und vielleicht auch manchen Vätern bekannt vorkommen dürfte. Nicht nur in Bayern. Zwar gehen unsere Töchter in München zur Schule, aber meine Arbeit als Redakteurin für die Zeitschriften Eltern und Eltern family bringt es mit sich, dass ich oft mit Eltern aus allen Teilen der Republik spreche – und auch, wenn es in bayerischen Schulen vielleicht noch etwas strenger zugehen mag als im übrigen Land: Wann immer ich von unseren Erfahrungen erzählte, in Hamburg, in Frankfurt, in Thüringen oder im Allgäu, stöhnte bestimmt irgendjemand: »Wie bei uns!«

Für mich selbst hatte das Aufschreiben beinahe etwas Therapeutisches. Immer wieder hat es meine Töchter, meinen Mann und mich an einen Tisch gebracht, um Ereignisse, Gefühle, Höhe- und Tiefpunkte, die nun mitunter schon über zehn Jahre zurücklagen, zu rekonstruieren. Das war schön! Genauso wie die Stunden, in denen ich meiner Familie das Buch vorgelesen habe, als es fertig war – und ich mir wünschte, dass sie es als Erste freigaben und für gut befanden. Da haben wir alle gespürt: Mit etwas Abstand ist manches nicht mehr so schwer, und wir konnten auch wieder die vielen komischen Situationen sehen, die uns im Schulalltag begegnet sind.

Und nun hoffe ich, dass dieses Buch auch anderen hilft: All den Eltern, die wie ich unfreiwillig zu Hilfslehrern und Hilfslehrerinnen gemacht wurden und werden. Und damit vielleicht auch ihren Kindern – vor allem denen, die nicht dahin gehen, wo alle hinwollen: aufs Gymnasium.

Anke Willers, im Frühjahr 2019

23 Jahre vorher

Mein letzter Schultag

Es war im Mai 1983, an einem Freitag, dem 13. Ich weiß es noch genau: Ich fuhr mit dem Fahrrad durch die frühsommerlichen Roggenfelder der niedersächsischen Provinz. Immer geradeaus. Mein Herz hüpfte, und die Halme auf dem Feld, durch das der Weg führte, schienen mir wie eine große La-Ola-Welle zuzuwinken. So, als wollte jeder einzelne mir zurufen: »Hey, du hast es geschafft. Glückwunsch!«

Ja, ich hatte es geschafft! Zwei Stunden vorher hatte ich meine letzte Abiprüfung bestanden. Es war die mündliche. Gemeinschaftskunde: Faschismustheorien. Es war gut gelaufen. Ich trat ausgelassen in die Pedale und dachte: »Freitag, der 13. – das ist mein Glückstag. Und 13 meine Glückszahl.«

Als ich zu Hause ankam – meine Eltern hatten eine Landwirtschaft –, ging gerade mein Vater über den Hof. »13 Punkte«, rief ich ihm zu. Mein Vater hob den Daumen. Auch, wenn er wahrscheinlich nicht mal genau wusste, ob 13 Punkte jetzt viel oder wenig waren. Denn in meinen 13 Schuljahren hatte er sich nie um meine Schulangelegenheiten gekümmert. Meine Mutter war immerhin zu den Elternabenden gegangen. Und hatte mir gut zugeredet, wenn ich vor irgendeiner Klassenarbeit in Panik ausgebrochen war. Sie hatte in der Unterstufe zwei- oder dreimal ein Kunstbild für mich fertig gemalt – eins, das weiß ich noch, trug den Titel »Astern im Herbst«. Aber neben mir gesessen und geholfen – das hatte sie nie.

Vielleicht, weil es nicht nötig war. Vielleicht, weil meine Eltern vieles, was ich lernen musste, in ihrer Nachkriegsschulzeit selber nicht gelernt hatten: Französisch, Latein, Kurvendiskussionen. Dabei konnten sie mir nicht helfen. Vielleicht aber auch: Weil es damals nicht erwartet wurde. Schule war Kindersache. Schule war Lehrersache. Aber eines war Schule sicher nicht: Elternsache. Und man konnte auch ein guter Vater, eine gute Mutter sein, wenn man Sohn oder Tochter nicht permanent coachte.

Außerdem war das Abitur noch nicht Pflicht. Als ich zur Schule ging, konnte man mit Realschulabschluss eine Banklehre machen und mit Hauptschulabschluss Buchhändlerin werden. Und dass ich jetzt mein Abitur hatte, obwohl ich ein Mädchen vom Land war und dazu noch die Erste unter meinen Geschwistern mit Hochschulreife, war wahrscheinlich auch eine Folge der Bildungsexpansion, die in den Siebzigerjahren Fahrt aufgenommen hatte. Lange war höhere Bildung vor allem den Jungs vorbehalten und Menschen aus akademischen Familien, die meist in den großen Städten lebten. Doch dann, in den Siebzigern, wurde durch zahlreiche Schulreformen versucht, das Bildungsniveau für alle anzuheben.

Ich wurde 1970 eingeschult. Meine Eltern hatten kein Abitur machen können. Aber sie hatten früh verstanden, dass gute Bildung wichtig ist. Nicht, dass sie mich drängten, aber sie ermutigten mich: »Wenn du gut bist in der Schule, dann geh aufs Gymnasium! Und wenn du weitermachen willst, helfen wir dir auch, ein Studium zu finanzieren.«

Klar war allerdings irgendwie auch: Das Lernen, die Referate und die Prüfungen musst du alleine schaffen. Das galt aber nicht nur für mich, sondern auch für die meisten anderen, die mit mir in der Klasse waren.

Und wir waren viele. Ich gehöre zum geburtenstärksten Jahrgang der Nachkriegszeit: 1964. Damals wurden ungefähr doppelt so viele Babys geboren wie heute. Die Stufe war an vielen Schulen sechszügig, die Klassen hatten bis zu 38 Kinder. In meiner Klasse hieß jeder zweite Junge Jens und jedes zweite Mädchen Heike. Und überall, wo wir hinkamen, waren schon sehr viele andere. Das bedeutete für uns Babyboomer auch: ranhalten, anstrengen, irgendwie auffallen – am besten durch Leistung. Im Sport, bei der Bewerbung fürs Praktikum und natürlich in der Schule.

Denn die Konkurrenz war groß. Nur wenn man gut war, dann wurde das was. Und meistens fing es mit der Konkurrenz schon morgens um sieben an. Dort, wo ich aufgewachsen bin, in der Lüneburger Heide, gab es im Umkreis von 30 Kilometern nur ein einziges Gymnasium. Deshalb wurden damals in unserer Region verstärkt Schulbusse eingesetzt – schließlich sollte das Projekt Bildungsexpansion nicht am weiten Weg scheitern.

Der Schulbus war eine Herausforderung. Morgens fuhr er eine Stunde über die Dörfer. Es war laut, stickig, eng, und der Bus war vollgestopft mit Babyboomern. Wir stritten um einen Sitzplatz, und mindestens die Hälfte von uns musste stehen. Man versuchte im Lärm noch schnell ein paar Vokabeln zu lernen. Oder wartete sehnsüchtig darauf, dass am siebten Bushäuschen, gleich neben der Milchkanne, endlich die beste Freundin einstieg. So war es im Winter. Im Sommer nahm ich das Fahrrad und den Weg durch die Felder.

Ja, meine Schulzeit war okay und verlief ohne größere Vorkommnisse. 13 Jahre lang. Ich kam zurecht mit dem System Schule. Ich kapierte, wie die Lehrer tickten und was sie von uns wollten. Und das Lernen fiel mir relativ leicht. Ich konnte die Erfahrung machen: Wenn ich mich reinhänge, trägt es Früchte. Und wenn nicht: Dann brauche ich Glück, damit was Gutes rauskommt. Am Ende, im Abi, hängte ich mich rein UND hatte Glück. Es kam was Gutes raus.

Und trotzdem: An diesem Tag im Frühsommer war ich froh und erleichtert, dass es vorbei war. Denn auch für gute Schülerinnen wie mich war Schule nicht angstfrei. Schließlich hatte ich ständig was zu verlieren. Und die guten Noten waren Teil eines Selbstkonzepts, das viel mit Leistung und mit Lernen zu tun hatte. Den Abschluss geschafft zu haben bedeutete für mich auch: Nie wieder bei der Rückgabe von Klassenarbeiten Lehrersätze hören zu müssen wie: »Ich bin enttäuscht von euch, so kommt ihr nie durchs Abi!«

Nie wieder diese Angst beim Einschlafen, dass ich beim Lernpoker aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Und dass mich am nächsten Tag ausgerechnet der Lehrer drannehmen würde, gegen dessen Fach ich mich am Vortag entschieden hatte, weil ich lieber noch zum Schwimmtraining wollte. Oder dass ich mich bei der Prüfung einfach nicht mehr erinnern konnte, was genau mit den ketogenen Aminosäuren im Zitronensäurezyklus passierte.

Nie wieder Elternsprechtag! Nie wieder Bundesjugendspiele. Nie wieder Klassensprecherwahl und das blöde Gefühl beim Auszählen der Stimmen.

Nie wieder Schule!

Ach, ich hatte ja keine Ahnung.

Grundschuljahre

Vom Ernst des Lebens, der keinen Spaß verstand

Im September 2006 – ich lebte inzwischen in München und hatte Mann und zwei Kinder: Greta und Ida1 – wurde ich ein zweites Mal eingeschult. Und zwar zusammen mit meiner großen Tochter Greta, die damals gerade sechs Jahre alt geworden war.

Ich wollte das nicht. Ich hatte nicht vor, noch mal zur Schule zu gehen. Ich fand: Schule ist Kinder- und Lehrersache. Und Grundschule sowieso. Da sollen die Eltern sich nicht ständig einmischen. Das schaffen die Kinder auch allein.

Und dieser ganze Förderzirkus war sowieso nicht meins. Ich hatte schon zur Kindergartenzeit nicht zu denen gehört, die ihre Kinder überallhin kutschierten. Und schon gar nicht würde ich meine Töchter mit dem SUV zur Schule fahren und ihnen den Ranzen und das Pausenbrot hinterhertragen.

Nein, ich würde auch nicht den Personal Trainer für meine Kinder machen und um sie rumhelikoptern. Schließlich hatte ich nicht nur Kinder, sondern auch einen Beruf, und um den irgendwie mit der Familie vereinbaren zu können, hatte ich Anfang der Nullerjahre richtig kämpfen müssen. Denn damals gab es weder bezahlte Elternzeit noch Kitaausbau.

Was mir Mut machte, war die Tatsache, dass ich Mädchen hatte. Das schien – zumindest was die Schule anging – ein klarer Startvorteil. Mädchen, so hörte ich überall, kämen von Anfang an in der Schule besser klar: weil sie besser still sitzen und fokussierter arbeiten könnten, sich sprachlich oft differenzierter ausdrückten, feinmotorisch geübter und meistens auch angepasster seien. Das wiederum gefalle vor allem den weiblichen Lehrkräften, die ja in der Grundschule die große Mehrheit des Kollegiums ausmachten.

Ja, ich war überzeugt: Das läuft bei uns!

Doch schon im letzten Kindergartenjahr dämmerte es mir: Ich war auf dem Holzweg. Und die Lage war ernster, als ich es wahrhaben wollte: »Geht ihr normal – oder macht ihr was Privates?«, wurde ich beim Schultütenbasteln gefragt. Und während ich für Gretas Schultüte ein paar Deko-Schmetterlinge ausschnitt, überlegte ich, was damit wohl genau gemeint war.

Dann ahnte ich: Die Frage zielte auf die Schulwahl. Und die unausgesprochene Botschaft zwischen den Zeilen hieß: »Normal ist 2006 nicht mehr normal. Wenn du dein Kind einfach in der Grundschule um die Ecke einschulst, machst du es dir schlicht zu einfach. Es gibt schließlich noch Montessori und Waldorf und die Reformpädagogen, und du weißt ja, da kommen andere Menschen raus, bessere …!«

Es gibt, so erfuhr ich weiter beim Basteltag, auch die zweisprachige Privatschule. (Die unausgesprochene Botschaft: »Englisch ist heute so wichtig, und in der ersten Klasse sind noch alle Lernfenster offen. Da haben sie später im Beruf gleich einen Vorsprung.«) Und, achja, die Grundschule im Stadtviertel nebenan soll auch viel besser sein als die aus dem eigenen Sprengel … (Die unausgesprochene Botschaft: »Die haben eine sehr nette Schulleitung und nicht so viele Kinder aus schwierigen Verhältnissen – aber das darf man ja nicht laut sagen.«)

»Aber kommt man da nicht nur hin, wenn man da wohnt?«, fragte ich.

Die ausgesprochene Botschaft der Bastelmutter neben mir, die schon ein Kind in der Schule hatte:

»Musst du halt deinen Wohnsitz ummelden!«

»???«

»Na, pro forma bei einer Freundin einziehen.«

»Das ist aber ein ganz schöner Aufwand und außerdem geschummelt.«

»Das wär mir mein Kind aber wert.«

BÄMM! Und schon war es da, das schlechte Gewissen. Ich hatte doch tatsächlich gedacht, ich melde mein Kind einfach in der Grundschule um die Ecke an.

»Klar machen wir das«, sagte der Kindsvater, selbst eher pragmatisch veranlagt. »Ist doch bloß die Grundschule, muss man doch nicht so einen Bohei drum machen. Außerdem: Wenn die ganz woanders zur Schule gehen, können die sich ja nachmittags gar nicht verabreden oder müssen immer irgendwo hinkutschiert werden.« Ich dankte ihm für diese klaren Worte. Und wir beschlossen: Unser Kind geht normal.

Wir beschlossen außerdem: Es war auch normal, dass Greta vor der Schule noch nicht lesen konnte. Und wir würden das vorher auch nicht extra mit ihr üben. Trotzdem verunsicherten mich die Berichte anderer Eltern: »Neulich sitzen wir so am Tisch, und da guckt mein Kleiner ganz versonnen auf die Wasserflasche und sagt dann plötzlich: Vi-ta-quell. Einfach so. Also, ich hab ihm das nicht beigebracht …«

Unsere Tochter konnte das vor der Schule nicht. Sie sagte weder »Vitaquell«, wenn sie auf eine Wasserflasche schaute, noch »natürliches Mineralwasser mit Kohlensäure«. Unser Kind sagte: »Ich hab Durst!« Es schraubte selbstständig den Deckel ab und zielte ins Glas. Greta konnte auf Litfaßsäulen auch schon große Gs erkennen – wie bei »Greta«. Und große Ws wie in »Willers«. Aber reichte das für die erste Klasse? War sie wirklich ganz normal?

Nein, ich mochte dieses Vergleichen nicht. Und doch fing ich schon damit an, noch bevor das Kind überhaupt in der Schule war.

Am 13. September begann er dann offiziell: der Ernst des Lebens. Die Schule ging los. Zusammen mit über 100 anderen Erstklässlern wurde unser Kind in der Grundschule um die Ecke eingeschult. Es war eine Grundschule mit einem ziemlich großen Einzugsgebiet. Die Zweitklässler sangen für die Erstklässler in der Turnhalle ein Lied mit zweifelhaftem Inhalt: »Alle Kinder lernen lesen, Indianer und Chinesen …«

Es war laut.

Es war aufregend.

Nur ein Kind weinte: Greta.

Wenn Oma am Lamm ist – und kein Wort das andere ergibt

Vielleicht ist es das bayerische Schulsystem, vielleicht hatten meine Kinder auch besonders ambitionierte Erstklasslehrer, vielleicht hatten die Mütter im Kindergarten doch recht gehabt mit ihrer vorschulischen Leseförderung – auf jeden Fall war die Botschaft bei beiden Kindern: »Bis Weihnachten müssen die einigermaßen lesen können. Und deshalb müssen Sie üben, üben, üben. Jeden Tag mindestens 15 Minuten, besser mehr«, hieß es am ersten Elternabend.

Mit »Sie« war ich gemeint. Oder der Kindsvater. Oder die Omas und Opas. Da unsere Großeltern Hunderte von Kilometern entfernt lebten und der Kindsvater am anderen Ende der Stadt Vollzeit arbeitete, blieb nur ich übrig. Denn ich hatte meine Stunden in der Redaktion wegen der Kinder reduziert (der Kindsvater dementiert an dieser Stelle und behauptet, er habe auch sehr viel mit den Kindern gelesen, vor allem habe er sehr viel vorgelesen, was nur eins bedeuten kann: Unser Lesepensum muss sehr intensiv gewesen sein).

Letzteres war auch nötig, denn bis Weihnachten war nicht viel Zeit. Ich versuchte damals auch, mich daran zu erinnern, wann ich selbst lesen gelernt hatte. Ich glaube, ich konnte es erst irgendwann um Pfingsten – was aus bayerischer Sicht kein Wunder ist, denn in Bayern gelten Menschen, die in nördlichen Bundesländern zur Schule gegangen sind, gerne mal als arme Würstchen mit Spar-Abitur.

Als meine Töchter in die Grundschule gingen, gab es für Leseanfänger Arbeitsblätter und -bücher mit »Mimi, die Lesemaus«. Bis heute habe ich eine gewisse Hochachtung vor den Leuten, die sich die Erstklassmaterialien ausdenken. Ich meine, das muss man erst mal hinkriegen: Lesesätze kreieren, wenn man dafür nur das A, das I und eine Handvoll weiterer Laute zur Verfügung hat. Die Macher der Erstklasslesebücher schienen da allerdings völlig schmerzbefreit und dichteten Sätze von schlichter Schönheit: Mimi malt lila Marias. Backmeister Bimbam backt braune Brezn. Oma ist am Lamm. Ali ist am Ast.

Mal abgesehen davon, dass es mir oft schwerfiel, bei dieser Lektüre konzentriert zu bleiben und nicht nebenher die Spülmaschine auszuräumen oder wenigstens die Post durchzusehen, war ich immer froh, wenn die Kinder keine weiteren Fragen stellten. Ich wäre relativ ratlos gewesen, wenn sie gefragt hätten, was es bedeutet, dass Ali am Ast ist. Hat der Mann Selbstmordabsichten? Handelt es sich um einen Waldarbeiter mit Migrationshintergrund? Und warum ist Oma am Lamm? Zum Streicheln. Zum Kochen. Oder muss sie ihre Rente aufbessern und arbeitet stundenweise in der Frischfleischabteilung?

Fakt war: Wir übten. Und ich versuchte dabei möglichst wenig vorzusagen. Doch anscheinend war das nicht genug. Im Mitteilungsheft stand regelmäßig: Greta liest die neuen Wörter zu stockend und zu ungenau und muss mehr üben.

Und in den Schreibheften, die ich wegen der lustigen Verballhornungen jahrelang aufgehoben hatte, gab es neben dem »Furzelgemüse« Kommentare in roter Korrekturschrift: Wurzelgemüse! Greta, übe den Unterschied zwischen dem weichen W und dem scharfen F. Oder: Bitte die Merkwörter noch mal ordentlich abschreiben. Oder: Greta, gib Acht beim G: Das Schwänzchen muss nach unten in den Keller.

Echt Comedy: Die ersten Schreibhefte!

Die ersten Schreibhefte sorgen zuverlässig für Aufheiterung, wenn man als Mutter oder Vater gerade mal wieder vom Schulfrust gebeutelt wird. Vor allem die ersten Aufsatzhefte werden Jahre später zu einem wunderbaren Zeitdokument und erzählen ungeschminkt von allem, was beim Familientisch – oder auch jenseits davon – so zur Sprache kam.

Das »Furzelgemüse« ist bis heute eines meiner Highlights. Ein anderes war die Geschichte vom »Penisschlitten«. So schrieb Greta in einer ihrer ersten Geschichten Folgendes:

Am Wochnende waren wir bei Bea und Peter auf dem Bauanhof. Es war Schneeh. Unt wir furn mit dem Penisschlitten den berk runter. Das hat viel Schpaaz gemacht …

Die Lehrerin hatte alle orthografischen Fehler angestrichen. Den »Penisschlitten« hatte sie rot unterkringelt und dahinter zwei dicke Fragezeichen gemacht. Und ein Ausrufezeichen. Was das alles zu bedeuten hatte?

Es handelte sich um den Versuch einer Siebenjährigen, ein politisch korrektes Schriftstück abzuliefern. Unser Freund Peter hatte nämlich beim Schlittenfahren unterschieden zwischen richtigen Kufenschlitten aus Holz und billigen Plastikrutschern. Weil Letztere in der Mitte eine Festhaltevorrichtung hatten, die in gewisser Weise an – ja, genau! – erinnerte, nannte er sie »Pimmelschlitten«. Aber unser Kind befand, dass ein vulgäres Wort wie »Pimmel« in so einem hochoffiziellen Aufsatzdokument nichts zu suchen hatte. Und so wurde aus dem »Pimmelschlitten« der »Penisschlitten«.

Damals war ich einigermaßen erleichtert, dass die Lehrerin nur zwei Fragezeichen und ein Ausrufezeichen gemacht hatte. Und mich nicht gleich zum Gespräch bat. Oder das Jugendamt vorbeischickte. Und ich war auch froh, dass wir damals keinen Opa hatten, der im Garten Marihuana anpflanzte. Das ist nämlich auch ein sehr schönes Aufsatzthema, wie eine Freundin feststellen musste. Anders als ich, bekam sie dann allerdings einen unangenehmen Anruf.

Doch, Greta gab sich Mühe. Mit den furzeligen Merkwörtern und mit dem G. Auch mit dem A und dem B und dem C. »Ja«, sagte die Lehrerin, »das glaube ich Ihnen sofort, sie will alles richtig machen, das merke ich. Aber ich muss von Anfang an streng sein. Die Kinder müssen lernen, sich an die Regeln zu halten. Sonst schaffen wir den Stoff nicht.«

Irgendwie konnte ich sie verstehen: Sie hatte 26 Kinder, ein wilder, lauter Hühnerhaufen, viele Kinder mit Migrationshintergrund, also mit Eltern, deren Muttersprache nicht Deutsch war und die nicht einfach helfen konnten, wenn es um Wie- und Tunwörter ging. Auf der anderen Seite: Diese Strenge und dieses Gewusel war ein krasser Bruch zur behüteten Kindergartenzeit, starker Tobak für zartbesaitete Kinder, die wie Greta in der Schule gerne mal in Tränen ausbrachen. Und für ihre Mütter, die dann einfach nicht anders konnten, als sich schützend vor sie zu werfen.

Wegen der Tränen. Und wegen anfliegender Kugeln.

So erzählte mir eine Freundin, deren Sohn letztes Jahr im Baden-Württembergischen eingeschult worden war, er hätte nicht nur nach drei Monaten keine Lust mehr auf Schule, sondern auch jeden Morgen Angst vorm Hausaufgabensheriff.

»Hausaufgabensheriff?«

Ja, das sei ein Blatt, von dem jedes Mal eine Ecke abgeschnitten werde, wenn man die Hausaufgaben vergessen oder nicht vorschriftsmäßig gemacht habe. Und wenn alle Ecken weg seien, werde es – schnippschnapp – in der Mitte durchgeschnitten. »Und dann wird scharf geschossen?«, fragte ich. »Nee, man muss nachsitzen …«

Muss das sein? In der ersten Klasse? Im 21. Jahrhundert? Das fragt sich da die Mutter. Und bleibt ziemlich allein mit dem Problem, wie man so einen Eckensheriff zur Räson bringen kann und das Kind am nächsten Tag in die Schule.

Nachtrag:

Wenn dieses Buch erscheint, wird der Eckensheriff meiner baden-württembergischen Freundin Geschichte sein. Kürzlich erzählte sie mir, die Eltern hätten sich so aufgeregt über den pädagogischen Fiesling, dass die Lehrerin ihn aus dem Verkehr gezogen hat. Manchmal hilft Protest eben doch!

Ihr Kind ist überfordert. Gehen Sie doch mal zum Schulpsychologen

Irgendwann waren wir im zweiten Halbjahr der zweiten Klasse angekommen. Und ja, das »Wir« habe ich jetzt mit Absicht hingeschrieben. Denn nicht nur Greta war in der zweiten Klasse, auch ich hatte meinen Hilfslehrerinnenauftrag zu diesem Zeitpunkt bereits so verinnerlicht, dass ich jeden Tag nach der Arbeit mit meinem Kind übte und die Hausaufgaben kontrollierte.

Greta war nicht mal zwei Jahre in der Schule, aber von der Motivation und Begeisterung, mit der sie mal den Schulranzen und das Federmäppchen ausgesucht hatte, war nicht mehr so richtig viel zu spüren. Stattdessen waren da Verunsicherung und Angst. Immerhin – mit dem Lesen und Schreiben klappte es inzwischen einigermaßen: »Ihre Tochter ist überall, na ja, sagen wir mal Durchschnitt«, sagte die Lehrerin im Elterngespräch. »In Mathe habe ich allerdings manchmal das Gefühl, sie weiß gar nicht, wovon ich spreche.«

Zwar kriegten die Kinder damals bis zum Zwischenzeugnis der zweiten Klasse noch keine Noten, aber so viel verstand ich: »Na ja, sagen wir mal Durchschnitt« war höchstens eine Drei. Eigentlich nicht schlecht, aber eine Drei in den drei Hauptfächern bedeutet im bayerischen Schulsystem: Hauptschule. Und Hauptschule – fand ich damals – ging gar nicht. Schließlich kriegten Hauptschüler später keine ordentlichen Jobs. Sie sagten ständig »Ey, Alter« und konnten nicht richtig Deutsch. Und überhaupt: Lungerten die nicht schon mit 14 kiffend und ganzkörpertätowiert in irgendwelchen Ecken rum …?

Oh ja, ich hatte Vorurteile!

»Jetzt hör mal auf mit deiner Panikmacherei. Und gib unserem Kind ein bisschen Zeit. Lass sie mal in Ruhe«, sagte der Mann, »das wird schon noch. Die ist doch schlau.« »Ja«, sagte ich, »sie ist schlau. Aber sie passt offenbar nicht in dieses Schulsystem.« Dann stritten wir uns ein bisschen, und ich war darüber unglücklich.

Ich wusste, dass der Mann nicht unrecht hatte. Aber Greta war erst in der zweiten Klasse, und irgendwie lief es nicht rund. Sie weinte viel. Sie schlief schlecht. Und ich war mir ziemlich sicher: Die in der Schule warteten nicht auf unser Kind.

»Vielleicht«, dachte ich, »wäre es besser gewesen, sie ein Jahr später einzuschulen. Schließlich war sie im Juli geboren und verglichen mit den meisten anderen noch ziemlich jung.« Aber das ließ sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. Und so saßen wir am nächsten Tag wieder da und übten das mit den Minusaufgaben:

»Wenn ich für deinen Geburtstag eine Schachtel mit zwölf Mohrenköpfen kaufe, du lädst sechs Kinder und deine Schwester Ida ein. Und dann isst jeder einen Mohrenkopf und du zwei – weil du Geburtstag hast. Wie viele sind dann noch in der Schachtel?«

»Null«, sagte das Kind. »Wieso null?« »Weil Ida es nicht abwarten kann und schon vorher die halbe Schachtel leer macht. Und außerdem darf man nicht ›Mohrenkopf‹ sagen. Das ist beleidigend für die Leute in Afrika, sagt unsere Lehrerin. Es heißt Schaumkuss.« Schlau, dachte ich, aber mathematisch zweifelhaft. Und dann schämte ich mich ein bisschen für meine unbedachte Wortwahl.

Ich besorgte mir einen Abakus. Und einen LÜK-Kasten. Wir schoben Kügelchen hin und her. Und Plättchen. So richtig viel nützte das nicht.

»Sie hat Probleme mit dem Zehnerübergang. Und sie rechnet immer noch mit den Fingern. Das sollte sie jetzt nicht mehr«, sagte die Lehrerin. Und eine Freundin, der ich davon erzählte, meinte, dass es sich möglicherweise um eine leichte Form von Dyskalkulie handeln könnte. »Dyskalku… was?« »Rechenschwäche. So was wie Legasthenie – nur mit Zahlen. Kann man testen. Und je früher man das behandelt, umso besser.«

Wundersamerweise war das »Mathematische Institut zur Behandlung der Rechenschwäche« gar nicht weit von uns weg. Komisch, dass es mir nie aufgefallen war. Wir machten einen Termin. Die Frau, die Greta testete, war sehr warmherzig und sehr nett. Unser Kind gab sein Bestes. Und schon kurz darauf kriegten wir das Ergebnis: »Greta«, sagte die nette Frau, »du kannst das schon ziemlich gut. Und du hast garantiert keine Dyskalkulie.« Greta strahlte.

Doch in der nächsten Woche konnte sie wieder nicht einschlafen. Und weinte. »Vielleicht ist sie irgendwie anders überfordert. Gehen Sie doch mal zum Schulpsychologen«, sagte eine von Gretas Lehrerinnen bei einem Tür- und Angelgespräch und schob mir Namen und Telefonnummer rüber. Ich machte einen Termin. Und die Schulpsychologin sagte zwei Wochen später: »Am besten ist, Sie lassen sie testen.« »Wie, kann man noch mehr testen?«, fragte ich. »Na, Sie machen einen Intelligenztest. Dann wissen wir, ob sie was hat.« Wie klang denn das: »Ob sie was hat …«? Was sollte sie denn haben?

Das Wort »Intelligenztest« hatte für mich etwas Bedrohliches: Ich stellte mir vor, dass am Ende Zahlen und Werte stehen würden, die mein Kind ein für alle Mal als schlau, durchschnittlich, nicht so schlau abstempeln würden. Anders ausgedrückt: Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Förderschule. Schublade zu.

Ich war mir nicht sicher, ob ich das wissen wollte. Bis zur Einschulung hatte mir mein Mutterbauchgefühl gesagt: Du hast ein ganz wunderbares, liebenswürdiges, normal begabtes Kind. Ein Kind, das vielleicht nicht superduper gut ist im Malen und die Straßenseite wechselt, wenn ein Hund kommt – aber dafür empathisch, hilfsbereit und zuverlässig. Ein Kind, das originelle Ideen hat, sich reinhängt und mit Ausdauer dabeibleibt. Ein Kind, das sprachlich und sozial fit ist, neugierig, aber auch sehr ängstlich und harmoniebedürftig.

Trotzdem machten wir den Test.

Zur Durchführung musste Greta zwei Tage lang in eine Schulberatungsstelle gehen, zu Frau T. Ich erinnere mich, dass es irgendwann im März war und dass Greta auch davor Angst hatte. Wohl um die Situation zu entschärfen, schlug sie vor, wir sollten Frau T. was mitbringen – ein selbst gebackenes Osterlamm zum Beispiel. »Na gut, kann ja nicht schaden«, dachte ich.

Doch leider bleiben IQ