Gelato, Grazie, Mord! - Hermann Ehmann - E-Book
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Gelato, Grazie, Mord! E-Book

Hermann Ehmann

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Beschreibung

Hochsommer an der Adria. Sieben Schönheiten strahlen auf dem Laufsteg, um den prestigeträchtigen Titel der »Miss Adria-Beach« und eine Rolle in einem Kinofilm zu ergattern. Doch kurz vor dem Finale wird Miss Bibione leblos im Pinienwald gefunden. Hat eine Konkurrentin der bezaubernden Beauty Giftpilze in die Tagliatelle gemischt? Als wenig später der exzentrische Fotograf der Misswahl ungebremst gegen einen Brückenpfeiler rast, ermittelt die Polizistin Isabelle Martin undercover als Escortgirl - was sie dabei entdeckt, übertrifft ihre kühnsten Vorstellungen.

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Seitenzahl: 285

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hermann Ehmann

Gelato, Grazie, Mord!

Italien-Krimi

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Angelika / Pixabay; allasimacheva / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3290-8

Zitat

Das Glück ist ein warmer Sonnenstrahl, das ist das Glück.

Ist ein Glas Wein mit einem Stück Brot, das ist das Glück.

Das Glück ist ein Strand bei Nacht, die heranwogende Welle, das ist das Glück.

Ist das Warten auf die Dämmerung, und das Radio, das spielt.

Das Glück ist, sich an der Hand zu halten.

Nördliche italienische Adria

Prolog

Am 28. Juli 2018 war in der norditalienischen Zeitung Il Gazzettino Veneziano folgender Artikel zu lesen:

Nachspiel zu Miss Adria-Beach 2018

Die amtierende Miss Bibione-Beach, Loredana R., erhebt nachträglich MeToo-Vorwürfe gegen die Produktionsfirma des kürzlich beendeten Miss Adria-Beach-Contests sowie gegen einen Modejournalisten am Set. Demnach seien mehrere Teilnehmerinnen unter Alkoholeinfluss Opfer sexueller Belästigung geworden. Zudem sei zeitweise psychischer Druck auf Jungmodels ausgeübt worden. Miss Bibione-Beach, die im Gesamt-Adria-Finale den dritten Platz belegte, will den Ausrichter High-and-Hot-Model-Agency auf Schadenersatz verklagen. Andere Teilnehmerinnen bestätigten die Vorwürfe bislang nicht.

Laut dem Pressesprecher der Polizia di Stato Latisana förderten polizeiliche Ermittlungen keine belastbaren Ergebnisse hinsichtlich der geschilderten Vorkommnisse zutage, sodass Pubblico Ministero mangels hinreichendem Anfangsverdacht aktuell kein Verfahren eröffnen wird (Stand: 28.08.2018).

*

Update vom 20. September 2018:

Vor Kurzem berichteten wir über Vorwürfe von Miss Bibione-Beach zu einer angeblichen MeToo-Belästigung beim diesjährigen Miss Adria-Contest. Wie uns die Produktionsagentur des Ausrichters mitteilte, wurden die Anschuldigungen inzwischen zurückgezogen – es fanden sich keine Zeugen, die die Vorwürfe bestätigen wollten. Darüber hinaus wurde Loredana R. der Titel Miss Bibione-Beach nachträglich aberkannt, nachdem Nacktaufnahmen und Belege über Kokainkonsum aufgetaucht waren; beides sind klare Verstöße gegen das Reglement. Gegenüber unserer Zeitung war Loredana R. zu keiner Stellungnahme bereit.

*

Neuerliches Update, Oktober 2019:

Wie unsere Zeitung erfuhr, hat sich Loredana R., die letztes Jahr als Miss Bibione-Beach 2018 für unrühmliche Schlagzeilen sorgte, vor wenigen Tagen das Leben genommen. Die Tote hatte nach unseren Informationen seit Längerem ein Drogenproblem und litt unter Depressionen.

Loredana R. hatte letztes Jahr erstmals in der Geschichte des traditionsreichen Miss Adria-Beach-Wettbewerbs für einen handfesten Skandal gesorgt, indem sie MeToo-Vorwürfe gegen mehrere Setmitglieder erhob – zwar zog sie die Anschuldigungen wieder zurück, jedoch wurde ihr der Titel Miss Bibione-Beach wegen gravierender Verstöße gegen das Reglement nachträglich aberkannt.

1

Fünf Jahre später – Juli 2024, San Michele al Tagliamento, Stadtteil Bibione

Die heiße Luft flirrte über dem goldgelben Sandstrand der Adria. Die Weißkopfmöwen, die vormittags in Schwärmen auf Nahrungssuche über dem Wasser gekreist waren, dösten nun im schattigen Pinienhain zwischen der malerisch gelegenen Strandkapelle und dem ehemaligen Hippie-Hotel Tiki. Nur wenige segelten unermüdlich am Horizont und ließen sich von der leichten Brise über die Wellen tragen.

Laura De Santis fuhr wie fast jeden Mittag nach ihrer Pilates-Einheit mit dem Mountainbike auf dem schmalen Verbindungsweg zwischen Bibione Pineda und Lido del Sole. Rechter Hand schimmerte das Meer im nachmittäglichen Sonnenlicht wie Lapislazuli, links wechselten sich in unregelmäßigen Abständen Touristenhotels, Pinienhaine und Campingplätze ab. Der Duft von Salzwasser und Sonnencreme lag in der Luft.

Die Hitze machte der 19-Jährigen zu schaffen, die digitale Temperatursäule am Shany Discobeach des pulsierenden Küstenortes Bibione zeigte unerbittliche 37 Grad. Schweißtropfen perlten über ihr pechschwarzes glattes Haar, das sie schulterlang trug. Anders als die meisten Freizeitsportlerinnen behielt sie es grundsätzlich offen, geradezu zärtlich umschmeichelte es ihre Schulterblätter, klebte an der samtigen Haut. Das eng anliegende knallrote Crop Top, das perfekt mit ihren Fingernägeln und der sonnengebräunten Haut harmonierte und neugierige Blicke auf ihr Bauchnabelpiercing gestattete, war schweißdurchtränkt.

Auf dem Fahrrad war sie allein mit sich selbst, hier konnte sie abschalten. Dem allgegenwärtigen Fotografen- und Medientrubel entfliehen. Weit weg vom Gewühl der Großfamilien, die zu Tausenden mit Gummischwimmtieren und Schlauchbooten jeden Quadratmeter dieses bezaubernden Küstenabschnittes mit seinen breiten Sandstränden bevölkerten. Vor allem auch weit weg von den Vorbereitungen zum Miss Adria-Beach-Finale, das in einer Woche in Lido di Jesolo stattfinden sollte. Seit Laura den regionalen Vorentscheid deutlich gegen sieben attraktive Mitbewerberinnen aus der Region gewonnen hatte, war Miss Bibione-Beach 2024 – so ihr offizieller Titel – für die Endausscheidung zuversichtlich. In einschlägigen Social-Media-Channels wurde sie als Topfavoritin gehandelt. Ihre Follower leisteten ganze Arbeit und likten die Naturschönheit in den Internethimmel.

Als sie die viel befahrene Via Orsa Maggiore überquert hatte, verlangsamte sie ihr Tempo. Irgendetwas war seit gestern Abend anders. In ihrem muskulösen Oberbauch rumorte es bedrohlich, das war keineswegs nur der Aufregung der letzten Tagen oder der Nervosität vor den kommenden Tagen geschuldet. Die Magennerven fühlten sich ungewohnt an, mau und flau im Wechsel. Die Abstände zwischen den Extremen wurden immer kürzer. Jetzt kamen auch noch kolikartige Krämpfe hinzu, die sie zwangen, stehen zu bleiben und abzusteigen. Sie lehnte ihr Bike an eine Pinie und versuchte, ruhig zu atmen.

Letzte Nacht hatte es angefangen, recht bald nach dem Abendessen. Tagliatelle Emiliana. Selbst gekocht. Wie schon oft zuvor. Zum Frühstück eine Brioche, Biscotti Nocciolata, eine Avocado mit Joghurt und Walnüssen, zwei Plastikbecher Espresso. Zum Wachwerden. Danach war ihr schwindelig geworden, was sich jedoch wieder besserte. Doch die Attacken kamen zurück, wurden stärker. In immer kürzeren Abständen. Einmal hatte sie das Gefühl, kurzzeitig komplett weggetreten zu sein.

Hoffentlich kein Virusinfekt!, durchzuckte es sie. Bloß das nicht! Waren die Champignons verdorben gewesen? War die Brioche verschimmelt? In den nächsten Tagen durfte sie auf keinen Fall ausfallen. Das kommende Wochenende würde fraglos das wichtigste ihres bisherigen Lebens werden.

Vermutlich habe ich mir zu viel zugemutet!, mutmaßte sie. Ja, ganz sicher sogar. In den letzten Wochen hatte ein Assessment das andere gejagt: Fotografensessions, Body-Art-Stylings, Catwalk-Schaulaufen in verschiedenen Outfits, Vorausscheidungen.

Mit einem Mal wurde ihr milchig-weiß vor den Augen. Die Umrisse begannen bizarr zu verschwimmen, die Farben zitterten in Lichtblitzen. Eigenartig war, dass sie den Geräuschpegel von der Straße nur noch gedämpft wahrnahm, als wäre sie in Watte gepackt. Alles um sie herum war gespenstisch still.

Ihre feingliedrigen Finger suchten Halt an der Pinie. Zitternd klammerte sie sich am Stamm fest. Sie torkelte. Tiefes Durchatmen.

Zu wenig getrunken. Klarer Fall von Dehydrierung. Die Füße begannen zu kribbeln. Zuerst die Zehen, dann die Waden. Innerhalb weniger Minuten wanderte das Gefühl die Beine nach oben. Verwandelte sich nach und nach in eine Gefühllosigkeit der unteren Extremitäten.

Was zum Teufel ist da los?!, überlegte sie wütend und ängstlich zugleich. So was hatte sie noch nie gehabt …

Eine hitzebedingte Kreislaufschwäche? Eine stressbedingte Hormonattacke?

Das kannte sie von früher. Normalerweise legte sich das innerhalb weniger Minuten wieder.

Doch jetzt auch noch Stiche in Bauch und Brust. Heftige Stiche. Hey!

Bitte, nein!!!

Angst stieg in ihr auf. Riesenangst. Zittern am ganzen Leib. Ein vernichtender Ganzkörperschmerz. »Mein Gott, hier dauert es doch ewig, bis mich jemand findet, wenn …«, wisperte sie, »wenn ich jetzt …«

Nein, das waren keine psychobedingten Ausfälle! Das war … Lebensgefahr. Kein Zweifel!

»Hilfe!«, wollte sie laut rufen. »Hil-fe!« – Doch sie brachte nur ein gurgelndes Hauchen zustande.

Die Lähmungserscheinungen setzten sich nach oben hin fort. Die Hände versagten, rutschten den knorrigen Stamm Zentimeter um Zentimeter hinab, gehorchten dem Gehirn nicht mehr. Sie setzte sich auf die Erde.

Mein Gott, eine Vergiftung!, schoss es ihr durch den Kopf. Sicher diese Pilze, die sie selbst gesammelt hatten! Womöglich Giftpilze – war sie reingelegt worden? Hektisch blickte sie sich nach allen Seiten um. Irgendwo musste doch eine Menschenseele herumlaufen, die sie auf ihre Notlage aufmerksam machen konnte! Leere.

Ich muss rüber in Richtung Strand! Dort sind massenhaft Sonnenanbeter … da bekomme ich schnell Hilfe … rüber an den …

Sie rappelte sich auf, torkelte in Richtung Rad. Weit kam sie nicht. Sie fiel hin. Rappelte sich auf. Wieder ein paar Meter. Sie fiel erneut hin. Weiterrobben. Auf allen vieren. Röcheln. Einatmen gegen einen Widerstand, der immer stärker wurde. Ein Asthmaanfall?Spi-ag-ga …

Nach und nach verließ ihr Bewusstsein den Körper, schwebte über der Erde. Einen Meter, dann zwei. Sie sah ihren Körper unten liegen, eigenartig zucken. Seltsamerweise war da kein Schmerz mehr, alles fühlte sich ganz leicht an. Mit einem Mal war da so ein weißlicher Schleier, der zunehmend dichter wurde, bis er sich zu einer undurchdringlichen hellen Nebelwand verfestigte, durch die sie nicht hindurchzusehen vermochte. Am Horizont nahm sie ein gleißendes Licht wahr, welches sie wie ein starker Magnet unaufhaltsam anzog.

2

Achteinhalb Stunden Autofahrt bei sengender Hitze und kilometerlangem Stop-and-Go lagen hinter ihr. Isabelle Martin war erschöpft, doch hatte sie ihr Ziel jetzt fast erreicht. Noch ein paar Minuten, dann war es geschafft. Wenn sie eines dringend nötig hatte, dann Erholung. Die letzten Arbeitswochen hatten ihr sowohl körperlich als auch psychisch einiges abverlangt. Wie jedes Jahr, wenn das Wetter besser wurde und es auf die wohlverdiente Sommerauszeit zuging, war bei ihrer Dienststelle, der KPI Starnberg-Fünfseenland, Hochbetrieb: Handtaschendiebstähle, Volksfestschlägereien, sexuelle Übergriffe am Seeufer, neuerdings sogar zwei Messerattacken – Letzteres hatte es noch nie gegeben und sie mentale Power gekostet.

Beim Kreisverkehr am Ortseingang, wo bunte Begonien neben der Trikoloreflagge »Buongiorno Bibione« verkündeten, bog die 35-jährige Kommissarin scharf nach rechts in Richtung Pineda ab. Die wenig befahrene Umgehungsstraße verlief jetzt schnurgerade parallel zur Strandlinie. Von hier aus waren es noch drei Kilometer bis zum beschaulicheren Ortsteil Pineda. Ein Schild »Control electrónico de velocidad« warnte vor fest installierten Geschwindigkeitsblitzern. Isabelle wäre jede Wette eingegangen, dass diese Dinger gar nicht existierten, sondern lediglich eine Abschreckungsfunktion für Raser haben sollten. Vorsorglich drosselte sie das Tempo und ließ beide Vorderfenster herunter, um den wohligen Durchzug der salzhaltigen Luft aufsaugen zu können. Lauthals sang sie ihre Urlaubsplaylist mit: »You’re free like the ocean, you’re deep like the sea.« Sie fühlte sich frei wie schon lange nicht mehr.

Vor etwas über einem Jahr hatte die aparte Halbfranzösin von ihrer verstorbenen Großtante einen halb verfallenen Ferienbungalow in Pineda geerbt. Da jahrelang keine Renovierungen durchgeführt worden waren, war die Villa Sophia in einem denkbar schlechten Zustand gewesen. Seit letztem Herbst bewohnte ihre engagierte italienische Kollegin und Busenfreundin Raffaela Conte das Anwesen – sie war als Commissaria bei der Polizia di Stato im 15 Kilometer entfernten Latisana angestellt. Letzten Sommer hatten sie sich bei einem verzwickten Kriminalfall um einen ermordeten Ferienimmobilien-Tycoon kennen- und schätzen gelernt. Aus anfänglicher Antipathie und nach diversen Anlaufschwierigkeiten hatte sich eine tolle Frauenfreundschaft entwickelt.

Vor der mit Strohmatten überdachten Garage an der Viale Sambuco 76 ließ Isabelle ihren zehn Jahre alten Renault Clio ausrollen. Kaum war sie ausgestiegen, trippelte auch schon Romeo, Elas elfjähriger Findelkater, dem ein Ohr fehlte, freudig maunzend auf sie zu. Nanu, warum hinkte das Tier?

Gemächlich schlenderte Raffaela Conte, die von allen Ela genannt wurde, barfuß hinter dem Leopardenverschnitt her, der vor Wiedersehensfreude kaum zu beruhigen war. Die elegante Italienerin war auch im Freizeitmodus stets perfekt gestylt, ihr Markenzeichen waren große Silbercreolen, die hervorragend zu ihrem dunklen Teint kontrastierten. In den Wintermonaten hatte sie viel Zeit, Mühe und Geld in den heruntergekommenen Bungalow investiert und ihn wieder in einen bewohnbaren, vor allem aber behaglichen Zustand versetzt. Im Gegenzug durfte sie mietfrei wohnen – so lautete ihr Freundschaftsdeal. Gleichzeitig hatte sie für ihre Ergänzungsprüfung in den Bayerischen Staatsdienst gebüffelt, denn ab September sollte sie die KPI Fünfseenland vor den Toren Münchens personell verstärken. Kommissariatsleiter Oberrat Baptist war überglücklich gewesen, seine seit Längerem vakante Planstelle mit der ebenso qualifizierten wie attraktiven Azzurra nachbesetzen zu können.

»Wie war die Fahrt?« Sie schlossen sich herzlich in die Arme.

»Kein Kommentar.« Isabelle dehnte ausgiebig ihre schmerzhaft verspannte Rückenmuskulatur und den steifen Nacken, der Kopf fühlte sich an wie in einem Schraubstock.

»Du siehst bezaubernd aus, Ela.«

»Grazie mille.« Ela wurde ein bisschen rot, fuhr sich durchs offene Haar. »Du aber auch, Isa.«

»Ach, gar nicht! Ich fühle mich wie dreimal durchgelutscht und ausgespuckt. Schon hinter Rosenheim fing der Stau an, am Grenzübergang Bad Reichenhall – Salzburg ging eine Stunde gar nichts, und vor dem Tauerntunnel war Blockabfertigung. Halb Bayern und ganz Österreich scheinen unterwegs zu sein, von den Holländern mit ihren Wohnwagen ganz zu schweigen. Und dann die vielen Baustellen mit nervigem Einspurverkehr. Dabei war noch nicht mal ein Unfall oder eine Panne.« Sie beugte sich hinunter zu Romeo. »Was ist denn mit dir, Samtpfötchen? Sind wir etwa verletzt?«

»Samtpfötchen … na ja. Unser Brummer von Kater hat sich auf einer seiner nächtlichen Sheriff-Streifentouren einen Stranddorn eingetreten.« Ela tätschelte dem Stubentiger die Ohren, sofort schmuste er sich an. »Das war eine Tortur, bis ich ihm das Ding mit der Pinzette entfernt hatte, er wollte mich partout nicht ranlassen. Danach hat sich die Wunde entzündet. Doktor Pavone meint aber, in ein paar Tagen ist er wieder fit. Ich mische ihm Antibiotikum ins Futter. Er soll sich schonen.«

»Na, dann gute Besserung.« Isabelle strich dem Tier zärtlich über den Rücken, woraufhin es von Ela abließ und mit seinem Stummelschwanz kosend an ihre Wade klopfte. »Und, wie läuft’s hier? Bist du schon in den letzten Zügen?«

»Mir fehlt nur noch eine mündliche Prüfung. Nach den Sommerferien mischen wir die oberbayerische Unterwelt gemeinsam auf, die Ganoven können sich warm anziehen. Allerdings …« Elas Gesichtsausdruck wechselte ins Geheimnisvolle, war mit einem Mal angespannt. Das kannte Isabelle so gar nicht an ihr, nervös knetete die Italienerin die Handknöchel. Was war da los?

»Komm auf die terrazza, ich habe verschiedene Gelato-Sorten gekauft und eine Torta della Nonna gebacken – venezianische Spezialität meiner Oma. Acqua minerale oder Aperol gibt’s gratis dazu für meine beste Freundin. Dann muss ich dir was Spannendes erzählen.«

»So geheimnisvoll?« Isabelle blinzelte skeptisch. »Ich hätte auch eine Neuigkeit für dich. Hat aber Zeit.«

Die Frauen setzten sich an den Pinienholztisch, wo Ela zwei Adria-blu-Platzsets eingedeckt hatte. Romeo steuerte zielsicher den seitlich angelegten Futterplatz an und genoss in Feinschmeckermanier sein Thunfischfilet. Anschließend leckte er sich lustvoll das Maul.

»Gelato pistacchio?«

»Grazie. Aber nur eine kleine Portion, ich will nicht gleich am Urlaubsanfang zunehmen.«

»Du hast eine tolle Figur, Isa.«

Isabelle verzog den Mund. »Soll auch so bleiben.«

»Also, was wolltest du mir erzählen?«

Isabelle nahm einen großen Löffel vom Kuchen und strich das Eis darüber. »Du zuerst.«

Ela goss ihnen zwei Prosecchi ein, doch Isabelle griff zur Aqua Lauretana-Glasflasche. Sie liebte das stille Dolomiten-Quellwasser mit dem leicht bitteren Geschmack, das sich perfekt zur Muskelentsäuerung eignete. Wie viele Liter brauchte sie nach der anstrengenden Fahrt wohl, um wieder in den basischen Bereich zu kommen? Sie sagte: »Alkohol schaffe ich jetzt nicht.«

»Si. Ist vermutlich besser, wenn wir nüchtern bleiben. Du kommst keine Sekunde zu früh, Isa.«

»Wie bitte?« Abrupt setzte Isabelle die Wasserflasche ab, fast hätte sie sich verschluckt. »Jetzt sag mir nicht, dass hier was Kriminelles ansteht – sonst mache ich einen Salto rückwärts! Letzten Monat haben wir am Starnberger See eine Nobel-Anwaltskanzlei als Kokainumschlagplatz ausgehoben. Danach hat uns eine Armada von Rechtsverdrehern die Bude eingerannt, das hat unheimlich Nerven gekostet. Vor allem Nachtschlaf, den ich dringend nachholen muss.«

Ela druckste herum. »Schon klar, du bist zum Relaxen hergekommen, das verstehe ich vollkommen.«

Isabelle saß mit einem Mal kerzengerade. »Raus mit der Sprache: Was geht hier ab?«

Die Commissaria zog an ihrem Strohhalm, sodass sich Lippenstift daran abzeichnete. »Ganz ehrlich, seit ein paar Stunden knabbere ich an meinem bislang kniffligsten Fall, einem mit öffentlichem Interesse.« Entschuldigend hob sie beide Hände. »Meine letzte Amtshandlung hier.«

Isabelle blies geräuschvoll Luft aus. »Oh-oh. Schimanskis letzter Fall! Das war’s dann wohl mit Spiaggia und Sunshine Reggae. Wer ist denn das Opfer?«

Ela grinste schief. »Sunshine Reggae passt sogar halbwegs.« Sie machte eine Kunstpause, ehe sie fortfuhr. »Unsere frisch gebackene Miss Bibione-Beach brach heute Mittag drüben in Lido del Sole zusammen. Einfach so. Atemstillstand beim Biken. Der ganze Ort ist in Schockstarre.«

»Krass. Miss Bibione-Beach?« Isabelle spürte, wie ihr ein Adrenalinschauer durch den Körper schoss, dabei war sie doch im Urlaubsmodus. Zumindest bis gerade eben.

Ela seufzte. »Aktuell läuft der Miss Adria-Beach-Contest – hast du die Plakate nicht gesehen? Ein Riesenevent, so ähnlich wie euer Germany’s Next Top Model, nur urlaubsmäßiger. Und weniger elitär von der Besetzung. Die Schöne hatte das Pech, dass sie nach ihrem Zusammenbruch lange im einsamen Pinienwald lag, bis sie gefunden wurde. Da war leider nichts mehr zu machen. Sie atmete nicht mehr.«

»Klingt dramatisch. Todesursache?«

»Unklar.«

»Wie wär’s mit Hitzestau? Bei diesen Mördertemperaturen an der sonnenverwöhnten Adria würde mich das nicht wundern.« Sie zupfte am Kragen ihrer Bluse, um sich Luft zuzufächeln. Sie musste dringend den BH loswerden, ihre Brüste waren schweißgebadet. Kurzerhand pfriemelte sie sich das Ding unter der Bluse weg, steckte es in ihre Handtasche.

»Das Croce Rossa hat uns alarmiert, das Opfer wies eben leider nicht die typischen Hitzschlagsymptome auf. Auch unsere Dottoressa geht von einer unnatürlichen Todesursache aus. Die Obduktion im Istituto Patologia di Venezia inklusive Toxikologie-Status ist angeleiert.«

»Hui, großes Programm. Da bin ich aber gespannt, ob jemand eine Runde Benzos oder Schlimmeres geworfen hat«, gab Isabelle zu bedenken. »Rein theoretisch könnte sie ja selber etwas genommen haben, um …«

»… sich das Leben zu nehmen? Wenige Tage vor ihrem größten Triumph?« Elas strahlende Mandelaugen verengten sich zu Schlitzen. »Nie und nimmer. Sie war Topfavoritin, gab zuletzt ein Interview nach dem anderen … und wirkte siegessicher. Genauso gut könnte hier gleich ein rosa Elefant vorbeilaufen und wie ein Löwe brüllen. Am Wochenende steigt in Lido di Jesolo das Mega-Finale, halb Italien sitzt da vor den Screens. Die hat sich definitiv nicht selber … Du kannst dir nicht ansatzweise vorstellen, was hier los ist! Mein Smartphone steht nicht mehr still, ich musste es ausschalten, der ständige Klingelton machte mich wahnsinnig.«

Isabelle nickte gedankenverloren. Ihr war klar, dass sie ihren Traum von Erholungsurlaub knicken konnte, sofern sie ihre Freundin und zukünftige Ermittlungspartnerin nicht im Stich lassen wollte. Stresshormone sorgten für Verspannung von den Beinmuskeln bis hinauf zum Scheitel. Die Nonna-Torte schmeckte ihr nicht mehr, sie legte die Gabel weg.

Ela riss sie aus den Gedanken: »Stimmt was nicht, Isa?«

»Passt. Ich muss nur erst mal ankommen. Hast du ein Bild da?«

»Ihre Set-Card.« Ela kramte in ihrer Handtasche. »Tolles Mädchen – zumindest optisch betrachtet. Schneewittchen, wie sie im Buche steht. Ansonsten bin ich total blank.«

Isabelle nahm das Leporello, drehte es nach allen Seiten. Laura von vorn, von hinten, als Porträt, als Ganzkörperaufnahme. Eine klassische Italo-Beauty-Queen: schulterlanges glattes Haar, braun gebrannt, anmutiger Gesichtsausdruck, ausdrucksstarke Augen, samtig-zarte Haut. Schwer vorstellbar, dass dieses Prachtgeschöpf für immer erloschen war.

»Erstklassige Aufnahmen. Die hätte Siegchancen gehabt.« Sie zögerte kurz. »Allerdings siehst du fast genauso gut aus, Ela.«

»Grazie.« Die Italienerin wurde ein bisschen rot. »Die Betonung liegt aber sehr auf ›fast‹.«

»Nicht so bescheiden, ich meine das ehrlich.« Isabelle hatte die lebensfrohe Freundin schon immer für ihre grazile Statur und die damit verbundene Anziehungskraft auf die Männerwelt bewundert. Doch in ihrer Dienststelle in Latisana war es nicht gern gesehen, dass sie – im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen – ihr naturgelocktes langes Haar offen trug und zumeist auf Uniform verzichtete. Ela betonte gern ihre Weiblichkeit, privat wie im Dienst. Gleichwohl war die 30-Jährige seit Jahren Single.

»Wann erwartest du das Gutachten?«

»Jede Stunde. Venezia arbeitet mit Hochdruck daran. Bei Vergiftungen ist Zeit bekanntlich der entscheidende Faktor. Niemand kann sich erklären, wieso diese Beauty umgekippt ist – Mördertemperaturen hin oder her.«

Isabelle musste an ihren Fall vom letzten Sommer denken. Damals war eine Münchener Studentin nach einer Feiernacht an einer Überdosis K.-o.-Tropfen tödlich kollabiert, da sie an einem angeborenen Herzfehler litt, von dem sie nichts wusste.

»Neidanschlag? Unter eifersüchtigen Konkurrentinnen? Knapp vor dem Finale?«

Ela zuckte die Schultern. »Möglich ist alles. Falls sich der Verdacht bestätigt, brauche ich einen vollumfänglichen Einblick in ihr Umfeld. Leider ist meine Ermittlungspartnerin Simona in Elternzeit. Ihr Lover hat sie sitzen lassen, jetzt ist sie mit dem Baby allein. Und ich stehe unter enormem öffentlichem Druck. Ganz ehrlich: Deine intuitiven Skills wären äußerst hilfreich, das ist so gar nicht meine Stärke. Ich ticke anders, wie du weißt.«

Isabelle seufzte tief. Dank ihrer Hochsensibilität hatte sie bereits zahlreiche knifflige Fälle nahezu im Alleingang gelöst, an dem sich ihre Kollegen zuvor die Zähne ausgebissen hatten. Sie konnte sich hervorragend in Personen hineinversetzen und Situationen messerscharf analysieren. Doch manchmal stand sie sich damit auch selbst im Weg. Als sie nichts sagte, hakte Ela nach: »Wann kommt eigentlich Sigi an? Ist der on Tour?«

So viele Fragen. Isabelles Lust auf nervenaufreibende Recherchen in der Anderswelt der Stars und Starlets hielt sich sehr in Grenzen. Das war das dritte Mal seit ihrer Teenagerzeit, dass Isabelle an der oberen Adria Urlaub machte, und jedes Mal war sie schneller in einen Promi-Fall verwickelt, als sie sich akklimatisieren konnte. Dabei wollte sie einfach nur abschalten, sich auf dem Liegestuhl räkeln, schwimmen – dolce far niente. Und diesmal wollten sie und ihr Kollege Sigi Schwaiger sich ja als Krönung des Sommerurlaubs in der Chiesa Maria Assunta feierlich das Ja-Wort geben … wobei: In den letzten Wochen waren ihre Zweifel, ob sie diesen Schritt wirklich gehen sollte, immer größer geworden. Was keineswegs daran lag, dass Sigi sich unpassend verhalten hätte – im Gegenteil, er war wie immer liebevoll und zuverlässig. Sie wusste nur einfach selbst nicht mehr, was sie wollte … vor allem hatte sie den Kopf nicht frei. Angesichts verschiedener ungelöster Themen in ihrem aktuellen Leben fühlte sie sich irgendwie nicht bereit für eine Entscheidung dieser Tragweite.

Sie sagte: »Sigi kommt frühestens übermorgen mit dem Schnellbus. Er besucht einen alten Schulfreund in Rimini, der dort mit einer Einheimischen lebt.«

»Wie jetzt? Sigi fremdelt in Rimini? Das glaube ich nicht.« Die Commissaria bekam einen mittleren Lachanfall. »Wer gondelt denn da freiwillig hin? Dann wäre ich mir an deiner Stelle gar nicht so sicher, dass er auch wirklich noch hier aufkreuzt. Rimini ist doch ein Moloch – wie die ganze Emilia-Romagna. Sigi, du Verräter, na warte! Wie kannst du nur? Mit dir habe ich ein ernstes Hühnchen zu rupfen.«

»Da mache ich mir wenig Sorgen, Bibione hat deutlich mehr Stil. Übrigens, was ich dir noch sagen wollte …«

Ela fiel ihr ins Wort: »Isa, ich mag dich wirklich nicht in meinen Abschlussfall hineinziehen, aber meine Notlage ist eklatant. Diese Mode-Machos werden mich zermalmen, wenn ich allein aufkreuze und mich erdreiste, investigative Fragen zu stellen. Eine Solo-Fahnderin nimmt in Bella Italia keiner für voll. Als Frauenpowerteam hingegen hätten wir ein ganz anderes Standing.«

Grimmiges Nicken. »In Oberbayern wäre das genauso, da rennst du als Einzelkommissarin auch keine offenen Kuhstalltüren ein. Wenn dir nicht die Scheunentür vor der Nase zugeschlagen wird, kannst du schon froh sein.« Isabelle hielt kurz inne. »Weißt du was: Demnächst sind wir sowieso offiziell Kolleginnen, da können wir uns ja vorab schon aufeinander einspielen. Je länger ich es mir überlege: ein Fall in der Party- und Beautyszene – why not?«

»Mille grazie, Isa. Zusammen rocken wir das Ding. Und danach genießen wir unseren wohlverdienten Urlaub.«

Sie tranken auf ex, Ela schenkte schwungvoll nach. Ein paar Spritzer trafen den Kater, der wie ein geölter Blitz davonsprang und sie aus einigem Sicherheitsabstand vorwurfsvoll mit großen Augen anstarrte. Was sollte das? Hatte seine Dienerschaft plötzlich einen Sprung in der Schüssel?

Da erblickte Isabelle zwei komfortable Relaxliegen – die kannte sie noch nicht.

»Dürfte ich kurz diese ultrabequemen Liegestühle testen, bevor wir mit dem Befragungsmarathon durchstarten? Nur fünf Minuten.«

»Take your time, honey. Ich mache parallel den Amtshilfeantrag fertig, damit wir dienstrechtlich safe sind.« Ela öffnete die entsprechende Smartphone-App, plötzlich hielt sie inne und schielte zur Freundin hinüber. »Äh, du sagtest vorhin, du wolltest mir was Wichtiges erzählen …«

Isabelle schaute haarscharf an ihr vorbei. »Falscher Zeitpunkt. Was ich dir erzählen wollte, ist privat … längere Story.«

»Längere Story, soso.« Die Azzurra zog die Stirn kraus. »Jetzt will ich es erst recht wissen. Stimmt was nicht mit dem holden Traumpaar? Will Sigi sich versetzen lassen?«

»Das nicht. Nur … Traumpaar, na ja …« Isabelle zögerte. »Du weißt ja, dass wir seit einem Jahr mal mehr, mal weniger zusammen sind. Um den chronischen Schwebezustand zu beenden, wollten wir in den nächsten Tagen …«

»Sag bloß, ihr wollt heiraten.« Ela quietschte vor Freude. »Grandiose Idee.«

Isabelle lächelte verschmitzt. »Mit dir als Trauzeugin. Das war unser Plan. Doch jetzt …«

»Wow! Krasses Tempo, das hätte ich euch gar nicht zugetraut – schon gar nicht Sigi.« Ela umarmte die Freundin innig. »Das ziehen wir durch. Aber so was von.«

»Lass gut sein, Ela. Wir ziehen gar nichts durch, das läuft uns nicht weg. Viel wichtiger ist dein Fall. Oftmals kommt ja noch was nach.«

»Hoppala!« Ela stemmte die Hände in die Hüften, schwang den Zeigefinger. »Privatleben geht vor Beruf. Oder höre ich da etwa Zweifel heraus, was das Heiraten angeht?«

»Leider ja.« Isabelle verdrehte die Augen. »Das ging viel zu schnell. Die ganze Zeit, als ich im Auto saß, habe ich gegrübelt … Ich weiß, das klingt bescheuert. Schnellschüsse sind nicht mein Ding, so was will sehr gut überlegt sein. Ich kann einfach nicht. Muss mich neu sortieren. Das ist mir auf der Fahrt klar geworden.«

»Und Sigi?«

»Wieso? Was soll mit ihm sein?«

»Was sagt er dazu, dass du …?«

Genervtes Schnaufen. »Dem verklickere ich das schon. Stopp jetzt! Was muss ich zum Fall Laura wissen?«

Ela runzelte die Stirn, dann schob sie nach: »Nun, der Organisator sitzt mir im Nacken, die Jungs wollen das Event um jeden Preis durchziehen, da geht’s um massig Kohle. Werbeverträge mit Kosmetik- und Filmindustrie. Ermittlungstechnisch spricht zwar nichts dagegen, allerdings finde ich es ethisch grenzwertig. Da gibt ein Mädel kurz vor der Zielgeraden den Löffel ab, doch die Jungs haben weiterhin nur Dollarzeichen in den Augen.«

Isabelle zuckte die Schultern. »The show must go on. Hast du was anderes erwartet? Das Beauty-Business hat seine eigenen Gesetze, das weiß doch jeder. Und seinen eigenen Charme.« Sie verdrehte die Augen.

»Hinzu kommt, dass dieser Produktionsboss nicht gerade mein Lieblingsmensch ist. Ich habe kurz mit ihm telefoniert und meinen Besuch angekündigt. Freundlich ist anders.«

»Nett gesagt. Lieblingsmensch …«

Ela machte eine wegwerfende Handbewegung. »Seine Firma hält Anteile am Ferrari-Rennstall, an Modefirmen, Filmlabels. Und dann noch diese Sensationsjournaille! Rai uno schickt ein eigenes TV-Team – wie mich das anpiept.« Allein während ihrer Unterhaltung waren drei WhatsApps reingekommen.

Isabelle nippte an ihrer Kaffeetasse. »Wo setzen wir ermittlungstechnisch an? Hast du einen Plan?«

»Ob ich einen verdammten Plan habe?« Genervtes Augenrollen. »Ich schlage vor, wir schauen uns zum Aufwärmen als Erstes das Modelhaus an. Der Pulk ist im Hotel Capitol abgestiegen, die Aufregung dürfte groß sein.« Sie senkte die Stimme. »Wusstest du eigentlich, dass es militante Modelhasserinnen gibt? Feministische Fanatikerinnen – kein Witz. Habe ich vorhin recherchiert, bevor du ankamst. Mich traf fast der Schlag.«

»Ich sehe schon, wir brauchen auch diesmal wieder den kompetenten Rat unseres charming man Cappellano Giulio«, warf Isabelle nachdenklich ein. Sie hatte ein Faible für den weithin geschätzten »Brother Brown von der Adria«, wie er scherzhaft genannt wurde. Der charismatische Jugendkaplan der Chiesa Maria Assunta verfügte über die Gabe, analytisch um die Ecke zu denken – so hatte er ihnen in den letzten Jahren wertvolle Hinweise für die Lösung ihrer Mordfälle gegeben, zumal er Land und Leute kannte und mitten im Leben stand. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Ela riss sie aus ihren Überlegungen. »Schön, dass du dein Lachen nicht verloren hast. Willst du den Ort sehen, wo Miss Beauty neben ihrem Fahrrad lag? Du gehörst doch zu denjenigen Ermittlerinnen, die nachträglich Todesorte aufsuchen – oder habe ich das falsch in Erinnerung?«

Isabelle stand auf. »Gehen wir. Die Relaxliege überlasse ich Romeo – der kann es gar nicht erwarten, meinen Platz einzunehmen.«

»Chauvi eben. Zweibeiner und Vierbeiner nehmen sich hierzulande nicht viel.«

3

Kriminalkommissar Sigi Schwaiger war einigermaßen beunruhigt. Schon vier Smiley-WhatsApps hatte er seiner Verlobten geschrieben – keine Antwort. Das war untypisch für Isabelle, normal reagierte sie prompt auf jede seiner Nachrichten. Er wusste, dass sie immer »on« war, wenn sie sich an unterschiedlichen Orten aufhielten. Auch auf seinen Anruf hin sprang nur der Anrufbeantworter an. Hoffentlich war da alles in Ordnung! Oder hatte er etwas Dummes geschrieben, was sie verärgert haben könnte? Er scrollte zurück, doch da war nichts.

Er beschloss, Raffaela zu kontaktieren. »Wie läuft’s so bei euch? Isa sitzt auf den Ohren«, tippte er unbeirrbar lässig.

Rimini war Ende Juli brechend voll, sodass er schon bereut hatte, sich diesen 48-Stunden-Abstecher an die untere Adria mit dem unbequemen Foxx-Holperbus überhaupt angetan zu haben. Zwar war es auch in Bibione und Lignano um diese Jahreszeit überlaufen, doch dort konnten sie immerhin in der geräumigen Villa Sophia abhängen – ein Refugium mit Vorgartenwüste inmitten der idyllischen Enklave Pineda, wo sie tun und lassen konnten, was sie wollten.

Hier in Rimini stand man sich tierisch auf den Füßen. Die winzige 42-Quadratmeter-Miniwohnung im sechsten Stock eines Wohnhauses aus den 1960er-Jahren im Stadtviertel Borgo San Giuliano, die er sich mit seinem ehemaligen Schulfreund Toby Trautmann und dessen italienischer Freundin Gianna teilte, war ein schlechter Witz für drei Erwachsene und den knuffig-quirligen Beagle, der auf den Namen »Spicy« hörte. Zwar waren Toby und Gianna supernett und überaus gastfreundlich, aber Schwaiger war heilfroh, dass er übermorgen weiterfuhr – das war für alle am besten. Besonders freute er sich auf ein paar unbeschwerte Urlaubstage mit Isabelle. Nach den Aufenthalten der letzten Jahre, in denen sie heikle Kriminalfälle gelöst hatten, sollte diesmal alles im Zeichen ihrer geplanten Trauung stehen. Da war noch einiges vorzubereiten. Und jetzt, nachdem er telefonisch bei Cappellano Giulio einen Termin für nächste Woche ausgemacht hatte, gab es sowieso kein Zurück mehr, auch wenn für seinen Geschmack alles etwas schnell gegangen war. Zu schnell?

»Wie wär’s mit einem letzten Strandbummel, bevor du euer Traumschloss betrittst und in den Hafen der Ehe einläufst?«, riss Toby ihn aus seinen Gedanken. Er war vor einiger Zeit hierher ausgewandert und verdiente seinen Lebensunterhalt als Masseur – seine Kunden waren Langzeitferiengäste, die fernab der Heimat Sonne satt genießen wollten. Die meisten von ihnen kamen aus Großbritannien und den Niederlanden.

»Zu einem gepflegten Strandwalk sage ich nie nein.«

»Du hast die Auswahl zwischen 99 Spiaggia-Distrikten.«

Schwaiger staunte nicht schlecht. »Nur 99?«

Trautmann tätschelte Spicy den Kopf. Sofort hechelte der Vierbeiner hoch motiviert los und zog an der Leine – endlich Aussicht auf Abkühlung. »Spicy liebt die spiaggia per cani, dogs no problem.«

»Dogs no problem – im Ernst?«

»Heißt wirklich so. Eines der schönsten Sandareale für Zwei- und Vierbeiner, woanders haben Hunde keinen Zutritt.«

»Damit steht unser Entschluss. Los geht’s.«

Die Männer zogen mit dem Beagle los, während Gianna das Abendessen vorbereitete. »Seht zu, dass ihr in zwei Stunden wieder zurück seid«, rief sie dem Trio hinterher.

Nachdem sie eine halbe Stunde geschwommen waren, bummelten Sigi und Toby die Promenade hinunter bis zum Parco Federico Fellini, wo nahe dem Grand Hotel eine riesige Bühne aufgebaut war.

»Wer tritt da auf?«, wollte Schwaiger wissen.

»Morgen steigt hier das große Miss Rimini-Beach-Event. Alle anderen Städte haben ihre Missen schon gewählt, wir sind die letzten. Wir können ja mal kurz reinschauen, wenn es dich interessiert. Sie proben ununterbrochen.«

Vor der Bühne hatte sich eine neugierige Zuschauermenge versammelt, die wie gebannt auf den etwa 50 Meter langen Laufsteg starrte, wo sich Bewerberinnen, mit kleinen Selbstklebenummern am Oberschenkel ausstaffiert, in Micro-Bikinis rhythmisch zu Madonnas »Justify My Love« bewegten und krampfhaft versuchten, dabei so erotisch wie möglich zu wirken. Teilweise sah es für Sigis Geschmack eher peinlich aus.

»Das Publikum kann sich an der Abstimmung beteiligen und für eine Bewerberin voten. Du müsstest dir nur vorher eine Handy-App downloaden. Heute ist aber nur Probelaufen.«

Schwaiger winkte ab. »Muss ich nicht haben.«

»Nana, die Girls geben wirklich alles.«

»Daran habe ich keinen Zweifel. Trotzdem no.«

»Das nenne ich mal konsequent.« Im nächsten Durchgang präsentierten sich die Jungmodels in halbtransparenten Fummeln. Ein Helfer im Clownskostüm bespritzte sie mit einem Gartenschlauch, was ebenso aufgesetzt wie albern wirkte.

»Maglietta Bagnata hat hier lange Tradition«, klärte Toby lachend auf, »seit den 1970ern ist das der Hingucker. Manche behaupten, es sei hier erfunden worden, noch lange bevor es als Miss Wet in Miami und Daytona kopiert wurde. Sexistisch, und doch bis heute nicht wegzudenken aus der südländischen Partyszene.«

Gerade ertönte der Abba-Song »Dancing Queen«, einer von Isabelles Lieblingssongs – was sollte das? Schwaiger hatte die ästhetischen Moves der schwedischen Stars vor seinem geistigen Auge, dazu mühten sich die Anwärterinnen auf dem Laufsteg etwas ungelenk. Da passte hinten und vorne noch nichts zusammen.

»Gehen wir zurück, mich törnt das Gehopse irgendwie ab. Spicy wird auch schon unruhig.«

Trautmann stopfte die Badesachen in seinen Rucksack. Neben ihnen rauchten ein paar Holländer Cannabis-Zigaretten, es roch süßlich.

»Momentan explodiert hier der Drogenkonsum.« Trautmann hob entschuldigend die Hände. »An jeder Ecke bekommst du das Zeug hinterhergeworfen, Kokstaxis und Pizzaboten liefern Speed, Crystal Meth und Ketamin in Plastikboxen aus. Als Arzthelferin kriegt Gianna das aus erster Hand mit. Die Drogenopfer schlagen zu Dutzenden in ihrer Praxis auf, das Ärzteteam schiebt Dauerschichten.«

Sigi nickte bitter. »Die Polizia kann leider nicht überall sein. Die Akteure spielen Katz und Maus mit uns. Sind leider viele Profis darunter, an die kommen wir nie ran.«

»Hinzu kommt, dass in Rimini seit jeher der Straßenstrich floriert. Die Damen kommen dann in Giannas Praxis und wollen massenhaft die Pille danach verschrieben haben. Ist das nicht absurd? Alles nur, weil Puffs im katholischen Italien verboten sind. Geschlechtsverkehr auf dem Kartoffelacker gegen Taschengeld hingegen wird toleriert und praktiziert. Total verkorkst. Die Zuhälter ballern sich voll und hauen die schwer verdienten Euros der Mädels im Casino wieder raus.«

»Wie hältst du das hier bloß aus?«

»Gianna zuliebe. Ihre Familie lebt seit Generationen hier. Schon ihr Uropa war Fischer, ihr Großvater und ihr Vater ebenso. Damals war Rimini noch ein unbedeutendes Nest. Traurig, was daraus geworden ist. Aber ein Positives hat der Boom natürlich: Als Masseur geht mir die Kundschaft nie aus – auch wenn ich manchmal beschimpft werde, während ich verspannte Muskeln lockere. Wenn du tagelang Alkohol in dich reinschüttest und deinen Organismus ausbeutest, macht die beste Muskulatur irgendwann schlapp.« Kurze Pause. »Du kannst drei Kreuze machen, dass ihr euer Ferienhaus drüben in Bibione habt, das Publikum dort ist kein Vergleich. Nach Rimini zog es schon immer Fußballteams, Kegelbrüder und andere Saufköpfe.«