Gelbfieber - Thomas Ross - E-Book

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Ross Thomas

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Beschreibung

Ben Abraham gilt als Jahrhunderttalent des Radsports. Zweimal gewinnt er die Tour de France, doch die dritte verliert er gegen einen übermächtigen Gegner. Ben setzt alles daran, diesen Gegner in die Knie zu zwingen. Es entbrennt ein erbitterter Kampf zwischen zwei Gegnern, die bereit sind, für Ruhm und Ehre den höchsten Preis zu zahlen: ihr Leben. Mehr zum Inhalt Ben Abraham ist ein begnadeter Radrennfahrer. Schon früh zeigt sich, dass er große Rundfahrten gewinnen kann. Die Siege kommen, die Radsportfans sind begeistert, ein ganzes Land feiert den neuen König des Radsports. Auf dem Weg zu seinem dritten Toursieg erleidet Ben eine Niederlage, die ihn nachhaltig prägt. Der Ire Johnny Mulligan erweist sich als schier unbesiegbar. Auf der Suche nach einem Ausweg nimmt Ben das Kontaktangebot eines Mannes an, der ihm verspricht, ihn wieder auf die Siegerstraße zu bringen. Ben wird eine bisher unbekannte Substanz verabreicht. Tatsächlich gewinnt er weitere Rennen, der Drogentest ist negativ. Ben ist begeistert und versucht immer wieder, Kontakt zu seinem unbekannten Gönner aufzunehmen. Als dies nicht gelingt, bricht Ben emotional zusammen. Er verletzt versehentlich ein Kind, begeht Fahrerflucht. Gejagt von der Polizei und seinem eigenen Team trifft er auf einen Abt, der Ben mit Fragen konfrontiert, die er sich nie gestellt hat: Ben hat die Wahl, sich für oder gegen ein Leben als Radsport-Gott zu entscheiden. Er entscheidet sich. In der Hoffnung auf eine weitere Dosis lässt er sich auf ein einsames Rennen gegen die Uhr ein. Was er nicht weiß: Er muss gegen Mulligan antreten, Mann gegen Mann. Ein gnadenloser Kampf beginnt...

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Da bisher keine kausale Therapie zur Verfügung steht, sollten exponierte Personen aktiv geimpft werden. Der Impfstoff besteht aus attenuierten Viren und wird i.m. oder s.c. von einem von der WHO dafür autorisierten Arzt appliziert. Bei Immunsupprimierten ist die Impfung kontraindiziert.

Groß, U. (2013). Kurzlehrbuch Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie (3. Aufl.). Stuttgart, Thieme: S. 383.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

1

Noch dreihundert Meter. Sie haben Witterung aufgenommen, scharlachrote Zungen wirbeln rau über geifernden Lefzen, wahnsinnige Blicke, von höllischer Glut entflammt; jetzt explodieren die Kräfte, der Sturm bricht los, die Hetzjagd ist eröffnet. Da rennt die Beute, sie darf nicht entkommen, aber der Weg ist noch weit; endlich wird die Strecke kürzer, der Geruch von Blut und Sieg liegt in der Luft, stark und unwiderstehlich schön ist der Duft; das Wild aber sprintet in Panik vorwärts, furchtlos tritt es um sein Leben. Noch hält ein kleiner Vorsprung. Hundert Meter jetzt, dann fünfzig, zwanzig. Der Körper zuckt wie unter Strom, es fliegt die Meter dem Ziel entgegen, ein letzter Blick nach hinten, und endlich malt sich ein Lächeln in das schon vor Qualen grüne Gesicht. Es wird reichen!

Die Meute sieht es, stöhnt, Entsetzen erstickt die Gier; Wölfe im Blutrausch, mit hängenden Köpfen, gedemütigt vom entkommenen Wild, das jetzt die Arme in den hellblauen Himmel reckt. Jubel am Wegesrand, der glorreiche Höhepunkt ist erreicht, sie sind mit ihm vereint, dem Ersten, dem großen Sieger. Gewonnen!

Jetzt rollt auch der Zweite ins Ziel ... der Zweite, der erste Verlierer.

Die Jagd ist zu Ende. Aber nur scheinbar, denn schon kommen Jäger einer anderen Art, Jäger einer Spezies, die selbst den Triumphator, den Stärksten der Starken, zur Strecke bringen. Mikrophone, an Stangen befestigt, stürzen sich wie pelzbewehrte Schwerter auf das Haupt des Siegers, vor und zurück, vor und zurück, immer auf den großen, ewigen Satz aus dem weißschäumenden Siegermund bedacht, einem Mund, der kraftlos nach Atem ringt, hustend und keuchend, wie von schwerer Krankheit erstickt. Es ist ein Mund, der zu allem fähig scheint, nur nicht zum Sprechen.

Eine Kaskade von Fragen stürzt auf den Erschöpften ein, ein Rauschen nur für den, der unter dem kläglichen Zittern seiner erschöpften Beine das Fahrrad als Krückstock benutzt. Zwei Männer greifen ihm unter die Arme wie einem gebrechlichen Greis, der nach langer Krankheit das Gehen übt. Langsam kehrt Leben in die halbtote Hülle zurück, und aus heiserem Krächzen schälen sich Silben, dann Laute, die sich zu Wörtern, schließlich zu Sätzen formen, und Sätze, die nichts weniger wollen, als uns, die wir vom Glanz des Sieges geblendet sind, das Unbegreifliche begreiflich zu machen.

Ja, es war hart, sehr hart, und am Ende so verdammt knapp, aber er sei durchgekommen, sagt der Sieger, am Mont Ventoux habe er gute Beine gehabt, sagt er, aber man müsse sehen, wie es morgen gehe.

Damit hat er alles gesagt. Doch die Schwerter klirren weiter: Wie sich das anfühlt, der Moment, wenn die Post abgeht, und was in einem vorgeht, wenn man merkt, dass man Chancen hat? Leere Augen verraten Ratlosigkeit. Der Sieger muss passen, ein Pontifex, der sein Heil in Allgemeinplätzen sucht: Die anderen hätten nicht nachgezogen, und dann habe er es versucht, mit drei anderen, und am Ende habe er eben die meisten Körner in den Beinen gehabt und so weiter und so fort.

Inzwischen ist das Heer der Zweiten von der Bühne verschwunden. Die Fragen sind beantwortet, nun kann endlich auch der Erste gehen. Der Weg des Siegers führt schnurstracks zur Toilette. Wir nehmen an, dass er einem natürlichen Bedürfnis folgt, aber wir irren uns. Die Pflicht ruft, denn es gilt herauszufinden, ob der Sieger von heute auch morgen noch siegen darf. Gleich nebenan pinkelt der Mann in Gelb in einen Becher. Eine kurze Begrüßung, ein verstohlener Blick zur Körpermitte, Kopfnicken und ein bisschen Schulterklopfen, das war´s.

Zwei Männer, zwei Plastikbecher. Urin. Der Geruch von Ammoniak. Mit diesem Bild soll sie beginnen, die Geschichte von legendären Schlachten und ruhmreichen Kämpfern, von Matadoren, den Helden der Neuzeit; die Geschichte von Siegern.

2

Ein hoffnungsvolles Talent! Ben Abraham ist Junioren-Weltmeister im Zeitfahren. Der Sächsische Anzeiger wusste es schon lange: „Von ihm dürfen wir viel erwarten. Die großen Rundfahrten rufen, der Vergleich mit den Besten steht an.“

War es diese unscheinbare, fast schüchterne Notiz, die einen neuen Stern aus der Wiege hob? Man wollte, man musste es glauben. Der Stern stieg in den Himmel und leuchtete fortan am Firmament der deutschen Sportlandschaft. Hell und klar verbreitete er sein Licht über die Welt, und doch wusste niemand, woher der Stern seine Leuchtkraft nahm. Mehr als die Tatsachen des Aufstiegs, die an sich eine glückliche Mischung aus Talent und Fleiß waren, interessierten die Begleitumstände. Manche meinten, es müsse am Geburtsjahr gelegen haben (Abraham wurde im Zeichen des Feuerhasen geboren). Als nicht minder einflussreich wurde der Zwillingsmonat Juni angesehen, wegen der Tatkraft, die den Zwillingen eigen ist, sowie der sechzehnte Tag dieses Monats, an dem die universelle Konstellation so günstig war, dass dieser Stern fast zwangsläufig geboren werden musste.

Zweifel? Aber nein! Auch wenn es unwahrscheinlich erscheint, könnte es doch wahr sein. Halten wir fest, dass unser Himmelsbote im Juni 1987 als Sohn eines Elektromeisters, der in zweiter Ehe mit einer Mitarbeiterin der städtischen Wasserwerke verheiratet war, in einem ostdeutschen Industrieviertel geboren wurde, und verschweigen wir nicht, dass er sich mit einer jüngeren Schwester und einem älteren Bruder ein winziges Zimmer in der kleinen Plattenbauwohnung am nördlichen Stadtrand teilte; dass ihm aufgrund der bescheidenen räumlichen Verhältnisse kaum mehr als fünf Quadratmeter Territorium blieben, über die er souverän verfügen konnte. Mit anderen Worten: Die materiellen Voraussetzungen des jungen Hoffnungsträgers waren bescheiden. Man lebte wie viele andere Familien in Deutschland, man lebte durchschnittlich. Durchschnittlich, was die Vergangenheit betraf, durchschnittlich, was die Gegenwart betraf, und durchschnittlich, was die Zukunftsaussichten betraf. 550 Mal Zähneputzen, 2.500 Stunden Schlaf, 220 Arbeitstage, zehn Haarschnitte und durchschnittlich 55 Mal Sex im Jahr – das Einzige, was man mit dieser farblosen Durchschnittlichkeit nicht in einem Atemzug nennen kann, ist die Neigung der Mutter zu einer weit über das übliche Maß hinausgehenden körperlichen Betätigung.

Bens Mutter liebte das Schwimmen. Sie war nicht schnell, aber technisch gut. Meistens tat sie das am Ostseestrand bei Warnemünde, wo man früher eigentlich immer hinfuhr. In wirtschaftlich besseren Zeiten wurde die Ostsee gegen die Nordsee getauscht, und schließlich setzte sie einen teuren Urlaub an der Adria durch. Und einmal fuhr die Familie sogar nach Spanien, wo die Mutter, die wie ein Marlin durch die warmen Fluten jagte, prompt eine persönliche Bestleistung im 400-Meter-Schwimmen aufstellte.

Von der Mutter zum Sohn. Die Entwicklung zum Weltstar begann an der Ostsee, an einem trüben, wolkenverhangenen Augusttag. Es wehte eine steife ablandige Brise und das Meer schlug hohe Wellen, so dass an vergnügliches Baden nicht zu denken war. Drinnen herrschte Missmut und man blies Trübsal, bis Mutter vorschlug, Fahrräder zu mieten, Wind hin oder her. Die Kinder waren Feuer und Flamme, der damals achtjährige Ben glühte vor Begeisterung, denn was konnte es für einen gesunden und lebenslustigen Jungen Größeres geben, als sich den Unbilden der Natur zu stellen? Der griesgrämige Vater hatte bald ein Einsehen, was blieb ihm anderes übrig, als zu essen und Bier zu trinken, was wegen der frühen Morgenstunde nicht in Frage kam.

Um die Ecke war ein Fahrradverleih. Die Räder waren nicht schlecht, der Verleiher uneigennützig. Der Mann gab die Räder zum halben Preis ab, wohl wissend, dass er mit dieser Familie die einzige Kundschaft des Tages bediente.

Jedenfalls ging die Fahrt los, und es dauerte nicht lange, da hingen sie wie geblähte Segel im Wind, Vater und Mutter voraus, die Kinder hinterher. Letzteren wurde es im Schlepptau der Eltern bald zu langweilig und was lag da näher, als ein Wettrennen zu veranstalten. Ein Sprint sollte es sein, bis zum Leuchtturm, der sich in der Ferne schemenhaft im Nebel abzeichnete. Die arme Schwester fiel bald zurück, aber Ben hielt lange mit, erst auf den letzten Metern musste er dem älteren Bruder den Vortritt lassen. Ob er das wirklich „musste“, ist fraglich; Tatsache ist, dass der große Bruder den Leuchtturm als Erster erreichte. Gleich am nächsten Tag fand ein weiterer Wettkampf statt: Der Sieger im Wettstreit um die Krone des schnellsten Rundfahrers musste ermittelt werden. Fünfzehn Kilometer waren es, die Hälfte davon gegen den Wind, die andere Hälfte mit Seitenwind, was immer auf das Gleiche hinausläuft. So oder so hat man Mühe, die Spur zu halten.

Zur Erklärung des bescheidenen Ergebnisses mag man dem Vater Lustlosigkeit unterstellen, mit etwas Wohlwollen war es kalkulierte Nachsicht mit den Jungs; festzuhalten bleibt, dass der Vater bei Kilometer acht fast vom Rad fiel, sich fünfhundert Meter weiter völlig entkräftet auf eine feucht bemooste Bank setzte und wie ein Ackergaul beleidigt die Nüstern blähend aufs Meer starrte. Thilo und Ben hingegen klebten bis etwa vier Kilometer vor dem Ziel Rad an Rad. Dann ließ der frustrierte Ältere, dem man im Moment der Niederlage leider keine große Geste nachsagen kann, den stolzen Jüngeren ziehen; doch das Erstaunliche war, dass Ben nicht einmal merkte, wie seine Mitstreiter hinter ihm zurückfielen. Seine Beine bewegten sich wie von selbst im Rhythmus eines wohlgepflegten Uhrwerks, sein Atem ging ruhig und tief im Takt der surrenden Zahnräder. Mit leuchtenden Augen flog er auf den Turm zu, der sich rasch aus dem trüben Dunst löste.

Die Unterlegenen genossen bereits ihr Abendessen, als Ben, dem man angesichts der beeindruckenden Ereignisse freie Hand bei der weiteren Tagesplanung gelassen hatte, mit immer noch leuchtenden Augen den Raum betrat.

Nicht selten kommt Bens Mutter noch heute auf diesen Moment zu sprechen. Nie wird sie das Feuer in den Augen ihres Sohnes vergessen, die strahlende Aura des Achtjährigen, der seine Bestimmung gefunden hatte. Ein neuer Stern war geboren.

3

Rennräder waren teuer. Die Eltern kauften ein gebrauchtes Tourenrad. Für den Jungen war es mehr als genug. In den Wochen nach dem denkwürdigen Urlaub fehlte eine Person im Haushalt. Die Mutter spricht vom verlorenen Sohn, mit Wehmut im Blick und Stolz in der Stimme. Sie habe ihn ans Radfahren verloren, sagt sie, und dann kommt die Anekdote, wie eines Tages, die Familie ist schon in den Westen gezogen, das Telefon klingelt und eine aufgeregte Stimme schreit: „Mama, kannst du mich abholen, ich habe einen Platten!“ Aber Mama denkt nicht daran, selbst schuld, denkt sie, heute Mittag ist Einkaufen, dann Schwimmen und abends Freilichttheater im Schlosshof.

„Du kommst schon alleine nach Hause“, sagt sie, „steig in den Bus.“

„Aber ich bin doch in Hinterzarten!“

Der Mutter rutscht der Hörer aus der Hand.

Hinterzarten? Das ist mitten im Schwarzwald, hundertfünfzig Kilometer entfernt.

Sie hält den Jungen für einen Scherz, aber die Sache ist ernst. Sie wird ihren Sohn mit dem Auto abholen müssen, denn für die Zugfahrt reicht das Geld nicht. Schließlich erbarmt sich der Vater, er findet den Jungen, es gibt eine Ohrfeige und eine ordentliche Standpauke. Den Jungen rührt das kaum, denn in seinem Herzen brennt ein Feuer, heiß und unauslöschlich.

In diesen Tagen machen sich Vater und Mutter zum ersten Mal Sorgen um die schulische Entwicklung ihres Sohnes. Der Junge brennt auf der Straße und sonst nirgendwo, sein Feuer brennt im Wind, es brennt auf dem Berg und die Kilometer sind der Zunder. Abseits des Sports ist für Ben abseits des Lebens, so scheint es ihnen, und so fassen sie einen Entschluss. Die Leidenschaft ihres Sohnes muss gebändigt, in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Die Eltern als Feuerwehr im Kampf gegen die Ausbreitung eines Flächenbrandes. Gute Noten gegen eine Anmeldung im Radsportverein, so lautete der Pakt, der in diesen Tagen zwischen Eltern und Sohn geschlossen wurde. Er wurde allerdings nicht lange eingehalten, und es ist bis heute nicht geklärt, wann und wie die Vereinbarung gebrochen wurde. Sicher ist, dass eine dritte Partei auf den Plan trat. Und die sollte alles entscheiden.

4

Den ersten Sieg errang der neunjährige Ben in einem Feld von Elf- und Zwölfjährigen über fünfmal drei Kilometer mit dreihundert Höhenmetern nach jeweils tausend Metern. An der letzten Steigung hatte der Junge die Älteren abgehängt, die letzten Kilometer legte er im Stil eines Zeitfahrers zurück. Vater und Mutter standen jubelnd auf der Ziellinie, Skepsis und Unwillen waren verflogen, Streit und Tränen vergessen. Zwei Jugendtrainer wollten vor Freude weinen, als sie den Jungen ins Ziel stürmen sahen. Wer war dieser Kerl mit dem flüssigen, runden Tritt, der offenbar auch sprinten konnte und dazu noch in vorbildlicher Rennfahrerhaltung auf einem zweitklassigen Rad saß? Man fragte nach dem Namen des Kollegen, der den Jungen trainierte, denn das war zweifellos die Arbeit eines Profis. Aber wie der Junge es schaffte, sich mit höchster Konzentration und bedingungsloser Entschlossenheit ins Ziel zu werfen, war ihnen ein Rätsel. So etwas konnte man nicht trainieren. Und so wussten sie, dass sie Zeugen von etwas ganz Besonderem geworden waren: der Manifestation des reinen Willens, eines starken, alles beherrschenden Schopenhauer‘schen Willens.

Ganze Dynastien von Trainern wurden von nun an ständige Gäste im Hause Abrahams. Der Tag wurde in ein eisernes Korsett gezwängt, morgens Schule, Hausaufgaben, dann Radfahren, schließlich Krafttraining und Regeneration. Ein konsequenter, behutsamer, durchdachter Aufbau – das war die Devise, an die man glaubte wie an die Heilige Römische Kirche. Ben war ungeduldig, aber folgsam und vor allem fleißig. Er verlor selten, und wenn, dann unter Tränen des Zorns, aber Ben stand wieder auf, biss auf die Zähne, stemmte Gewichte, quälte sich auf Ergometern, nahm Vitamine (man sagte, das sei gut für ihn), schmierte sich mit Salben und Cremes ein, wenn der Hintern weh tat oder ein Zeh wund war, und – siegte weiter. Seine Leistungen waren außergewöhnlich. Sein Ruhepuls war niedrig wie der eines großen Tieres, bald sollte er unter 45 Schläge pro Minute fallen. Die Blutuntersuchungen ergaben konstant hohe Hämoglobin- und Erythrozytenwerte, die alle über den Grenzwerten lagen, was zu Diskussionen unter den Experten und nicht selten zu offenem Misstrauen führte.

Warum er so oft Blut abnehmen müsse, hatte Ben einmal gefragt, als er mit 15 Jahren zum ersten Mal an nationalen Meisterschaften teilnehmen sollte. Routine, alles Routine, lautete die Antwort, und zum Teil stimmte das auch. Das Blut wurde auf verbotene Substanzen untersucht, über die Details ließ man Ben im Unklaren. Monate intensiven Testens und Beobachtens vergingen, bis man zu dem Schluss kam, dass tatsächlich eine genetische Veranlagung für erhöhte Hämoglobinwerte vorlag. Bei der Präsentation von Bens Ergebnissen vor Trainern und Sportfunktionären des nationalen Radsportverbandes sah man viel Kopfschütteln und hörte ungläubiges Raunen. Fragen über Fragen prasselten auf den Referenten ein, aber an der Analyse gab es nichts zu rütteln. Ben war ein Jahrhunderttalent, ein sportliches Juwel, Offenbarung und Verpflichtung für jeden Radsportfan. Innerhalb kürzester Zeit waren alle berauscht von der zukünftigen Größe des Jungstars und freudetrunken bis zur Rührseligkeit. Der 25. November 2003 war ein Tag für die Geschichtsbücher. Doch Ben wusste davon noch nichts.

5

Drei Jahre später gewann Ben mit 19 Jahren die Straßenweltmeisterschaft und den Gesamtweltcup der Amateure. Er bekam seinen ersten Profivertrag. Es folgten ein zweiter Platz bei der Deutschen Meisterschaft im Zeitfahren und weitere Auftritte auf internationalem Parkett. Seine Leistungsdaten prädestinierten ihn für längere Rundfahrten, aber auch für Eintagesrennen, bei denen er mit guten Sprintern mithalten konnte. Bei der Zeitfahr-Weltmeisterschaft belegte er hinter Juan Antonio Gonzales und Guido Bellini, die zu den stärksten Zeitfahrern der Welt zählten, den dritten Platz und machte damit weit über die Grenzen Deutschlands hinaus auf sich aufmerksam.

Bei seinem Debüt bei der Tour de France 2007 wurde er auf Anhieb bester Jungprofi. Insgesamt wurde er Zehnter mit 13 Minuten Rückstand auf den Gesamtsieger und sechs Minuten auf seinen Teamkollegen Lasse Mickelgren, der Vierter wurde und in Bens Team die Nummer eins war. Es kam die Zeit der großen Fernsehauftritte, Ben war in den Augen der Öffentlichkeit endgültig zum Hoffnungsträger für Siege bei großen Rundfahrten aufgestiegen. Ob die plötzliche Popularität seine Einstellung zum Sport veränderte, ob sie sein Leben abseits der Berge und steilen Abfahrten beeinflusste? Schwer zu sagen, denn Ben war kein Mann des Rampenlichts. Nachdem die ersten euphorischen Hymnen verklungen waren, gab er sich stets schüchtern und wortkarg. Man merkte ihm an, dass er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte. Die vielen Fragen beantwortete er ebenso brav wie inhaltsleer, was kann man von einem Zwanzigjährigen auch anderes erwarten? Was soll man auch sagen, wenn man zum x-ten Mal wissen will, warum es heute, nach vier Stunden Tortur im Wind, auf den letzten Kilometern nicht „gereicht“ hat? Na ja, der Akku war eben leer, die anderen hatten am Ende einfach mehr drauf. Wie immer folgte die Frage nach der Teamtaktik.

Auch hier fiel Ben nichts Aufregendes ein. Er hat einfach gemacht, was ihm gesagt wurde. Er fuhr nach Plan, aber er machte nicht den Plan, das war nicht seine Aufgabe. Er musste auf die Beine von Lasse Mickelgren aufpassen und die Sprints für Arne Paulsen anziehen. Und das tat er so gut wie kein anderer.

6

2008 gewann Ben zwei Etappen bei der Tour de France, darunter ein langes Zeitfahren. In der Gesamtwertung wurde er Zweiter hinter Mickelgren. Das beste Ergebnis eines Deutschen in der Geschichte der Tour. Eine Sensation, der Jubel war grenzenlos. Es war perfekt, oder sagen wir fast perfekt: Ein letztes Wölkchen trübte den Himmel über der deutschen Sportseele: der Gesamtsieg. Der hatte noch gefehlt.

An den Stammtischen und in den Kreisen der Sportjournalisten erregten die Fähigkeiten unseres Jungen, der quasi über Nacht zum Ziehsohn eines ganzen Landes geworden war, die Gemüter. Was für ein Teufelskerl er doch war: Seinen Chef über die höchsten Berge ziehen und trotzdem das schwere Zeitfahren gewinnen. Am Ende waren es nur hundert Sekunden Rückstand auf Mickelgren. Ein Windhauch war das, noch Wochen nach dem Ereignis wehte er süß durch die deutschen Gassen, er wehte selbst dann noch, als der Tour-Dritte, ein Italiener aus den Abruzzen, wegen Dopingverdachts aus der Vuelta genommen wurde. Überhöhte Testosteronwerte waren festgestellt worden, eine zweijährige Wettkampfsperre drohte. Auf diesen Vorfall angesprochen, antwortete Ben, dass er mit Doping nichts zu tun habe, dass er Sportbetrug schäbig und unfair finde und sprach damit allen aus der Seele. Für die Öffentlichkeit war die Sache damit erledigt.

Doch es kam ganz anders. Ein Rückblick.

7

Korrekt durchgeführtes Blutdoping führt zu einer Leistungssteigerung von mindestens fünf Prozent. Auf einer Strecke von 3.500 Kilometern (das entspricht etwa der Länge der Tour de France) gewinnt ein gedopter Fahrer gegenüber einem ungedopten einen Vorsprung von 175 Kilometern, also fast eine Etappenlänge. Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 39 km/h ergibt das über alle Etappen gerechnet einen Vorteil von knapp viereinhalb Stunden. Und das ist sehr konservativ geschätzt.

Als Ben zum ersten Mal aufgefordert wurde, leistungssteigernde Mittel einzunehmen, kannte er die Details nicht. Er brauchte sie auch nicht zu wissen, denn das Gefühl, das die Unausweichlichkeit der Niederlage gegen die Doper in ihm auslöste, wirkte jenseits der Fakten. Ben spürte, dass sein Verzicht auf leistungssteigernde Mittel zu einer Kette von Niederlagen führen würde; er hatte es am eigenen Leib erfahren. Er, der einst so viele Rennen mit fliegenden Fahnen gewonnen hatte, er, der Mann mit dem phänomenalen Antritt am Berg, er, dessen Leistungsdaten Ärzten und Trainern Freudentränen in die Augen getrieben hatten, der immer dieses eine Prozent mehr hatte als alle anderen, ja, er spürte nun mit jeder Faser seines durchtrainierten Körpers, dass das Siegen nur kalte Arithmetik war. Dem einen Prozent natürlicher Überlegenheit seines gesegneten Körpers standen fünf, zehn, fünfzehn Prozent biochemischer Möglichkeiten gegenüber. Fünf minus eins, eins minus fünf, wie man es auch dreht und wendet, es bleiben vier, und die sind immer negativ. Genauso gut hätte Ben mit gebrochenen Füßen antreten können, oder ohne Königin, um gegen einen Schachgroßmeister zu gewinnen. Fünf minus eins, eins minus fünf war das Kräfteverhältnis der nordamerikanischen Indianer, die mit Pfeil und Bogen und Streitaxt bewaffnet im Kugelhagel der weißen Armeen verbluteten. Fünf minus eins, eins minus fünf, so riefen die Trommeln der afrikanischen Stämme in den Krieg gegen die europäischen Usurpatoren, fünf minus eins, das ewige Verhältnis von Sieger und Besiegtem und gnadenlose Wahrheit, der sich auch Ben beugen musste, an jenem denkwürdigen dritten Juni, auf diesem gottverdammten Aufstieg zum Nufenenpass in den Schweizer Alpen. Dort ging er durch sein Inferno, dort ging er durch sein Leiden, sein Körper und er allein gegen den Berg, diesen verfluchten Berg. Und im Augenblick der größten Entäußerung fällte das grausame Schicksal sein Urteil. Es wurde befohlen, das Fallbeil über dem Nacken des Helden zu lösen.

Er spürte das scharfe Eisen in seinem Nacken, als die Dreiergruppe ihn einholte. Sein Bewusstsein blitzte ein letztes Mal auf, Ben sah ein helles Licht, dann löste sich sein Kopf vom Rumpf und sein Leben erlosch in einem schwarzen Punkt. Siegfried spürte den blanken Stahl in seiner Schulter, und von nun an würde er ihn wieder und wieder spüren, an allen Gliedern seines Körpers, und immer wieder würde er ihn sterben müssen, diesen schrecklich einsamen Tod ohne Hoffnung und ohne Liebe, einen Tod ohne Verheißung auf ein neues Leben im Olymp der Radfahrer. An diesem Tag kam Ben mit drei Minuten und 35 Sekunden Rückstand als Achter ins Ziel. Drei Minuten und 35 Sekunden sind eine Welt für jemanden, der auf der Erde steht und zu den Sternen will. Drei Minuten und 35 Sekunden, das ist der Unterschied zwischen Wachen und Träumen, Hoffen und Wissen, Leben und Sterben. In diesen bitteren Stunden der Niederlage begriff er, dass etwas Unvermeidliches, etwas Endgültiges geschehen war, aus seinen Tränen schimmerte etwas, das den hässlichen, groben Geschmack des Unabänderlichen in sich trug; die Erkenntnis der Sterblichkeit brannte wie Feuer in seinem Herzen, und der Schmerz dieser elenden Niederlage riss seine Seele entzwei.

Er schleppte sich durch zwei düstere Wochen, aber dann fühlte er eine Bewegung in sich, etwas Lebendiges, Hoffnungsvolles stieg aus seinem Herzen auf. Es war eine Regung des Widerstandes und des Mutes eines Geschlagenen, der sich nicht ergeben will, weil er zum Kämpfen geboren ist und lieber auf dem Schlachtfeld fällt, als sich dem Kummer und der selbstmitleidigen Trostlosigkeit eines altersschwachen Todes im heimischen Bett hinzugeben. Ben lehnte sich gegen das scheinbar unabwendbare Schicksal auf. Niemals, niemals würde er aufgeben, nein, er würde kämpfen, härter trainieren als je zuvor, noch mehr aus seinem Körper herausholen, koste es, was es wolle, und – der Gedanke kam ihm fast beiläufig – vielleicht wäre es gut, einmal mit den Ärzten zu sprechen. Ja, das wäre sicher gut, mal sehen, was die dazu sagen.

8

Ben hatte das Rennen aufgegeben. Wegen einer Erkältung, so die offizielle Erklärung. In Wirklichkeit hatte Ben den Tag abseits der Rennstrecke verbracht und von Ruhm und Ehre geträumt. Wo er sich den ganzen Tag herumgetrieben hatte, wollte er nicht sagen, was ihm harsche Kritik des Teamchefs und den Vorwurf der Disziplinlosigkeit einbrachte, aber keine weiteren Konsequenzen, wohl wegen seiner Ausnahmestellung im Team. Zum Abendessen kam er wieder, aber niemand wollte mit ihm reden – was hätte man auch sagen sollen? Nach dem Essen bat der Teamleiter um ein Gespräch. Auch der leitende Teamarzt und seine beiden Stellvertreter waren anwesend. Ben setzte sich auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch im Besprechungsraum. Gegenüber nahmen die vier Männer Platz. Es war ein Tribunal, so viel war klar. Versteinerte Mienen im Wettstreit, wer die ernsteste Miene, die schärfste Zermürbung, die tiefste Verbitterung aufsetzen konnte. Ben saß mit hängenden Schultern da und schien das alles kaum wahrzunehmen. Wenn er überhaupt etwas erwartete, dann höchstens eine schärfere Wiederholung der Vorwürfe, die er schon kannte. Er hatte sich aus dem Rennen gestohlen, ohne sich abzumelden. Das macht man nicht, das verstößt gegen den Ehrenkodex der Fahrer, das vergiftet den Teamgeist usw. usf. Damit würden sie ihm kommen, und da Ben das Unrecht einsah, langweilte er sich schon in Erwartung der nächsten Zurechtweisung. Und mit der Langeweile erloschen auch die lebensfrohen Gedanken, die ihn gestern aus höchster Not vom Unerträglichen ins Lebenswerte zurückgeführt hatten, und die hoffnungsvollen Vorsätze, die er noch in derselben Nacht gefasst hatte. Alles war wieder beim Alten, und der Gedanke, dieses verhängnisvolle Rennen wieder aufzunehmen, war ihm zuwider.