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Das mächtigste Amt der deutschen Politik hat noch niemand freiwillig aufgegeben – außer Angela Merkel. Bis zum Ende ihrer Amtszeit hat sie hohe Zustimmungswerte erhalten, immer wieder hat sie sich als Krisenmanagerin bewährt. Und so schätzen sie die Deutschen: Angela Merkel ist so pragmatisch, wie Helmut Schmidt es gerne gewesen wäre. Ideologien, Weltanschauungen, Grundsatzfragen interessieren sie wenig. Unaufgeregt schlachtete sie mehrere heilige Kühe der Christdemokraten, etwa die Wehrpflicht oder die Kernkraft. Kritiker warfen ihr deshalb vor, ihr einziges Programm sei es, Kanzlerin zu sein. Und doch hat sie, ideologiefrei, visionslos, eine Ära der deutschen Politik geprägt: Die Jahre von 2005 bis 2021 sind eindeutig die Merkel-Jahre. Jetzt, da diese Ära zu Ende geht, ist es Zeit, sie genauer anzusehen: Was bleibt? Wurde da «nur» pragmatisch regiert, oder sind Entwicklungen in Gang gesetzt worden, die über den Tag hinausweisen? Ja, die gibt es, sagt Ursula Weidenfeld, und sie werden entscheidend sein für unsere nächsten Jahre. Dieses Buch ist mehr als eine Bilanz. Es versucht, dem Phänomen Merkel gerecht zu werden – und zeichnet das Bild einer Frau, die Deutschland verändert hat. «Eine spannende Biografie. Weidenfeld wählt eine Mischung aus chronologischer und thematischer Erzählform, die überzeugt.» Frankfurter Neue Presse «Gut recherchiert und lesenswert.» Mitteldeutsche Zeitung «Eine wirklich lesenswerte Analyse einer Epoche an der Schwelle zwischen Aktualität und Geschichte..» Deutschlandfunk
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Ursula Weidenfeld
Porträt einer Epoche
Die Frau, die eine Ära prägte: Das Porträt der ersten Bundeskanzlerin
Das mächtigste Amt der deutschen Politik hat noch niemand freiwillig aufgegeben – außer Angela Merkel. Bis zum Ende ihrer Amtszeit hat sie hohe Zustimmungswerte erhalten, immer wieder hat sie sich als Krisenmanagerin bewährt. Und so schätzen sie die Deutschen: Angela Merkel ist so pragmatisch, wie Helmut Schmidt es gerne gewesen wäre. Ideologien, Weltanschauungen, Grundsatzfragen interessieren sie wenig. Unaufgeregt schlachtete sie mehrere heilige Kühe der Christdemokraten, etwa die Wehrpflicht oder die Kernkraft. Kritiker warfen ihr deshalb vor, ihr einziges Programm sei es, Kanzlerin zu sein.
Und doch hat sie, ideologiefrei, visionslos, eine Ära der deutschen Politik geprägt: Die Jahre von 2005 bis 2021 sind eindeutig die Merkel-Jahre. Jetzt, da diese Ära zu Ende geht, ist es Zeit, sie genauer anzusehen: Was bleibt? Wurde da «nur» pragmatisch regiert, oder sind Entwicklungen in Gang gesetzt worden, die über den Tag hinausweisen? Ja, die gibt es, sagt Ursula Weidenfeld, und sie werden entscheidend sein für unsere nächsten Jahre.
Dieses Buch ist mehr als eine Bilanz. Es versucht, dem Phänomen Merkel gerecht zu werden – und zeichnet das Bild einer Frau, die Deutschland verändert hat.
«Eine wirklich lesenswerte Analyse einer Epoche an der Schwelle zwischen Aktualität und Geschichte …»
Deutschlandfunk
«Eine spannende Biografie. Weidenfeld wählt eine Mischung aus chronologischer und thematischer Erzählform, die überzeugt.»
Frankfurter Neue Presse
Ursula Weidenfeld, geboren 1962, studierte Wirtschaftsgeschichte, Germanistik und Volkswirtschaftslehre in Bonn und München. Sie war u.a. Berlin-Korrespondentin der «Wirtschaftswoche» sowie Ressortleiterin Wirtschaft und stellvertretende Chefredakteurin des Berliner «Tagesspiegel». Heute arbeitet sie als freie Wirtschaftsjournalistin, daneben ist sie als Moderatorin und Kommentatorin für Fernseh- und Hörfunksender tätig. 2007 wurde Ursula Weidenfeld mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. 2017 erschien «Regierung ohne Volk».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung zero-media.net, München,
nach einem Entwurf von Frank Ortmann
Coverabbildung Dominik Butzmann/laif
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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ISBN 978-3-644-00999-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Abgang
Zögern und Zaudern als Regierungsprinzip
Der Mensch verschwindet hinter dem Amt
Angela Merkel ist wie Haßloch
Eine Physikerin als Kanzlerin
Eine sehr deutsche Karriere
Die Kanzlerin vermasselt die Nachfolge
Eine Ostdeutsche macht Karriere in Bonn
Leben
Schwierige Annäherung
«Leise leben» lernen
Ein angepasstes Leben
Wartezeit
«Geh ins Offene»
«Ich war nie müde, es war alles so ungeheuer spannend»
Männer
Die schwarze Witwe
Die Vatermörderin
Der ewige Zweite
Mit einem Schuss zwei Könige erledigen
Die Gegner
Die Messdiener
Der Sonnyboy
Der politisch-persönliche Gegner
Frauen
Die Frauenpolitikerin
Die Freundin
Die Chefin
Erfolge
Erfolg einer Unperson?
Die Zahlen geben Angela Merkel recht
Langeweile
Europa, ach, Europa
Die ruhige Hand in der Finanzkrise
Die globale Kanzlerin
Angela Merkel wird Weltmeisterin
Fehler
Innere Sicherheit und Rechtsextremismus
Äußere Sicherheit und Partnerschaft in der Nato
Rente
Die Migrationskrise
Atomausstieg und Energiewende
Enttäuschungen
AKK und die Kunst, Merkel zu werden
Keine Überzeugung, nirgends
Die Welt als Wille und Vorstellung
Merkel im Auenland
Person und Geschichte
Katastrophen
Von der Krisenkanzlerin zur Kanzlerin in der Krise
Ministerpräsidenten gegen Kanzlerin
Sommerschlaf
Die Kanzlerin erreicht das Volk nicht
Vermächtnis
Anhang
Personen
Dank
Bildnachweis
Wer die Besonderheit Angela Merkels für die politische Geschichte Deutschlands beschreiben will, fängt am besten am Ende an – und beginnt mit ihrer Entscheidung, das Amt aufzugeben. Dass ein deutscher Kanzler freiwillig aufhört, ist eigentlich unvorstellbar, es kam jedenfalls noch nie vor. Auch dass eine völlig unbekannte und politisch unerfahrene Person innerhalb von fünfzehn Jahren aus dem Nichts zur Regierungschefin aufsteigt, ist einmalig. Dass es einer Frau gelingt, kam ebenfalls noch nie vor. Angela Merkel hat das geschafft. Sie steht für eine Politikerbiographie, wie sie einer Westdeutschen ihrer Generation nicht möglich gewesen wäre.
Der beinah freiwillige Abgang im letzten möglichen Moment ist ein Symbol ihrer Kanzlerschaft wie ihres Lebens: Angela Merkel ist unabhängiger und freier als die meisten, gleichzeitig ist sie unentschlossen bis zur äußersten Schmerzgrenze. Mit schwierigen Entscheidungen wartet sie, bis es fast zu spät ist.
Eine der von ihr selbst mit Bedacht erzählten Geschichten aus ihrer Kindheit geht so: Als Schülerin steht sie auf dem Dreimeterbrett – und springt erst, als die Schulglocke den Sportunterricht schon beendet. Keine Sekunde zu früh, aber eben gerade noch so, dass die Leistung zählt. Sie erzählt das nicht ohne Hintersinn. Es ist die Selbstdeutung ihres ureigensten Regierungsprinzips: das des Zögerns. Und es ist das Herausstellen einer vermeintlichen Schwäche, die sie selbst als Stärke empfindet. Sie sieht es als Wartenkönnen: «Wenn ich mir etwas Zeit nehme, um zu meiner Meinung zu kommen, muss ich hinterher nicht damit hadern.»[1]
Damit setzt sie sich nicht nur von der Kindheitserzählung des westdeutschen Vorgängers Gerhard «Acker» Schröder ab, der sich als Jugendlicher aus schwierigsten sozialen Verhältnissen auf den Bolzplätzen im niedersächsischen Osterhagen im Wettbewerb mit den bessergestellten Altersgenossen durchsetzen wollte. Auch ihren westdeutschen Konkurrenten in der eigenen Partei, die sich mit großen Politikentwürfen, belastbaren Netzwerken und großem Selbstbewusstsein bewerben, baut sie die Story vom Dreimeterbrett in den Weg. Sie ist nämlich diejenige, die am Ende springt. «Ich bin, glaube ich, im entscheidenden Moment mutig», sagt sie im Gespräch mit der Journalistin Evelyn Roll.[2] Sie befreit die CDU am 22. Dezember 1999 von Helmut Kohl und der Spendenaffäre. Angela Merkel gibt ihrer Partei an diesem Tag in einem Autorenstück in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» das Signal, sich von den alten «Schlachtrössern» zu befreien und selbst laufen zu lernen.[3] Der damalige CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble, die jungen Wilden Roland Koch, Peter Müller, Friedrich Merz stehen zwar ebenfalls auf dem Sprungbrett. Aber ihnen fehlt der Mut, als die Glocke klingelt.
Als Kanzlerin verweigert Angela Merkel zu Beginn der Finanzkrise im September 2008 ein milliardenschweres Konjunkturprogramm – und schwenkt erst im allerletzten Moment um, als die Wirtschaft im Winter nahezu zusammenbricht. In der Migrationskrise wartet sie bis weit ins Jahr 2016, bevor sie mit der Türkei ein Abkommen über die Aufnahme von Flüchtlingen aushandelt und damit die deutsche Grenze für den Zustrom schließt. Es dauert bis zur Corona-Krise, dass sie sich zu einer gemeinsamen Schuldenaufnahme der europäischen Staaten durchringt. Und dann 2018, in eigener Sache: Als es für einen freiwilligen Abschied vom Parteivorsitz schon fast zu spät zu sein scheint, gibt sie dieses Amt auf und verkündet das Ende ihrer politischen Karriere für das Jahr 2021.
Wo ihre Vorgänger und internationalen Partner Visionen formulieren und dann krachend an ihnen scheitern, hat die Kanzlerin eine andere Weise, mit den Herausforderungen des Regierungsalltags umzugehen. Warten, schweigen, beobachten – und im letzten möglichen Augenblick handeln: Dieses Prinzip steht für die Momente größter Schwäche, aber auch für die historischen Wendepunkte von Merkels Kanzlerschaft. Es ist ihre Methode, den Verzicht auf eigene Vorstellungen und Ziele, die politische Orientierungslosigkeit zu kompensieren.
Sie hofft geduldig, dass sich zumindest ein Teil der Herausforderungen im Zeitablauf von selbst erledigt. So hat es sie Helmut Kohl gelehrt. Sie kann warten, bis der Zeitgeist das Problem von der Tagesordnung fegt. Oder bis der Entscheidungsdruck auf allen Seiten so steigt, dass Lösungen und politische Kompromisse unausweichlich sind. Wachsam legt sie sich auf die Lauer, strengt Gutachten an, beruft Ethikkreise, beobachtet die öffentliche Meinung. So lange, bis sie die Strategien und die Gedanken der anderen kennt und als ehrliche Maklerin walten kann. Ihre eigenen Absichten hält sie im Verborgenen. Politisch spielen sie viel seltener eine Rolle, als es der Richtlinienkompetenz ihres Amtes angemessen wäre. «Die Dinge vom Ende her denken», nennen sie das im Kanzleramt. Wobei das Ende oft eine Leerstelle ist, die sich erst im Lauf des Verfahrens füllt.
Im Grunde ist es ein pessimistisches Verständnis der Arbeit von Politikern. Die Vorstellung, die Zukunft gestalten zu können, verschwindet hinter der Verpflichtung, die Gegenwart zu managen.
Farbiger Blazer, schwarze Hose, flache Schuhe, Halbedelsteinkette, dezentes Make-up, Föhnfrisur. Die Bundeskanzlerin trägt fast immer Uniform, nicht nur äußerlich. «Ich will Deutschland dienen», sagt sie im Mai 2005, als Bundespräsident Horst Köhler das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen hat und Angela Merkel ihre Kandidatur für die CDU und die CSU ankündigt. Für den fleißigen, untertänigen Ton dieses Wahlspruchs erntet sie damals noch das süffisante Lächeln ihres Vorgängers, des amtierenden Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Im Jahr 2017 wiederholt sie diese Wendung, als sie unerwartet eine erneute, vierte Kandidatur ankündigt: Angesichts der schweren Krisen und Verwerfungen in der Welt werde sie noch einmal «das, was mir an Gaben und Talenten gegeben ist, in die Waagschale werfen (…), um meinen Dienst für Deutschland zu tun».[1]
Jetzt lacht niemand mehr. Längst hat sich die Arbeitsweise der Kanzlerin zu einer Blaupause für effizientes Regieren entwickelt. Die Kanzlerin wird als Stabilitätsanker in Deutschland, Europa und in der internationalen Staatengemeinschaft wahrgenommen – im Ausland noch viel stärker als in Deutschland. In ihrer abwägenden Art sei sie das «Gravitationszentrum europäischer Innenpolitik», attestiert der ehemalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern 2018 in einem Gastbeitrag für das «Handelsblatt». Doch während in Berlin, München, Saarbrücken, Düsseldorf und Hamburg schon zu diesem Zeitpunkt eine ganze Politikerinnengeneration sehnlich darauf wartet, dass die Kanzlerin endlich abtritt und Platz macht, wächst in Europa die Sorge: Wer wird nach ihr kommen? Und: Wird die neue Kanzlerin, wird der neue Kanzler in Krisen flexibel und klug wie Merkel reagieren? Und wenn er es kann, wird er es auch wollen?
Zwei Politikertypen dominieren zu diesem Zeitpunkt die internationale Staatengemeinschaft. In der Minderheit sind diejenigen, die wie Angela Merkel ihre Persönlichkeit hinter der Arbeit für das Land verschwinden lassen. Auf der anderen Seite stehen charismatische, oft populistische Regierungschefs, die ihren Wahlsieg und die Führung in der Politik ausschließlich von ihrer Person ableiten: Donald Trump als amerikanischer Präsident ist ein solcher Politiker, Wladimir Putin, Emmanuel Macron sind es, später kommt Boris Johnson dazu. Während Letztere den politischen Handlungsspielraum hell, manchmal grell ausleuchten, um ihn dann mit ihren persönlichen Politikentscheidungen, symbolischen Gesten und großen Ansprachen zu möblieren, hat die Kanzlerin es andersherum gehalten. Sie hat sich an den Rand gestellt, beobachtet, sich beraten lassen und dann entschieden. Nur wenige, aber wichtige Ausnahmen gibt es von dieser Regel – sie werden im Kapitel «Enttäuschungen» diskutiert. Für die Nachfolger ist die Versuchung groß, es anders zu halten, mehr wie die Briten oder die Franzosen. Wie mächtig dieser Trend ist, zeigt der Kampf um die Kanzlerkandidatur zwischen Markus Söder und Armin Laschet. Noch einmal setzt sich das Modell Merkel gegen das Modell Volkstribun durch. Der «Kanzlerkandidat der Herzen» aber wohne jetzt in Bayern, heißt es bei der CSU.
Sechzehn Jahre lang arbeitet sie als erste Dienstfrau des Landes. Dafür unterdrückt sie ihre Ecken und Kanten, ihre Haltung, ihren Humor und ihre Meinungen so erfolgreich, dass zum Ende ihrer Amtszeit viele zweifeln, ob sie überhaupt welche hat. Wenn man mit Angela Merkel in ein Flugzeug steige, werde man sicher ankommen, hat ihr erster Vizekanzler Franz Müntefering von der SPD einmal gewitzelt. Man wisse halt nur nie, wo.
Nach außen ist die Kanzlerin eine Frau ohne Eigenschaften geworden, eine Projektionsfläche für alle möglichen Erwartungen und Befürchtungen, für Verehrung und Verachtung, Hass und Bewunderung. In Angela Merkel kann man alles finden, die Retterin und die Zerstörerin Europas, die entschiedene Befürworterin und die Gegnerin der Atomkraft, die Klimaretterin und die Industriepolitikerin, die Wirtschaftsreformerin und die strukturkonservative Sozialpolitikerin. So macht sie sich anschlussfähig für fast jede denkbare Regierungskoalition der Mitte. Sie könnte mit den Sozialdemokraten, den Liberalen und den Grünen regieren. Nur die politischen Extreme fallen aus ihrem Spektrum.
Wäre die öffentlich sichtbare Angela Merkel eine Stadt, sie wäre Haßloch. Das 20000-Seelen-Gemeinwesen in der Nähe von Speyer in Rheinland-Pfalz gilt als Musterstadt des deutschen Durchschnitts. Hier gibt es genauso viele Alte, Singles, Familien, Akademiker, Ausländer und Kinder wie im statistischen Schnitt des ganzen Landes, die Kaufkraft entspricht ebenfalls haargenau dem Mittelwert. Haßloch ist das Mekka der deutschen Konsumforscher, die hier ausprobieren, wie groß der Deutsche seinen Schokoriegel und wie süß er seine Eisportion am liebsten hätte. Der Wikipedia-Eintrag über die Stadt rühmt ein Naturdenkmal: Es ist eine hunderfünfzigjährige Trauerweide.
Angela Merkel repräsentiert dasselbe, den Durchschnittsstil der Politik. Sie gibt sich so, wie die Deutschen gern regiert werden wollen: nicht XXL, lieber medium. Solidität, nicht Kühnheit. Kompromissfähigkeit, nicht Brillanz. Detailwissen statt der Sehnsucht nach dem großen Wurf.
Sie stilisiert sich in den vergangenen sechzehn Jahren zu einer der wenigen gesamtdeutschen Personen der Öffentlichkeit. Außer ihr ist das erstaunlicherweise nur noch einem weiteren ostdeutschen Politiker gelungen, dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck. Das hat vielleicht damit zu tun, dass ihre westdeutschen Altersgenossen schon in den Jugendorganisationen ihrer Parteien gelernt haben, sich ein regionales Netzwerk zu sichern, auf das man ein politisches Leben lang baut. Das drückt sich im regional gefärbten Zungenschlag aus, aber auch in der Loyalität zur Wirtschafts- und Wissenschaftsförderung der Region, den industrie- und migrationspolitischen Interessen der Städte und Dörfer des Wahlkreises.
Vielleicht berührt es aber auch die unterschiedlichen sozialen Prägungen Ost- und Westdeutscher. Während Ostdeutsche Anpassungsfähigkeit und Unauffälligkeit übten, weil das Kollektiv wichtiger war als das Individuum, lernten westdeutsche Nachwuchspolitiker in den achtziger Jahren Persönlichkeitsmarketing, sich zu profilieren und zu präsentieren.
Merkel und Gauck haben das eine überwunden, ohne sich das andere übertrieben anzueignen. Erst in der nachfolgenden Generation der Manuela Schwesigs, Kevin Kühnerts (beide SPD), Linda Teutebergs (FDP), Annalena Baerbocks (Grüne), Paul Ziemiaks und Daniel Günthers (beide CDU) wird die Herkunft nach und nach eine Nebensache.
Ihre DDR-Biographie merkt man Merkel nur in seltenen Momenten an. Wenn sie spontan antwortet und zu berlinern beginnt, zum Beispiel. Wenn sie von «Nachholebedarf» spricht und das unbetonte «e» der DDR-Sprechweise ganz kurz wie eine Erinnerung an vergangene Zeiten aufblitzt. Oder wenn sie fürchtet, Deutschland könne «Bummelletzter» im internationalen Standortwettbewerb werden, und diese Sorge in die Vokabel kleidet, mit der ostdeutsche Kindergärtnerinnen den Trödler beim Kita-Spaziergang antreiben.
Ansonsten aber: Haßloch. Die Kanzlerin kämpft mit ihrem Gewicht und gelegentlichen gesundheitlichen Einschränkungen wie nahezu alle Frauen ihres Alters. Sie trägt die Durchschnittsfrisur älterer Damen, verbringt das Wochenende gern beim Unkrautjäten auf der Datsche in der Uckermark, im Sommer wird in den Bergen Südtirols gewandert. Bei Merkels zu Hause kocht sie, und zwar gutbürgerlich: Kartoffelsuppe, Streuselkuchen, Roulade. Sie trägt keine Leinen-Blazer mehr, weil sie bei ihr «Ich weiß nicht, wie manche das machen, nie eine Falte» sofort knittern.[1] Sie und ihr zweiter Mann, Joachim Sauer, wohnen, so berichten Zeugen, die dort zu Gast waren, «normal». Nichts Großes, liebevoll Eingerichtetes, ausgedacht Beleuchtetes. Stattdessen: eine durchschnittlich große Wohnung im vierten Stock, eher zufällig möbliert als vom Innenarchitekten geplant und eingerichtet, allerdings in allerbester Berliner Lage gegenüber dem Pergamonmuseum.
Nur selten lässt sie erkennen, dass die echte Angela Merkel alles andere als Haßloch ist. In Krisenzeiten zum Beispiel. Da bleibt sie ruhig. Sie behält die Nerven, wenn alle anderen durchdrehen. Ihre Mitarbeiter bewundern ihre Auffassungsgabe, ihre Intelligenz, ihr Gedächtnis auch für Details, ihre Fähigkeit, Fehler nur einmal zu machen. Pfarrerskinder müssten «besser sein als die anderen», damit sie in der DDR studieren können, haben ihre Eltern ihr und ihren Geschwistern in der Kindheit eingeschärft. Besser zu sein als die anderen, diese Überlegenheit aber sorgfältig zu tarnen ist eine Prägung, die sie nicht loswird und die ihr in ihrer politischen Laufbahn sehr nützt.
Anders als viele ihrer Vorgänger handelt sie nicht nur in politischen Kategorien. Zu Hause wird naturwissenschaftlich gelesen und gedacht. Ihre Ausbildung als Physikerin stellt sie vor allem dann heraus, wenn sie gegen ihre politischen Gegner austeilt: «Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden, (…) weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten nicht, und das wird auch weiter gelten», blafft sie im Dezember 2020 im Bundestag Alice Weidel, die Fraktionsführerin der AfD, an, als die ihre Erklärung zur Corona-Politik mit ständigen Zwischenrufen unterbricht.[1]
Das ist nicht nur eine Attitüde, mit der sie ihre ungewöhnliche politische Biographie feiert und sich gegen all die Juristen, Politikwissenschaftler, Lehrer und Verwaltungsbeamten im Parlament abgrenzt. In der Corona-Pandemie wie auch in der Klimapolitik wird überdeutlich, dass die Kanzlerin sich lieber auf die Ansichten von Wissenschaftlern als auf die von Ministerpräsidenten verlässt. Und dass sie als eine der wenigen Politikerinnen in der Lage ist, sich auf Augenhöhe mit den Experten auszutauschen.
Wenn die CDU zu Merkels runden Geburtstagen einlädt, wird statt launiger Reden und freundlicher Grußadressen harte Kost serviert. Die Kanzlerin wünscht sich einen wissenschaftlichen Vortrag. 2014, zum sechzigsten, referiert der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel über die «Zeithorizonte in der Geschichte». Zum fünfzigsten Geburtstag hatte der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer über das Gehirn als «Beispiel selbstorganisierter Systeme» gesprochen. Der frühere bayerische Ministerpräsident und CSU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hätte diese Einladung beinahe weggeworfen, weil er sich nicht zum Geburtstagsfest, sondern zu einem der üblichen Berliner Wissenschaftsabende eingeladen fühlte. Rund tausend Gäste dämmern an diesem Juliabend in der Sommerhitze vor sich hin, bis sie nach einer guten Stunde durch den Sektempfang erlöst werden, für den sie eigentlich gekommen sind.
Angela Merkel aber hört aufmerksam zu. Wissenschaftsabende wie diese sind ihre Leidenschaft. Als sie am 17. Dezember des vergangenen Jahres «mächtig stolz»[2] zu einem virtuellen Besuch beim Mainzer Corona-Impfstoff-Star Biontech aufkreuzt, ist sie von den drei Kabinettsmitgliedern – außer ihr sind Gesundheitsminister Jens Spahn und Wissenschaftsministerin Anja Karliczek zugeschaltet – die Einzige, die zum Schluss unbedingt noch etwas wissen will: wann und wie das Gründerehepaar der Firma auf die Idee gekommen sei, seine Forschung zur Krebstherapie zur Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs zu nutzen.
Bei den traditionellen informellen Nobelpreisträger-Abendessen, zu denen die Leibniz-Gemeinschaft die Kanzlerin einlädt, ist sie oft die Letzte, die geht. Manchmal muss ihr Mann sie zum Aufbruch drängen, so intensiv vertieft sie sich in die Debatte mit den Experten, berichten Teilnehmer.
Mit diesem Profil wird die Kanzlerin über die Jahre zur wandelnden Enttäuschung für die Politikexperten und Leitartikler, die sich nach Charisma sehnen, Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden verlangen oder wenigstens eine einzige visionäre Überzeugungsgroßtat in der Ära Merkel feiern wollen. Es ist ein Paradox: Globalisierung und Digitalisierung sorgen in der Politik für eine Machtverschiebung zu Lasten der Parlamente und zugunsten der Regierungen. Selbst in Deutschland hat der Regierungschef inzwischen fast präsidiale Macht. Die Kanzlerin aber nutzt diese Durchgriffsmöglichkeiten nicht für eigene politische Ziele.
Sie ist der Gegenentwurf zu den Visionären und Populisten, eine Karriere wie die ihre ist eigentlich nur in Deutschland möglich. Die Chance, viermal hintereinander gewählt zu werden, hat ein Politikertyp wie Angela Merkel nur in einem politischen System, in dem das Parlament den Regierungschef wählt. Eine Direktwahl würde eine Politikerin ohne rhetorisches Talent und ohne große Politikentwürfe kaum bestehen. «In Frankreich wird Angela Merkel zwar bewundert und verehrt – aber gewählt würde sie hier wohl nicht», analysiert die französische Journalistin Pascale Hugues, die seit Jahrzehnten als politische Korrespondentin in Berlin arbeitet.
In Deutschland aber hält sie sich an der Macht. Politikwissenschaftler wie der Duisburger Politologe Karl-Rudolf Korte haben dafür eine Erklärung. Weil Merkel keine Visionärin ist, keine politische Überzeugungstäterin, weil sie sich im politischen Alltagsgeschäft «erklärungsarm» durchwurstelt und nur in Krisen entscheidungsmutig wird, ist sie eine der modernsten Politikerinnen des 21. Jahrhunderts. Das mag langweilig und zermürbend sein, doch es ist die zeitgemäße Interpretation des britischen Philosophen Karl Popper, der den Sozial- und Politikwissenschaften die Kritik- und Korrekturfähigkeit der Naturwissenschaftler empfahl: Stück für Stück voranzugehen, nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Entpuppt sich eine Empfehlung als falsch, wird sie korrigiert. In demokratischen Gesellschaften werden diese Korrekturen normalerweise durch Wahlen herbeigeführt. Doch Angela Merkel trickst die Demokratie in diesem Punkt aus: Sie nimmt die Korrektur selbst vor und wird dadurch immer wieder wählbar.
In Deutschland ist die politische Gesamtsituation so kompliziert geworden, dass Befreiungsschläge nach Art der «Agenda 2010» von Gerhard Schröder heute unkalkulierbare Risiken bergen. Zum einen will in einer älter werdenden Bevölkerung kaum jemand eine radikale Reform. Das Risiko, nach einer solchen Aktion die nächste Wahl zu verlieren oder die Polarisierung der Gesellschaft zu vertiefen, ist deshalb gewaltig. Dazu kommen die Verflechtungen und Verpflichtungen, die bei umfassenden Reformen zu berücksichtigen wären: Ist das Vorhaben verfassungsgemäß, berührt es die Rechte der Bundesländer, möglicherweise europäische Verträge und internationale Abkommen?
Für eine Politikerin, die an der Macht bleiben will, ist ein radikaler Weg weder besonders attraktiv, noch verspricht er in der Sache Erfolg. Lieber arbeitet sie sich vorsichtig voran wie ein Bergmann in einem Stollen. Kleine Schritte, Stabilisierungsmaßnahmen, wieder kleine Schritte. Pfadabhängigkeit nennen Fachpolitiker das, und sie meinen: bloß nichts kaputtmachen, was man beim Rückzug möglicherweise zum Überleben braucht. Regierungschefs mit einem eigenen und anspruchsvollen politischen Programm sind für solche Leute gefährlich. Sie drohen das komplizierte Gleichgewicht aus der Balance zu bringen.
Die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel erfährt das gleich nach der Regierungsübernahme. Ihr Wirtschaftsreformprogramm vom Leipziger Parteitag 2003 räumt sie schon bei den Koalitionsverhandlungen mit der SPD umstandslos ab, nachdem sie nur mit hauchdünnem Vorsprung Kanzlerin werden konnte. Statt Steuersenkungen und einer grundsätzlichen Gesundheitsreform gibt es jetzt das Gegenteil, eine Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte und ein mühevolles Reförmchen der Krankenkassen.
Die Ausgangslage ist eigentlich klar: CDU und SPD müssen eine Gesundheitsreform auf den Weg bringen. Im Wahlkampf hat die CDU/CSU sich auf einen Systemwechsel, nämlich einheitliche Krankenkassenbeiträge für alle festgelegt. Die SPD dagegen will eine Bürgerversicherung, in der auch privat Versicherte in das System einbezogen werden. Ein Politik-Experiment, bei dem der Ausgang eigentlich von vornherein feststeht: Durchgesetzt wird nicht das Modell, das einen Systemwechsel erfordert. Sondern eines, das möglichst wenig ändert.
Angela Merkel hat daraus gelernt. Nach 2005 gibt es mit ihr als Kanzlerkandidatin kein Wahlprogramm mehr, das dem Wähler einen strengen Veränderungskurs vorschlägt. Stattdessen ist «Sie kennen mich» der Slogan des Jahres 2013, der die Älteren unter den Wählern an Konrad Adenauers «Keine-Experimente»-Kampagne aus dem Jahr 1957 erinnert. Wie Adenauer hat Angela Merkel zu diesem Zeitpunkt zwei Wahlperioden lang regiert, wie Adenauer ist sie auf der Höhe ihrer Macht. Doch anders als der erste Bundeskanzler sitzt Angela Merkel bereits auf einem gewaltigen Berg an Regelungen, Traditionen, Gewohnheiten. Sie tastet sie nicht mehr an. Auch in der Mutlosigkeit ist sie ein Muster: Löse nur die Probleme, die du unbedingt lösen musst. Das ist die Lehre des politischen Alltagsgeschäfts, die bescheidende und kontrollierte Realisierung der Popper’schen Empfehlung. Merkel fügt ihr für politische Ausnahmesituationen eine moderne Fußnote zu, die der frühere britische Premier Winston Churchill einmal so fasste: «Never let a good crisis go to waste.»
Warum also eine Rentenreform versuchen, wenn die Versicherung dank der Konjunktur noch einigermaßen läuft? Merkel weiß, dass das System vom Jahr 2025 an kippen wird. Doch sie unternimmt nichts dagegen. Jede Generation muss die politischen Probleme ihrer Zeit selbst angehen, das ist ihre Haltung, von der sie erst zum Ende ihrer Karriere eine Ausnahme macht: beim Klima.
Als erste Bundeskanzlerin geht sie im Herbst 2021 also freiwillig. Sie will sich nicht mehr um öffentliche Ämter bemühen, sie schlägt eine internationale Karriere aus (behauptet sie jedenfalls). Diese Entscheidung sagt mehr über sie – und das politische System – als alle Kämpfe vorher: die um den Partei- und den Fraktionsvorsitz, den um die Kanzlerkandidatur, die Auseinandersetzungen innerhalb der Europäischen Union, die Konflikte mit internationalen Partnern und Rivalen. Merkel hat sich unabhängig gemacht. Ihre Karriere hängt nicht an den innerparteilichen Netzwerken und den unverbrüchlichen Allianzen, ohne die es im 20. Jahrhundert nicht ging. Sie sorgt sich nicht um ihren Nachruhm, der, wie sie bei Helmut Kohl und Gerhard Schröder beobachtet hat, ohnehin schnell vergänglicher Natur ist. Sie erspart sich das letzte bittere Ritual, dem sich bisher noch jeder Kanzler unterworfen hat: sich von der eigenen Partei aus dem Amt tragen zu lassen wie Konrad Adenauer. Oder sich nach einer letzten, absehbaren Wahlniederlage ins Provinz-Exil zu trollen wie Helmut Kohl.
Sie ist müde. So erschöpft und verbraucht, wie es Adenauer und Kohl nach ihren vierzehn und sechzehn Jahren Kanzlerschaft waren. Auch sieht man ihr den verheerenden Verschleiß an, den überlange Verhandlungsnächte, nahezu ununterbrochene Telefonmarathons, zu eng getaktete Tage hinterlassen. Doch während die beiden Vorgänger sich ein Leben außerhalb des Kanzleramtes nicht vorstellen konnten und niemandem die Nachfolge zutrauten, erklärt Merkel knapp: «Ich würde mal sagen, es hat sich schon immer jemand gefunden, der was werden wollte in Deutschland.»[1] Sie habe nicht vor, sich in die Suche nach einem Nachfolger an der Parteispitze und im Bundeskanzleramt einzumischen, sagt sie – was sie natürlich kein bisschen davon abgehalten hat, es trotzdem zu tun.
Sie heißt die frühere saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer als Generalsekretärin der CDU in Berlin willkommen, um sie als Nachfolgerin in der Partei und als Kanzlerin aufzubauen. AKK ist eine Frau, die Angela Merkel in vielem ähnlich ist: Sie ist überlegt und nach außen zögerlich. Wie Angela Merkel ist sie zum Start im Parteiamt einer breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Doch die Sache geht gründlich schief. Kramp-Karrenbauer, die sich wie einst Merkel zunächst als Generalsekretärin für höhere Ämter profilieren will, versagt kläglich. Sie setzt sich zwar im Dezember 2018 als Parteivorsitzende durch, bekommt aber die Parteizentrale, das Adenauer-Haus, nicht in den Griff. Sie patzt bei öffentlichen Auftritten, gewinnt keine Autorität in den Landesverbänden, lernt nicht schnell genug. Als die Thüringer CDU im Januar 2020 quasi aus Versehen gemeinsam mit der AfD einen neuen Ministerpräsidenten wählt, greift die Kanzlerin – längst wieder oder immer noch heimliche Parteivorsitzende – durch. Sie pfeift die thüringischen Christdemokraten zurück. Im letzten möglichen Moment, wie immer.
Kramp-Karrenbauer, inzwischen Verteidigungsministerin, hat den thüringischen Landesverband nicht zur Räson gebracht, in der Gesamtpartei verfällt ihre Autorität im Stundentakt. Merkel richtet es. Dafür nimmt sie die endgültige Demontage und den Rücktritt ihrer Nachfolgerin so kühl in Kauf, wie sie sich von den meisten Getreuen trennt, wenn sie ihren Erwartungen nicht gerecht werden.
Nur zu Beginn ihrer politischen Karriere ist sie von anderen abhängig. «Kohls Mädchen», wie sie in den Anfangsjahren vom Einheitskanzler selbst und dann von ihren Parteifreunden mit einer Mischung aus Nachsicht und Spott genannt wird, ist sie nie gewesen. Sie ist eher eine Entdeckung von drei Männern, die in den Anfangszeiten der ostdeutschen Befreiung entscheidende Positionen innehatten: Helmut Kohl, natürlich, der sie in einer Rekordzeit von nicht einmal einem Jahr zur Ministerin und zur stellvertretenden Parteivorsitzenden macht. Mindestens ebenso wichtig ist Günther Krause, der als DDR-Staatssekretär die deutsche Einheit verhandelt und dann Verkehrsminister im vereinigten Deutschland wird. Er besorgt ihr, der stellvertretenden Regierungssprecherin der DDR, den Wahlkreis auf Rügen, als sie fürchtet, nach dem 3. Oktober 1990 arbeitslos zu werden. Lothar de Maizière, der einzige frei gewählte Regierungschef der DDR, spätere Vizekanzler und Minister ohne Geschäftsbereich im ersten gesamtdeutschen Kabinett, schiebt sie ebenfalls nach vorne. De Maizière hat sie 1990 durch reinen Zufall in seine Mannschaft berufen. Weil der erste Regierungssprecher nicht gerne reist, soll eine neugierige und gut organisierte Person gefunden werden, die die vielen Auslandsreisen des DDR-Regierungschefs begleiten kann. Durch Empfehlung von Hans-Christian Maaß, der de Maizière damals berät und als CDU-Talentscout nach ostdeutschen Politikpersönlichkeiten mit Potenzial sucht, kommt Merkel zu ihrem Job.
Ein geradezu väterlicher Gestus: «Mein Mädchen» wurde Angela Merkel von Helmut Kohl genannt.
Es sind Zufälle und diese in der Wendezeit entstandenen persönlichen Beziehungen, die Merkel, die Frau aus dem Nichts, in Bonn ministrabel machen. Sie ist – wie Lothar de Maizière selbst – zunächst kaum mehr als ostdeutscher Beifang der Bonner Republik.
De Maizière zieht sich nach wenigen Monaten wegen von ihm bestrittener Stasi-Verstrickungen aus der Politik zurück, Günther Krause stürzt über sich selbst und eine möglicherweise nicht legal beschäftigte Haushaltshilfe. Angela Merkel bleibt. Keine Vorgeschichte, keine Fehltritte aus Selbstherrlichkeit, keine Skandale.
In der personell ausgebluteten CDU der neunziger Jahre, die nach der deutschen Einheit erschöpft und ermattet dem Ende der Ära Kohl entgegentaumelt, ist das sehr viel. Vor allem ist es viel mehr, als die meisten westdeutschen CDU-Politiker dieser Zeit vorweisen können. Sie haben die volle Amtszeit Helmut Kohls auf dem Buckel, sie sind verflochten und verfangen in seiner Kanzlerschaft und in der alten CDU des Westens. In der Parteispendenaffäre wird das einem Spitzenpolitiker wie Wolfgang Schäuble zum Verhängnis. Für Angela Merkel ist es auch hier ein unschlagbarer Vorteil: Wer erst zehn Jahre politisch aktiv ist und vorher in der DDR unauffällig geblieben war, ist in jeder Beziehung unbelastet.
Das gilt übrigens auch für die meisten anderen Parteien, in denen Ostdeutsche seit 1990 Karriere machen. Es ist ja nicht so, dass Angela Merkel die einzige Politikerin der Wende-Generation ist, die in hohe und höchste Staatsämter aufsteigt: Joachim Gauck wird Bundespräsident, Wolfgang Thierse (SPD) Bundestagspräsident, Katrin Göring-Eckardt (Grüne) Spitzenkandidatin, Matthias Platzeck (SPD) Parteivorsitzender. Manuela Schwesig und Franziska Giffey sind heute Hoffnungsträgerinnen der SPD, die Linkspartei ist ohnehin traditionell mit ostdeutschem Spitzenpersonal gesegnet.
Eine ganze Generation engagiert sich ab 1989 politisch, und es sind mehr von ihnen in der Politik zu hohen Ehren gekommen, als man gemeinhin annimmt, wenn man nur Angela Merkels Ausnahmekarriere ausleuchtet. Es ist eher so wie in der westdeutschen 68er-Generation. Zigtausende Studenten wurden dort durch den Aufstand gegen den später «Radikalenerlass» genannten Versuch, linksextreme Strömungen aus Politik und Verwaltung zu verbannen, politisiert. Nach dreißig Jahren Marsch durch die Institutionen sind Joschka Fischer, Gerhard Schröder und Jürgen Trittin reif, die politische Führung im Land zu übernehmen. Genauso, wie Angela Merkel, Joachim Gauck und Wolfgang Thierse aus der friedlichen Revolution in Ostdeutschland stammen, sind sie die Übriggebliebenen der 68er. Nur dass es bei Merkel keine dreißig Jahre dauert, bis sie ganz oben ankommt.
Schon seit ihrer Jugend vergleicht sie sich mit ihren westdeutschen Altersgenossen. Es gibt häufig Westbesuch im Pfarrershaus im uckermärkischen Templin, in dem Angela Kasner aufwächst. Ihre Eltern leben zum Zeitpunkt ihrer Geburt in Hamburg, siedeln aber wenige Wochen später nach Ostdeutschland über. Ihr Vater, der evangelische Pfarrer Horst Kasner, übernimmt eine Pfarrstelle in Brandenburg. Bis zum Mauerbau 1961 kommt die Westverwandtschaft regelmäßig zu Besuch, umgekehrt verbringen Kasners ihre Ferien gern in Hamburg oder am Bodensee. Nach dem Mauerbau wird es schwieriger, die Verwandten zu sehen. Dafür aber nimmt der Austausch innerhalb der evangelischen Kirche Ost- und Westdeutschlands zu. Kasner leitet inzwischen das Pastoralkolleg im brandenburgischen Templin, in dem evangelische Geistliche weitergebildet werden.
Angela Merkel hat viel Gelegenheit, die Besucher zu beobachten und dabei festzustellen, dass sie im Gespräch durchaus «mithalten» kann. Dieses Gefühl, der hohe Leistungsanspruch der Eltern, die Arbeit als Physikerin und der eigene Ehrgeiz geben ihr in den ersten Bonner Regierungsjahren die Sicherheit, sich nicht verstecken zu müssen. «Du kannst Integrale lösen, dann wirst du dich auch mit Norbert Blüm unterhalten können»,[1] sagt sie sich, wenn sie mit dem mächtigen Arbeitsminister über die Beteiligung ostdeutscher Frauen an den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verhandeln muss.
Gleichzeitig beobachtet sie kühl-analytisch den Niedergang der Regierung Helmut Kohls. Sie sieht den alten Kanzler wanken. Doch Helmut Kohl findet den Abschied nicht. Das Kanzleramt ist längst zu einem eigenen hermetisch geschlossenen Kosmos geworden, Kohls legendäres Misstrauen gegen alle potenziellen Konkurrenten richtet sich gegen den CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble, den er selbst einmal als Wunschnachfolger ausgesucht hatte. Entgegen der Zusage, dem nach einem Attentat querschnittsgelähmten Schäuble die Kandidatur zu überlassen, tritt er 1998 noch einmal an – und verliert.
Angela Merkel hat den Verfall, den Verschleiß und die Unfähigkeit, sich aus dem Amt zu lösen, aus nächster Nähe beobachtet. Sie beginnt, die eigenen Chancen auszuloten. Eigentlich hat sie sich vorgenommen, nach der Wahlniederlage ihrer Partei erst einmal zur Ruhe zu kommen. Zum Beispiel, um ihren Wahlkreis auf Rügen richtig kennenzulernen und zu betreuen. Der hat sie bei der vergangenen Wahl 1998 mit mageren 37,3 Prozent nach Hause geschickt, eine Quittung nicht nur für die tiefe Wirtschaftskrise, die in den ostdeutschen Bundesländern auch acht Jahre nach der Einheit noch herrscht. Es ist auch die Aufforderung, ihre Arbeit als CDU-Vorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern ernst zu nehmen.
In diesen Wochen denkt sie sogar über einen Abschied aus der Politik nach. Wenn sie nicht Politikerin geworden wäre, hätte sie etwas gern anderes gemacht – vielleicht ein Arbeitsamt geleitet, erzählt sie der Journalistin Evelyn Roll. Ein Zurück in die Wissenschaft kommt nicht in Frage, die Zeiten haben sich geändert. «Ich war mir immer bewusst», resümiert sie leidenschaftslos im Gespräch mit Günter Gaus, «dass ich … unter westlichen Verhältnissen wahrscheinlich nicht in der Grundlagenforschung würde arbeiten können.»[2]
In ihrer uneitlen Eitelkeit hat sie viele Gelegenheiten genutzt zu versichern, sie könne auch ohne die Politik leben. Den Beweis muss sie, im Gegensatz zu ihren frühen Förderern, nie antreten. Denn der neue Parteivorsitzende Wolfgang Schäuble braucht eine fähige und loyale Generalsekretärin, er braucht eine Frau – er bekommt Angela Merkel. Eine Politikerin, die «irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden (…) und dann kein halbtotes Wrack sein (will)».[3] Und die von nun an doch alles tut, um in der Politik zu bleiben, und sich keinesfalls von anderen daraus entfernen zu lassen.
Sie dreht den Spieß um. Sie befreit sich und die CDU von Helmut Kohl und dem rheinischen Klüngel. Kohl hatte Geld von Spendern angenommen, deren Namen er bis zu seinem Tod verheimlichte. Sein Nachfolger wagt den endgültigen Bruch nicht und muss wenige Monate später seinen Posten selbst räumen, weil auch er Bar-Spenden entgegengenommen hat. Die CDU ist im freien Fall. Merkel ist die Einzige, bei der man sicher sein kann, dass sie von der Spendenaffäre unberührt bleibt. Mit Friedrich Merz vereinbart sie eine Erbteilung: Aus dem politischen Nachlass Kohls und Schäubles übernimmt sie die Partei, Merz die Bundestagsfraktion. Das Bündnis hält nicht lange. Merkel steigt auf, Merz steigt aus.
In diesen Jahren wird auch dem Letzten klar, dass man Merkel unterschätzt hat, als man annahm, «die Dame aus Ostdeutschland» werde ein vorübergehendes Phänomen in der Spitzenpolitik bleiben.
Nach sechzehn Jahren kann man nicht von einem frühzeitigen und selbstbewussten Abgang sprechen. Angela Merkel wird das Kanzleramt verlassen, ohne unter dem Verlust von Macht und Einfluss zu leiden. In einer Phase höchster Personalisierung von Politik verweigert sie den tragischen Abgang ebenso, wie sie während ihrer Amtszeit das Pathetische gemieden hat. Deutschland ist ein Land, das gegenüber neuen Führern und überwältigenden politischen Bewegungen vergleichsweise immun geblieben ist. Das hat nichts mehr mit der deutschen Vergangenheit zu tun. Aber viel mit der Gegenwart einer völlig uncharismatischen, sachlichen, nichtvisionären Regierungschefin. In dieser Art ist sie weniger die Nachfolgerin von Helmut Kohl und Gerhard Schröder als die von Helmut Schmidt. Vom früheren SPD-Kanzler Schmidt stammt der Satz, wer in der Politik Visionen habe, «soll zum Arzt gehen». Schmidt wurde während seiner Amtszeit angelastet, ein kalter Technokrat zu sein. Merkel wird vorgeworfen, die Herzen der Deutschen nie berührt zu haben.
Die Kanzlerin hat sich schon in auswegloseren Situationen befunden als im Herbst 2018, als die Merkel-Müdigkeit über das Land kriecht wie der Novembernebel über die flachen Landschaften der Uckermark. Die desaströse Wahlschlappe in Hessen versetzt die Partei zwar in Schockstarre, die Quittung für den zermürbenden Streit mit der Schwesterpartei CSU um die «Obergrenze» für die Aufnahme von Migranten bekommt ausgerechnet der konservative hessische Ministerpräsident Volker Bouffier. Seine CDU verliert 11,3 Prozent der Stimmen, und Bouffier kann sich nur durch eine Koalition mit den Grünen im Amt halten.
Das ist schlimm. Aber ist es schlimmer als der Krach mit der eigenen Bundestagsfraktion um die Griechenland-Hilfen? Verheerender als die Mmw-(Merkel-muss-weg-)Gesten der eigenen Leute auf den Bundestagsfluren, die den inneren Autoritätsverlust der Kanzlerin verdeutlichen? Demütigender als die Übernachtreise vom 11. Januar 2002 nach Wolfratshausen, als sie dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur zum Frühstück serviert – weil sie sonst bei der gleichzeitig stattfindenden CDU-Klausurtagung in Magdeburg von ihren männlichen Rivalen weggeputscht worden wäre? Entwürdigender als die dreizehn Minuten beim CDU-Parteitag im November 2015, als Seehofer die Kanzlerin auf offener Bühne wie ein Schulmädchen abwatscht?
All diese Attacken und Revolutiönchen hat sie weggesteckt, ausgekontert. Wer davon überzeugt ist, dass die Energieerhaltungssätze – die Gesamtenergie eines abgeschlossenen Systems ändert sich nicht – auch in der Politik gelten, weiß auch, dass auf jedes Tief ein Hoch folgt, und umgekehrt: «Im übertragenen Sinne heißt das, auf positive Ausschläge folgen negative und umgekehrt. Wenn man viele Wahlerfolge hat, hat man später auch wieder Niederlagen. Und nach Niederlagen geht es auch wieder aufwärts.»[4] So erzählt es Merkel dem «Zeit»-Journalisten Giovanni di Lorenzo. Das hält sie aus. Sie nimmt sich auch das, was persönlich gemeint ist, einfach nicht zu Herzen.
Doch 2018 ist das anders. Das System Merkel ist nicht mehr geschlossen, die Energie entweicht. Ihr engstes Umfeld, Ehemann Joachim Sauer vor allen anderen, haben ihr abgeraten, noch einmal anzutreten. Der Kanzlerin sind ihre Müdigkeit, ihre Ungeduld, ihre Frustration nach der Migrationskrise anzusehen. Ihre Augenblicksbilanz ist ein Scherbenhaufen: US-Präsident Donald Trump hat sie aus ihrer Rolle der großen alte Dame Europas hinauskatapultiert, indem er sie zur europäischen Hauptgegnerin der USA stilisiert hat. Die Briten wollen die Europäische Union definitiv verlassen und machen jedenfalls teilweise Merkels Flüchtlingspolitik dafür verantwortlich. Rechts von der CDU/CSU darf es keine politische Kraft in Deutschland geben? Nicht einmal das hat Angela Merkel als Parteivorsitzende sicherstellen können. Die AfD nimmt mit dem festen Vorsatz im Bundestag Platz, dort zu bleiben.
Merkel zieht die Reißleine. Eine geordnete Machtübergabe gelingt ihr nicht. Gleich drei Männer bewerben sich um ihre Nachfolge in der CDU und im Kanzleramt, der von ihr selbst ausgesuchte Weg dagegen ist gescheitert.
Da passiert etwas. Das Corona-Virus bedroht seit dem Beginn des Jahres 2020 die Welt. Und die Kanzlerin? Bringt wieder alles auf die Straße, was Volk, Partei und internationale Partner an ihr schätzen: Sie handelt klug und besonnen. Sie verabschiedet sich ohne Zögern von alten Gewissheiten. Sie führt das Land und Europa durch die Krise. In Krisen liefert sie.
Diesmal zögert sie nicht. Sie hat nichts mehr zu verlieren. In den ersten Monaten hat sie damit Erfolg.
Für die Biographie Angela Merkels gibt es kein Vorbild. Es gibt keinen Maßstab für Vergleiche und keinen Kontext für eine Bewertung, trotz der Lebensläufe von Wolfgang Thierse, Joachim Gauck oder anderen. Das liegt auch daran, dass kaum eine Politikerin sich so sehr hinter ihrem Amt verborgen hat wie Angela Merkel. Privates und Beruf schottet sie perfekt voneinander ab. Wer auch immer sich mit dem Leben der prominentesten Bürgerin der ehemaligen DDR beschäftigt, schreibt am Ende über ein «Rätsel». Ihr Umfeld ist sehr zurückhaltend mit Auskünften über die private Angela Merkel, ganz im Sinne der Kanzlerin. Das erleichtert zwar die Darstellung ihrer Arbeit als Politikerin, erschwert aber eine Antwort auf die Frage, wie Angela Merkel wurde, was sie ist.
Wie ihr Lebenslauf geschildert wird, hängt wesentlich von der Perspektive ab: Arbeitet ein Fan oder eine Feindin am Porträt? Urteilt eine Politologin, eine Feuilletonistin, ein Journalist oder ein Historiker? Aber auch: Welche Quellen stehen zur Verfügung, wie zuverlässig sind die Auskünfte der Kanzlerin selbst, von Freunden, Wegbegleiterinnen, Wettbewerbern, die zum Teil Jahre später abgegeben werden? Ist die Darstellung vor 2005, in den ersten Jahren ihrer Zeit als Kanzlerin, auf der Höhe ihrer Macht oder nach der Krise der Migrationspolitik im Herbst 2015 entstanden? Oder wird es – wie dieses Buch – in der Abenddämmerung einer politischen Ausnahmekarriere verfasst?
Und, vielleicht am wichtigsten: Wird Merkels Leben aus ost- oder aus westdeutscher Perspektive beleuchtet? Wer darf über sie schreiben? Der (ostdeutsche) Grünen-Politiker Werner Schulz urteilt 2013, als zwei westdeutsche Journalisten ein Buch über «Das erste Leben der Angela M.» veröffentlichen: «Sie (die Westdeutschen) kommen ihrer Persönlichkeit nicht wirklich nahe, weil sie die politischen Verhältnisse in der DDR nicht richtig einschätzen können, die einen solchen Charaktertypus geformt haben. Nur wenn man die Realität dieser unfreien Gesellschaft der DDR kennt, kann man auch das angepasste Leben verstehen.»[1]
Das würde bedeuten, dass man Angela Merkel nur lesen kann, wenn man auch ihre Erfahrung eines Lebens in der DDR geteilt hat. Oder ist es andersherum – kann man die Arbeit der Kanzlerin besser verstehen, wenn man die westdeutsche Art, Politik zu machen und politisch zu entscheiden, gründlich kennt? Immerhin hat sie fast die Hälfte ihres bisherigen Lebens in diesen Bezügen gelebt und gedacht. Überhaupt: Muss man in die Lebens- und Berufswelt einer Persönlichkeit eintauchen, sie womöglich teilen, um gültig darüber schreiben zu können? Die bisherigen Biographien wurden von Westdeutschen verfasst. Warum ist das so? «Am besten würden sie natürlich ostdeutsche Reporterinnen verstehen», meint der (ostdeutsche) Journalist Alexander Osang, der Angela Merkel seit Jahren immer wieder porträtiert. Weil aber die West-Chefredakteure glaubten, ostdeutsche Journalistinnen hätten keine Ahnung von Politik, habe Merkel Glück, «weil sie so immer ein Stück Welt für sich behält. (…) Sie kann in eins ihrer Verstecke springen, warten, überleben.»[2]
Die Perspektive entscheidet immer, doch bei Merkel ist das wichtiger als in anderen Fällen. Denn die wenigen Dinge, die man von ihr erfährt, ordnen sich nur dann zu einem Leben, wenn man sie deutet. Das ist die Anmaßung der Autoren und das Risiko der Verschlossenen: Jeder darf in ihre Karriere das hineinlesen, was zur jeweiligen Botschaft des Autors passt.
In den ersten Jahren ihrer politischen Karriere versteckt sich Merkel hinter ein paar Geschichten aus ihrer Kindheit, Jugend und Berufslaufbahn in der DDR, von denen viele bestreitbar sind und von früheren Freunden, Kollegen oder politischen Weggefährten bestritten werden. Erst nach und nach gewährt sie Einblicke, die über ihre Qualitäten als Schülerin und Studentin, Bäckerin von Pflaumenkuchen und Köchin von Kartoffelsuppe hinausgehen. Auch diese Erzählungen sind sorgfältig kuratiert.
Dem Interesse an ihrer Biographie begegnet Merkel mit dem Schaffen von Emblemen, die vordergründig über ihren Werdegang informieren, ihr Publikum aber zuverlässig zur Auslegung des Gehörten im Sinne der Erzählerin ermuntern. Ist das Zaudern der Schülerin auf dem Dreimeterbrett nicht ein Grundmotiv des ganzen Lebens? Sind die Blaubeerpreise, die der örtliche Konsum den Sammlern zahlt, nicht ein schon für die junge Angela offensichtliches Menetekel für den Irrweg der sozialistischen Wirtschaft? Ist das in der DDR zum Wesenszug gewordene Misstrauen der vielleicht effektivste Schutzmantel für ein politisches Leben im demokratischen Westen? Die Kanzlerin ermuntert zu dieser Auslegung. Aber könnte es auch anders gewesen sein? Weniger zwangsläufig, zufälliger, widersprüchlicher?
Natürlich, es gibt Gesetzmäßigkeiten in nahezu allen Biographien ostdeutscher Politiker ihrer Generation. Für alle zerfällt das Leben in ein «Davor» und ein «Danach». Die Zäsur ist der 9. November 1989, der Tag, an dem der damalige Quasi-Regierungssprecher der DDR, Günter Schabowski, aus Versehen die Reisefreiheit für alle Ostdeutschen verkündet und damit die Mauer zum Einsturz bringt. Dieses Ereignis wirft alle Lebensentwürfe aus der Bahn und politisiert viele Ostdeutsche. Mit einigen von ihnen teilt die Kanzlerin die Erfahrung einer erfolgreichen Partei-Karriere im «Danach». Matthias Platzeck und der ältere Katholik Wolfgang Thierse bringen es in der SPD in höchste Ämter, Werner Schulz und Katrin Göring-Eckardt spielen bei Bündnis 90/Die Grünen eine tragende Rolle, der evangelische Pfarrer und Stasi-Unterlagen-Beauftragte Joachim Gauck wird Bundespräsident. Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht sind für Jahrzehnte prägende Figuren der Linken.
Doch nur Merkel und Gauck werden nicht mehr als Ostdeutsche wahrgenommen. Gauck ist den ehemaligen DDR-Bürgern entrückt, weil er ihnen mit seinem widerständigen Leben in der DDR den Spiegel vorhält: «Gauck hat uns gezeigt, was möglich war», sagt Wolfgang Thierse über ihn. Und Angela Merkel? «Ich habe schnell eine neue Arbeit gefunden, hatte viele Möglichkeiten, konnte meinen Horizont erweitern. Aber es gab auch viele Menschen, damals oft älter als ich, denen das nicht vergönnt war, obwohl sie sich ebenso gern wie ich in die freiheitliche Gesellschaft eingebracht hätten.»[3] So sagt es Angela Merkel in einem Interview über Angela Merkel.
Dass sie sich mit ihrem steilen Aufstieg nicht gerade bei denen empfiehlt, die sich im vereinten Deutschland als Verlierer fühlen, liegt auf der Hand. «Sie ist für sie eine Verräterin»,[4] meint der Theater-Mann Michael Schindhelm, der mit ihr in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Berliner Akademie der Wissenschaften Tür an Tür gesessen hat. Die Hass-Ausbrüche bei ihren Besuchen in Flüchtlingsunterkünften, bei ihren Wahlkampfauftritten der Jahre nach 2015 sprechen für diese These. Dann wäre es auch der persönliche Erfolg, das offensichtliche Angekommen-Sein in einer gesamtdeutschen Realität, das an den Zurückgelassenen nagt. Sie sehen die verwehrten oder verpassten Chancen des eigenen Lebens, wenn sie Angela Merkel zuhören, und werfen ihr vor, ihren eigenen Werdegang und die Belange der Ostdeutschen vergessen zu haben. Auf der anderen, der hellen Seite der Wiedervereinigung sind dagegen viele milde angetan von der Kanzlerin: «Für erfolgreiche Ossis konnte sie eine Spiegelfigur sein»,[5] urteilt die (erfolgreiche ostdeutsche) Autorin Jana Hensel, deren Sujet die ostdeutsche Identität nach 1989 ist.
Angela Dorothea Kasner wird am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren, ihre Eltern studieren dort. Die Mutter Herlind ist in Danzig geboren, wird Latein- und Englisch-Lehrerin, der Vater ist evangelischer Theologe. Schon wenige Wochen nach der Geburt der Tochter siedeln die Eltern in die DDR über. Den Vater Horst Kasner, gebürtiger Berliner, hat es zum Studium in den Westen verschlagen. Er ist bereit, wegen des Pfarrermangels in der berlin-brandenburgischen Landeskirche nach Ostdeutschland zu gehen. Er übernimmt die Pfarrei von Quitzow, einem Dorf im westlichen Brandenburg.
Über den Stand der deutschen Teilung kann er sich zu diesem Zeitpunkt keine Illusionen machen: Die Westbindung der Bundesrepublik ist unumkehrbar, die DDR ist ein Jahr nach dem Tod Stalins und nach dem niedergeschlagenen Aufstand des 17. Juni 1953 fest im Ostblock verankert. Eine Wiedervereinigung rückt in der Mitte der fünfziger Jahre ins Irreale. Die Kirchen stehen in der DDR unter Druck, vor allem die kirchlichen Jugendorganisationen sind staatlichen Repressionen ausgesetzt. Bekennende Christen werden von höheren Schulen verwiesen, Schüler aus bürgerlichen und christlich orientierten Familien haben keine Aussicht, jemals studieren zu dürfen. Aber gerade deshalb gehen Kasner und einige weitere Vikare aus dem Westen in den Osten. Nicht an den «Fleischtöpfen Ägyptens» wolle man sich laben, sondern sich an den Platz stellen, an den die Kirche einen sendet: «Man wollte dahin gehen, wo man gebraucht wurde», erzählt Kasner dem «Spiegel»-Journalisten Alexander Osang.[1] Es ist eine Entscheidung, die die ganze Familie prägt.
Schon in den ersten Lebensjahren erlebt die Tochter etwas, das ihre Familie und ihr Aufwachsen bestimmen wird: einerseits die Disziplin, sich gegen den Strom – vor dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 wählen fast drei Millionen Ostdeutsche den umgekehrten Weg, den in den Westen – zu entscheiden. Er wäre auch nach Afrika gegangen, wenn die Kirche es gewünscht hätte, sagt Horst Kasner, als er viel später danach gefragt wird. Andererseits aber lernen die Kinder des Pfarrers von Anfang an auch, sich existierenden Strukturen anzupassen, möglichst nicht aufzufallen, pragmatisch nach einem guten Leben im feindseligen Umfeld zu streben. «Nicht einverstanden zu sein ist die grundlegende Prägung ostdeutscher Christen», sagt der Katholik und SPD-Politiker Wolfgang Thierse. Diese Differenzerfahrung teilen alle. Sie habe allerdings nur bei den wenigsten in den offenen Protest geführt. Die anderen lernen, «leise zu leben», sagt Thierse. So auch die Familie Kasner.
Im landwirtschaftlich geprägten Quitzow, in der Nähe der Elbe an der Grenze Brandenburgs zu Niedersachsen, spielt die Kirche in der Mitte der fünfziger Jahre jedenfalls für die Älteren noch eine bedeutende Rolle. Während in den Städten die Säkularisierung weit vorangekommen ist, hängt man in der brandenburgischen Provinz länger am Glauben – zumal viele Bauern unter der Kollektivierung der Landwirtschaft leiden und ohnehin innere Distanz zum Regime in Berlin pflegen.
Das Leben der Pfarrersfamilie ist dürftig. Die Mutter darf in der DDR