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Keine Frage beschäftigt die Bundesbürger so wie die nach der Zukunft des Geldes (und damit der Wirtschaft insgesamt): Bleibt der Euro, kommt die Mark wieder? Zahlen wir weiter für "die Anderen" und verschulden uns dadurch unverantwortlich? Was passiert eigentlich, wenn die Euro-Zone auseinander bricht, und was hat das mit meiner privaten Hypothek zu tun?Sauga/Weidenfeld schlagen eine Schneise durch das Dickicht der Fragen und Ängste, erklären, was möglich ist und was unwahrscheinlich oder ausgeschlossen. Ihre Kernthese: Die ständig wiederkehrende Beschwörungsformel von Merkel, Schäuble & Co. "Aber jetzt ist das Schlimmste wirklich überstanden" ist leichtfertig. Immer noch ein Rettungsschirm wird die Krise nicht lösen, die Banken und Staaten gemeinsam verursacht haben - und unser aller Wohlstand gefährden wird.
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-95644-4
© Piper Verlag GmbH München, 2012
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagfoto: Denis Scott/Corbis (Haifish); Anthony Bradshaw/Getty Images (Banknote)
Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell
Keine Hand hebt sich. Keine. Ist Europa noch einen Rettungsschirm wert? Wieder geht keine Hand nach oben. Soll Deutschland weitere Rechte an Europa abtreten, um den Euro zu retten? Erst recht nicht. Keiner der Schüler des Potsdamer Gymnasiums, die sich Anfang 2012 die Projektwoche »Finanzkrise« ausgesucht haben, würde in Europa noch mehr investieren, als die Deutschen ohnehin schon in die Schicksalsgemeinschaft eingebracht haben: eine stabile Währung, eine gesunde Wirtschaftsstruktur, das Potenzial der deutschen Steuerzahler.
Nicht einmal bei 14- bis 16-jährigen Gymnasiasten, der Generation, die am meisten europäisch denkt und handelt, ist Europa zurzeit mehrheitsfähig. Schon gar nicht bei den Erwachsenen. Zu viel Krise, zu wenig Perspektive. Würde in Deutschland in diesen Tagen ein Referendum über Europa abgehalten, es würde scheitern.
Vier Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise steht Deutschland ziemlich alleine da. Die Wirtschaft ist erstaunlich robust, die Arbeitslosigkeit niedrig, die Börse schon fast wieder auf Vorkrisenniveau. Alles geht gut. Und doch hat sich eine tiefe Verunsicherung eingefressen in die Köpfe und Herzen der Menschen: Was ist das Ersparte wert? Wird es eine neue Inflation geben? Steht der Gelduntergang bevor? Wer bezahlt die Rettungsschirme für Griechenland, Portugal und Irland? Wer die Schulden, die dafür gemacht werden? Ist Griechenland noch zu retten? Was ist, wenn auch Italien Hilfe braucht? Fliegt der Euro auseinander? Was soll Deutschland, was kann ich tun?
Auf die meisten dieser Fragen gibt es keine klare Antwort. Der Traum von einem großen Befreiungsschlag, der auf einen Rutsch alle Sorgen vertreibt, ist eine Illusion. Dennoch gibt es ein paar Dinge, die wichtig sind und richtig bleiben: Die Einführung des Euro schon 1999 war ein Fehler. Aber jetzt ist er da. Ihn platzen zu lassen wäre hoch riskant. »Scheitert der Euro, scheitert Europa«, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt. Auch wenn ihr heute die Mehrheit der Deutschen ein trotziges »Na und?« zur Antwort geben würde: Wahrscheinlich hat sie recht. Zumindest der Kern Europas darf nicht scheitern. Dann wären alle auf Jahre hinaus Verlierer.
Doch es geht nicht nur um das Schicksal der Währungsunion und um eine europäische Identität. Viel grundsätzlicher sind die Fragen, die sich an das Prinzip der Marktwirtschaft richten: Ist der Kapitalismus zu retten? Ist er es überhaupt wert, gerettet zu werden? Kann eine Marktwirtschaft Gerechtigkeit herstellen? Welche Rolle spielen Schulden überhaupt in unserer Art, Geschäfte zu machen, und welche Rolle sollten sie spielen? Wem dient das Geld – der Finanzindustrie oder den Bürgern?
Auch diese Fragen offenbaren die Erschütterung, die die Schuldenkrise ausgelöst hat, bei Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen. Grundlagen der Marktwirtschaft erscheinen nun als Scheingewissheiten, die jahrzehntelang im Verborgenen doch nur eines getan haben könnten: einem Kartell von Banken, Großunternehmen und Politikern zu dienen.
Der wirtschafts- und finanzpolitische Mainstream der Jahre vor 2008, wonach deregulierte Märkte immer die besseren Marktplätze sind, ist von einem neuen ebenso gefährlichen Mainstream abgelöst worden. Jetzt soll der Staat der mächtigste Spielgestalter sein. Es ist schon merkwürdig. Noch nie wurden Politiker so verachtet und angefeindet wie heute. Doch noch nie hat man ihnen freiwillig so viele Aufgaben zugewiesen. Selbst wenn sie mit der größtmöglichen persönlichen Autorität, Integrität und dem umfassendsten Sachverstand ausgestattet wären: Diese Erwartungen könnten sie nicht erfüllen.
Und doch zeigen viele der Fragen, dass es ein ziemlich sicheres Gespür für die Verletzlichkeiten der Marktwirtschaft gibt. Eines ihrer wichtigsten Prinzipien ist in der Finanzkrise aus den Angeln gehoben worden: Nicht mehr die Reichen zahlen für die Schwachen. Die Schwachen müssen für die Reichen bezahlen. Mit ihrem Steuergeld werden Banken gerettet, Sanierungsprogramme bezahlt, Märkte gestützt. Der legendäre US-Finanzguru Warren Buffett wundert sich lauthals, dass er weniger Steuern zu bezahlen hat als seine Sekretärin.
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Robert Shiller hat sich kürzlich die Liste der 500 reichsten Amerikaner vorgenommen. »Sie werden kaum einen der Namen darauf kennen«, sagte er anschließend bei einer Vorlesung. Bis auf die Talkmasterin Oprah Winfrey sind Showgrößen, Hollywood-Stars, Baseball- oder Tenniscracks darauf nicht mehr zu finden. Es sind kaum Unternehmer, nur noch wenige Vertreter des alten amerikanischen Reichtums dabei. Stattdessen rangieren Finanzinvestoren auf den obersten Plätzen.
Unbekannte haben sich den amerikanischen Traum angeeignet. Die meisten von ihnen sind noch keine zehn Jahre auf der Reichenliste vertreten. Das ist selbst den Amerikanern, die sonst nicht viel gegen Ungleichheit einzuwenden haben, zu viel. Denn diese Leute haben ihr Geld zuerst vor und dann mit der Finanzkrise verdient. Sie haben auch dann noch gewonnen, als alle anderen verloren haben. Ihre Gewinne haben sie eingesteckt, die Verluste durch die Krise dagegen wurden sozialisiert.
Der Grundkonsens der Marktwirtschaft in demokratischen Gesellschaften war bisher, dass sie den Tüchtigen den Weg nach oben öffnet. Heute steht sie unter dem Generalverdacht, den Reichen genutzt, die Armen aber noch ärmer gemacht zu haben. Vielen ist sie nicht mehr der Garant für eine offene Gesellschaft, sondern das Rollgitter, das die bessere Gesellschaft zuverlässig vom gemeinen Volk abschotten soll.
Es lohnt sich also, darüber nachzudenken, was der richtige Weg aus der Krise ist. Dazu muss man versuchen, sie zu verstehen, ihre Ursachen zu erkennen und die heutigen Strategien der Krisenfeuerwehren zu bewerten. Eine Krise ist immer ein Wendepunkt. Man kann sich besinnen und künftig ein paar Dinge anders entscheiden. Man kann entscheiden, welche Prinzipien der Marktwirtschaft heute die richtigen sind und wie ihnen zur Geltung verholfen werden kann.
Für diese Verhandlung müssen wir wieder eine gemeinsame Sprache finden. Wie kaum etwas anderes entlarven die unterschiedlichen Codes der Finanzwelt und ihrer Kritiker, wie groß die Sprachlosigkeit geworden ist, wie weit die Welten auseinanderdriften. Das ist eine Zerreißprobe für die Verbindungsleute dieser beiden Welten: für die Politiker.
Während Banken und Investmenthäuser eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent vor der Krise für ziemlich normal hielten, empörten sich Politiker und Gewerkschaften einstimmig über die Gier, die sich darin offenbare. Topmanager finden es in Ordnung, wenn sie Millionenboni für ihre Arbeit erhalten. Eine breite Bevölkerungsmehrheit sieht darin eher eine Methode, wie sich diejenigen selbst bedienen können, denen es ohnehin schon gut geht. Politiker debattieren gewandt über Rettungsfazilitäten, Leveraging und Bail-out-Konditionen – der Öffentlichkeit ist das Grund genug, sich entsetzt aus der Debatte abzumelden.
Je komplizierter die Welt wurde, desto weiter entfernten sich die Sphären ihrer Führungskräfte von denen der normalen Bürger. In den Anfangsjahren des westdeutschen Wirtschaftswunders reichten noch einfache Begriffe, um den öffentlichen Austausch zum richtigen Kurs der Wirtschafts- und Sozialpolitik möglich zu machen.
»Komplex« ist das neue Wieselwort für die Fachleute geworden. Mit »komplexen Finanzprodukten« wird der Schuldige für die Finanzkrise gleichermaßen benannt und verborgen. Mit »komplexen Märkten« wird die Verantwortung für die Krise einerseits lokalisiert, andererseits in einen extraterrestrischen Raum verbannt. Mit »komplexer Welt« schließlich wird das Kartell aus Politikern, Wirtschaftsführern, Regulierern, Beratern und Wissenschaftlern legitimiert, das die westliche Welt aus der Krise ziehen soll. »Komplexität« ist zur universalen Entschuldigungsformel geworden, die Grenzen der Gewaltenteilung zu missachten, die Verfassungen der Nationalstaaten zu beugen oder auch nur die großen Treffen des Kartells der Weltenretter zu bemänteln.
Komplexität heißt, dass man Probleme auch dann nicht vollständig begreifen kann, wenn man die Details ihres Zustandekommens kennt. Umso merkwürdiger ist es, dass mit der Vielschichtigkeit der Probleme »alternativlose« Lösungswege Konjunktur bekamen. »Alternativlos« – das war das politische Radikalverfahren im Ringen um den richtigen Weg aus einer Situation, die zu kompliziert war, um sie zu verstehen. »Alternativlos« – das ist in demokratischen Gesellschaften aber auch die Kündigung des demokratischen Prinzips. Man darf noch abstimmen, aber nicht mehr Nein sagen.
Die gewählten Volksvertreter in allen Staaten, die von der Finanzkrise betroffen sind, fügten sich erbittert in ihr Schicksal, die Kulisse für längst getroffene Entscheidungen abzugeben.
Die Finanzkrise und die europäische Schuldenkrise haben viel mehr erschüttert als nur die Weltwirtschaft. Sie haben deutlich gemacht, wie stark demokratische Konventionen vom wirtschaftlichen Erfolg einer Volkswirtschaft abhängen.
Dieses Buch soll beschreiben, dass die Welt zwar kompliziert ist, man sie aber trotzdem verstehen kann. Es soll erklären, wie es zu dem großen Systemversagen kommen konnte – und welche Wege sich für einen Neustart empfehlen.
Das Manuskript zu diesem Buch wurde Anfang Februar 2012 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt rangen Griechenland und die europäische Union wieder einmal um neue Milliarden, die das Land retten sollen. Auf den Straßen Athens liefen die Bürger Sturm gegen Gehalts- und Rentenkürzungen, Entlassungen im öffentlichen Dienst und Spardiktate für die private Wirtschaft. Offen war damals, ob ein regulärer Staatsbankrott eingeleitet wird, oder ob Griechenland mit neuen Schulden am Leben gehalten wird. Gewiss blieb dagegen, dass die Zukunft der Gemeinschaftswährung nicht gesichert ist.
Es ist ein trüber Tag im November, in der ehrwürdigen Alten Oper unweit des Frankfurter Bankenviertels versammelt sich Deutschlands Geldelite zum Kongress. Für den Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, ist ein Platz in der ersten Reihe reserviert, nicht weit von seinem deutschen Kollegen Jens Weidmann. Die Vorstandsvorsitzenden der großen Kreditinstitute werden erwartet und die Vertreter von Aufsichtsbehörden und internationalen Finanzinstitutionen wie der Osteuropabank oder dem Internationalen Währungsfonds. Der Saal ist in orangefarbenes Dämmerlicht getaucht, aus den Lautsprechern dröhnt dramatische Eröffnungsmusik wie aus einer TV-Dokumentation zum Zweiten Weltkrieg.
Die Tonlage entspricht der Stimmung. Vor zwei Wochen erst haben sich Europas Regierungschefs getroffen, um über Wege aus der schwersten Finanzkrise der Nachkriegszeit zu beraten. Doch seither ist die Lage nicht besser, sondern schlechter geworden, wie den Titelseiten der aktuellen Tageszeitungen zu entnehmen ist. In den USA sind die Staatsschulden auf einen neuen Rekordstand geklettert, die Euro-Krise hat sich weiter zugespitzt, die japanische Regierung stellt sich auf die nächste Konjunkturflaute ein. Deutschlands Versicherungskonzerne melden schrumpfende Geschäfte, US-Investoren ziehen ihre Mittel aus europäischen Geldhäusern ab, die Kreditwürdigkeit deutscher Landesbanken sinkt. Überall ist in den Meldungsspalten von »Nervosität«, »Besorgnis« und »Rückschlägen« zu lesen.
Angst regiert die Finanzwelt, und so bemühen sich die Krisenmanager aus Politik und Kreditwirtschaft, bei ihrem Treffen Signale der Einigkeit auszusenden. Im Foyer hat Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann einen Pulk Pressevertreter um sich versammelt, um ihnen unter dem gleißenden Licht der Videoscheinwerfer jene Botschaften in die Blöcke zu diktieren, von denen er sich eine beruhigende Wirkung auf die Börsen verspricht. Die Politik müsse endlich die versprochenen Krisenprogramme umsetzen, fordert er, und deutlich machen, dass Griechenland ein Einzelfall sei. Wenig später fährt Finanzminister Wolfgang Schäuble mit seinem Rollstuhl auf die mit weißen Rosen geschmückte Bühne und sagt, dass die Regierung nun die versprochenen Krisenprogramme umsetzen werde und Griechenland ein Einzelfall sei.
So etwas nennt man Schulterschluss, und Schäuble kann gar nicht genug vorführen, wie nah er sich an diesem Tag den Vertretern der deutschen Bankenbranche fühlt. Finanzindustrie und Politik müssten endlich aufhören, sich gegenseitig die Schuld an der Misere zuzuschieben, verlangt er, um dann jenen Vergleich hinzuzufügen, der in Deutschland stets gezogen wird, wenn es gilt, eine Schicksalsgemeinschaft zu begründen: »Wir sitzen in einem Boot.«
Der Satz soll Mut machen, doch nicht nur den Finanzexperten in der Frankfurter Oper ist klar, dass es sich hierbei um den Mut der Verzweiflung handelt. Schäubles Boot, in dem Banker und Politiker einträchtig am Ruder sitzen, steht kurz vor dem Kentern, und das nicht nur in Deutschland.
In allen westlichen Industrienationen leiden die Geldinstitute unter faulen Krediten, fehlendem Kapital und trüben Geschäftsaussichten, zugleich bekommen die Regierungen ihre ausufernden Schulden nicht in den Griff. In den USA können sich Republikaner und Demokraten auf keine Strategie zur Sanierung des defizitären Staatshaushalts einigen. In Europa bedrohen die Schuldenberge Italiens, Spaniens oder Portugals den Bestand der Gemeinschaftswährung. In Japan stagniert seit zwei Jahrzehnten die Wirtschaftsentwicklung, obwohl die Regierung ein kreditfinanziertes Ausgabenprogramm nach dem anderen auflegt.
Was mit dem Preisverfall auf dem amerikanischen Immobilienmarkt begann, gefährdet inzwischen die finanzielle Existenz ganzer Staaten. Erst mussten die Regierungen die Banken retten, die sich in der Subprime Krise verspekuliert hatten. Jetzt sind die Banken in Not, weil sie zu viele Kreditpapiere der verschuldeten Staaten im Tresor hatten. Ein Teufelskreis wurde in Gang gesetzt, der nach Ansicht nicht weniger Experten in einer jener Katastrophen enden könnte, wie sie in Deutschland allenfalls noch vom Hörensagen bekannt sind: Staatsbankrott, Hyperinflation, Währungsreform.
Keine der üblichen Konjunkturflauten ist zu beobachten, sondern ein schwerer Schaden an der zentralen Antriebsachse des Kapitalismus. Ein halbes Jahrhundert lang funktionierte die Verbindung von Geld und Politik zu beiderseitigem Nutzen. Die Staaten förderten die Geschäfte der Kreditwirtschaft, die Banken finanzierten einen Gutteil der öffentlichen Ausgaben. Auch gesamtwirtschaftlich galt die Symbiose lange als Erfolgsmodell, seit den frühen Achtzigerjahren erlebten Europa und Amerika ein Phase anhaltenden Wachstums und stabiler Preise.
Dann brach die Investmentbank Lehman Brothers zusammen, und seither rätselt die Welt, was schiefgelaufen ist. Die einen, wie etwa der Philosoph Jürgen Habermas, sehen einen »verwilderten Finanzkapitalismus« am Werk, der die westlichen Demokratien nach Belieben manipuliert und die gewählten Volksvertreter an seinen »Drähten zappeln« lässt. Die anderen halten die Finanz- und Schuldenkrise für ein Zeichen des Werteverfalls. Der 2009 verstorbene liberale Soziologe Ralf Dahrendorf etwa beschrieb die westliche Staatenwelt auf dem Weg »vom Spätkapitalismus zum Pumpkapitalismus«, der nicht mehr auf Leistung, sondern auf »Konsum und wachsende Verschuldung« gegründet sei, also »einem Übermaß an Genuss«.
Doch damit sind bestenfalls die Symptome der Malaise beschrieben. Ohne Zweifel prägen Profitstreben und Gier das Erscheinungsbild der Schuldenkrise, aber sie haben sie nicht verursacht. Der eigentliche Krankheitskeim ist in jener US-amerikanischen Wirtschaftsdoktrin zu suchen, die den Globus seit einem Vierteljahrhundert beherrscht und im Kern aus zwei Elementen besteht: dem Turbokapitalismus, der die Finanzmärkte so weit wie möglich entfesseln will, und dessen gefälligerem, aber nicht weniger gefährlichem Bruder: dem Turbo-Keynesianismus.
Die kluge Idee des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes, wonach der Staat bei schweren Konjunktureinbrüchen die Nachfrage stützen muss, haben seine amerikanischen Nachfolger zur Dauertherapie umgedeutet. Wann immer das Wachstum nachlässt oder die Börsenkurse einbrechen, so lautet die US-Variante der Keynes’schen Lehre, muss die Notenbank die Zinsen senken und der Staat mit Konjunkturprogrammen aushelfen.
»Kickstart« nennen Börsianer die Methode, die niemand überzeugender handhabte als der langjährige US-Notenbankchef Alan Greenspan. Von 1987 bis 2006 leitete er das Federal Reserve Board (Fed) im Geist der neuen US-Religion, deren Glaubenskanon aus dem gleichermaßen eingängigen wie uramerikanischen Ruf nach billigem Geld und freien Märkten bestand.
Greenspan war der Prophet, aber er war nicht allein. Seine Priester waren die Chefs der großen Wall-Street-Firmen, die rasch erkannten, wie sehr die neuen Glaubenssätze ihr Geschäft beförderten. Als Theologen waren die Ökonomen in Universitäten und Think Tanks behilflich, die Greenspans Lehrsätzen die Aura wissenschaftlicher Unangreifbarkeit verliehen. Und seine Gemeinde bestand aus Millionen von Privatanlegern und Kleinaktionären, die gläubig verfolgten, wie der allmächtige Fed-Chef eine Heimsuchung nach der anderen bannte. Aktien-Crash, Asienkrise, Nine-Eleven-Terror: Regelmäßig schaffte Greenspan es, die Kurse zu stabilisieren und die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu führen.
Auch die Politiker jubelten. Früher hatten ihnen die Ökonomen stets weisgemacht, sie müssten zwischen dem Übel der Arbeitslosigkeit und der Geißel der Inflation wählen. Jetzt stand ihnen eine Geldpolitik zu Diensten, die nicht nur krisenfreies Wachstum, sondern auch die Einebnung alter politischer Gegensätze versprach. Es war ein Programm, das funktionierte wie ein Warenhauskatalog: Die Rechten bekamen die Deregulierung der Märkte, für die Linken gab es niedrige Zinsen, die sich für allerlei Wohlfahrtsprogramme nutzen ließen.
Kein Wunder, dass die US-Geldpolitik auch unter Europas Sozialisten bald als vorbildlich galt. Greenspan dürfe »als der Meister des Aufschwungs und des Wirtschaftswachstums« gelten, schwärmte etwa der langjährige SPD-Vorsitzende und spätere Linkspartei-Gründer Oskar Lafontaine, der sich sonst nicht gerade als besonderer Freund der Vereinigten Staaten verstand. Greenspan aber war für ihn ein Held. Der Fed-Chef habe »mit einer klugen Geldpolitik das Ruder in Amerika wieder herumgerissen«, jubelte er und empfahl der notorisch stabilitätsversessenen Bundesbank, sich die US-Kollegen zum Vorbild zu nehmen. Die Fed habe begriffen, dass »Geldpolitik auch für Wachstum und Beschäftigung verantwortlich ist«.
Nicht nur die deutsche Linke huldigte dem Notenbankchef. Weltweit haftete Greenspan bald der Ruf eines Wunderdoktors an, dessen Medizin die Lösung aller Probleme versprach. Die befreiten Finanzmärkte würden das Kapital künftig automatisch in die wachstumsträchtigsten Felder lenken, so lautete die Verheißung, zugleich würden Greenspans kluge Zinsentscheidungen den Konjunkturzyklus dämpfen. Kurz, mit der Turboökonomie amerikanischer Machart schien endlich möglich zu werden, was der Menschheit seit der Industrialisierung als Traum erschienen war: den Kapitalismus gleichzeitig zu entfesseln und zu zähmen.
Doch wie es so ist mit Arzneien, falsch dosiert können sie zum Gift werden, oder wie im Fall der US-Wirtschaft: zum Rauschgift. Denn das billige Geld, das Greenspan verordnete, brachte den Organismus nur kurzzeitig auf Touren, langfristig richtete es all jene Schäden an, die seit jeher mit der Verabreichung von Aufputschmitteln verbunden sind. Sie schwächen den Organismus, vernebeln die Sinne und verändern die Persönlichkeit. Vor allem aber, sie machen abhängig.
Im Fall der US-Ökonomie kann über den Befund kein Zweifel bestehen. Was in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts als amerikanisches Wirtschaftswunder gefeiert wurde, war in Wahrheit ein Patient auf Droge – mit dem Dealer in der Währungsbehörde.
Nicht nur Notenbanker wissen: Wer das Geld verbilligt, erleichtert das Schuldenmachen. In den USA wurde Geld extrem verbilligt, entsprechend wurde die Kreditaufnahme zum Kinderspiel, in allen Abteilungen der Gesellschaft. Die Verbraucher hörten auf zu sparen und konsumierten auf Pump. Die Unternehmen legten weniger Gewinne zurück, stattdessen nahmen sie Kredite auf. Die Regierung erhöhte keine Steuern, sie finanzierte ihre Kriege am Golf und im Irak mit neuen Schulden. Ein ganzes Land lebte über seine Verhältnisse, wie sich alsbald in der US-Leistungsbilanz ablesen ließ. Zwischen 2000 und 2005 lag das Defizit fast fünf Mal so hoch wie in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre.
Den Vorteil hatte die Finanzindustrie. Von jeher profitieren vor allem die Banken, wenn der Zinssatz niedrig und die Kapitalnachfrage groß ist. Unter den Bedingungen der US-Turboökonomie aber begannen die Geschäfte der Kreditbranche regelrecht abzuheben. Immer exotischere Finanzprodukte wurden erfunden, immer rasanter stiegen die Boni der Banker, immer schneller kletterten Häuserpreise und Aktienkurse. Greenspans Niedrigzinsen sollten den Wohlstand des kleinen Mannes erhöhen, stattdessen machten sie vor allem die Reichen reicher.
Der Konzentration des Geldes entsprach die Konzentration der Macht. Die amerikanische Finanzindustrie, die schon immer über großen Einfluss in Washington verfügte, wurde in der Greenspan-Ära allmächtig. Andere Wirtschaftszweige beschäftigten Lobbyisten, die Wall Street regierte mit. Ihre Top-Manager besetzten Spitzenpositionen im Finanzministerium oder der Notenbank, ihre Spendengelder nährten die Wahlkämpfe demokratischer wie republikanischer Präsidentschaftskandidaten, ihre Juristen diktierten die Gesetze zur Finanzmarktaufsicht. Die Kreditbranche zu fördern wurde Staatsräson, ganz nach dem Motto: »Was gut ist für Goldman Sachs, ist gut für Amerika.«
Auf dem Höhepunkt des Kreditbooms waren die Vereinigten Staaten noch immer eine der reichsten Industrienationen der Welt, regiert aber wurden sie von einer kleinen Kaste aus Finanzmanagern und Politikern, die zwischen dem Interesse der Geldwirtschaft und dem Allgemeinwohl keine großen Unterschiede sah. Von einer amerikanischen Variante der Oligarchenherrschaft sprachen Kritiker.
Doch die Mahner blieben in der Minderheit, in den USA genauso wie im Ausland. Im Hochgefühl des Aufschwungs wollte niemand die Schattenseiten des US-Modells sehen, im Blick war nur der Glanz. Die Welt staunte über die Millionen von Kleinverdienern, die über Nacht zu Eigenheimbesitzern wurden. Sie erfreute sich an der Kauflust der US-Verbraucher, die Autos, Heimcomputer oder Ferienwohnungen kauften, ohne auf den Kontostand zu achten. Und sie bewunderte die mächtigen Investmentbanken, deren Wertpapier-Kreationen umso ausgefeilter schienen, je weniger sie zu verstehen waren.
Dass die Vereinigten Staaten das am weitesten fortgeschrittene Land des Kapitalismus sind, konnte die Menschheit nicht nur den Papieren der tonangebenden US-Wirtschaftswissenschaftler entnehmen. Die Erkenntnis schwang auch in dem schneidigen Ton mit, in dem sich amerikanische Regierungsmitglieder auf den jährlichen Tagungen des Internationalen Währungsfonds als Vorbild anpriesen. Die Realwirtschaft ist Vergangenheit, so lautete ihr Schlachtruf, die Zukunft gehört den Finanzdienstleistungen.
Die These kam nicht als Prognose, sondern als Gewissheit daher, entsprechend begeistert nahmen große Teile der westlichen Welt die neue Wirtschaftslehre auf. In Großbritannien wurde das US-Modell als Fortsetzung des Marktradikalismus einer Margaret Thatcher gelobt. In Japan galt es als Mittel der Wahl, um die dahinsiechende Wirtschaft flott zu machen. Ganz wie es der Turbo-Keynesianismus empfahl, senkten die Tokioter Regierungen die Zinsen und brachten ein Konjunkturprogramm nach dem anderen auf den Weg. Nur auf dem europäischen Kontinent waren Vorbehalte zu hören. Die staatsgläubige Elite Frankreichs hielt wenig von der Idee, die Finanzmärkte dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. Und die Deutsche Bundesbank sah in den modernen Kreditlehren aus Washington und New York nichts anderes als einen Angriff auf ihre traditionelle Stabilitätskultur.
Die Frankfurter Währungshüter hielten die Idee, mit der Geldpolitik die Konjunktur steuern zu wollen, im besten Fall für Scharlatanerie, im schlimmsten für den Weg in den Abgrund. Den Neuerungen der Finanzindustrie, die weltweit als ökonomischer Fortschritt gepriesen wurden, standen sie nicht mit Bewunderung, sondern mit Argwohn gegenüber. Und der amerikanischen Niedrigzinspolitik begegneten sie schon deshalb mit Skepsis, weil sie dem bewährten deutschen Notenbanker-Lehrsatz widersprach, wonach nur knappes Geld gutes Geld ist.
Nach diesem Prinzip war die D-Mark zur stärksten Währung des Kontinents geworden, nach diesem Prinzip sollte auch die neue Gemeinschaftswährung stabil gehalten werden. Der Euro, so hatten es die Politiker den Deutschen versprochen, werde genauso werden wie die Mark, nur noch härter.
Es kam anders. Kaum war das neue Geld eingeführt, wurde es auch schon amerikanisiert, mit denselben Motiven wie jenseits des Atlantiks, aber mit schlechterem Gewissen. Die Politiker verletzten ihre selbst gesetzten Haushaltsregeln, angeblich um Konjunkturpolitik zu betreiben. Die Währungshüter in der Europäischen Zentralbank führten zwar pro forma die Prinzipien der Bundesbank fast, tatsächlich aber hielten sie nach dem Vorbild der Fed die Zinsen niedrig. Und auch die Deregulierung auf den Finanzmärkten wurde vorangetrieben, allerdings unter den Bedingungen der europäischen Kleinstaaterei.
So kam es, dass sich überall auf dem alten Kontinent bald Finanzblasen bildeten, die zwar nicht so groß waren wie in den USA, aber dafür zahlreicher. In Spanien explodierten die Immobilienpreise, im irischen Dublin wuchs ein Büropalast nach dem anderen in den Himmel, in Griechenland verprasste die Regierung das Geld, indem sie einen absurd aufgeblähten Staatsapparat mästete. Befördert wurde das Schuldenwachstum, weil die Euro-Einführung die Illusion nährte, als herrsche in allen Mitgliedsländern das gleiche Investitionsrisiko.
So vermittelte die Wirtschaft der westlichen Industrieländer zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts ein trügerisches Bild. Bei oberflächlicher Betrachtung wirkte der Patient gesund. Doch wer ihn unter den Röntgenschirm legte, konnte erkennen, wie krank er in seinem Inneren war. Die Finanzindustrie, das Herz-Kreislauf-System der westlichen Volkswirtschaften, war unter der ständigen Zufuhr von Aufputschmitteln auf groteske Größenordnungen angewachsen. Immer schneller musste das Herz schlagen, um das Blut noch durch die geschwollenen Adern pumpen zu können.
Nun erkannten auch die Doktoren der amerikanischen Zentralbank, dass sie ihr Medikament falsch dosiert hatten. Binnen 24 Monaten schraubten sie den Zinssatz um den Faktor fünf nach oben. Die Dealer hatten die Droge abgesetzt. Was folgte, war der Kollaps.
Jens Weidmann ist niemand, dem ein Filmregisseur die Rolle des Aufrührers geben würde. Der Präsident der Deutschen Bundesbank hat ein schmales, blasses Gesicht, das rotblonde Haar ist korrekt gescheitelt, auf der Nase sitzt eine schwarze Hornbrille. Wäre er Schauspieler geworden, würde ihn seine Agentur wohl hauptsächlich in den Kategorien »Schwiegersohn« oder »leitender Angestellter« vermitteln.
Im Herbst des Jahres 2011 jedoch stand der unscheinbare Wirtschaftsfachmann nahezu allein einer der machtvollsten Allianzen gegenüber, die es in der Geschichte der internationalen Finanzpolitik je gegeben hat. Ihr Oberbefehlshaber war niemand anderes als der mächtigste Mann der Erde, der amerikanische Präsident Barack Obama, sekundiert von seinem Finanzminister Timothy Geithner. Als seine Generäle konnte er die Chefs der internationalen Finanzinstitute ins Feld führen, von der Generaldirektorin des Internationalen Währungsfonds Christine Lagarde bis zu Weltbankpräsident Robert Zoellick. Zu seinen Verbündeten zählten die Regierungschefs fast aller europäischen Staaten, die Finanzindustrie der Wall Street und die Creme der angelsächsischen Ökonomenszene.
Weidmanns Guerilla-Armee dagegen bestand aus nicht mehr als ein paar Notenbankern nordeuropäischer Länder, Vertretern der Bundesregierung sowie einigen Anhängern in der heimischen Bankenbranche. Es war eine bescheidene Truppe, deren Moral schon deshalb nicht die beste war, weil sie bereits beträchtliche Verluste zu beklagen hatte. Weidmanns Amtsvorgänger, der ehemalige Bundesbankpräsident Axel Weber, hatte nach einjährigem Abnutzungskrieg seinen Dienst quittiert, das deutsche Zentralbankratsmitglied Jürgen Stark war bald darauf ebenfalls von der Fahne gegangen.
Nicht mit Bomben oder Gewehren wurde dieser Konflikt geführt, sondern mit Positionspapieren, Interviews und Konferenzbeiträgen. Keine Toten waren in diesem Ringen zu beklagen, dafür wurden Überraschungsangriffe befohlen und Bündnisse geschlossen, Positionen gewechselt und es wurde mit dem Einsatz immer schwererer Waffen gedroht, nach der erprobten Logik militärischer Abschreckung. War anfangs noch von der »großen Bazooka« die Rede, wurde bald der Abwurf der »Nuklearwaffe« ins Gespräch gebracht. Es ging nicht darum, Territorien oder Rohstoffe zu erobern, es ging um die Hoheit über Europas Währungspolitik.
Die Europäische Zentralbank müsse endlich in großem Stil Staatsanleihen verschuldeter Euro-Länder ankaufen, so verlangten Weidmanns Gegner. Nur so könne verhindert werden, dass Länder wie Italien, Spanien oder Portugal untragbar hohe Zinsen zahlen müssten. Nur so könne der Euro gerettet werden.
Weidmann hielt dagegen. Ein unbegrenzter Ankauf von Staatsanleihen verstoße nicht nur gegen die europäischen Verträge, so argumentierte er, er würde auch nicht die erhoffte Wirkung haben. Es werde nur neues Geld geschaffen, aber kein einziger Staatshaushalt saniert. Am Ende stünde nur eins: Inflation.
Weidmann war sich sicher, für die richtige Sache zu kämpfen. Aber er wusste auch: Recht haben und recht bekommen sind zweierlei.
An einem Tag im Spätherbst 2011, als die Schlacht besonders heiß tobte, saß der Notenbanker an seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch in der zwölften Etage der Frankfurter Bundesbankzentrale. Gerade hatten zwei Reporter einer Londoner Finanzzeitung auf seinem schwarzen Besuchersofa gesessen und ihn mit jenen Fragen bestürmt, die seit Tagen auch in der nationalen und internationalen Wirtschaftspresse gestellt wurden. Wie lange er sich noch weigern wolle, »die Silberkugel« abzufeuern, wollte die Financial Times wissen. Warum er lieber an »die nächste Havarie« denke anstatt erst einmal »die Passagiere in die Boote zu bringen«, fragte der deutsche Ökonom Bert Rürup. Ob es ihm nicht klar sei, dass er »einen anachronistischen Krieg« führe, ätzte der britische Historiker Niall Ferguson.
Weidmann stand am Fenster seines riesigen Büros, von dem er einen spektakulären Blick über die Frankfurter Banken-Skyline genoss. Die Fassaden der silbergrauen Türme leuchteten in der Abenddämmerung wie eh und je, doch ein Ausweis wirtschaftlicher Stärke waren sie schon lange nicht mehr. Die Commerzbank musste schon seit Jahren vom Staat gestützt werden, die Deutsche Bank hatte ihr Renditeziel gesenkt, in den übrigen Wolkenkratzern waren nach Auskunft Frankfurter Makler mehr als zwei Millionen Quadratmeter Bürofläche nicht dauerhaft vermietet, ein größerer Leerstand als in jeder anderen deutschen Stadt.
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