Das doppelte Deutschland - Ursula Weidenfeld - E-Book

Das doppelte Deutschland E-Book

Ursula Weidenfeld

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Beschreibung

Vor 75 Jahren wurden zwei deutsche Staaten gegründet. Ursula Weidenfeld legt eine Geschichte des doppelten Deutschland vor, wie sie so noch nicht geschrieben wurde. Bisher gibt es, zumindest in der westdeutschen Erinnerung, die Bundesrepublik (oder ganz einfach: «Deutschland») und daneben die DDR, üblicherweise als der «zweite deutsche Staat» bezeichnet. Deren Geschichte wird immer von hinten erzählt, vom Ende her – das ist die übliche Strafe für gescheiterte Staaten. Dagegen wird die Geschichte Westdeutschlands von Beginn an geschrieben, ihre Eckpunkte sind die Eckpunkte «Deutschlands» von der Staatsgründung bis heute. Diese Sichtweise aber ignoriert das Offene in der Entwicklung beider politischer Systeme. Ursula Weidenfeld macht es deshalb anders: Sie schildert eine einzigartige Parallel- und Wettbewerbssituation, in der sich zwei Staaten wie die beiden Teile eines Magneten gleichzeitig anzogen und abstießen. Diese beiden Länder einander gegenüberzustellen, sie miteinander und nebeneinander zu betrachten, ergibt eine neue deutsche Geschichte von 1949 bis heute. Gerade weil es keine oder nur wenige gemeinsame Erinnerungen gibt, ist das eine besondere Herausforderung. Ursula Weidenfeld stellt sich ihr und öffnet so einen neuen Blick auf das doppelte Deutschland.

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Seitenzahl: 486

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Ursula Weidenfeld

Das doppelte Deutschland

Eine Parallelgeschichte, 1949 – 1990

 

 

 

Über dieses Buch

Ursula Weidenfeld legt eine Geschichte des doppelten Deutschland vor, wie sie so noch nicht geschrieben wurde. Bisher gibt es, zumindest in der westdeutschen Erinnerung, die Bundesrepublik (oder ganz einfach: «Deutschland») und daneben die DDR, üblicherweise als der «zweite deutsche Staat» bezeichnet. Deren Geschichte wird immer von hinten erzählt, vom Ende her – das ist die übliche Strafe für gescheiterte Staaten. Dagegen wird die Geschichte Westdeutschlands von Beginn an geschrieben, ihre Eckpunkte sind die Eckpunkte «Deutschlands» von der Staatsgründung bis heute. Diese Sichtweise aber ignoriert das Offene in der Entwicklung beider politischer Systeme. Ursula Weidenfeld macht es deshalb anders: Sie schildert eine einzigartige Parallel- und Wettbewerbssituation, in der sich zwei Staaten wie die beiden Teile eines Magneten gleichzeitig anzogen und abstießen. Diese beiden Länder einander gegenüberzustellen, sie miteinander und nebeneinander zu betrachten, ergibt eine neue deutsche Geschichte von 1949 bis heute. Gerade weil es keine oder nur wenige gemeinsame Erinnerungen gibt, ist das eine besondere Herausforderung. Ursula Weidenfeld stellt sich ihr und öffnet so einen neuen Blick auf das doppelte Deutschland.

Vita

Ursula Weidenfeld, geboren 1962, war u.a. Berlin-Korrespondentin der «Wirtschaftswoche» sowie Ressortleiterin Wirtschaft und stellvertretende Chefredakteurin des Berliner «Tagesspiegel». Heute arbeitet sie als freie Journalistin, als Kolumnistin und Kommentatorin für Verlage, Fernseh- und Hörfunksender. 2007 wurde Weidenfeld mit dem Ludwig-Erhard-Preis ausgezeichnet. 2017 erschien «Regierung ohne Volk», 2021 die Merkel-Biographie «Die Kanzlerin», die monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

ISBN 978-3-644-01544-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei.

 

 

www.rowohlt.de

Einleitung: Die eine und die andere Geschichte

Vierzig Jahre lang gab es zwei deutsche Staaten, fast genauso lang sind sie jetzt vereint. Aber noch immer sind «ostdeutsch» und «westdeutsch» besondere Begriffe. Sie gehören nicht nur zur Geographie, sondern sind politisch aufgeladen. Sie bezeichnen Identität, transportieren Vorurteile, politische und persönliche Prägungen. Die getrennte Geschichte scheint vielfach stärker zu sein als die vereinte.

Den Ton der deutsch-deutschen Geschichtsdebatte hatte 2021 jemand gesetzt, von der man es nicht erwartet hätte: «Müssen nicht Menschen meiner Generation und Herkunft aus der DDR die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land auch nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit gleichsam immer wieder neu beweisen, so als sei die Vorgeschichte, also das Leben in der DDR, irgendwie eine Art Zumutung?»[1] So fragte Angela Merkel am 3. Oktober 2021 bei der Einheitsfeier in Halle. Ausgerechnet Merkel, die das Land als Ministerin, Parteivorsitzende, Bundeskanzlerin dreißig Jahre lang geprägt hat wie niemand sonst. Auch sie teilt das Lebensgefühl vieler Ostdeutscher, «als zähle dieses Leben vor der Deutschen Einheit nicht wirklich». Mit dieser Einschätzung und Selbstwahrnehmung ist sie nicht allein, wie nicht zuletzt der Erfolg von Büchern belegt, die die dauerhafte Benachteiligung und Diskriminierung Ostdeutscher im Berufsleben beklagen und für einen neuen Blick auf die DDR und ihre Geschichte streiten.[2]

Woher kommt das? Kann es sein, dass sich so viele Menschen, die wie Merkel ein erfolgreiches Leben in dem vereinten Deutschland vorzuweisen haben, derart zurückgesetzt fühlen? Wer ist dafür verantwortlich? Wird tatsächlich in Westdeutschland bestimmt, wer «geborene» und wer «angelernte Bundesdeutsche und Europäerin» ist, wie es der Journalist Thomas Schmid der Kanzlerin am Ende ihrer Amtszeit hinterherrief?[3] Oder kann die Bevölkerung der östlichen Bundesländer nur dem Meckermodus der DDR nicht entkommen? Versperrt Nostalgie den klaren Blick auf die eigene Geschichte? Ist die Geschichte der beiden deutschen Staaten zwischen 1945 und 1990 so unterschiedlich gewesen, dass sie das Zusammenleben bis heute prägt und Verständigung schwer macht? Hat die Revolutionserfahrung die Bürger Ostdeutschlands der Demokratie und dem Staat gegenüber einfach nur mitleidloser werden lassen, wenn es darum geht, die Defizite des Gemeinwesens anzuprangern? Diese Fragen sind das Thema dieses Buchs.

 

Die Geschichte Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg wird normalerweise so erzählt: Das Land war von 1949 bis 1990 geteilt. Es existierten zwei Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Das eine Land gehörte dem westlichen Bündnis an, das andere dem Warschauer Vertrag. Das eine war erfolgreich, das andere nicht so sehr. Die Regierenden und die Bürger beider Länder beäugten einander feindselig, sie verglichen sich, maßen das Eigene am jeweils anderen. Eine Zeit lang wünschten sie sich, vereinigt zu werden. Nach und nach aber verlor sich dieser Wunsch bei den meisten. Man ging seiner Wege. Bis zum Mauerfall.

1990 ging die DDR unter. Ihre Geschichte wird von hinten erzählt, vom Ende zurück in die kurze Geschichte – das ist die übliche Strafe für gescheiterte Staaten (die Weimarer Republik ist ein weiteres eindrucksvolles Beispiel dafür). Im Rückblick betrachtet, erscheint ihr Verfall logisch und unausweichlich. Den Nachfahren präsentiert sich die DDR als historische Episode, die sich erledigt hat.

Nicht einmal die friedliche Revolution von 1989 genießt den Rang eines identitätsstiftenden nationalen Ereignisses,[4] wie etwa die amerikanische Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 oder der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 in Paris. Die Nationalfeiertage der wichtigsten Verbündeten gedenken mutiger Aufständischer und erfolgreicher Rebellen. Der deutsche 3. Oktober 1990 dagegen feiert die gemanagte Revolution, den offiziellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Als «Tag der Deutschen Einheit» passt dieser Verwaltungsakt geschmeidiger in einen gesamtdeutschen Feiertagskalender als die Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989, deren Teilnehmer noch fürchten mussten, von den Einheiten der Volkspolizei und Armee misshandelt und verhaftet zu werden. Oder die Großkundgebung in Berlin am 4. November. Oder der Mauerfall am 9. November (der sich aus anderen Gründen als Feiertag verbietet).

Westdeutschland dagegen kann Anspruch auf vollständige Betrachtung und umfangreiche Würdigung seines schönen Werdegangs erheben. Seine Geschichte wird von Beginn an chronologisch erzählt und fortgeschrieben, von der Staatsgründung bis heute. Der Blick auf diese Geschichte ist gnädig: Denn er bestimmt nicht nur die Position des Landes in der Vergangenheit, er legitimiert auch seine Gegenwart. Es ist dieser Faden, der nach 1990 weitergesponnen wird. Heute beansprucht er Gültigkeit für West- und Ostdeutschland.

Diese Art, Geschichte zu schreiben, ignoriert das jahrzehntelang Offene in der Entwicklung beider politischer Systeme. Sie muss sich zwar nicht vorhalten lassen, eine «geschichtliche Ausgrenzung der Ostdeutschen»,[5] eine «Geschichtsschreibung von Siegern»[6] zu sein, was von einigen Historikern aus der damaligen DDR vertreten wird. Aber sie unterschätzt die Verflechtungen, die Bedeutung der Systemkonkurrenz. Sie vergibt die Chance, eine einzigartige Parallel- und Wettbewerbssituation zu schildern, und sie leugnet die Herausforderung, sich einer gemeinsamen Geschichte zu stellen, in der es über vierzig Jahre keine oder nur wenige geteilte Erinnerungen gibt.

Wer die Geschichte der DDR nur von ihrem Ende her betrachtet, vernachlässigt diese Aspekte – und überzeichnet auf der anderen Seite die Eigenständigkeit der westdeutschen Geschichte. Ja, ohne die Sowjetunion hätte es die DDR nicht gegeben. Ohne die USA hätten aber auch die drei Westzonen keinen Staat gebildet, möglicherweise auch keine Zukunft in Freiheit und Wohlstand gehabt. Beide deutsche Staaten entwickelten sich als Frontstaaten im Schatten des Kalten Krieges. Die Geschichte der beiden Republiken ist eine doppelte Geschichte, von zwei Staaten, die stets aufeinander bezogen waren.

Westdeutschland hatte aus verschiedenen Gründen mehr Glück – es erwischte einfach den besseren Part: die bessere wirtschaftliche Ausgangssituation, das erfreulichere und effizientere politische System, eine ordentliche Währung, liberale Wirtschaftspolitik, kaum Demontagen durch die Siegermächte. Der Koreakrieg ermöglichte die unerwartet schnelle Integration der westdeutschen Besatzungszonen in das westliche Bündnis und legte den Grundstein für den ökonomischen Aufschwung. Wegen des Kriegs in Asien wuchs zu Beginn der fünfziger Jahre die Nachfrage nach Eisen und Stahl, Maschinen und Industrieprodukten so sprunghaft, dass man auf die verachteten Deutschen (West) nicht verzichten konnte und wollte. Dafür nahmen alle Beteiligten die Teilung Deutschlands in Kauf.

Ostdeutschland, die Sowjetische Besatzungszone, dagegen hatte Pech. Es war der Verlierer der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West – mit Folgen, die bis heute nachwirken: «Die extreme, willkürliche Ungleichverteilung dieser Lasten [des Krieges] ist eines der Grundprobleme jener deutschen Geschichte, die mit dem 8. Mai 1945 begann.»[7] Zerstörung, Demontagen, Enteignungen und Kollektivierung der DDR-Wirtschaft verzögerten und behinderten den ökonomischen Wiederaufstieg und schufen ein deutlich weniger leistungsfähiges wirtschaftliches System. Die Flucht Hunderttausender Ostdeutscher nach Westen und der Einfluss westlicher Medien ließen die Fortschritte der DDR klein und grau erscheinen. Staatliche Repression, Überwachung und Kontrolle engten die Handlungsspielräume von Künstlern, Wissenschaftlern, Unternehmern, Professoren und Lehrern ein oder eliminierten sie ganz. Die DDR beanspruchte, das «bessere Deutschland» zu sein. Politisch kam sie dem eigenen Platz in den Geschichtsbüchern im Lauf der Zeit immer näher. Doch wenn es um Freiheitsrechte und Wohlstand ging, verpasste sie die eigenen Ziele gleichzeitig für alle erkennbar immer deutlicher.

Und dennoch konnte selbst Mitte der achtziger Jahre niemand wissen, dass die DDR im Herbst 1989 unter Druck geraten, sich im November öffnen und im Oktober 1990 dem westdeutschen Staatsgebiet anschließen würde. Theo Sommer kam als Chefredakteur der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit» nach einer DDR-Reise im Jahr 1986 zu dem Schluss: «Bundesrepublik hüben und Deutsche Demokratische Republik drüben werden auf einige Zeit Deutschlands Gegenwart bleiben.»[8] Die DDR schien bis kurz vor der friedlichen Revolution ein stabiles Land mit einer eigenständigen sozialistischen Zukunft zu sein, ebenso wie der Westen des Landes der eigenen selbstbewusst entgegensah. «Und wer auch wollte glauben», schrieb Willy Brandt im Frühjahr 1989, «eines Tages vollziehe sich der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, und das sei’s dann?»[9]

Weil die DDR am 3. Oktober 1990 genau das tat, nämlich dem Geltungsbereich des westdeutschen Grundgesetzes beizutreten, reduzierte sich das Verständnis gültiger deutscher Nachkriegsgeschichte erst recht auf die Perspektive Westdeutschlands. Mit dem Begriff «Währungsreform» ist selbstverständlich der 20. Juni 1948 gemeint. Als Beginn des Wirtschaftswunders und der sozialen Marktwirtschaft wurde ihr fünfundsiebzigster Geburtstag im Sommer 2023 auch gefeiert – nicht ein Gedanke wurde an den 23. Juni desselben Jahres verwendet, zu dem die DDR ihre eigene Währung bekam. Gültig ist der Mythos der D-Mark.

Die «Staatsgründung» beschreibt in der aktuellen Wahrnehmung den Zeitraum zwischen dem 23. Mai 1949 und dem 20. September 1949, in dem das Grundgesetz in Kraft trat, die ersten Bundestagswahlen stattfanden, Bundespräsident Theodor Heuss gewählt wurde und die erste Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer ihre Arbeit aufnahm. Die Gründung der DDR, die Wahlen zur Volkskammer, die sozialistische Verfassung sind nicht gemeint, sie sind zu vergessen. Der 3. Oktober 1990, der Tag der Deutschen Einheit, ist zwar die entscheidende Zäsur in der Geschichte beider deutscher Staaten, doch zum Tag einer Staatsneugründung ist auch er nicht geworden, im Gegenteil: Er beschreibe im Geschichtsverständnis den Tag, an dem die «ostdeutsche Gesellschaft hinzukam, die die Demokratie erst dann, ganz neu, und mehr oder weniger willig zu lernen begann», wie die Bielefelder Historikerin Christina Morina bemerkte.[10]

Dasselbe für das Jahr 1968. Im geeinten Deutschland wird an Emanzipation, sexuelle Befreiung und an den Aufstand der Studenten gegen die Elterngeneration erinnert. Für viele Ostdeutsche aber war dieses Jahr ebenfalls ein tiefer Einschnitt: das Ende aller Reformhoffnungen. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings starben ihre Ambitionen für eine freiheitlichere, fröhlichere, friedlichere und lebenswertere DDR für viele Jahre. Und wer schließlich erzählt, dass «Deutschland» 1954, 1974, 1990 und 2014 Fußballweltmeister wurde, ignoriert, dass drei dieser Erfolge rein westdeutsch waren. Der «Spiegel» schreibt 1974, die besten Spieler der Welt seien mit ihren Mannschaften ins Finale vorgedrungen, nämlich «Holland mit Cruyff und Deutschland mit Beckenbauer». Dass «Deutschland» zuvor eine 0:1-Niederlage gegen die DDR kassiert hatte, war nicht einmal mehr eine Fußnote.[11]

Die beiden traumatischen Jahrestage der DDR, der 17. Juni 1953 und der 13. August 1961, sind dagegen schon frühzeitig Gegenstand einer kulturellen und deutschlandgeschichtlichen Aneignung geworden. Beim 17. Juni war das ganz offensichtlich. Er wurde schon wenige Tage nach dem Arbeiteraufstand in der DDR zum westdeutschen Nationalfeiertag «als das große Beispiel für den deutschen Willen zur Einheit in Freiheit», so der damalige SPD-Abgeordnete Friedrich Maier.[12] Die Erinnerung an das Heldentum der Ostdeutschen wurde wie in einer Zeitkapsel aufbewahrt und diente in den Folgejahrzehnten als Beweis des Wunsches der ostdeutschen Bevölkerung nach Einheit und Freiheit (und der westdeutschen Treue zum Verfassungsauftrag der deutschen Einheit). Umso erstaunlicher ist, dass sein historisches Echo, die entscheidende Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig, umstandslos zum Nebenereignis der Revolutionsgeschichte gemacht wurde.

Der 13. August, der Tag des Mauerbaus, markiert – mit allem Leid, das er mit sich brachte – die beginnende und mit den Jahrzehnten fortschreitende Entfremdung zwischen den Bürgern beider Staaten. Die DDR-Bürger, die vorher nach Westen geschaut, sich verglichen und oft eben auch gegen das eigene Land entschieden hatten, mussten sich von nun an mit ihrem Staat arrangieren. Das stabilisierte die DDR. Umgekehrt wandte sich die Bundesrepublik noch entschlossener dem Westen zu: Europa, der Gemeinsame Markt, die Wettbewerbsfähigkeit im westlichen Bündnis, die gemeinsam durchlittenen Energiekrisen der siebziger Jahre wurden zu den beherrschenden Themen Westdeutschlands. Dennoch gehören der 17. Juni und der 13. August zu den wenigen symbolischen Jahrestagen, die für die Menschen in beiden Ländern eine Rolle spielten. Vielleicht auch, weil der westdeutsche Bestand an Heldenhaftem immer überschaubar blieb.

Die Wiedervereinigung war Verfassungsauftrag, zunächst in beiden Staaten. Richtig ernst meinte es nun aber niemand mehr damit. In der Bundesrepublik hefteten Diplomaten zwar noch bis 1990 an jeden Brief ins Ausland einen Anhang, mit dem sie darauf hinwiesen, dass man sich nicht mit der Teilung Deutschlands abfinden werde, dass «das gesamte deutsche Volk aufgefordert [bleibt], in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden».[13] In der DDR aber verschwand der entsprechende Passus im Jahr 1974 umstandslos aus der Verfassung. Mit der Ostpolitik Willy Brandts, der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, der Liberalisierung des Reiseverkehrs schien die Teilung ewiger deutsch-deutscher Alltag zu werden.

Trotzdem blieben die Bundesrepublik und die DDR eng verflochten, sie bezogen sich in den vierzig Jahren ihrer getrennten Geschichte aufeinander, sahen sich als «Alternative»[14] zum jeweils anderen Land, als Grenzstaaten und Musterknaben der beiden großen Blöcke in einem systemprägenden Wettbewerb. Selbst nachdem die Vorstellung eines wiedervereinigten Deutschlands nach und nach verblasst war, verglichen sich die freiheitlich-demokratische und die sozialistische Version Deutschlands eifersüchtig – in der Politik, im Sport, im wirtschaftlichen Erfolg, in der wissenschaftlichen Exzellenz, im Sozialen, bei der Sicherheit, der Freiheit.

Beide Teile Deutschlands verstanden sich als Gegenmodell des jeweils anderen. Die DDR ist für die Geschichte Westdeutschlands vor allem in den Anfangsjahren wichtiger gewesen, als das im Westen gesehen wird. Umgekehrt wuchs das Ansehen der Bundesrepublik im Osten in den späten siebziger und achtziger Jahren, je deutlicher ihr wirtschaftlicher Vorsprung wurde, je liberaler der Reiseverkehr gehandhabt wurde. Die Krise der DDR war tiefer, als es vielen in Ostdeutschland im verklärenden Rückblick erscheint. Die DDR hat die Freiheit ihrer Bürger beschränkt, sie ausspioniert und eingesperrt. Wirtschaftlich war sie nicht überlebensfähig. Doch sie war ein Land, das gerade in den Anfangsjahren von vielen gewollt war, für das sich Menschen leidenschaftlich einsetzten und in dem die meisten sich später eingerichtet hatten. Die Zahl der Dissidenten und Oppositionellen blieb selbst in den letzten Jahren des sozialistischen Staates überschaubar – die wachsende Zahl der Ausreiseanträge aber zeigte, wie und wo die Unzufriedenheit wuchs, die Angst vor Repressionen abnahm und die Hoffnung auf eine «bessere DDR» schwand. 1989 kulminierte all das im Protest gegen die gefälschten Kommunalwahlen im Mai, in den Botschaftsbesetzungen und einer Massenausreise. Nun wurden die Umwelt- und Friedensgruppen die Motoren der friedlichen Revolution.[15]

Dieses Buch macht einen Vorschlag, die Geschichte West- und Ostdeutschlands als Parallelgeschichte zu schreiben. Beide Teile Deutschlands verdienen es, die Jahre der Teilung von Beginn an zu betrachten, die Einflüsse und Verflechtungen sichtbar werden zu lassen. Herauskommen wird dabei kein möglichst umfassendes akademisches Werk. Vielmehr wird an bestimmten Punkten eine Tiefenbohrung versucht, für die ich die verfügbare Literatur der Geschichtswissenschaft sowie Quellen aus dem Bundesarchiv und der Stasi-Unterlagen-Behörde genutzt habe, außerdem Biographien, Autobiographien, Tagebücher, Essays und Romane. Des Weiteren werden die Erinnerungen von Zeitzeugen in die Schilderung einbezogen. Mir ist bewusst, wie tückisch Erinnerungen als Quelle für historische Betrachtungen sind und wie wenig repräsentativ die von mir Befragten für die west- wie die ostdeutsche Gesellschaft sind. Auf der anderen Seite aber führen sie, und nur sie, auf das letzte Kapitel des Buches hin – in dem es auch um Selbstgewissheit, Selbstvergewisserung, Kränkung, Nörgelei und Scham geht. Nicht alle meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner haben zugestimmt, mit ihrem Namen genannt zu werden. Ihre Bemerkungen werden anonymisiert wiedergegeben.

Zunächst wird die Ausgangslage in der Bi- und Trizone und in der Sowjetischen Besatzungszone betrachtet. Wer trug die Hauptlast des verlorenen Krieges, wer hatte die besseren wirtschaftlichen Chancen? Auch die politische Entwicklung in den ersten Jahren soll kurz skizziert werden. Weder die Bundesrepublik noch die DDR haben sich ihr Politik-, Gesellschafts- und Wirtschaftssystem selbst ausgesucht. In einem Fall befanden die Westalliierten über den Weg in die Demokratie und die Marktwirtschaft. Im anderen Fall diktierte die Sowjetunion die Hinwendung zum Sozialismus und den Anschluss des Landes an den Ostblock. Mit diesen diametral entgegengesetzten Prämissen wurden beide deutschen Staaten schrittweise in die Souveränität im Rahmen ihres Bündnisses entlassen. Offen war ihr Weg bei den Staatsgründungen im Jahr 1949 nicht mehr. Doch beide deutschen Staaten haben sich das von den jeweiligen Besatzungsmächten verordnete System zu eigen gemacht.

Es beginnt eine Geschichte der Entfremdung, Wiederannäherung, Beobachtung auf allen Ebenen. Es ist eine Geschichte, bei der natürlich noch niemand wissen kann, dass sie glücklich enden wird. Vierzig Jahre lang wird die Identität des Nationalstaats von den feindseligen Teilstaaten herausgefordert und infrage gestellt. Das Selbstbild des jeweils anderen Landes wird mit Verachtung kommentiert und herabgesetzt. Die Brutalität der innerdeutschen Grenze, der Kontroll- und Überwachungsdruck des DDR-Staates gegen die eigenen Bürger verstärken eine Westillusion, der die Bundesrepublik zu keiner Zeit gerecht werden kann. Die Folgen sind bis heute zu spüren.

«Es gibt Ereignisse in der Vergangenheit jeder Nation, die nicht einfach vorbei und nur noch von historischem Interesse sind», mahnt die Philosophin Aleida Assmann alle, die im Nachhinein in der DDR eine Nachkriegserscheinung mit sicherem Verfallsdatum sehen wollen.[16] Ist der bisherige Blick auf die DDR mitverantwortlich dafür, dass viele ehemalige Bürger dieses Staates den Eindruck haben, sich immerzu rechtfertigen zu müssen? Gibt es den herablassenden westlichen Blick wirklich, und worauf geht er zurück? Wird die deutsche Nachkriegsgeschichte von den Falschen geschrieben? Welchen Einfluss hat es, wenn in einem Land die Geschichte zweier Generationen umfassend verdrängt wird – einmal, weil im antifaschistischen Selbstverständnis der DDR kein Raum für die nationalsozialistische Vergangenheitsbewältigung der eigenen Bürger war, zum anderen, weil die DDR-Geschichte heute nahezu ausschließlich unter dem Aspekt ihres Scheiterns betrachtet wird? «Bin ich in der DDR also in so etwas wie dem ‹Dritten Reich› aufgewachsen?», fragte im Jahr 2017 der Theaterregisseur Thomas Oberender.[17] Was bedeutet das für die Identitätsdebatte im vereinigten Deutschland des 21. Jahrhunderts?[18]

Fragen, auf die es naturgemäß keine abschließenden Antworten geben kann. Aber vielleicht sind sie für diejenigen, die die Geschichte der alten BRD und der DDR vor der deutschen Einheit bewusst erlebt und gestaltet haben, ein Anlass, neu darüber nachzudenken. «Die Erinnerung ist (…) ein Zeichen dafür, dass diese Geschichte noch Ansprüche an die Gegenwart stellt und einer nachträglichen Bewertung und Bearbeitung harrt», schreibt Assmann. Mehr als dreißig Jahre nach der deutschen Einheit gibt es nun eine Generation, die im vereinten Deutschland geboren und erwachsen geworden ist. Die Identität dieses Deutschlands wird an den Grenzen Europas vermessen, sie wird durch Einwanderung neu bestimmt und durch die neuen Konflikte der Welt herausgefordert. Doch sie bleibt geprägt von den unterschiedlichen Erfahrungen der Zeit zwischen 1949 und 1990. Auch deshalb ist es wichtig zu ergründen, woher sie kommt – und eine doppelte Geschichte für das vereinigte Deutschland zu schreiben.

1 • Katastrophe und Neubeginn

Niemand hatte die Absicht, Deutschland zu teilen. Nach fast sechs Jahren Krieg, Tod und Zerstörung fehlten allerdings der Wille, die Energie und die Vorstellungskraft, es zu erhalten. Warum auch hätten die Sieger ein Deutsches Reich auf der politischen Landkarte wollen sollen? Für den Staat, der die Jahrhundertkatastrophe des Zweiten Weltkriegs, den Völkermord an den Juden Europas, die Plünderung der Nachbarländer und die Verschleppung Teile ihrer Bevölkerung zu Zwangsarbeit zu verantworten hatte, verbot sich eine Fortsetzung – wie auch immer die hätte aussehen können.

Was für ein Deutschland hätte es sein sollen? Die staatliche Integrität des Deutschen Reichs war mit der bedingungslosen Kapitulation am 7. Mai in Reims und am 9. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst fast vollständig ausgelöscht. (Die Siegermächte bestimmten den Tag dazwischen, den 8. Mai, als Tag der Kapitulation, um ein gemeinsames Datum für den Sieg über Nazideutschland zu haben.)

Wer hätte dieses Land regieren mögen? Die Zukunft lag ausschließlich in den Händen der Siegermächte Großbritannien, Sowjetunion, USA und Frankreich, die das Dritte Reich Adolf Hitlers unter enormen eigenen Opfern niedergerungen hatten.[19] Deutsche, die sich für die Regierungsarbeit geeignet hätten, waren nur beschränkt verfügbar, und den Siegermächten – eine Ausnahme war die Sowjetunion – zunächst größtenteils unbekannt. Großbritannien, die USA und Frankreich waren froh, wenn sie auf unterer Ebene für die Verwaltung und Ordnung des besiegten und zerstörten Landes genügend politisch wenig belastete Einheimische fanden.

Hinzu kam: Die Sieger hatten unterschiedlich unter dem Krieg der Deutschen gegen die Welt gelitten. Sie hatten unterschiedliche eigene Nöte, unterschiedlichen Hunger nach Wiedergutmachung und Reparationen, unterschiedliche geopolitische Interessen und gänzlich entgegengesetzte Vorstellungen, wie eine gute Gesellschaft funktioniert. Das prägte ihren Umgang mit den Deutschen. Die deutsche Frage war für sie in den ersten Monaten und Jahren darauf beschränkt, die Verantwortlichen für Krieg und Verfolgung vor Gericht zu bringen, Kriegsverbrecher zu bestrafen, Nationalsozialisten ihrer Ämter zu entheben, Reparationen zu mobilisieren, die Verwaltungen arbeitsfähig zu machen, die heimatlosen Menschen irgendwie unterzubringen und alle halbwegs zu ernähren. Sie hatten nur für den Krieg gegen Hitler zueinandergefunden. Diese Allianz ausgerechnet im Interesse des besiegten Kriegsgegners Deutschland aufrechtzuerhalten, lag ihnen fern.

Nur eines hatten alle Alliierten für die kommenden Jahrzehnte gemeinsam: Ihr Bedarf an Großdeutschland war ein für alle Male gedeckt. Das Deutsche Reich war zu Ende, es sollte nicht mehr auferstehen. Deutschland war besiegt und befreit – nur wozu, das war noch nicht klar.

Was für ein Gegensatz. Nach dem Ersten Weltkrieg standen viele Gruppierungen bereit, die das neue Deutschland auf unterschiedliche Weise gestalten wollten. Sie riefen die Republik aus, berauschten sich an der Vision eines modernen, demokratischen Landes, gingen dafür auf die Barrikaden und führten bewaffnete Auseinandersetzungen über den richtigen Weg. Sie erklärten Deutschland zur Republik, gaben den Frauen das Wahlrecht – und scheiterten wenige Jahre später an den eigenen Ansprüchen, den schweren inneren Kämpfen, der Skrupellosigkeit der politischen Opponenten, den wirtschaftlichen Problemen. Diesmal war es umgekehrt. In der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft gab es nur wenige, die für einen politischen Neuanfang zur Verfügung standen. Nur in der Sowjetischen Besatzungszone gab es autorisiertes Personal aus Deutschland, um den angeordneten Systemwechsel herbeizuführen: die kommunistischen Exilanten der Gruppe Ulbricht, die vor den Nationalsozialisten Zuflucht in Moskau gesucht hatten und nun als Nachhut der Roten Armee nach Berlin zurückkehrten. Im Gepäck hatten sie Namenslisten, wer unbelastet und in Zukunft einsetzbar war. Die anderen aber fühlten sich von der neuen Zeit ohnehin überfordert. Demokratie oder Kommunismus, Marktwirtschaft oder Sozialismus? Für die meisten Deutschen war das 1945 nur eine theoretische Frage. Der Alltag zählte.

Die Integrität des ursprünglichen Staatsgebietes in den Grenzen des Jahres 1937 war schon vor der Staatsgründung von Bundesrepublik und Deutscher Demokratischer Republik zerstört: Die Sowjetunion verschob ihre eigene und die Grenze Polens nach Westen. Den Flüchtlingswellen folgten die Vertriebenentransporte. Schon bald wurde den Deutschen klar, dass die Oder-Neiße-Grenze die künftige deutsche Außengrenze im Osten sein würde. Im Westen beanspruchte Frankreich das Saargebiet und bestand darauf, auch das Ruhrgebiet unter einen besonderen Status zu stellen. Zwar setzten sich die Franzosen in der für sie extrem wichtigen «Ruhrfrage» nicht durch, doch das Saarland blieb bis 1956 unter französischer Herrschaft.

Er habe keine Stunde null, sondern eine «Stunde Nichts» erlebt, erinnerte sich der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll später in einem Brief an seine Söhne.[20] Böll, der Armee in den letzten Kriegstagen schon halb davongelaufen, um seiner hochschwangeren Frau Beistand zu leisten, ging letztendlich doch noch einmal zurück zur Wehrmacht – aus Angst, als Deserteur verraten und standrechtlich erschossen zu werden. Nach der Kapitulation beschrieb er die Scham und die Orientierungslosigkeit in einem in jeder Beziehung niedergeschmetterten Land: «Es war kein schöner Zustand, ein Deutscher zu sein.»[21]

«Die totale Niederlage nach einem totalen Krieg»[22] bedeutete nicht nur das Ende des Dritten Reichs. Sie schuf ein Vakuum, eine Niemandszeit – eine Zeit, in der die Starken und Unternehmungslustigen die ersten Verabredungen trafen, Anstalten machten, die eigene Geschichte für die Nachkriegszeit zu glätten, den beruflichen und privaten Neuanfang zu versuchen. Viele räumten den Schutt beiseite, reparierten ihr Hab und Gut, organisierten Nahrungsmittel, handelten auf dem Schwarzmarkt, machten Geschäfte. Die Beflissenen erschienen an ihrer Arbeitsstelle in den Behörden und den erhalten gebliebenen Unternehmen, in den Baufirmen, den Verkehrs- und Handwerksbetrieben und Einzelhandelsläden. Da, wo Normalität möglich war, wurde sie verbissen gelebt. «Wir legen Bohnen und stecken Stangen. Ich muss 2 Beete Erbsen nachlegen»,[23] protokollierte die Lehrerin Helene Parpart aus dem brandenburgischen Oehna für den Himmelfahrtstag 1945. Das war am 10. Mai, einen Tag nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde in Berlin.

Die meisten aber waren geschlagen. Sie, denen die Sieger nun täglich in Rundfunksendungen, Aushängen, Gerichtsverfahren und öffentlichen Veranstaltungen die immense Schuld der Täter vor Augen führten, fühlten sich als Opfer. Für sie gab es keine Ordnung, keine Sicherheit, keine Perspektive. Sie empfanden keine Schuld, kein Bereuen, nur die Niederlage. Sie hatten Angst und Hunger, fürchteten um sich und ihre Angehörigen, ihren Besitz, suchten bewohnbaren Raum, Heizmaterial, essbare Pflanzen und Tiere. Die weniger Betroffenen ärgerten sich über die Einquartierung Fremder und die Enge, verachteten die Vertriebenen und Flüchtlinge, die um Nahrung und Unterkunft baten. Was außerhalb ihres direkten Umfeldes passierte, drang nur mittelbar zu ihnen durch.[24]

Die Stunde Nichts: Ein gefangen genommener Wehrmachtsoffizier in den Trümmern von Saarbrücken, März 1945.

Die Sieger …

An den Grenzen der Besatzungszonen wurde im Sommer 1945 deutlich, wie die deutsche Welt schon in diesen Tagen auseinanderdriftete. Mit der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 wurden die Trennlinien markiert. Der Osten Deutschlands geriet nun endgültig in das Machtgebiet der Sowjetunion, der Westen wurde von den USA, Großbritannien und Frankreich bestimmt. Als kurze Zeit später der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und ihren Verbündeten, dem Ostblock, auf der einen, den USA und ihren Partnern auf der anderen Seite begann, wurde aus der Demarkationslinie zwischen der russischen und den westlichen Besatzungszonen der «Eiserne Vorhang» zwischen den Welten.

Zunächst ging es um scheinbar vorläufige Bestimmungen: Im Norden und Nordwesten bekamen die Engländer das Sagen. Sie bestimmten über das wichtige Ruhrgebiet, das die Franzosen so gern neutralisiert hätten und über das sich wenige Jahre später die USA und die Sowjetunion so zerstreiten sollten, dass sie die Zusammenarbeit beendeten. Frankreichs Staatschef Charles de Gaulle hatte sich im letzten Moment in den Kreis der Kriegsgewinner manövriert, sehr zum Missfallen der USA und Englands. Der britische Premier Winston Churchill und der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt hatten dem französischen Widerstandskämpfer, der sich selbst nach der Befreiung Frankreichs zum Regierungschef und sein Land zur Siegermacht erklärt hatte, schon während des Kriegs misstraut. Auch das war ein Grund gewesen, Frankreich den Zugriff auf das Ruhrgebiet und seine Kohle- und Stahlindustrie zu verwehren. Der Machtpolitiker de Gaulle wiederum fürchtete, dass die Deutschen ihre Waffenschmiede an der Ruhr bald wieder anwerfen würden, wenn sie niemand daran hindere. Außerdem war Frankreich das am stärksten zerstörte westliche Siegerland. Es hätte die Kohle und den Stahl sehr gut brauchen können.

Eine Nachkriegsordnung wird gesucht: Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin auf der Potsdamer Konferenz, Juli 1945.

Die heutigen Bundesländer Bremen, Hessen, Bayern und ein Teil Baden-Württembergs bildeten die Amerikanische Besatzungszone. Die amerikanischen und britischen Soldaten zogen sich im Sommer aus den Gebieten in Thüringen, Sachsen und Mecklenburg zurück, die sie in den letzten Kriegstagen besetzt hatten. Dafür räumten die Sowjets den westlichen Teil der Reichshauptstadt Berlin (das spätere Westberlin) zugunsten der westlichen Siegermächte. Frankreich erhielt das spätere Rheinland-Pfalz und den südwestlichen Teil des heutigen Baden-Württemberg, außerdem das Saarland. Die Grenze zum sowjetischen Einflussbereich verlief entlang der heutigen Landesgrenzen von Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern auf der einen und der Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen auf der anderen Seite.

Die Potsdamer Konferenz war der Wendepunkt für den Versuch der Siegermächte, Nachkriegsdeutschland gemeinsam zu regieren. Noch einmal kamen sie zusammen, noch einmal wurde ein Kompromiss gefunden, wie das Land vorerst verwaltet und aufgeteilt würde, was es an Schadenersatz und Wiedergutmachung zu liefern habe, wie die Sieger miteinander umgehen wollten. Ein Alliierter Kontrollrat wurde eingerichtet, in dem die Besatzungsmächte ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln wollten. Doch die Interessengegensätze waren schon in Potsdam nicht mehr zu überbrücken. Spätere Versuche gemeinsamer Konferenzen scheiterten. Im Alliierten Kontrollrat stritten sich die Westmächte noch ein paar Jahre mit den Sowjets herum, bis die Sache im März 1948 im Eklat endete. Die Alliierten kamen in Fragen des deutschen Staates erst im Jahr 1990 wieder zusammen – um den Kontrollrat abzuschaffen und den Weg für die deutsche Einheit zu ebnen.

Schon 1945 waren die Interessen der Siegermächte disparat, und sie sollten im Lauf der nächsten Monate noch heterogener werden, bis zur offenen Auseinandersetzung: Die Sowjetunion und Frankreich wollten ein Deutschland, das Reparationen für den verlorenen Krieg und Wiedergutmachung für seine Verbrechen bezahlen sollte. Dafür musste es arbeiten, Wirtschaftsgüter schaffen und sie abliefern. Rigoros wurden die Deutschen zur Arbeit angehalten, ganze Unternehmen wurden auseinandergebaut und abtransportiert. Weit davon entfernt, Deutschland als künftigen Partner zu sehen, war Großbritannien nach der deutschen Niederlage vor allem an einer Pufferzone zwischen sich und der Sowjetunion interessiert. Winston Churchill hielt nach dem Tod Hitlers nun den sowjetischen Staats- und Parteichef Josef Stalin für die größte Gefahr eines freien und demokratischen Europas. Das (oft kolportierte, aber wohl falsche) Churchill-Zitat «Wir haben das falsche Schwein geschlachtet» machte die Runde.[25]

Idealerweise würde sich dieses Deutschland auch gegen den entnervend selbstbewussten de Gaulle aus Frankreich nutzen lassen – eine Hoffnung, die zu Churchills Bedauern nicht aufgehen sollte. Außerdem aber hatten die Briten natürlich nicht vor, die Kosten für die Besatzung und Verwaltung des besiegten Landes auf Jahre hinweg aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Auch im Vereinigten Königreich war die Not groß, auf der Insel wurde gehungert und gefroren, Lebensmittel wurden rationiert und zugeteilt. «Die deutschen Massen dürfen uns nicht zur Last fallen und erwarten, jahrelang von den Alliierten ernährt, organisiert und erzogen zu werden», forderte Churchill im April 1945.[26]

In den USA dagegen setzte sich die Überzeugung durch, dass Europa nur mit einem wirtschaftlich und politisch stabilen Deutschland zur Ruhe kommen und vor dem Kommunismus bewahrt werden könne. Die Vereinigten Staaten waren nie von den Deutschen besetzt gewesen, ihre Städte nie bombardiert worden. Dementsprechend war man in Washington nach einer Übergangsphase am ehesten bereit, dem Kriegsverlierer zugunsten einer stabilen Nachkriegsordnung großzügig zu begegnen und selbst zur Ordnungsmacht in Europa zu werden.

… und die Besiegten

Im Umgang der Alliierten mit den Deutschen – den Kriegsverbrechern, überzeugten Nationalsozialisten, Mitläufern und Soldaten – gab es nur zu Beginn Parallelen. Die Nationalsozialisten mussten aus ihren Ämtern entfernt, das deutsche Volk sollte umerzogen werden. In der Amerikanischen Besatzungszone war man am strengsten. Beamte, die Mitglieder der NSDAP gewesen waren, wurden aus ihren Ämtern entlassen. Sie sollten erst zurückkehren dürfen, wenn sie «entlastet» waren. Alle Erwachsenen mussten das Entnazifizierungsprogramm durchlaufen, Fragebögen ausfüllen, Entlastungszeugen benennen. In der britischen und französischen Zone nahm man es nicht ganz so genau. Wichtiger war, dass die Verwaltungen bald wieder arbeitsfähig waren. In der Sowjetischen Besatzungszone wurden bis 1949 mehr als eine halbe Million Menschen dauerhaft von ihren Stellen entfernt. Viele wurden in Sonderlagern eingesperrt, in die Sowjetunion verschleppt, überlebten die Behandlung nicht oder wurden erst Jahre später freigelassen. Auf ihre Posten wurden Kommunisten oder unbelastete Personen gesetzt.

Die Umerziehung der Deutschen begann unmittelbar nach dem Einmarsch der Alliierten. Die nationalsozialistische Ideologie musste aus den Köpfen vertrieben, die Verbrechen des Dritten Reichs sollten ihnen bewusst gemacht werden. So wurden tausendzweihundert Bürgerinnen und Bürger aus Weimar am 16. April 1945 von den amerikanischen Truppen gezwungen, das KZ Buchenwald mit eigenen Augen anzusehen, nur fünf Tage nach dessen Befreiung. Im Angesicht des Lagers, der Toten, der sterbenden und hungernden Häftlinge sollten sie in ihrer Stadt bezeugen, dass die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes tatsächlich geschehen waren.[27] Der gerade erst der NS-Eliteschule Ordensburg Sonthofen entlaufene fünfzehnjährige Theo Sommer begegnete Ende Juni 1945 an der Grenze zwischen der Französischen und der Amerikanischen Besatzungszone bei Kempten im Allgäu zum ersten Mal den von den Amerikanern aufgestellten riesigen Bildtafeln, die Fotografien aus den Konzentrationslagern zeigten: «Ich mochte nicht glauben, was ich da sah, ich hielt es für Feindpropaganda. Aber diese Fotos (…) gaben meinem Denken, meinem Leben alsbald ganz neu Richtung und Ziel.»[28] Der Junge sollte später Geschichte studieren und einer der führenden westdeutschen Journalisten werden.

Die Zuteilung von Lebensmitteln wurde in allen Besatzungszonen von der körperlichen Belastung und der Gesinnung abhängig gemacht. In der Sowjetischen Besatzungszone bekamen Mitglieder der NSDAP von Juni 1945 an gar keine Lebensmittelkarten mehr, ebenso wurden arbeitsfähige Personen, die nicht erwerbstätig waren, von der Zuteilung ausgeschlossen. Das hatte zur Folge, dass die Frauenerwerbstätigkeit von Beginn an deutlich höher war als in den westlichen Besatzungszonen. Die neue Klasse der Funktionäre wurde wie Schwerstarbeiter bevorzugt behandelt.

Zwischen Deutschen und Besatzungssoldaten sollte es keinerlei Kontakte geben. Zu groß war die anfängliche Angst der Sieger vor Terrorakten der deutschen Zivilbevölkerung, zu ausgeprägt die Verachtung für das Volk der Antisemiten und Kriegstreiber. Natürlich hielt sich niemand an das Fraternisierungsverbot. Die Amerikaner fuhren in offenen Jeeps durch das gerade besiegte Land, hängten lässig ihre Beine aus den Autos, schenkten Kindern Kaugummis und Schokolade und schienen alles andere als bedrohlich – jedenfalls für diejenigen, die nicht zu eng mit Hitlerdeutschland verbandelt gewesen waren.

Den jüdischen Literaturwissenschaftler Victor Klemperer, der die Zeit des Nationalsozialismus in Dresden überlebte, weil er mit einer protestantischen Frau verheiratet war, hatte es in den letzten Kriegstagen nach München verschlagen: «Im Übrigen machen die Amerikaner weder einen bösartigen noch einen hochmütigen Eindruck», notierte er ein bisschen amüsiert in sein Tagebuch, «der Stahlhelm sitzt ihnen bequem wie ein Zivilhut auf dem Kopf. (…) Marschieren habe ich noch nicht die kleinste Gruppe sehen: alle fahren. (…) Auch der Verkehrsschutzmann hat nicht die straffe Haltung und Bewegung des Deutschen. Er raucht im Dienst, er bewegt den ganzen Körper, wenn er mit schwungvoller Armbewegung die Wagen dirigiert, er erinnert mich an Filmaufnahmen.»[29]

Vor den russischen Soldaten dagegen herrschte Angst, «die Nazi-Propaganda vom ‹bolschewistischen Untermenschen› schien im brutalen Verhalten vieler sowjetischer Soldaten eine nachträgliche Bestätigung zu finden».[30] In den Tagen vor und nach der Kapitulation kam es zu systematischen Massenvergewaltigungen – über die nach 1945 nicht mehr gesprochen wurde und die erst viel später aufgearbeitet werden sollten.[31] Die offizielle Rhetorik von der spontanen deutsch-sowjetischen Freundschaft, die 1945 am Tag der Befreiung der Deutschen von Hitler begonnen hätte, war eine Konstruktion der Nachkriegs-DDR.

Der Schauspieler Manfred Krug, der damals als Kind mit seiner Familie in Hennigsdorf nördlich von Berlin lebte, schrieb später über die Tage kurz vor dem Kampf um Berlin: «Wir überlegen, was wir machen sollen, wenn der Iwan [die sowjetischen Soldaten] kommt. Alle haben Angst vor dem Iwan. Alle sprechen vom Vergewaltigen.»[32] Familie Krug blieb in Hennigsdorf, das nördliche Berliner Umland wird vom Krieg nicht so stark getroffen wie andere Regionen. Die Mutter und ihre Schwester wurden wenige Tage später das erste Mal von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Es war ein kollektives Schicksal, das die Großmutter gegenüber dem Enkel lakonisch kommentierte: «Ja, sie waren da. Sie haben gebrüllt. (…) Wir müssen es durchstehen. Es werden noch mehr kommen.»[33] Obwohl Vergewaltigungen in der sowjetischen Armee mit der Todesstrafe bedroht waren, wurden sie in den Tagen vor und nach der Kapitulation geduldet. Die Journalistin Marta Hillers berichtete in ihrem Tagebuch über den Versuch, im April 1945 Vergewaltigungen in ihrem Haus beim Kommandanten der sowjetischen Truppen anzuzeigen: «Er lachte bloß (…): Ach was, es hat Ihnen bestimmt nichts geschadet. Unsere Männer sind alle gesund.»[34]

Die Historikerin Miriam Gebhardt wies darauf hin, dass es systematische Vergewaltigungen und Missbrauch auch seitens der anderen Alliierten gegeben hat. Mindestens 860000 Personen wurden 1944 und 1945 von alliierten Soldaten vergewaltigt, mindestens 190000 davon von amerikanischen Soldaten, rechnete sie aus. Das Klischee von den freundlichen GIs oder den korrekten britischen Soldaten sei eine Nachkriegserfindung gewesen und habe mit der Realität nicht viel zu tun gehabt. Ähnlich wie bei den Übergriffen sowjetischer Soldaten sei auch darüber in Deutschland nach 1945 nicht gesprochen worden.[35]

Die Zivilbevölkerung arrangierte sich schnell mit der Tatsache, dass der Krieg verloren war, und mit den neuen Herren. Gerichte und Behörden wurden geschlossen, die Alliierten errichteten ihre Verwaltungen. Sie versuchten herauszufinden, wer von den Deutschen nationalsozialistisch belastet war, wer Verbrechen begangen hatte, wer nur mitlief, wer sich dem Hitlerreich widersetzt hatte – und jetzt für den Neuanfang gebraucht werden konnte. «Niendorf als Bürgermeister eingesetzt» steht im Tagebuch der brandenburgischen Lehrerin Helene Parpart schon am 9. Mai.[36]

Elf Millionen ehemalige Angehörige der Wehrmacht, Kriegsverbrecher und Funktionäre des Hitlerstaates waren bis zum Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft geraten, mehr als die Hälfte davon waren von britischen und amerikanischen Soldaten verhaftet worden. Hunderttausende deutscher Gefangener wurden in den letzten Kriegstagen und unmittelbar nach der Kapitulation in den berüchtigten Rheinwiesenlagern festgesetzt: eingezäunten Arealen entlang des Rheins, in denen sie wochenlang auf blankem Boden, ohne ausreichende Nahrung, sanitäre oder ärztliche Versorgung ausharren mussten. Eine Million ehemalige deutsche Soldaten wurden nach Frankreich transportiert, um dort als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, auf dem Bau und in der Industrie einen Teil der deutschen Kriegsschuld abzuarbeiten. Vier Millionen Kriegsgefangene beanspruchte die Sowjetunion als menschliche Reparationsleistung. Diese Gefangenen wurden in Arbeitslager gebracht, eine Viertelmillion schon vor der Kapitulation, die anderen unmittelbar danach. Funktionäre der NSDAP, Mitglieder der Gestapo, der SS und der SA, vermeintliche Angehörige der jugendlichen Naziguerilla und Terrortruppe «Werwölfe», regionale Parteigrößen und Blockwarte, aber auch potenzielle Oppositionelle wurden auf Verdacht verhaftet und verschleppt.

Es war kein Wunder, dass diejenigen, die sich wegen ihrer Vergangenheit Sorgen machen mussten, so schnell wie möglich in Richtung Westen verschwanden. Selbst in den Wirren der ersten Nachkriegswochen erschien eine vorübergehende Haft auf den Überschwemmungswiesen des Rheins erträglicher als Verhöre und Misshandlungen durch sowjetische Soldaten, ein mögliches Sterben in den zehn Speziallagern oder jahrelanges Verschwinden in Sibirien. Auch in den Lagern am Rhein kamen Gefangene ums Leben, die Todesrate lag bei einem Prozent. Aus französischer Gefangenschaft kehrten 2,6 Prozent der Kriegsgefangenen nicht nach Hause zurück. In sowjetischer Gefangenschaft allerdings starb jeder Dritte.[37]

Die große Migration

Die Eröffnungsbilanz der Nachkriegsgesellschaft war verheerend: Zwischen sieben und neun Millionen Deutsche waren im Krieg gefallen, durch den Bombenkrieg oder auf der Flucht gestorben. Zwölf bis achtzehn Millionen Menschen waren zwischen 1943und 1950 aus Osteuropa in Richtung Westen unterwegs – von den Nationalsozialisten umgesiedelt, am Ende des Krieges geflohen, später vertrieben. Ende 1946 waren rund vier Millionen Flüchtlinge in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) registriert, in den drei westlichen Besatzungszonen wurden zusammen fast sechs Millionen Vertriebene gezählt.[38] Dazu waren rund neun Millionen Menschen entweder ausgebombt oder evakuiert worden. Jeden zweiten Deutschen hatte es nach dem Krieg an einen Ort verschlagen, an dem er entweder nicht wohnte oder an dem er nicht wohnen wollte.

Wie schicksalhaft zufällig, lebensgefährlich und verworren die Wege der Menschen in diesen Tagen oft waren, erlebten Victor Klemperer und seine Frau Eva. Sie wurden bei der Zerstörung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945 ausgebombt, suchten nun eine sichere Unterkunft. Gleichzeitig mussten sie sich trotz der Auflösungserscheinungen des nationalsozialistischen Regimes verbergen. Wenn Klemperer als Jude erkannt und wegen «Staatsverbrechen» – wie Straßenbahnfahren, in den Luftschutzkeller gehen, Essens- und Tabakmarken für «Arier» nutzen, die Stadt unerlaubt verlassen – aufgegriffen worden wäre, wäre er verhaftet und möglicherweise sofort erschossen worden.

Mit der Bahn, zu Fuß, auf Pferdewagen ging es aus der brennenden Stadt zuerst stadtauswärts in den Fliegerhorst Klotzsche am heutigen Dresdner Flughafen, wohin die Überlebenden der verheerenden Bombennacht evakuiert worden waren. Das Ehepaar Klemperer machte sich nach kurzem Aufenthalt auf den Weg nach Piskowitz, etwa fünfzig Kilometer nordöstlich von Dresden. Auf dem Land würden sie nicht erkannt, hofften sie. Außerdem wohnte in dem Dorf eine ehemalige Hausangestellte. Kurzzeitig kamen sie dort unter, doch nach wenigen Tagen wurden alle Evakuierten aus diesem Dorf gesammelt nach Bayreuth weitertransportiert.

Aus Angst vor Entdeckung setzten Klemperers sich wieder ab. Sie verbrachten eine Nacht in Pirna, die nächste im Zug auf dem Weg ins zweihundert Kilometer entfernte Dorf Falkenstein im Vogtland. Dort wollten sie bei einem befreundeten Apotheker unterkommen, dessen Haus zu diesem Zeitpunkt allerdings schon mit anderen Evakuierten, Verwandten und Einquartierten bis unters Dach belegt war. Vier Wochen übernachteten sie im Labor der Apotheke. Dann mussten sie wieder weg. Es begann eine Irrfahrt über Marktredwitz, Eger, Regensburg nach München, dann weiter nach Pfaffenhofen, Schweitenkirchen. Dort übernachtete man bei Eltern einer Dresdner Bekannten: «Sie kennen uns nicht, wir wissen nichts von ihnen, es ist weniger als der Strohhalm des Ertrinkenden, und doch ist es eine Verlängerung der Fluchtlinie.»[39] Nach einer Nacht ging es nach München, von dort nach Aichach, wo man bis zur Kapitulation blieb. Im Mai machten sich Victor Klemperer und seine Frau auf den nicht weniger abenteuerlichen Heimweg. Nach vier Wochen, Anfang Juni, waren sie zurück und konnten ihr Haus im Dresdner Außenbezirk Dölzschen wieder beziehen, aus dem die Nationalsozialisten sie einst vertrieben hatten. Nach allem Unglück der vergangenen Jahre gehörten sie nun zu den Glücklichen. Sie wussten wenigstens, wohin. Sie sahen die Zukunft in optimistischen Farben – «ich könnte eine Professur übernehmen, ein Unterrichtsministerium, eine Redaktion».[40] «Dass ich sofort versuchen müsste, ins Spiel zu kommen, meine Ansprüche und Kenntnisse anzumelden, stand (…) gleich fest.»[41]

Das Glück eines gedeihlichen Ausgangs ihrer Flucht hatten die meisten Vertriebenen und Evakuierten zunächst nicht. Es gab zu viele von ihnen, es gab zu wenig zu verteilen, als dass man hätte großzügig sein wollen und können. Insgesamt stieg die Bevölkerung in den vier Besatzungszonen durch Flucht und Vertreibung aus Ost- und Südosteuropa im Vergleich zu 1936 von knapp 60 auf gut 66 Millionen Menschen. Gleichzeitig brach die Nahrungsmittelversorgung nach und nach zusammen. Die hatte im Krieg und unmittelbar danach noch einigermaßen gut funktioniert. Als aber die letzten Vorräte aus der NS-Zeit verbraucht oder abtransportiert waren, Sommer und Herbst vorbei waren, brach vor allem in den Großstädten Hunger aus.[42]

Auch innerhalb der Besatzungszonen gab es eine ungeheure Wanderungsbewegung. Millionen Menschen, die im Krieg aus den Großstädten evakuiert worden waren, machten sich auf den zerstörten Straßen und den bombardierten Schienensträngen auf den Weg und suchten ihre alte Heimat wieder. Ehemalige Zwangsarbeiter, Überlebende aus Konzentrationslagern, Kriegsgefangene und Deportierte – «Displaced Persons» – mussten untergebracht und versorgt werden. Oft genug wurden sie dazu in dieselben Konzentrationslager zurückgebracht, aus denen sie eben erst befreit worden waren. Freilich als freie Menschen, versorgt von den Besatzungsmächten.

Insgesamt irrte fast ein Drittel der 66 Millionen Deutschen zwischen Ruinen umher, ohne ausreichende Ernährung, eine Wohnung oder auch nur eine vage Vorstellung davon, wie es weitergehen könnte. 2,25 Millionen Wohnungen waren völlig zerstört, 2,5 Millionen schwer beschädigt. Städte wie Köln, Dortmund, Dresden oder Kassel waren zu zwei Dritteln dem Erdboden gleichgemacht. Mehr als 130 Städte im ganzen Land waren schwer bombardiert worden.[43]

In der enormen Binnenmigration von Millionen Vertriebenen, Flüchtlingen, Ausgebombten, entlassenen Kriegsgefangenen, ehemaligen Zwangsarbeitern und früheren Insassen der Konzentrationslager wurde der Geburtsnachteil der späteren DDR spürbar: Die meisten Flüchtlinge versuchten aus Angst vor den Sowjets, möglichst weit nach Westen zu gelangen. Die Angst der Frauen, die Furcht ehemaliger Nationalsozialisten vor Deportation und Verschleppung, der Argwohn früherer Unternehmer und Geschäftsführer gegen die Kommunisten waren die Schubkräfte, die die Heimatlosen trotz aller Erschöpfung und Verzweiflung weiter nach Westen drückten. Sie alle hofften, in den westlichen Besatzungszonen schonender behandelt zu werden. Zuerst wollte man vielleicht nicht unbedingt in den Westen. Aber man wollte der russischen Armee und Verwaltung entgehen.

Der im Vergleich zu den westlichen Besatzungszonen überproportional hohe und wachsende Anteil an Witwen und Waisen, Versehrten und Alten an der Bevölkerung zeigt am deutlichsten, wie belastet der spätere Start des sozialistischen Staates war. Viele derjenigen, die kräftig waren, zogen schon vor der Staatsgründung weiter nach Westen oder setzten sich ab und nahmen das Know-how ihrer Unternehmen mit. Vielen der Bleibenden fehlte die Kraft für die weitere Flucht. In den kommenden Jahren sollte die DDR zu einem quasi unerschöpflichen Reservoir für den westdeutschen Arbeitsmarkt werden. Das befeuerte die ohnehin starke wirtschaftliche Dynamik im Westen und bremste die Entwicklung Ostdeutschlands immer stärker. Dazu kam, dass zahlreiche Unternehmen ihren Sitz nach Westen verlegten – Siemens, Carl Zeiss, Auto-Union, Wella als Beispiele für viele andere. Vor allem die Amerikaner sorgten aktiv dafür, dass Ingenieure, Physiker, Naturwissenschaftler und Maschinenbauer, die über strategisch wichtige Kenntnisse verfügten, vor dem «Besatzungswechsel» in Mitteldeutschland die Region verließen und nach Westen übersiedelten.

Hunger und Kälte

Auf dem Land war die Lage besser. Auch hier wurde organisiert, gestohlen, gehandelt und getauscht. Der Hunger aber war nicht so schlimm wie in den Großstädten und Industrieregionen des zerstörten Landes. Victor Klemperer schwärmte von dicken Nudelsuppen und frisch geschlachteten Schweinen auf dem Land in Franken und Bayern. Der Hallenser Bildhauer Bernd Göbel aus dem sächsischen Freiberg erinnerte sich an die letzten Kriegstage auf dem Bauernhof seiner Großeltern. Not herrschte dort nicht – eher das Bestreben, einen Teil der Butterproduktion vor der Rationierung zu verbergen und an Familie und Landarbeiter zu verteilen. «Ein kleines hölzernes Butterfass wurde ausgebrüht, (…) in einem sicheren Raum wurde die Sahne gestoßen, bis sich ein Klumpen bildete.»[44]

Im Winter 1945/46 wurde die Lage zum ersten Mal kritisch, im darauf folgenden «Jahrhundertwinter» 1946/47 dramatisch. Weil Heizmaterial fehlte, verfeuerten die Menschen in den Städten alles, was sie finden konnten. Im Berliner Tiergarten, dem größten Park in der Mitte der Stadt, stand im Frühjahr 1947 nahezu kein Baum mehr. Im Sommer wurde die Fläche zu Kleingartenparzellen umgewidmet, damit die Menschen wenigstens einen Teil ihres Kalorienbedarfs aus eigenem Anbau bestreiten konnten. Großstadtbewohner wurden zum Anbau von Kartoffeln, Bete und Steckrüben, zum Halten von Kaninchen und Ziegen ermuntert. Weniger als tausend Kalorien pro Tag (das entspricht etwa einer Dose Erdnüsse) standen für die Erwachsenen in den Städten der französischen Zone pro Kopf zur Verfügung – mindestens zweitausend sollen es für einen Erwachsenen sein, der nicht schwer arbeitet und sein Gewicht halten will. In der Britischen Besatzungszone gab es nur unwesentlich mehr, und auch in der amerikanischen Zone blieb man mit Zuteilungen von tausendzweihundert Kalorien unter dem nötigen Niveau. Hinzu kam, dass Lebensmittelkarten nur Bezugsrechte bedeuteten, keine Zuteilungen. Wer zu spät in den Laden kam, ging leer aus.[45]

Die Ernährungsbasis in Ostdeutschland war besser: Ein streng kontrolliertes Ablieferungs- und Sanktionssystem sorgte dafür, dass die erzeugten Nahrungsmittel zum großen Teil auch einkassiert und verteilt wurden. Die Bodenreform vom September 1945, mit der Gutsbesitzer und im Nationalsozialismus engagierte Landwirte enteignet worden waren, brachte zwar keinen Aufschwung der Lebensmittelerzeugung. Die meisten der jetzt angesiedelten Neubauern wirtschafteten auf kleinsten Flächen, hatten keine Erfahrung in der Landwirtschaft und auch keine Gerätschaften für die Bodenbearbeitung.[46] Doch die Kontrolle und Verteilung waren in dem neuen System deutlich einfacher. Während im Westen der Schwarzmarkt immer wichtiger wurde, blieb in der SBZ ein größerer Teil der Lebensmittel im offiziellen System, das schon bald zentralistisch gesteuert wurde.[47] Die so geschaffenen Strukturen sollten für lange Zeit bestehen bleiben, während man im Westen schnell und schmerzhaft spürte, dass die Rationierungs- und Mangelwirtschaft die Produktion bremste und nur ein vorübergehender Zustand sein konnte. Der Wertverfall der Reichsmark verlief hier rasant, die einzig verlässliche Währung war der Tauschkurs für Zigaretten.

In den Akten des US-Kongresses befinde sich ein Dokument, das die Auswirkungen des Schwarzmarktes auf die Versorgung, aber auch auf den Arbeitsmarkt eindrucksvoll vor Augen führe, berichtete Theo Sommer. Ein Bergarbeiter verdiente in der Woche 60 Reichsmark. Er besaß ein Huhn, das in der Woche fünf Eier legte, von denen der Mann eines selbst aß. Die anderen vier tauschte er gegen 20 Zigaretten. Diese Zigaretten wiederum hatten auf dem Schwarzmarkt einen Gegenwert von 160 Reichsmark. Wenn alles glattging, verdiente das Huhn also 100 Mark mehr als der Bergmann.[48] Es war nicht weiter erstaunlich, dass die Deutschen in den Westzonen sich weniger um ihren Brotberuf als um den Broterwerb kümmerten.

Die Besatzungsmächte versuchten, die Versorgung und Unterbringung der Bevölkerung durch Bewirtschaftung, Verteilung, Zuweisung und drakonische Strafen einigermaßen sicherzustellen. Vergeblich. Im ersten Jahr gelang kaum etwas. Je schlechter die Versorgungslage wurde, desto hemmungsloser wurde zugegriffen. Im Friedensjahr 1937 hatte es in Berlin 6583 Fälle einfachen und 5544 Fälle schweren Diebstahls gegeben. 1946 wurden 74597 Diebstähle angezeigt, dazu wurden 32771 Fälle schweren Diebstahls aktenkundig.[49] «Jetzt gehört alles allen. Man ist nur noch lose mit den Dingen verbunden, unterscheidet nicht mehr klar zwischen eigenem und fremdem Besitz», schrieb die Berliner Journalistin Hillers, «alles Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffen beginnt beim Essen.»[50] Der Berliner Historiker Fritz Klein durchsuchte gemeinsam mit seinem Bruder die Ruinen der Zehlendorfer Nachbarschaft nach Brennholz und Kohlen, «in den Gärten war da und dort ein Baum zu fällen».[51] Dass die beiden sich schon im Frühjahr 1946 wieder an der Universität hatten einschreiben können, erwies sich als großes Glück. Nicht nur, weil die jungen Männer ein berufliches Ziel gefunden hatten, sondern auch, weil die Universität, die Bibliotheken und Hörsäle wenigstens teilweise geheizt wurden.

Im erbarmungslos kalten Winter 1946/47 fand sogar der Kölner Kardinal Josef Frings in seiner Jahresendpredigt am 31. Dezember eine Entschuldigung dafür, Kohle von den Waggons zu klauen, die für den Bedarf der Besatzungsmächte vorgesehen war: «Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.»[52] Als in den folgenden Tagen die Kohlediebstähle sprunghaft anstiegen und die britische Besatzungsbehörde verlangte, dass der Kardinal seine Worte zurücknehme, weigerte er sich nicht nur, er legte nach. Er selbst würde «von den Waggons die Briketts (…) holen, wenn ich keine Heizmittel hätte».[53] Für diese Aktion bürgerte sich schnell das Wort «fringsen» ein.

Kohlenklau von einem vorbeifahrenden Lastwagen im Ruhrgebiet: Die Kirche erlaubt das «Fringsen».

Das Bedauern der Alliierten über die Not der Deutschen hielt sich in Grenzen. Der Kardinal und viele Deutsche vermuteten sogar, die knappen Zuteilungen von Heizmaterial seien eine beabsichtigte Strafaktion. Doch auch in Frankreich, Belgien und England waren Nahrungsmittel und Kohle knapp, die Menschen in der Sowjetunion, Polen und Griechenland hungerten mindestens ebenso wie die Kriegsverlierer.[54] Deutschland, vor dem Krieg nahezu Selbstversorger, war nach 1945 nicht in der Lage, den Kalorienbedarf aus eigener Kraft zu decken. Für die Besatzungsmächte aber gab es keinen Grund, die Deutschen zulasten der Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu schonen, im Gegenteil. In der Sowjetunion zum Beispiel verhungerten in den Nachkriegsjahren zwischen ein und zwei Millionen Menschen.

Nur die amerikanische Besatzungsmacht, selbst von Zerstörungen im eigenen Land, vom Hunger und von der Kälte in Europa nicht betroffen, konnte sich strategische Überlegungen leisten. Die Not in Europa zu lindern und eine mögliche erneute politische Radikalisierung zu vermeiden, wurde im Winter 1946/47 zur amerikanischen Devise – ebenso wie die Absicht, westlich der Sowjetischen Besatzungszone einen eigenen politischen Einflussbereich in Europa zu formen. Im November 1945 erlaubte die amerikanische Regierung zweiundzwanzig amerikanischen Hilfsorganisationen, die Organisation Care[55] zu gründen, die zunächst Nahrungsmittelpakete aus nicht mehr benötigten Proviantbeständen der amerikanischen Truppen kaufte und an Bedürftige ausgab. Ab 1946 durften solche Pakete auch in die westlichen Besatzungszonen und nach Westberlin geschickt werden. Mit der Schulspeisung sorgten die USA ab Frühjahr 1947 dafür, dass 3,5 Millionen untergewichtige Kinder in der Amerikanischen und der Britischen Besatzungszone täglich eine Mahlzeit bekamen.

In den Folgejahren erreichten hundert Millionen Carepakete Europa, davon zehn Millionen Deutschland. Jedes Paket enthielt vierzigtausend Kalorien, Fleisch, Fett, Mehl, Konserven, Kaffee und Zigaretten – etwa den Kalorienbedarf einer Person für einen Monat. Auch Kleidungsstücke und Werkzeuge wurden verschickt. Diese Sendungen wurden zum allergrößten Teil in den westlichen Besatzungszonen verteilt, was deutlich macht, wie schnell auch zivilgesellschaftliche Hilfsprogramme in den Sog der sich vertiefenden Spannungen zwischen der Sowjetunion und den anderen Siegermächten gerieten. Das Gegenstück zu den Carepaketen, die sowjetischen Pajoks, wurden vor allem an Funktionäre ausgegeben. Die Wirkung der amerikanischen Hilfe erreichten sie nie, im Gegenteil. Während Schulspeisung und Carepakete in den westlichen Besatzungszonen zumindest Hoffnung aufkeimen ließen, dass sich irgendwann alles zum Besseren wenden könnte, blieb das Geschenkpaket in der Sowjetischen Besatzungszone eine Sache der Privilegierten. In den Köpfen aller Deutschen aber prägte sich ein, dass ein Paket viel mehr ist als eine zusammengeschnürte Sendung aller möglichen Produkte. Lebensmittelpakete wurden zum Symbol für Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit und Solidarität. So sollte es bis 1990 bleiben.

Hilfe aus Amerika: Eine Familie öffnet ihr Carepaket.

Die Wirtschaft: Starthilfe im Westen, Reparationen im Osten

Der scharfe Gegensatz zu Stalin und zum sowjetischen Kommunismus war – neben dem ökonomisch völlig unsinnigen Zuschnitt der Zonen und dem Wunsch, auch die eigene Besatzungszone an den amerikanischen Hilfsprogrammen teilnehmen zu lassen – der Motor für die Vereinigung des britischen und des amerikanischen Gebiets zur Bizone im Dezember 1946 und zum Anschluss der französischen Zone im März 1948. Für die westlichen Besatzungszonen machte die Politik der USA im immer schärferen Systemkonflikt zwischen Kommunismus und Kapitalismus den entscheidenden Unterschied. Statt weiter demontiert zu werden, wurden die Westzonen neben den anderen Ländern Westeuropas nach und nach Teil der amerikanischen Nachkriegsstrategie – und damit auch Teilnehmer des Nahrungsmittelhilfe- und Wiederaufbauprogramms.

Auch war die industrielle Basis in Westdeutschland nicht so stark zerstört, wie das in der unmittelbaren Nachkriegszeit empfunden wurde. Es wurde zwar ernüchternd wenig produziert. Aber nicht, weil alles kaputt gewesen wäre, sondern weil zunächst Arbeitskräfte und Rohstoffe für die vorhandenen Kapazitäten fehlten und weil es keine glaubwürdige Währung gab, in der hätte bestellt und bezahlt werden können. Verglichen mit 1936 gab es im Westen trotz der Kriegszerstörungen ein sattes Plus von rund zehn Prozent bei den Bruttoanlageinvestitionen.[56] Die Struktur der Industrie in den Westzonen war zudem günstig. Bergbau, Schwerindustrie, Kohle und Stahl, Maschinenbau und Grundstoffproduktion dominierten. Dies war gut für den Wiederaufbau, und etwas später, als die große Aufrüstung der fünfziger Jahre begann, schob es die Exportwirtschaft wieder an.

Flüchtlinge und Evakuierte wurden allerdings erst einmal dahin geschickt, wo es Wohnraum oder wenigstens Platz für Behelfshütten und etwas zu essen gab – ins norddeutsche Flachland zum Beispiel oder ins ländliche Bayern. Leider gab es dort kaum Arbeitsplätze. Umgekehrt fehlten im Ruhrgebiet, auf dem Bau und im Bergbau Arbeitskräfte. Obwohl drei Viertel der ehemaligen deutschen Soldaten in den ersten beiden Jahren nach dem Krieg zurückkamen und wieder arbeiten wollten, stieg die Zahl der Beschäftigten in der Industrie nur langsam. Zum ersten Mal seit der industriellen Revolution wuchs auf der anderen Seite der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten rasant.

So baute sich im Westen ein erhebliches Potenzial an Maschinen und Arbeitskräften auf. Es wurde nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 mobilisiert. Statt dauerhaft Reparationen abliefern zu müssen, profitierten die westlichen Besatzungszonen nach ein paar sehr ruppigen Monaten vom Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit – sogar stärker als die Siegermächte. Statt isoliert zu werden, wurden die Westzonen in die Weltwirtschaft zurückgeführt. Statt Planwirtschaft dominierte eine marktwirtschaftliche Ordnung.

Die Sowjetische Besatzungszone war eigentlich besser davongekommen als die britische und die amerikanische Zone. Kriegsschäden und Zerstörungen waren geringer. Doch dieser Vorsprung wurde schnell zunichtegemacht. Josef Stalin hatte im April 1945 klargemacht, wohin die Reise gehen würde: «Dieser Krieg ist nicht wie die in der Vergangenheit: Wer immer ein Gebiet besetzt, wird auch sein Gesellschaftssystem bestimmen.»[57] Die aus dem Moskauer Exil eingeflogenen Deutschen, die unmittelbar nach der Kapitulation die Verwaltung der sowjetischen Zone übernahmen, hielten sich an diese Weisung. Bodenreform und Kollektivierung wurden unmittelbar nach der Kapitulation in Angriff genommen. Wolfgang Leonhard kam Ende April 1945 mit der Gruppe Ulbricht nach Berlin. Die deutschen Exilanten aus dem Hotel Lux in Moskau hatten den Auftrag, Verwaltungsstrukturen zu etablieren und vor allem die Bodenreform vorzubereiten.[58] Schon in den ersten Tagen des Mai 1945 wurde in der Sowjetischen Besatzungszone die Planwirtschaft errichtet. Anfangs mit durchaus bemerkbaren Erfolgen.

Jeder der Sieger sollte zunächst seine Ansprüche aus der eigenen Besatzungszone befriedigen dürfen, so hatten die Alliierten es vereinbart. Die Reparationsschuld der Deutschen wurde bei insgesamt zwanzig Milliarden US-Dollar festgeschrieben, die Hälfte davon sollte die Sowjetunion bekommen. Neben den Leistungen aus der eigenen Zone wurden auch Lieferungen aus den westlichen Besatzungszonen zugesagt, zum größten Teil allerdings gegen Bezahlung. In rund 3400 ostdeutschen Unternehmen wurden bis 1953 Maschinen und Ausrüstungen abgebaut, das waren etwa vierzig Prozent der Industriebasis. Dazu wurden Schienen in einer Länge von rund 11800 Kilometern demontiert[59] – das «zweite Gleis» fehlte in einigen Regionen noch bis zur deutschen Einheit im Jahr 1990. Die industrielle Basis der SBZ schrumpfte ebenso wie die Verkehrsinfrastruktur. Nicht nur die bloße Tatsache, sondern auch die Art der Demontage verbitterte die Bevölkerung und die Belegschaften aufs Äußerste. Ohne Sinn und Verstand werde gepackt, wieder ausgepackt und demontiert, beschwerten sich die Arbeiter. Vorarbeiter drohten, die Demontage zu verweigern, und wurden rüde gezwungen, ihrer Pflicht nachzukommen.[60]

Der desaströse Abbau der Reichsbahn in der SBZ hatte einen weiteren unwiderruflichen Effekt. Bis 1945 war der größte Teil der industriellen Produktion des Landes auf der Schiene transportiert worden, die Wirtschaftsräume des Westens und des Ostens waren eng verflochten. Vor allem industrielle Rohstoffe wurden von West nach Ost transportiert, denn bis auf Braunkohle war das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone von Importen aus dem Westen abhängig.[61] In den letzten Monaten des Krieges waren diese Verkehrswege flächendeckend bombardiert und lahmgelegt worden. Auch wenn in München schon am 24. Mai 1945 wieder eine Straßenbahn fuhr, wie Victor Klemperer in seinem Tagebuch notierte, und die überregionalen Strecken der Reichsbahn im Westen mit Hochdruck repariert wurden – in die West-Ost-Verbindungen wurde nicht mehr investiert. Der Wirtschaftsaustausch zwischen den Zonen machte schon lange vor der Staatsgründung schlapp.[62]

Auch in den Westzonen wurde in den ersten Jahren demontiert, in der französischen Zone sogar stärker als in der sowjetischen.[63] Nachdem jedoch die USA1946 Entschädigungslieferungen aus ihrer Zone an die Sowjetunion verboten und nach und nach keine eigenen Forderungen mehr stellten, liefen auch in der britischen und französischen Zone die Demontagen aus und wurden 1952 ganz beendet. Insgesamt wurden in den westlichen Zonen 667 Unternehmen demontiert.

Als die Lieferungen aus dem Westen ausblieben und die USA und Großbritannien die Forderung der Sowjetunion kühl zurückwiesen, das Ruhrgebiet unter alliierte Kontrolle zu stellen, wuchs der Druck auf die Wirtschaft der SBZ