Geliebte Schwindlerin - Barbara Cartland - E-Book

Geliebte Schwindlerin E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Mittelos geworden durch den Tod des Vaters, ist Minella Clinton gezwungen, sich eine Anstellung zu suchen. Durch Vermittlung einer Jugendfreundin, die in London am Theater arbeitet, soll sie auf einer Party auf dem Landgut eines unglücklich verheirateten Gentlemans den Platz einer der unterhaltsamen Mädchen einnehmen - und trifft auf den Mann ihrer Träume.

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Geliebte Schwindlerin

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2019

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

1. 1898

„Haben Sie alle Schulden begleichen können, Mr. Mercer?“ fragte Minella Clinton-Wood den älteren Herrn, der ihr gegenübersaß.

Er zögerte mit der Antwort.

„Der Verkauf des Herrenhauses, der Möbel, des Pferdes und der noch verbliebenen Ländereien brachte genügend ein, um nahezu alle Schulden zu tilgen, Miss Minella.“

„Wieviel steht noch offen?“

„Etwa einhundertfünfzig Pfund“, erklärte Mr. Mercer von der Anwaltskanzlei Mercer, Conway und Mercer.

Minella sog geräuschvoll den Atem ein, und er fuhr wie zu ihrer Beruhigung fort: „Ich habe von mir aus dafür gesorgt, daß hundert Pfund zu Ihrer Verfügung bleiben.“

„Warum haben Sie das getan?“

„Weil ich nicht verantworten kann, daß Sie völlig mittellos dastehen“, entgegnete Mr. Mercer. „Sie können nicht von der Luft leben und wissen ja noch nicht einmal, bei welchen Verwandten Sie in Zukunft aufgenommen werden.“

Minellas bekümmerter Gesichtsausdruck verriet, daß sie sich darüber auch Sorgen machte.

„Sie wissen ja selbst, in welch mißlicher Lage ich mich befinde, Mr. Mercer. Papa hatte nicht viele Verwandte, und Mamas Familie, die in Irland lebt, habe ich nie kennengelernt.“

„Was ist mit Lady Banton, Ihrer Tante in Bath?“ fragte Mr. Mercer. „Bei ihr könnten Sie sicher unterkommen.“

Minella seufzte.

 „Vermutlich bleibt mir gar nichts anderes übrig, wenn ich keine Anstellung finde.“

Mr. Mercer sah das junge Mädchen mitleidig an. Er hatte Lord Heywoods verwitwete Schwester, die erheblich älter war als er selbst, einmal kennengelemt. Sie gehörte zu den ewig kränkelnden und nörgelnden Menschen, die sich vom Schicksal vernachlässigt fühlten und an allem etwas auszusetzen hatten.

Er erinnerte sich, damals zu seiner Frau gesagt zu haben: „Lady Banton hat wohl noch nie in ihrem Leben etwas Nettes über einen anderen Menschen geäußert.“

„Sie hadert mit ihrem Schicksal“, hatte seine Frau erwidert. „Das beginnt schon damit, daß sie grundhäßlich ist.“

Damals hatte Mr. Mercer über die trockene Feststellung seiner Frau gelacht, doch als er sich jetzt vorstellte, wie die zarte Schönheit Minellas auf ihre Tante wirken würde, kamen ihm doch ernsthafte Bedenken.

Er beugte sich über den soliden alten Schreibtisch, der ebenfalls bereits unter den Hammer gekommen war, um die Schulden des verstorbenen Gutsbesitzers zu tilgen.

„Sicher gibt es auch noch andere Menschen, an die Sie sich wenden können, oder? Was ist mit Ihrer reizenden Cousine, die vor Jahren zu Besuch hier weilte und bei Jagdgesellschaften die Rolle der Gastgeberin übernahm?“

„Cousine Elizabeth meinen Sie? Die ist verheiratet und hält sich mit ihrem Mann in Indien auf. Da sie mir nicht kondoliert hat, vermute ich, daß sie gar nichts von Papas Tod weiß.“

„Könnten Sie nicht zu ihr ziehen?“

Minella schüttelte den Kopf.

 „Sie hätte sicher etwas dagegen, wenn ich ihr in Indien zur Last fiele. Außerdem wissen Sie selbst am besten, daß ich mir eine solche Reise gar nicht leisten könnte, Mr. Mercer.“

Insgeheim mußte er ihr recht geben. Die hundert Pfund, die er für sie abgezweigt hatte, würden nicht ewig reichen.

Er war jedoch zutiefst um das Wohlergehen des Mädchens besorgt, das er von Kind auf kannte und das von Jahr zu Jahr liebreizender wurde, ohne daß es jemand in der abgelegenen, langweiligen Grafschaft Huntingdonshire gewürdigt hätte.

Wie oft hatte Lord Heywood beklagt, daß es ihn in diese Gegend verschlagen hatte!

„Warum sich meine Ahnen ausgerechnet in diesem öden Nest niedergelassen haben, weiß der liebe Herrgott“, pflegte er zu sagen. „Ich kann mir nur vorstellen, daß es das schöne Haus war, das sie reizte. Sonst gibt es hier doch wirklich nichts.“

Tatsächlich war das aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende Herrenhaus sehr hübsch und nach Lady Heywoods Ansicht auch leicht in Ordnung zu halten.

Den anspruchsvollen Freunden Lord Heywoods, mit denen er sich so gern umgab, hatte Huntingdonshire jedoch nichts zu bieten, was sie hätte anlocken können, außer seiner Person.

Zweifellos war Roy Heywood dazu ausersehen, stets im Mittelpunkt zu stehen und von Bewunderern umringt zu sein. Seine Lebenslust und sein Charme machten ihn unwiderstehlich.

Minella überraschte es daher nicht, daß ihr Vater nach dem Tode ihrer Mutter ständig zu Parties in alle Gegenden des Landes eingeladen wurde, nur nicht in ihre nähere Umgebung. Landedelleute pflegten ohnehin wenig Feste zu feiern.

Sie selbst war gezwungen gewesen, zu Hause zu bleiben und auf seine Rückkehr zu warten, weil sie zu jung war, um ihn zu begleiten, selbst wenn die Einladung auch sie eingeschlossen hatte.

Manchmal mußte sie lange warten, bis er zurückkam, doch sie hatte gelernt, sich zu beschäftigen und war ganz glücklich, wenn sie nur ausreiten konnte.

Bis zum Ende des vergangenen Jahres war sie außerdem damit beschäftigt gewesen, sich Bildung anzueignen.

„Stopf dir um Himmels willen ein bißchen Wissen in den Kopf“, hatte ihr Vater ihr geraten. „Du wirst eines Tages sehr hübsch sein, mein Liebling, aber das ist nicht genug.“

„Genug wofür?“ wollte Minella wissen.

„Genug, um einen Mann bei Laune zu halten, anziehend auf ihn zu wirken und seine ewige Liebe zu erringen“, erklärte ihr Vater.

„Wie deine Liebe zu Mama?“ fragte Minella.

„Ganz genau“, erwiderte ihr Vater. „Deine Mutter hat mich immer bezaubert und amüsiert. Wenn wir zusammen waren, habe ich nichts und niemanden vermißt.“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Minella konnte sich daran erinnern, daß ihr Vater zuweilen widerwillig und gereizt gewesen war, weil sie kein Geld hatten.

Ihm war es in tiefster Seele zuwider, nicht imstande zu sein, ihre Mutter zu einem Theaterbesuch nach London zu entführen oder mit ihr einen Ball zu besuchen, wo sie ebenso fröhliche Menschen antreffen würden, wie sie selbst waren.

Trotzdem war das Herrenhaus bis zum Tode ihrer Mutter stets voller Sonnenschein und Heiterkeit gewesen.

Es war ein bitterkalter Winter gewesen, und sie hatten noch so viel Holz in den Kamin schichten können, das Haus war immer feucht und kühl gebheben.

Alice Heywoods Husten wurde immer schlimmer, bis er völlig unerwartet und ohne jegliche Vorwarnung zu einer Lungenentzündung ausartete, an der sie innerhalb von zwei Wochen starb. Für Minella war eine Welt eingestürzt, und ihr Vater hatte ähnlich empfunden. Gleich nach der Beerdigung hatte er mit völlig fremd klingender Stimme heftig hervorgestoßen: „Ich kann es nicht ertragen! Ich kann nicht in diesem Haus bleiben und mir einbilden, deine Mutter könnte jeden Augenblick zur Tür hereinkommen!“

Noch an diesem Abend war er weggefahren, um in London die Erinnerung an ihre Mutter und ihr gemeinsames Glück zu betäuben.

Von diesem Augenblick an hatte ihr Vater sich verändert. Er war nicht verbittert und finster und grübelte auch nicht vor sich hin, wie es anderen Männern in dieser Lage erging, er kehrte vielmehr zu seiner früheren leichtsinnigen, unbekümmerten Lebensweise zurück, die er vor seiner Heirat geführt hatte.

Um nicht an die Frau denken zu müssen, die er für immer verloren hatte, waren zwangsläufig andere Frauen in sein Leben getreten. Er sprach zwar nie davon, aber Minella spürte es, und die Briefe, die manchmal nach Parfüm dufteten und von ungelenker Hand stammten oder verschnörkelte oder schwungvolle Schriftzüge aufwiesen, sprachen für sich.

Einige davon zerriß er gleich, als interessierten sie ihn nicht, andere wiederum las er sorgfältig.

Kurz darauf pflegte er ganz beiläufig zu Minella zu sagen: „Ich habe in London etwas Geschäftliches zu erledigen und werde wohl den Morgenzug nehmen. Ich bin nicht lange weg.“

„Ich werde dich vermissen, Papa.“

„Ich dich auch, mein Püppchen, aber ich komme Ende der Woche zurück.“

Doch am Ende der Woche war von ihm nichts zu sehen, und als er schließlich zurückkehrte, hatte Minella das Gefühl, daß es nicht die Sehnsucht nach ihr war, die ihn nach Hause getrieben hatte, sondern die Furcht, zuviel Geld auszugeben.

Trotzdem ahnte sie bis zu seinem Tode nicht, daß er weit über seine Verhältnisse gelebt und einen Berg von Schulden hinterlassen hatte.

Roy Heywood, dem seine Freunde eine Pferdenatur nachsagten, war einer Laune des Schicksals erlegen, für die es keine Erklärung gab.

Eines Abends kam er sehr spät nach Hause. Minella sah ihm sofort an, daß er sich in London wieder ausgetobt hatte. Die Falten unter den Augen ihres Vaters waren für sie ein untrügliches Zeichen dafür, daß er auf zu vielen Parties gewesen war und zu wenig Schlaf gefunden hatte. Übermäßiger Alkoholgenuß hatte ihm nie zugesagt. Verglichen mit seinen Freunden war er in dieser Hinsicht geradezu enthaltsam. Bei einer der wenigen Gelegenheiten, als er ihr gegenüber mitteilsam war, hatte er ihr verraten, daß auf den Parties der Champagner in Strömen floß und daß der rote Bordeaux, den er mit seinen Freunden im Club getrunken hatte, ausgezeichnet gewesen sei. Beides zusammen war jedoch seiner Gesundheit abträglich, bis die frische Luft, sportliche Betätigung und natürlich das deftige Essen, das sie zu Hause zu sich zu nehmen pflegten, ihn von den Nachwehen der Feste befreiten und ihm seine heitere Gelassenheit wiederbrachten.

Bei seiner Rückkehr an jenem Abend jedoch hatte er besonders mitgenommen ausgesehen und ihr die Hand hingestreckt, die mit einem blutigen Taschentuch umwickelt war.

„Was ist passiert, Papa?“

„Ich habe mich an einem Stück Draht oder irgend etwas anderem verletzt, das an der Zugtür hing. Es tut höllisch weh, und du solltest schleunigst etwas dagegen tun.“

„Selbstverständlich, Papa.“

Minella hatte die verletzte Hand, die eine häßliche gezackte, tief ins Fleisch einschneidende Wunde aufwies, mit einem Seifenbad behandelt und dann verbunden.

Insgeheim hatte sie den Verdacht, daß er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen gewesen war, als er den Zug bestieg. Er konnte getaumelt oder gestürzt sein, was ihm allerdings noch nie passiert war.

Ihr Vater war immer sehr gut zu Fuß gewesen und erfreute sich einer so rubusten Gesundheit, daß Verletzungen, die er sich beim Reiten oder bei Außenarbeiten zuzog, schneller heilten als bei anderen Menschen.

Deshalb war sie sehr besorgt, als sie am nächsten Morgen feststellen mußte, daß seine Hand trotz der Behandlung geschwollen war und eiterte.

Ohne den Protest ihres Vaters zu beachten, schickte sie nach dem Arzt. Der hielt die Wunde für harmlos, verschrieb eine desinfizierende Salbe und verschwand wieder.

Lord Heywoods Hand wurde immer schlimmer, und die Schmerzen wurden unerträglich. Als er schließlich auf Minellas Drängen hin einen Chirurgen aufsuchte, war es zu spät.

Das Gift hatte sich bereits in seinem ganzen Körper ausgebreitet, und nur den starken Schmerzmitteln, die ihn betäubten, verdankte er es, daß er nicht ständig vor Qual schreien mußte.

Es ging so schnell mit ihm zu Ende, daß Minella zunächst gar nicht begriff, was und wie es geschehen war. Erst als ihr Vater auf dem stillen Friedhof neben ihrer Mutter beigesetzt worden war, wurde ihr bewußt, daß sie ganz allein war.

Zunächst hatte sie daran gedacht, im Herrenhaus wohnen zu bleiben und das Land, das noch nicht veräußert worden war, zu bewirtschaften. Doch da hatte sie noch keine Ahnung gehabt, welche zerrütteten finanziellen Verhältnisse ihr Vater hinterlassen hatte.

Mr. Mercer war es dann gewesen, der ihr reinen Wein eingeschenkt und ihre Pläne als Tagträume bezeichnet hatte.

Das Haus war mit Hypotheken belastet und über die Hälfte des Grundbesitzes ebenfalls. Nachdem diese Belastungen abgegolten waren und der Schuldenberg ihres Vaters in London immer weiter anwuchs, wurde ihr die bittere Wahrheit bewußt.

Sie war nicht nur allein, sondern auch völlig mittellos.

Sie blickte den Anwalt über den Schreibtisch hinweg an und sagte aus ihren Gedanken heraus: „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für all Ihre Mühe und Freundlichkeit danken soll, Mr. Mercer. Sie hatten soviel Arbeit mit mir, und ich kann nur hoffen, daß Sie sich ein angemessenes Honorar gesichert haben, wie das alle anderen auch getan haben.“

„Darüber machen Sie sich nur keine Sorgen, Miss Minella“, erwiderte Mr. Mercer. „Ihre Eltern waren sehr nett zu mir, als sie sich hier niederließen, und Ihr Vater hat mir zu vielen guten Klienten verholfen, die ich nach der Übernahme unserer kleinen Familienpraxis dringend nötig hatte.“

Minella lächelte.

„Papa wollte immer allen Leuten helfen.“

„Das ist wahr“, bestätigte Mr. Mercer, „und das war wohl auch der Grund dafür, daß seine Gläubiger ihn nicht so hart unter Druck gesetzt haben, wie es sonst üblich ist. Jeder einzelne von ihnen hat seinem aufrichtigen Bedauern Ausdruck verliehen, daß Ihr Vater verschieden ist.“

Dieser bewegende Beweis der Wertschätzung ihres Vaters trieb Minella die Tränen in die Augen.

„Papa hat mir immer versprochen, mich nächstes Jahr mit nach London zu nehmen und seinen Freunden vorzustellen, die sich um mich kümmern und dafür sorgen würden, daß ich mich gut amüsiere.“

„Vielleicht tun sie das jetzt auch“, meinte Mr. Mercer hoffnungsvoll.

Minella schüttelte den Kopf.

 „Ohne Papa, der immer alle zum Lachen brachte und eine Bereicherung für jedes Fest war, wäre es nicht das gleiche.“

Der Anwalt mußte ihr insgeheim recht geben, sagte aber: „Vielleicht gibt es doch irgendeine nette Dame, die mit Ihrem Vater bekannt war und sich gern Ihrer annehmen und Sie in die Gesellschaft einführen würde, Miss Minella?“

„Ich glaube nicht, daß ich an diesen Leuten sonderlich interessiert bin“, sagte Minella versonnen, als spräche sie mit sich selbst. „Mama pflegte mir von ihnen zu erzählen; bei Tante Esther möchte ich aber auch nicht wohnen. Das wäre sehr, sehr unerfreulich für mich.“

Da ihre Stimme verdächtig dünn klang, als kämpfe sie erneut gegen ihre Tränen an, sagte Mr. Mercer gütig: „Sie brauchen sich heute noch nicht zu entscheiden, Miss Minella, nachdem wir so viele betrübliche Dinge miteinander besprechen mußten. Bis Ende des Monats können Sie hier wohnen bleiben und sich in aller Ruhe überlegen, wo Sie in Zukunft leben möchten.“

Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen und alle Verwandten ihres Vaters, die sie kannte und die noch lebten, Revue passieren lassen, ebenso die Verwandten mütterlicherseits, die sie nur dem Namen nach kannte.

„Irgend jemanden muß es doch geben“, sagte sie sich zum hundertstenmal.

„Ich bin sicher, daß Sie jemand finden werden“, ermutigte sie Mr. Mercer.

Damit erhob er sich und ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch, um sie in seiner Lederaktentasche zu verstauen. Sie war alt und abgewetzt und stammte aus der Zeit, als er die Anwaltspraxis seines Vaters übernommen hatte. Obwohl seine Partner in der Kanzlei sich über das Museumsstück lustig machten, dachte er gar nicht daran, sich davon zu trennen.

Minella brachte ihn zur Tür. Draußen wartete der altmodische Gig, der zweirädrige Einspänner, der von einem jungen Pferd gezogen wurde. Damit würde er nicht lange brauchen, um Huntingdon zu erreichen, wo sich seine Kanzlei befand.

Der Anwalt kletterte in die Kutsche. Der junge Kutscher, der das Pferd im Zügel festgehalten hatte, sprang auf den Sitz und schnalzte mit der Zunge. Knirschend rollten die Räder des leichten Gefährts über den losen Kiesbelag der Auffahrt, die von Unkraut überwuchert war und dringend der pflegenden Hand eines Gärtners bedurft hätte.

Minella winkte Mr. Mercer nach und ging dann ins Haus zurück. Die Tür schloß sich hinter ihr, und sie konnte sich noch immer nicht vorstellen, daß sie kein Zuhause mehr haben würde und ihre Zukunft völlig ungewiß war.

Es sei denn, sie entschloß sich schweren Herzens, bei Tante Esther zu wohnen. Der Gedanke bedrückte sie wie eine bedrohliche schwarze Wolke.

An jedes Wort des Briefes konnte sie sich erinnern, den ihre Tante geschrieben hatte, als die Todesanzeige in der Zeitung erschienen war. Ohne Wärme und Anteilnahme waren ihre Zeilen, besonders der Nachsatz, den sie daruntergekritzelt hatte: „Vermutlich wirst du bei mir wohnen wollen, weil es sonst kaum noch lebende Familienangehörige gibt. Eine zusätzliche Last für mich, aber ich bin ja nie vom Leben verwöhnt worden und werde auch das ertragen.“

Eine Last! Dieses harte Wort verfolgte Minella geradezu. Ihr Stolz war so tief verletzt, daß sie ihrer Tante am liebsten postwendend geantwortet hätte, sie werde niemandem zur Last fallen.

„Habe ich das nötig?“ fragte sie sich trotzig. „Ich bin jung, habe eine gute Erziehung genossen und gelte als einigermaßen intelligent. Es müßte mir doch möglich sein, mir meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen.“

Doch darauf gab es vorläufig keine Antwort.

Auf dem Weg zum Herrenzimmer fiel ihr ein, daß sie die persönlichen Papiere ihres Vaters durchsehen und vernichten mußte, damit die neuen Besitzer nicht in den Privatsachen des verstorbenen Lord Heywood herumschnüffeln konnten.

Die Leute im Dorf und die wenigen Nachbarn in der näheren Umgebung des Landsitzes sprachen entweder voller Bewunderung über ihren Vater, oder sie mißbilligten seine Vergnügungssucht, die ihn immer wieder nach London und in zweifelhafte Gesellschaft trieb.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die pikanten Geschichten, die er in London erlebte, nach und nach auch in diesem entlegenen Winkel des Landes bekannt wurden.

Es geht sie gar nichts an, dachte Minella, und doch widerstrebte es ihr, seine Privatpost liegenzulassen, so daß Unbefugte sich daran ergötzen konnten.

Persönliche Dinge, wie Einladungen zum Ball, Schleifchen, Damenhandschuhe oder duftende Spitzentüchlein würden Anlaß zu üblen Klatschgeschichten geben, wovon ohnehin schon genügend über ihren Vater kursierten.

Die Blicke, die sie trafen, wenn sie einkaufen ging, verrieten ihr deutlich, was die Leute dachten. Selbst die Trauerpredigt des Pfarrers hatte einen mißbüligenden Unterton gehabt.

Der alte Pastor hatte ihn stets ausgenutzt und war nie mit leeren Händen von ihm weggegangen, doch für das bewegte Leben, das Seine Lordschaft seit dem Tode seiner Frau führte, zeigte er, nicht das geringste Verständnis.

Ihr Vater hatte immer nur gelacht, wehn sie ihm den neuesten Klatsch aus dem Dorf über ihn erzählte.

„Da haben sie wenigstens was zu reden“, meinte er. „Eine willkommene Abwechslung von Ackerbau und Viehzucht, dem Wetter und dem wackligen Kirchturm.“

„Du bist doch nicht schon wieder schwach geworden, Papa!“ rief Minella recht ahnungsvoll aus, denn sie wußte genau, wieviel ihr Vater bereits für die Restaurierung der Kirche gestiftet hatte.

„Man sollte ihn einstürzen lassen“, hatte Lord Heywood erwidert, „wie sie mich in einen Abgrund stürzen sehen.“

Minella lachte.

„Sie reden zu gern über dich, Papa, und wären arm dran, wenn du plötzlich aus ihrem Blickpunkt verschwinden würdest und ihnen somit der Gesprächsstoff ausginge.“

Und jetzt war er tatsächlich für immer davongegangen, und im Dorf würde sich das Gespräch wieder Ackerbau und Viehzucht zuwenden.

Sie zog die obere Schreibtischschublade auf, die unzählige ungespitzte Bleistifte enthielt, Federhalter, ungültige Scheckbücher und schwarz angelaufene Knöpfe, die einst die Livree eines Lakaien geziert hatten.

Der erste Lord Heywood, der Onkel ihres Vaters, hatte drei Lakaien und einen Butler zu seiner Verfügung gehabt.

Als ihr Vater das Herrenhaus bezogen hatte, war ein sehr tüchtiges Ehepaar dagewesen, das den Haushalt versorgt hatte, außerdem gab es ein Kindermädchen für Minella, einen Kammerdiener für ihren Vater und einen Laufburschen.

Zuerst hatte dieser gehen müssen, dann der Kammerdiener, dann waren die Haushälterin und ihr Mann zu alt geworden und hatten sich zur Ruhe gesetzt, und schließlich war nur noch Minellas alte Kinderschwester übrig gewesen.

Sie hatte schon ihre Muterr großgezogen und gehörte zum lebenden Inventar des Hauses.

Im Alter von neunundsiebzig Jahren war sie kurz vor ihrer Mutter gestorben.

Minella war der festen Überzeugung, daß ihre Mutter niemals so krank geworden wäre, wenn Nanny noch gelebt hätte, denn sie hätte dafür gesorgt, daß es immer warm im Haus war.

Die beiden Frauen, die nur stundenweise aushalfen, hatten das nicht fertiggebracht. Sie hatten zwar immer für Sauberkeit gesorgt, waren aber ständig in Eile gewesen, weil sie zu ihren Familien zurück wollten.

Jetzt gab es überhaupt keine Hilfe mehr. Nach dem Tode ihres Vaters hatte Minella den Staub, der sich überall in den unbenutzten Zimmern ansammelte, bewußt übersehen. Sie hielt es für überflüssig, dafür Geld zu verschwenden, und kam sehr gut allein zurecht.

Ein Stück Löschpapier kam in der Schublade zum Vorschein, auf dem ihr Vater einige Summen zusammengerechnet hatte. Sie knüllte es zusammen und warf es in den Papierkorb. Andere Papiere schichtete sie ordentlich auf, um sie irgendwann in einen Karton zu legen.

Die Silberknöpfe mit dem Familienwappen bewahrte sie als Andenken auf und als Notgroschen, falls sie keine Arbeit fand und dringend Geld brauchte.

Nach der Schublade nahm sie sich die Seitenfächer vor. Sie waren bis obenhin mit Briefen gefüllt. Ihr Vater hatte nie geantwortet, jedoch immer alles aufbewahrt, um eines Tages all seine Briefschulden zu erledigen. Es war nie dazu gekommen.

Die Schreiben älteren Datums zerriß sie ungelesen, andere enthielten Einladungen zu irgendwelchen Festlichkeiten und hatten alle den gleichen Wortlaut, wie etwa:

„Lieber Roy,

Wir erwarten Dich auf unserem Jagdfest. Du weißt, daß Du der einzige bist, der für Stimmung sorgen kann, und der die Gesellschaft von St. Pancras sicher hergeleiten wird . . . “

Auch diese und ähnlich lautenden Einladungen landeten im Papierkorb. Aus allen ging deutlich hervor, daß ihr Vater als amüsanter Gesellschafter begehrt gewesen war. Eine Dame drückte das so aus:

„Das Ganze wird ein Reinfall, wenn Du nicht teilnimmst und uns zum Lachen bringst, und mich persönlich würdest Du überglücklich machen . . . “

Hastig zerriß Minella das Schreiben. Wenn so etwas in falsche Hände gelangte, würde es zweifellos zu Mißdeutungen Anlaß geben.

Um selbst nicht in Versuchung zu geraten, falsche Schlüsse zu ziehen, zerriß sie alle weiteren Briefe ungelesen. Bei einem fiel ihr zufällig ein Name ins Auge: Connie.

Sie sah sich den Brief genauer an und erkannte die Handschrift wieder. Sie gehörte Constance Langford, der Tochter des Pfarrers im Nachbarort. Er war ein kluger, gebildeter Mann, der niemals eine Stelle als Landpfarrer hätte annehmen dürfen, sondern als Dozent an eine Universität gehörte.

Ihre Mutter hatte ihn überredet, Minella in all den Dingen zu unterweisen, die das Wissen der pensionierten Erzieherin im Dorf überstiegen.

Eine Viertelstunde lang hatte Minella querfeldein reiten müssen, um zur Pfarrei Little Welham zu gelangen, wo Reverend Adolphus Langford sie hart arbeiten ließ.

Vierzehn Jahre war sie alt gewesen, als sie den Unterricht bei ihm angetreten hatte, gemeinsam mit der drei Jahre älteren Töchter des Pfarrers, Constance.

Es machte viel mehr Spaß, mit einem anderen Mädchen zusammen zu lernen, und Minella war stolz darauf gewesen, daß sie schneller begriff und intelligenter war als Constance.

Sobald sie einmal im Arbeitszimmer des Pfarrers allein waren, machte Constance kein Hehl daraus, daß sie die ganze Büffelei langweilig fand.

„Du solltest dich glücklich schätzen, einen so klugen Vater zu haben“, hatte Minella die Freundin ermahnt.

„Und du solltest dich glücklich schätzen, einen so gutaussehenden und aufregenden Mann zum Vater zu haben“, hatte Constance erwidert.

„Das erzähle ich Papa“, sagte Minella lachend. „Bestimmt fühlt er sich geschmeichelt.“

Sie hatte Constance einmal zu einer Tasse Tee mit nach Hause genommen, und ihr Vater war sehr liebenswürdig und unterhaltsam gewesen und hatte bei Constance Begeisterungsstürme ausgelöst.

„Er ist so hinreißend und charmant!“ hatte sie geschwärmt. „Oh Minella, wann darf ich wieder zu euch kommen? Es ist so aufregend, ihn nur anzuschauen! “

Minella empfand dieses Kompliment als ungerecht Constances Vater gegenüber. Sie mochte den Pfarrer und seine anregende Lehrmethode. Außerdem wurde sie den Verdacht nicht los, daß Constance nur deshalb besonders nett zu ihr war, weil sie wieder ins Gutshaus eingeladen werden wollte.

Doch sie hatte wenig Freunde und war deshalb nur allzu gern bereit, Constance den Gefallen zu tun. Ihre Freundin durfte das Pferd ihres Vaters reiten, wenn er es nicht brauchte, und so ritten sie querfeldein zum Heywood-Besitz. Dort pflegte Minella sich dann gleich auf die Suche nach ihrem Vater zu begeben, um Constance eine Freude zu machen.

Er hielt sich gewöhnlich im Garten oder in den Ställen auf, und da es jedem auffiel, wie Constance ihn mit großen Augen und voller Bewunderung anhimmelte und jedem seiner Worte hingebungsvoll lauschte, als sei es das Evangelium, sagte Lady Heywood lachend: „Du hast zweifellos das Herz der Kleinen erobert, Roy. Hoffentlich wird es dir nicht lästig.“

„Sicher nicht“, erwiderte er gutmütig. „Mädchen in diesem Alter schwärmen für den erstbesten reiferen Mann, der ihnen über den Weg läuft. Das ist ganz natürlich.“

„Kann dem Gegenstand ihrer Schwärmerei aber ganz schön auf die Nerven gehen“, meinte Lady Heywood.

„Sollte, das der Fall sein, flüchte ich mich schutzsuchend zu dir“, erwiderte Lord Heywood lächelnd.

Er legte den Arm um die Schultern seiner Frau und ging mit ihr durch den Garten aufs Haus zu. Die beiden boten ein Bild vollkommener Harmonie, das sich Minella fest eingeprägt hatte.

Ein Jahr später war Connie, wie sie sich jetzt nannte, weil sie Constance zu steif und förmlich fand, nach London gegangen. Sie schrieb, sie habe eine recht interessante Beschäftigung gefunden, über die ihre Eltern sich allerdings nur vage äußerten.

Minella erinnerte sich, daß Connie ein einziges Mal wieder bei ihnen aufgetaucht war; das war kurz nach dem Tode von Minellas Mutter gewesen.

Ihr Vater war gerade aus London zurückgekehrt und in sehr bedrückter Stimmung gewesen.

Connie sah sich überhaupt nicht mehr ähnlich, fand Minella. Sie hatte sie im ersten Augenblick gar nicht erkannt. Schlanker und größer war sie geworden und so elegant gekleidet, daß Minella aus dem Staunen nicht mehr herauskam.