Geliebter Fremder - Das Glück kommt aus dem Nichts - Ryanne Corey - E-Book

Geliebter Fremder - Das Glück kommt aus dem Nichts E-Book

Ryanne Corey

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Beschreibung

MIT DIR ... BIS ANS ENDE ALLER ZEITEN Ein Fremder, der aus dem Nichts auftaucht, so wild und anziehend, dass es ihr den Atem raubt. Für Studentin Sienna Cummings ist Jesse Blackwolf eine Naturgewalt, und das nicht nur, weil er ihr während einer Expedition in den schroffen Felsen des Black Canyon das Leben rettet. Nein, es ist seine ungezähmte Männlichkeit, die sie in seinen magischen Bann zieht: Dieser einsame Wolf duldet keine Kompromisse, er nimmt sich, was er braucht, und das ist sie! Ihr Herz beschwört Sienna, ihm zu folgen, aber etwas steht zwischen ihnen, etwas das größer scheint als ihre Liebe … SOBALD DIE EIFERSUCHT ERWACHT "Verrat es mir: Wie bekomme ich einen Mann rum?" Stern Westmoreland traut seinen Ohren nicht, als seine beste Freundin JoJo ihn um Rat fragt. Sie steht auf einen Kunden ihrer Autowerkstatt, er aber sieht in ihr nur die burschikose Mechanikerin im Blaumann. Natürlich weiß Stern, wie JoJo sich stylen muss! Mit Frauen kennt er sich schließlich aus. Doch als sie verführerisch weiblich vor ihm steht, flammt in ihm plötzlich Eifersucht auf. Ein schrecklicher Gedanke, dass ein Fremder langsam den Reißverschluss ihres sexy Kleides öffnet und zärtlich ihre nackte Haut berührt … (K)EIN MANN FÜR GEWISSE STUNDEN? Erregende Spannung liegt in der Luft, als Antonia in der Londoner Luxusvilla einer Bekannten eine Dessousparty feiert. Da steht plötzlich ein verwegen aussehender, sexy Fremder in der Tür. Haben ihre Freundinnen etwa einen als Holzfäller verkleideten Stripper für sie bestellt? Doch bevor Antonia sich ihren erotischen Fantasien hingeben kann, stellt der gut gebaute Typ leider klar, wer er wirklich ist: der Unternehmer Scott Elstrom. Er ist gerade frisch aus Alaska zurückgekehrt, rechtmäßiger Besitzer des Hauses - und ab sofort Antonias neuer Boss … IM BETT MIT 00SEXY "Lassen Sie mich los!" Gerade bricht Iona bei ihrem Ex ein, um die 25 000 Dollar zurückzuholen, die er gestohlen - da packt sie ein Fremder. Und was für einer! Privatdetektiv Zane Montoya hat die strahlendsten blauen Augen, die sie je gesehen hat … und auch sein Körper stellt selbst 007 in den Schatten. Wie sie jagt er ihrem Ex hinterher - und als dieser dank Zanes Hilfe gefasst ist, möchte die zierliche Schöne nur zu gerne bei dem aufregenden Ermittler bleiben. Doch trotz der erotischen Anziehung zwischen ihnen hält er sie auf Distanz. Verbirgt 00Sexy etwa ein Geheimnis? NACHT DER VERFÜHRUNG Als Anna den Supermarkt verlassen will, kann sie es anfangs gar nicht fassen: Die Tür ist abgeschlossen! Doch sie ist nicht ganz allein in dieser misslichen Lage: Ein attraktiver Fremder steht vor genau der gleichen Situation. Nicht unbedingt der schlechteste Partner, um aus dieser Zeit das Beste zu machen, wie Anna schnell erkennt. John Daniels erotische Ausstrahlung lässt sie keineswegs unberührt! Wie selbstverständlich liegt sie plötzlich in seinen Armen und erwidert seine stürmischen Küsse leidenschaftlich.

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Seitenzahl: 1018

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Sandra Marton, Brenda Jackson, Nina Harrington, Heidi Rice, Ryanne Corey

Geliebter Fremde - Das Glück kommt aus dem Nichts

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2010 by Sandra Myles Originaltitel: „Blackwolf’s Redemption“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 2263 - 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: SAS

Abbildungen: mauritius images / Blend Images / Colin Anderson, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733709709

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

Blackwolf Canyon, Montana, 5.34 Uhr

Tag der Sommersonnenwende, 21. Juni 2010

Der Mond war bereits vor Stunden untergegangen, dennoch harrte die Nacht unnachgiebig über dem Land aus. Die zerklüfteten Felswände des Canyons schienen entschlossen, die Kälte der Dunkelheit nicht weichen zu lassen. Ein scharfer Wind blies um die Felsspitzen und fuhr raschelnd durch das trockene Gebüsch, sein unheimliches Pfeifen das einzige Geräusch, das die Stille durchschnitt.

Sienna Cummings erschauerte.

Es war eine raue Gegend, kahl und schroff. In diesen letzten Minuten, bevor das Licht der Morgendämmerung in den Canyon einfallen würde, meinte Sienna, die uralte, oft blutige Geschichte des Landes nahezu greifbar zu spüren.

Ein schwerer Arm legte sich um ihre Schultern. „Komm, ich wärme dich auf“, sagte Jack Burden, Leiter der Expedition.

Mit einem gezwungenen Lächeln machte Sienna sich aus der Umarmung frei. „Es geht schon, danke“, erwiderte sie höflich. „Ich bin einfach nur aufgeregt. Wegen der Sonnenwende“, fügte sie schnell an, damit Burden nicht seine übliche Taktik anwandte, mit der er alles, was sie von sich gab, als doppeldeutige Anspielung auslegte.

Vergeblich.

„Ich bin auch aufgeregt. Ich fasse mein Glück kaum – hier, allein mit dir, in dunkler Abgeschiedenheit …“

Allein waren sie nun wahrlich nicht. Vier weitere Leute nahmen an der Expedition teil: zwei Examensstudenten, ein Professor für Anthropologie und eine junge Frau, die Burden als seine Sekretärin vorgestellt hatte. So, wie das Mädchen ihn anhimmelte, bezweifelte Sienna allerdings ernsthaft, dass es für Burden nur arbeitete, aber das sollte ihr recht sein. So ließ ihr aufdringlicher Boss sie wenigstens in Ruhe.

Nur manchmal eben nicht, so wie jetzt.

Völlig uninteressant, dass sie kurz vor einem faszinierenden Schauspiel standen. Dass, sobald die Sonne ein Drittel über Blackwolf Mountain aufgegangen wäre, ihre Strahlen auf einen Kreis fallen würden, den ein heiliger Mann vor über tausend Jahren in den Felsen geschlagen hatte. Völlig unwichtig, dass es seit Jahrzehnten zum ersten Mal wieder Fremden erlaubt war, den Canyon zu betreten. Oder dass alles hier sich verändern würde, weil das Land an einen Entwickler verkauft werden sollte. Nein, Jack Burden dachte nur daran, wie er sie am besten verführen könnte.

Sicher, im einundzwanzigsten Jahrhundert gab es Gesetze gegen sexuelle Belästigung. Sienna musste nur eine offizielle Beschwerde bei der Universitätsleitung einreichen – und sich dann damit arrangieren, dass ihre akademische Karriere zu Ende war.

„Es ist fast so weit“, verkündete einer der Examensstudenten atemlos.

Sienna richtete ihre Aufmerksamkeit entschlossen auf den zerklüfteten Gipfel vor sich. Eine halbe Stunde würde es sicherlich noch dauern, aber das Warten gehörte eben mit dazu. Sie hatte viele alte Stätten besucht, hatte die Sonne im Chaco Canyon aufgehen sehen, hatte die Hieroglyphen des großen Tempels von Chichén Itzá aufgezeichnet, und einmal hatte sie sogar eine magische Nacht zwischen den Steinen von Stonehenge verbracht.

Dennoch lag hier an diesem Ort etwas ganz Besonderes in der Luft. Sie spürte es. Bis ins Mark, bis in ihr Herz. Natürlich würde sie das niemals laut aussprechen. Sie war Wissenschaftlerin. Und die Wissenschaft belächelte Menschen, die sich auf ihr Bauchgefühl beriefen.

Sie musste einen Laut von sich gegeben haben, vielleicht hatte sie auch etwas geflüstert, denn Jack Burden lehnte sich näher zu ihr.

„Bist du nicht froh, dass ich dich mit hergebracht habe?“

Er ließ es wie einen persönlichen Gefallen klingen, dabei war es das keineswegs. Sienna stand kurz vor dem Abschluss ihrer Dissertation, zwei Jahre lang hatte sie alles, was es über den Blackwolf Canyon an Material gab, gesammelt, studiert und ausgewertet. Den Platz in dieser Expedition hatte sie sich verdient. Sie wusste alles, was es über die Geschichte zu wissen gab, angefangen von den ersten Ureinwohnern, die sich hier niedergelassen hatten, über die Komantschen- und Sioux-Krieger, die um dieses Land gekämpft hatten, bis hin zu dem zuletzt bekannten Besitzer, Jesse Blackwolf, dessen Schicksal bis zum heutigen Tage ungeklärt war.

Auch er war ein Krieger gewesen. Er hatte in Vietnam gekämpft, eine volle Dekade, bevor sie überhaupt geboren wurde, war nach Hause zurückgekehrt und dann wie vom Erdboden verschwunden.

Sie hatte versucht herauszufinden, was aus ihm geworden war, hatte sich eingeredet, es hätte mit ihrer Doktorarbeit zu tun, doch das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Dieser Mann hielt ihre Fantasie gefangen. Was natürlich lächerlich war. Anthropologen untersuchten Kulturen, nicht einzelne Individuen. Trotzdem … da war etwas an Jesse Blackwolf …

„Nur noch ein paar Minuten!“, tönte es von einem der Studenten.

Sienna nickte, schlang die Arme um sich und wartete.

Blackwolf Canyon, Montana, 5.34 Uhr

Tag der Sommersonnenwende, 22. Juni 1975

Der Hengst schnaubte ungeduldig.

„Nicht mehr lange“, sagte Jesse leise und strich dem Tier besänftigend über den Hals.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Jesse auf die Bergspitze vor sich. Noch eine halbe Stunde, dann konnte er von hier wegreiten, ohne einen Blick zurückwerfen zu müssen.

Seine Vorfahren waren hergekommen, um ihre Götter anzubeten. Er war hergekommen, um sich zu verabschieden. In seinem Leben gab es keinen Raum für solchen Unsinn.

Er hatte diesen letzten Besuch auch gar nicht geplant. Wieso hätte er? Eine Sommersonnenwende war eine Sommersonnenwende. Die Sonne erreichte die größte nördliche Deklination, und das war’s. Seine Vorfahren hatten das entdeckt und ein Riesentheater um den längsten Tag des Jahres veranstaltet. Er nicht.

Es war nicht Aberglaube, der ihn hierhergeführt hatte, sondern das genaue Gegenteil. Als Junge hatte er an die Geschichten geglaubt, doch er war schon lange kein Junge mehr. Er war ein Mann, älter und weiser als beim ersten Mal, als er zur Sonnenwende hier herausgekommen war.

Der mächtige graue Hengst schnaubte wieder, und Jesses Mundwinkel bogen sich leicht nach oben. Fast hätte man es für ein Lächeln halten können. „Na schön, vielleicht hast du recht. Älter bestimmt, aber weiser nicht unbedingt.“

Der Hengst warf den Kopf zurück, als wollte er – Was tun wir hier draußen zu dieser unmöglichen Zeit? Wir sollten beide noch schlafen! sagen. Jesse konnte es Cloud nicht verübeln. Doch vor einer Stunde war er aus einem unruhigen Schlaf aufgeschreckt, hatte Cloud aus dem warmen Stall geholt, war dem unerklärlichen Impuls gefolgt und zum Canyon geritten, um sich den Sonnenaufgang anzusehen.

Sei ehrlich, verdammt!

Es war kein Impuls gewesen, sondern alles lange durchdacht. Er musste die Verbindung zwischen sich und den alten Traditionen ein für alle Mal durchtrennen. Man musste nicht Sioux oder Komantsche sein, um zu wissen, wann die Sonnenwende stattfand, dafür reichten die angelsächsischen Gene seiner Mutter. Oder die Jahre, die er auf der Uni vergeudet hatte. Die Sonne stand in einem bestimmten Winkel am Himmel, und zweimal im Jahr erfolgte dann die Sonnenwende.

Das war real. Die Mythen dagegen waren Schwachsinn. Von wegen Erneuerung der Erde, des Geistes! Dieser Humbug sollte angeblich das Leben eines Mannes auf immer verändern.

Jesse lachte bitter auf. Sein Vater hatte daran geglaubt, sein Großvater auch, und vor ihm sein Urgroßvater. Vermutlich jeder einzelne Blackwolf-Krieger, dessen DNS an ihn weitervererbt worden war. Nun, für die ersten dreißig Jahre seines Lebens hatte er es ebenfalls geglaubt. Nicht alles, schließlich war er ein Mann des zwanzigsten Jahrhunderts mit einem Universitätsabschluss. Da nahm man Mythologie nicht unbedingt allzu ernst. Aber er hatte die Tradition respektiert, die Kontinuität der alten Werte. Und es schadete doch nichts, wenn man Ereignissen wie einer Sonnenwende ein wenig Respekt zollte, oder? Selbst wenn man den wissenschaftlichen Grund kannte.

Sein Vater hatte ihn hergebracht, da war er zwölf gewesen.

„Bald wird die Sonne aufgehen“, hatte er gesagt. „Das Licht der Vergangenheit und der Zukunft wird auf den heiligen Stein fallen. Der Eid, den ein Mann in der Sonnwendnacht leistet, wird auf immer den wahren Weg festlegen, der seinem Leben vorbestimmt ist. Bist du bereit, den Eid zu leisten, mein Sohn?“

In dem Alter waren Jesses Kopf und sein Herz angefüllt mit den Geschichten, die sein Vater ihm über die tapferen Krieger, die seine Ahnen gewesen waren, erzählt hatte. Seine Mutter, deren Eltern nie einen Indianer gesehen hatten, bis sie ihren Schwiegersohn kennenlernten, hatte ihm aus den Märchenbüchern vorgelesen, die sie schrieb und illustrierte.

Natürlich war Jesse bereit gewesen. Bei Sonnenaufgang hatte er die Arme den Strahlen entgegengehoben und sich der Obhut der Geister seiner kriegerischen Ahnen anvertraut.

Sein Vater war so stolz auf ihn gewesen. Seine Mutter hatte ihn umarmt und geküsst. Selbst als er älter wurde und erkannte, dass die alten Geschichten eben nur Geschichten waren, war er froh gewesen, den Eid geleistet zu haben, froh darüber, dass sein Vater ihn in die alten Traditionen eingeführt hatte.

Doch als Jesse dann auf dem College war, änderte sich alles. Es gab Krieg, in einem fernen Land. Die Jungs, mit denen er aufgewachsen war, starben in diesem Krieg. Ihn zog man nicht ein, Studenten kamen nicht auf die Listen der Armee.

Es schien so völlig falsch. Er stammte doch von Kriegern ab. Was tat er dann in muffigen Seminarräumen?

Mit zwanzig wusste Jesse, es wurde Zeit, den Eid zu wahren, den er mit zwölf geleistet hatte. Er verließ das College. Meldete sich freiwillig. Sein Vater war stolz auf ihn, seine Mutter weinte. Er zog das Grundtraining durch, stach aus der Gruppe heraus und wurde Teil einer Elitetruppe, der Special Forces. Er diente zusammen mit ehrenvollen Männern, kämpfte zusammen mit ihnen für eine ehrenvolle Sache …

Und musste mit ansehen, wie alles, an was er glaubte, zu Staub zerfiel.

Cloud wieherte und stampfte mit dem Huf auf. Jesses Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, zurück an diesen Ort hier, wo alles angefangen hatte. Wo der Weg in ein Leben begonnen hatte, das ihn getäuscht hatte.

Die Sonne stieg höher. Das letzte Mal, als er hier auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte, war er voll von kindlichem Idealismus gewesen. Heute nicht mehr. Er hatte seine Erfahrungen gemacht und alles verloren – den Vater an den Krebs, die Mutter an Trauer und Verzweiflung ein paar Monate später und die eigene Ehre an einen Krieg, der nur aufgrund von Lügen geführt worden war.

Ja, er würde noch einen Eid leisten, wenn die Sonne aufging. Er würde dem Aberglauben abschwören. Er würde den Canyon und die Tausende von Hektar Land verkaufen. Dass seine Leute hierherkamen und zelebrierten, was sie einen heiligen Ritus nannten, hatte er bereits unterbunden. Junge Männer, vor allem Jungen, noch halbe Kinder, sollten ihre Hoffnungen nicht auf etwas setzen, das letztendlich alles, an was sie glaubten, verspottete.

An diesem Ort hier lebten die Lüge und die Dummheit. Es wurde Zeit, dem einen Riegel vorzuschieben. Die Papiere für den Verkauf lagen schon auf seinem Schreibtisch, er brauchte sie nur noch zu unterschreiben und seinem Anwalt zu übergeben, und dann würde dieser ganze Unsinn endlich …

Cloud wieherte. Jesse sah zum Gipfel. Die Sonne schob sich langsam zwischen die beiden Felsspitzen. Er holte tief Luft. Sein Puls raste, ihm war leicht schwindlig. Teufel noch eins, Aberglaube konnte eine enorme Macht ausüben …

Was, verflucht, war das?

Dieser grüne Blitz, der den Himmel teilte? Da, da war es wieder! Wie ein elektrischer Stromstoß.

Der Hengst begann nervös zu tänzeln. Jesse hielt die Zügel straffer, murmelte beruhigende Worte – für das Pferd, für sich selbst.

Ein Blitz am wolkenlosen Morgenhimmel? Ohne Donner? In der Farbe von Smaragden? Sicher, das Wetter in Montana war oft unberechenbar, aber …

„Verdammt!“

Noch ein Blitz. Die Sonne verschwand, Dunkelheit legte sich über den Canyon. Cloud stieg auf die Hinterläufe, wieherte in Panik, versuchte Jesse abzuwerfen. Grünes Licht zuckte zwischen den Felsspitzen über dem heiligen Zirkel …

Dann hörte es jäh auf. Die Sonne stand wieder an einem klaren blauen Himmel, erhellte den Canyon, schien auf Felswände und Gebüsch. Doch Jesses Augen blieben an einer Stelle haften.

Eine menschliche Gestalt lag reglos wie tot in der Mitte des heiligen Steins.

2. KAPITEL

Die Kletterpartie hinauf zu dem Plateau war ebenso schwierig und gefährlich, wie Jesse in Erinnerung hatte. Die knapp fünfzehn Meter kamen ihm endlos vor, weil man nach Vorsprüngen und Einbuchtungen für Hände und Füße suchen musste. Dass Adrenalin durch seine Adern pumpte, half nicht. Jesse spürte, wie seine Muskeln sich verkrampften.

Er verharrte an der Felswand, atmete tief und regelmäßig durch. Schweißtropfen liefen ihm zwischen den Schulterblättern hinunter. Wenn er abstürzte, dann hätten die Geier gleich zwei Mahlzeiten angerichtet.

Zwei was? Hatte er da oben tatsächlich einen Menschen gesehen? Verdammt, für solche Fragen blieb jetzt keine Zeit.

Der Felsvorsprung hing direkt über ihm. Jetzt kam der schwierigste Teil. Er musste sich zurücklehnen, mit nichts als Luft im Rücken, und einen sicheren Griff finden, um sich hochziehen zu können. Wäre das nicht die Krönung, wenn er oben ankam und das, was er gesehen hatte, gar kein Mensch war? Hier draußen rannte genug Wild herum. Elche und Hirsche … aber die würden nicht so hoch klettern. Ein Wolf? Nein, der auch nicht. Vielleicht ein Bär. Oder ein Puma.

Möglich, dass er diese Strapaze auf sich genommen hatte, nur um ein totes oder verletztes Tier zu finden. Vielleicht hatten Wilderer seine Verbotsschilder ignoriert. Sicherlich keiner der Ansässigen von hier, aber Fremde …

Herrgott, du hast doch oft genug gesehen, was die Idioten, die sich Jäger nennen, anrichten können. Falls er da oben einen verwundeten Grizzly fand … Jesse atmete noch einmal durch. Jetzt war es zu spät, darüber hätte er sich vorher Gedanken machen sollen.

Eine letzte Anstrengung, ein letztes Mal alles aus den kraftvollen Muskeln herausholen, und er zog sich auf den Vorsprung.

Ja, da lag tatsächlich ein Körper, und es war kein Tier.

Sondern eine Frau.

Sie war bewusstlos, aber sie lebte. Ihr Gesicht war weiß wie der Bauch eines toten Fisches, doch er konnte erkennen, wie ihre Brust sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Verletzungen ließen sich auf den ersten Blick nicht ausmachen, das musste allerdings nichts heißen. Vielleicht war sie ja von diesem seltsamen Blitz getroffen worden. Vielleicht hatte das ihr Herz in Mitleidenschaft gezogen. Oder sie war gestürzt und hatte sich den Kopf angeschlagen …

Er sagte sich, dass sie es sich selbst zuzuschreiben hatte. Unbefugte Eindringlinge hatten hier nichts verloren. Trotzdem … der Instinkt in ihm übernahm. Er war ausgebildet worden, um Leben zu retten – und um es zu nehmen. Er kniete sich neben die Fremde und sah sie sich genauer an.

Sie zitterte nicht. Das war schon mal gut. Er legte die Hand an ihren Hals. Die Haut war warm. Auch das war gut. Er konnte den Puls schlagen – nein, rasen sehen. Er legte die Hand über ihr Herz. Der Herzschlag war kräftig und regelmäßig … und ihre Brust passte perfekt in seine Handfläche.

Er riss seine Hand zurück und setzte sich auf die Fersen. „Wachen Sie auf“, sagte er scharf.

Sie rührte sich nicht.

„Kommen Sie, öffnen Sie die Augen.“

Sie stöhnte. Ihre Lider flatterten, hoben sich, enthüllten Iris in der Farbe von Veilchen.

„Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?“

Ihre Zungenspitze schnellte vor und befeuchtete ihre Lippen. Sie blickte in sein Gesicht, aber er bezweifelte, dass sie irgendetwas sah oder erkannte.

„Konzentrieren Sie sich auf meine Worte. Sind Sie verletzt?“

Ihr Blick wurde klarer, ihre Augen wurden dunkler. Ihre Lippen teilten sich.

„Gut so. Sehen Sie mich an. Sagen Sie mir, ob Sie …“

Und dann öffnete sie den Mund. Ihr Schrei zerriss die Stille des Canyons.

Siennas Schrei gellte laut durch die Luft, schrill und voller Panik. Denn Panik war genau das, was sie fühlte.

Ein Mann beugte sich über sie. Sein Gesicht war angemalt wie das eines Wilden, schwarze Streifen auf den hohen Wangenknochen und über den Wangen. Sein Haar war ebenfalls schwarz. Lang. Mit einem Lederband zusammengehalten. Ihr Blick wanderte an ihm herab. Da hing eine Adlerkralle an einem Lederband um seinen Hals und baumelte gegen – großer Gott! – eine muskulöse nackte Brust.

Pure Angst raste durch ihre Adern. Es gab nur eine einzige Erklärung: Hier in den Bergen von Montana lief ein Verrückter frei herum, und sie war auf ihn gestoßen.

Schrei nicht, mahnte sie sich verzweifelt. Ja nicht mehr schreien. Bleib ruhig, ganz ruhig … „Fassen Sie mich nicht an!“ Sie stützte die Ellbogen hinter sich auf und versuchte, von ihm fortzukommen, als er sich näher beugte.

Sie hatte nicht die geringste Chance. Er packte sie bei den Schultern und drückte sie auf den harten Boden.

„Rühren Sie sich nicht.“

Seine Stimme war tief und rau, und jetzt war sie sicher, dass er verrückt war. Sie sollte sich nicht rühren? Natürlich würde sie sich rühren! Sie würde rennen wie der Wind! Sobald sie seine Hände abgeschüttelt hatte!

„Ich sagte, halten Sie still“, knurrte er. „Oder ich muss Sie fixieren.“

Fixieren? Welcher Wahnsinnige benutzte ein solches Wort?! Und tat er das nicht bereits? Ihr Blick ging über seine Schulter hin zu der gleißenden Sonne, die am Himmel stand.

Die Sonne. Die Sonnenwende. Das war es. Sie hatte auf den Sonnenaufgang gewartet, auf den Moment, da die Sommersonne ihre Strahlen durch die Felsspitzen senden würde, die sich wie Wächter um den heiligen Kreis erhoben. Und dann hatte ohne jegliche Vorwarnung ein Blitz den Himmel geteilt. Ein grüner Blitz, der zwischen die Steine gefahren war.

Vor ihr hatte sich ein schwarzes Loch aufgetan. Sie war hingezogen worden, in ein Nichts, so kalt, dass sie meinte, versteinert zu sein. Sie war von der Leere verschluckt worden.

Doch natürlich stimmte das nicht, denn sie war ja hier. Und neben ihr hockte ein Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte. Ein Wilder mit einem Gesicht so hart wie aus Stein gemeißelt, mit Augen so schwarz und kalt wie Obsidian und einem Mund, so schmal wie die Schneide eines Schwertes.

Sienna wollte schlucken, doch es gelang ihr nicht. Die Angst hatte ihren Mund staubtrocken gemacht.

Der Mann hatte die Bewegung mitverfolgt, dann wanderte sein Blick wieder zu ihrem Gesicht. „Sind Sie verletzt?“

War sie? Vorsichtig bewegte sie ihre Finger, ihre Zehen, ihre Schultern. „Ich weiß nicht.“

„Tut Ihnen etwas weh?“

Was sollte ihn das kümmern? Trotzdem antwortete sie automatisch. „Mein Kopf.“

Eine seiner Hände hob sich von ihrer Schulter, fasste an ihren Kopf. Sie wäre zurückgezuckt, hätte er sie mit der anderen Hand nicht weiter festgehalten. Er befühlte ihren Schädel, behutsam und sanft. Es war ein so scharfer Kontrast zu seinem Gesicht, seiner Stimme, seinem Körper. Aber das musste nichts bedeuten. Sie hatte Kulturen studiert, in denen die Krieger ihre Gefangenen mit relativer Fürsorge behandelten, bis sie sie …

„Au!“ Sienna stieß zischend die Luft durch die Zähne.

„Hinter Ihrem Ohr haben Sie eine dicke Beule.“ Seine Hände wanderten weiter, an ihrem Hals entlang, über ihre Schultern …

„Nicht“, sagte sie, doch er achtete nicht auf sie, arbeitete sich bis zu ihren Zehen hinunter. Seine Berührungen waren nüchtern und kompetent, keineswegs intim. Dennoch half ihr das nicht, die Panik im Zaum zu halten.

„Wie viele Finger?“

Sie blinzelte. „Was?“

„Wie viele Finger erkennen Sie?“

Sie starrte auf seine Hand. „Drei.“

„Und jetzt?“

„Vier. Wer sind Sie?“ Sie stützte sich auf die Ellbogen auf, spürte den kalten Stein an ihrer Haut.

Er beugte sich vor – sie wich zurück. Mit einem ungeduldigen Knurren hielt er sie bei den Schultern fest und starrte sie an.

„Was tun Sie da?“

„Ich prüfe Ihre Pupillen.“

Es war nervenaufreibend, wie diese schwarzen Augen sich in ihre bohrten. „Meine Pupillen sind in Ordnung.“

„Drehen Sie den Kopf. Langsam. Gut. Ich werde Sie jetzt auf den Bauch rollen.“

„Das werden Sie nicht …“

Doch da lag sie schon flach mit dem Gesicht auf dem Fels, und seine Hände tanzten über sie, nüchtern und unpersönlich. Als er fertig mit seiner Untersuchung war, drehte er sie auf den Rücken zurück, schob den Arm unter ihre Schultern und half ihr, sich aufzusetzen.

Die Welt kippte in Schräglage. In ihren Ohren rauschte ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Sie wankte. Er fluchte und fasste sie fester.

„Es geht schon …“, murmelte sie.

„Beugen Sie sich vor.“

Sie gehorchte, allein schon deshalb, weil er sie so wütend anfunkelte. Sie hatte wirklich nicht vor, einen Verrückten noch wütender zu machen. Wieso war er überhaupt so verärgert? Gehörte Ärger zu den Symptomen einer Psychose? Hätte sie doch nur besser in den Psychologie-Seminaren aufgepasst!

„Atmen Sie tief durch“, ordnete er jetzt an. „Ja, so ist’s richtig.“ Er hielt sie noch einen Moment fest, dann ließ er sie los. „Ihr Name?“

Das war keine Frage, sondern ein Befehl.

Sollte sie ihm ihren Namen verraten oder nicht? Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Gewalttäter grundsätzlich nichts über ihre Opfer wissen wollten, weshalb Psychiater ja auch rieten, den Versuch zu machen, eine persönliche Beziehung zu seinem Entführer oder seinem Vergewaltiger aufzubauen. Damit die Kriminellen einen als Individuum ansahen.

Seinem Vergewaltiger. Fast hätte Sienna hysterisch aufgelacht. Das klang so gewählt. Mein Friseur, mein Arzt, mein Anwalt.

Mein Vergewaltiger.

„Antworten Sie mir. Wie heißen Sie?“

Sie holte tief Luft. „Ich heiße Sienna Cummings. Und Sie?“

„Wie sind Sie hierhergekommen?“

Wohin? Ihr war nicht klar, dass sie das Wort laut ausgesprochen hatte, bis sie merkte, dass er sie mit zusammengekniffenen Augen anstarrte.

„Gedächtnisverlust vorzuschützen bringt Sie nicht weit. Genau so wenig nützt es Ihnen, meine Fragen nicht zu beantworten. Wieso sind Sie hier?“

„Wo ist ‚hier‘?“, fragte sie so kleinlaut, dass Jesse versucht war, ihr zu glauben.

Aber sie hatte ihm ihren Namen genannt. Sicher, das hieß nicht viel. Er hatte oft genug mit verwundeten Männern zu tun gehabt, um zu wissen, dass so etwas wie selektive Amnesie existierte. Man erinnerte sich an seinen Namen und an nichts sonst.

Oder, so dachte er kalt, die Lügen könnten natürlich auch ganz selbstverständlich über diese weichen rosigen Lippen fließen.

„Das hier“, sagte er grimmig, „ist mein Land.“

„Blackwolf Canyon?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das Land gehört Ihnen nicht.“

„Glauben Sie mir, Lady, alles hier ist mein Besitz. Jeder Baum, jeder Stein, jedes Körnchen Dreck gehört mir.“

„Nein, tut es nicht“, beharrte sie starrsinnig.

Fast hätte Jesse gelacht. Sie war sich ihrer ja so verdammt sicher. Glaubte sie, mit dieser vorgegebenen Unwissenheit durchzukommen, um dann wie geplant mit ihrem Vorhaben weiterzumachen? Sie war leicht zu durchschauen – entweder war sie ein Hippie und hatte noch nicht akzeptiert, dass die Sechzigerjahre vorbei waren, oder sie war schlicht und ergreifend eine Diebin.

Es gab einen florierenden Markt für Relikte aus der Vergangenheit. „Sakrale Artefakte der Ureinwohner Amerikas“, wie der leicht einzuschüchternde Dicke es genannt hatte, den Jesse letztes Jahr auf seinem Land erwischt hatte, trotz der überall aufgestellten Betreten Verboten – Schilder.

Die echten Ureinwohner Amerikas selbst nannten sich ganz einfach Indianer. Was nun den sakralen Teil anbelangte …

Kompletter Schwachsinn.

Sicher, es gab genügend Leute in seinem Volk, die an diesen Blödsinn glaubten. Er war auch mal nahe daran gewesen, als Junge. Aber Vietnam hatte ihm das schnell ausgetrieben. Die Steine, die Malereien, die Tonscherben … sie waren Überreste aus einer anderen Zeit, mehr nicht. Dieses Plateau hier besaß keine geheimnisvolle Magie, es war reiner Hokuspokus.

Was nicht hieß, dass er Blumenkindern und Dieben freien Zugang gewähren würde.

Eine schnelle Musterung sagte ihm, dass diese Frau kein übrig gebliebenes Blumenkind war. Sie trug weder lange Perlenketten noch eine wallende Lockenmähne. Stattdessen war ihr Haar zu einem vernünftig nüchternen Pferdeschwanz zusammengefasst, sie trug T-Shirt und Jeans, Sachen, die aussahen, als würden sie oft benutzt werden. Somit war sie also eine Diebin, die sich auf sein Land geschlichen hatte. Und das ärgerte ihn fast ebenso sehr wie die Tatsache, dass er sie nicht bemerkt hatte, während er hier auf seinem Pferd gesessen und auf den Berg gestarrt hatte.

Na schön, es war dunkel gewesen, aber … Als Junge und als Soldat war er ausgebildet worden, genau zu beobachten, Dinge zu bemerken, die andere nicht sahen. Und doch war sie irgendwie an ihm vorbeigekommen.

Seine Fähigkeiten rosteten offensichtlich langsam ein. Das würde er ändern müssen. Im Moment jedoch hatte es Vorrang, sie von diesem Plateau herunterzubekommen. Wer und was immer sie war, er wollte ihren Tod nicht auf seinem Gewissen lasten haben.

Außerdem … eine Leiche auf seinem Land würde nicht nur den Sheriff auf den Plan rufen, sondern auch die Presse. Publicity war das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Er schaute über den Felsvorsprung in den Canyon hinunter. Das Problem war, sie hier runterzubringen, ohne dass sie beide es ungewollt auf die schnelle Art machten. Gebrochene Knochen wären das harmloseste Resultat eines Sturzes. Er brauchte ein Seil, nur hatte er keines. Und vierzig Minuten bis zum Haus zurückreiten und dann wieder herkommen schien ihm keine gute Idee zu sein. Nicht, wenn die Sonne jetzt erbarmungslos vom Himmel stach und die Geier bereits kreisten …

Ein Seil. Nicht einmal ein langes, nur lang genug, damit sie sich aneinanderbinden konnten.

Abrupt richtete er sich auf. „Ziehen Sie Ihren Gürtel aus der Hose.“

Sie wurde blass. „Was?!“

„Ihren Gürtel.“ Er zerrte bereits an seiner Gürtelschnalle. „Ziehen Sie ihn ab.“

„Bitte, tun Sie das nicht …“ Ihre Stimme brach. „Wer immer Sie sind, Sie dürfen nicht …“

Er hob den Kopf und sah sie an, und plötzlich klickte es in seinem Kopf. Ihre entsetzte Miene, die Verzweiflung in ihrer Stimme. Sie glaubte, er wollte sie vergewaltigen! Wieso? Weil er für sie wie ein Wilder aussehen musste? Wahrscheinlich. Sein Oberkörper war nackt, sein Haar trug er lang und hatte es mit einem Lederband zusammengefasst, um seinen Hals baumelte eine Adlerkralle, ein Geschenk von seinem Vater.

„Sie wird dich beschützen“, hatte sein Vater leise gesagt, an dem Abend, bevor er nach Vietnam abgezogen war.

Die schwarzen Streifen auf seinem Gesicht waren das Einzige, für das es keine vernünftige Erklärung gab. Oder vielleicht doch. Er war hergekommen, um sich von seinem Land zu verabschieden – als Krieger. Die Wahl zwischen der Militäruniform und der Kriegsbemalung seines Volkes war in weniger als einer Minute gefallen. Weder das eine noch das andere hatte noch Bedeutung für ihn, aber die Verbindung zu jenen, die vor ihm gelebt hatten, ließ sich nicht so leicht abschütteln wie eine Uniform. Also hatte er das Hemd ausgezogen, sein Gesicht bemalt und sein Haar mit einem Lederband zusammengebunden …

Jesse stieß frustriert die Luft aus. Diese Frau hier hielt sich unbefugt auf seinem Land auf. Wahrscheinlich wusste sie ganz genau, wo sie sich befand, aber er konnte es ihr nicht verübeln, dass sie falsche Schlüsse zog, wenn ein Mann, der sicherlich anders aussah als die, an die sie gewöhnt war, von ihr ihren Gürtel verlangte.

„Ich brauche die Gürtel, um eine Art Seil daraus zu machen.“

„Ein Seil?“

„Damit wir von dieser Klippe herunterkommen.“

„Klippe?“

Er hockte sich neben sie. „Sehen Sie sich mal um, Lady.“ Er fasste sie bei den Schultern und drehte sie leicht. „Wir befinden uns auf einer Klippe. Als wenn Sie das nicht wüssten!“

„Oh Gott.“ Ein Flüstern nur, dann immer lauter: „Oh Gott! Oh Gott! Oh Gott!“

Sie begann zu zittern. Zittern? Die Untertreibung des Jahres! Sie bebte wie Espenlaub. Jesse schüttelte sie. „Hören Sie auf damit!“

„Ich sitze auf einem Berg – Blackwolf Mountain. Im Blackwolf Canyon.“ Ein erstickter Laut kam aus ihrer Kehle. „Und das hier ist … das ist der heilige Stein.“

„Nein, wirklich?“, kommentierte er kalt.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. „Ich saß in dem Canyon. In ihm, verstehen Sie? Ich habe von unten auf den Gipfel geschaut. Zu diesem Felsvorsprung hinauf, zu der Sonne … Und dann war da dieser Blitz … und jetzt bin ich hier … Das ist unmöglich, absolut unmöglich …“

Wenn das gespielt war, dann spielte sie wirklich gut – perfekte Schockreaktion, leichenblasses Gesicht, gestammelte Sätze, die keinen Sinn ergaben. Er packte ihre Handgelenke. „He, beruhigen Sie sich.“

Sie lachte. Ein solches Lachen hatte er oft gehört – von tödlich verletzten Männern in der Schlacht, kurz bevor sie aufgaben und in den Wahnsinn drifteten. Diese Frau würde er nicht dorthin gehen lassen. An seinen Händen klebte genug Blut. „Beruhigen Sie sich“, wiederholte er.

Ihre Zähne klapperten, er hatte nichts, mit dem er sie wärmen könnte – außer mit seiner Körperwärme. Er legte die Arme um sie. „Entspannen Sie sich.“

„Haben Sie nicht verstanden? Ich war da unten, auf dem Boden dieses … dieses Felshaufens. Und Sie … Sie …“

Er zog sie an sich. Sie wehrte sich, er ignorierte es. Nach einem langen Moment schluchzte sie auf. Er spürte ihren warmen Atem an seiner bloßen Brust, ihre Tränen liefen über seine Haut. Sie fühlte sich grazil und zerbrechlich in seinen Armen an.

Woher hatte sie die Kraft genommen, hier heraufzukommen? Es passte nicht zusammen. Selbst wenn sie vorgehabt hatte, Artefakte zu stehlen … wie war es ihr gelungen, auf den Vorsprung zu klettern? Er hatte doch am eigenen Leib gemerkt, wie viel Kraft dazu nötig war.

Nicht dass sie verweichlicht wäre. Nun, ihr Körper war weich, wie der Körper einer Frau eben weich war. Aber sie war fit. Durchtrainiert. Ihre Arme, ihr Bauch, der sich an seinen drückte …

Ihre Brüste.

Rund. Voll. Fest. Vielleicht war er ja tatsächlich der Wilde, für den sie ihn hielt. Denn ein Schauer der Erregung überlief ihn, während er eine Frau umarmte, die er nicht kannte und bei der er jeden Grund hatte, sie unsympathisch zu finden.

Das lag nur an den langen Monaten der Enthaltsamkeit. Heute Abend würde er in die Stadt fahren, als Mann aus den 1970er Jahren und nicht als einer aus dem vorigen Jahrhundert, sich in die Hotelbar in Bozeman setzen und die Bekanntschaft einer Frau suchen. Am besten eine Touristin von der Ostküste, verführerisch duftend und sexy. Wenn er mit etwas nie Schwierigkeiten gehabt hatte, dann damit, eine Frau zu finden, die sein Bett wärmte.

Und danach würde er nicht mehr von einer Diebin angetörnt werden.

Zumindest hatte besagte Diebin endlich aufgehört zu zittern. Dafür bekam sie jetzt Schluckauf. Er schob sie von sich ab. „Sind Sie wieder in Ordnung?“

Sie nickte. Ihr Haar hatte sich gelöst. Er hatte geglaubt, sie hätte braunes Haar, doch es war golden. Beige, braun, gold … was interessierte es ihn, welche Haarfarbe sie hatte?!

„Gut.“ Er richtete sich auf. „Dann hören Sie mir jetzt genau zu, damit wir heil von hier runterkommen.“

Sie sah zu ihm hoch. „Was ist mit mir passiert?“

Sie klang noch immer benommen. Das konnte er sich nicht leisten. Sie musste sich zusammennehmen. „Blitzschlag.“

Wieder nickte sie. „Ja, ich erinnere mich. Es war ein grüner Blitz. Seit wann sind Blitze grün?“

Gute Frage. Trotzdem … „Sparen Sie sich die Fragen für später auf“, erwiderte er harsch. „Im Moment ist nur wichtig, dass wir von diesem Felsen wegkommen.“

Sie schluckte. „Ich … ich habe Höhenangst.“

Das erklärte, warum sie kein zweites Mal in den Canyon hinuntergeschaut hatte. Es erklärte nicht, wie sie hier raufgekommen war. Ein Gedanke schoss ihm in den Kopf. „Wo ist Ihr Komplize?“

„Mein was?“

„War jemand bei Ihnen?“ Es musste jemand bei ihr gewesen sein. Jesse stellte sich an den Rand des Vorsprungs und sah in den Canyon hinunter. Nichts, niemand. Nur Cloud, der an einem ausgedörrten Strauch kaute.

„Ja“, antwortete die Frau langsam. „Ja, natürlich!“ Sie stand auf, schwankte, und Jesse fasste sofort nach ihr. „Jack … und die anderen.“

„Sie haben sie zurückgelassen.“

„Sie sind irgendwo da unten.“

„Nein, sie sind weg. Die haben Sie Ihr Leben für nichts und wieder nichts riskieren lassen. Hier gibt es nichts mehr zu stehlen. Die Wächtersteine und der heilige Stein selbst sind zu groß, und etwas anderes gibt es nicht mehr.“ Er verzog abfällig den Mund. „Das andere hat Ihr Volk schon vor fünfzig Jahren abtransportiert.“

„Mein Volk?“ Sie starrte ihn an. „Was soll das heißen?“

Ja, was hieß das? Sie war weiß. Na und? Er auch, zumindest zur Hälfte. Bisher hatte die Hautfarbe eines Menschen ihn nie gekümmert. Etwas an dieser Frau rieb ihn auf.

„Also gut“, brummte er. „Folgendes: Ich werde unsere Gürtel verknoten, dann ein Ende um Ihr Handgelenk binden, das andere um meines. Ich gehe voran, und Sie machen mir jeden Schritt nach. Haben Sie das verstanden? Jede einzelne Bewegung! Ein falscher Schritt – und … Was ist nun schon wieder?“

Sienna schüttelte wild den Kopf. „Ich werde nicht diesen Berg hinunterklettern.“

„Was wollen Sie tun? Sich hinunterwünschen?“ Seine Stimme triefte vor Ironie.

„Ich werde einfach aufwachen.“

Er riss die Augenbrauen in die Höhe. „Wie bitte?“

„Sie haben mich schon verstanden. Das ist alles nur ein Traum. Es muss ein Traum sein. Ich stehe garantiert nicht auf einem Felsvorsprung auf einem Berg und unterhalte mich mit einem Mann, der aussieht, als gehörte er in einen John-Wayne-Film.“ Sie schob sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr und hob ihr Kinn an. „John Wayne ist tot, und ich träume. Definitiv.“

Jesse lachte trocken auf. Was immer sie war, sie hatte Nerven, das musste er ihr lassen. „John Wayne ist nicht tot, und das hier ist kein Traum.“

„Irrtum.“ Ihr Kinn schoss noch höher. „John Wayne weilt nicht mehr unter uns. Und ich schlafe tief und fest in meinem Zelt. Es wird Ihnen nicht gelingen, mich vom Gegenteil zu überzeugen.“ Sie kniff die violetten Augen zusammen. „Das Ganze hier ist nicht real.“

„Sie vergeuden wertvolle Zeit. Die Sonne steigt schnell höher. Der Abstieg wird schwer genug werden, auch ohne die Hitze.“

„Nein.“ Ihre Stimme bebte leicht. „Ich sagte doch schon, das ist alles nicht real.“

„Und ob das real ist!“, knurrte er und bewies es ihr, indem er sie in seine Arme zog und küsste.

3. KAPITEL

Sienna schnappte nach Luft, als er die Arme um sie schlang.

„Lassen Sie das“, sagte sie … oder wollte es sagen, doch er war zu schnell und zu stark. Erfolglos versuchte sie, das Gesicht abzuwenden. Er hatte längst seine Hand in ihr Haar geschoben und hielt ihren Kopf fest.

Einen Kuss konnte man das nicht nennen. Es war als Demonstration männlicher Dominanz gedacht. Er wollte ihr zeigen, dass sie die Hilflose, die Unterlegene war.

Doch das war sie nicht. Weil ihre Arbeit sie oft an entlegene und gefährliche Orte führte, hatte sie Kampfsportarten zur Selbstverteidigung trainiert. Der Rat ihres Trainers – „Suche nach einer offenen Stelle, oder schaffe eine“ – hatte sie sowohl im peruanischen Dschungel wie auch auf den Straßen von Manhattan gerettet. Es würde ihr auch jetzt helfen. Sie musste sich nur entspannen. Ihr Angreifer würde seinen Griff ebenfalls lockern, dann konnte sie ihr Knie anwinkeln und die empfindliche Stelle treffen, die ihn außer Gefecht setzte.

Irrtum. Nichts an diesem Mann lockerte sich. Falls überhaupt, zog er sie nur noch fester an sich, sobald sie aufhörte, sich zu wehren.

Ihre Hände kamen auf seiner sonnenwarmen Haut zu liegen, unter den Handflächen spürte sie seine harten Muskeln. Er beugte ihren Kopf zurück, um besseren Zugang zu ihrem Mund zu haben. Sienna wollte ihn beißen. Die nächste Fehleinschätzung. Sobald sie die Lippen teilte, schoss seine Zunge vor.

Und alles änderte sich.

Was kühl kalkuliert begonnen hatte, wurde wild und gierig. Sie fühlte den harten Schaft, der sich an ihren Bauch drückte, der Geschmack des Kusses wurde schwerer, voller – erregend. Sie hörte den Laut, den sie ungewollt von sich gab, fast wie ein Schnurren, und konnte nur verzweifelt denken: Nein! Und während sie es dachte, lehnte sie sich weiter vor, schmiegte sich an ihn …

So jäh es begonnen hatte, so jäh war es auch vorbei. Abrupt schob er sie von sich und hielt sie bei den Schultern vor sich fest. Sie spürte, dass ihre Wangen brannten, doch seine Miene war völlig ausdruckslos. Das ängstigte sie mehr als der Kuss, mehr als die eigene Reaktion.

Sie konnte unmöglich so reagiert haben. Nein, das hatte sie bestimmt nicht. Sie war keine Frau, die auf Macho-Gehabe reagierte, sondern eine moderne Frau des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Macho-Allüren waren seit Jahrzehnten nicht mehr in.

Und doch, für einen winzigen Augenblick …

Bemüht verdrängte sie den Gedanken und sah den Fremden an. Bewusst langsam zog sie den Handrücken über den Mund und wischte ihn sich dann an der Jeans ab. „Machen Sie das noch einmal“, sagte sie heiser, „dann bringe ich Sie um.“

„Machen Sie es mir noch einmal unnötig schwer“, ahmte er sie spöttisch nach, „dann lasse ich Sie hier oben sitzen. Dann können Sie sich selbst umbringen.“ Seine Lippen zuckten abfällig. „Haben Sie es endlich kapiert? Das hier ist die Realität, und nein, Sie träumen nicht.“

„Untermauern Sie Ihre Argumente immer mit Gewalt?“

Etwas flackerte in seinen Augen auf. „Nur, wenn es nicht anders geht. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“

„Das Gleiche gilt für eine Frau.“ Ihr Kinn schoss hoch. „Das sollten Sie besser in Erinnerung halten.“

„Gut, dass Sie diese Einstellung haben. Das rettet Sie vielleicht.“

Wovor? Vor ihm? Beim Abstieg? Sie war nicht dumm genug, um zu fragen. Diesen Mann durfte man nicht zu weit treiben, zumindest nicht, bis sie sicher in der Zivilisation zurück war. Im Moment war nur wichtig, von diesem Vorsprung herunterzukommen.

„Der Gürtel.“ Er hielt wartend die Hand ausgestreckt.

Seinen hatte er bereits aus den Schlaufen seiner Jeans gezogen. Sienna zögerte, dann löste sie auch ihren Gürtel und gab ihn ihm.

Er arbeitete schnell, mit geschickten Fingern, und zog den Knoten fest. Das Leder hielt, aber Gürtel waren nun mal nicht dafür gemacht, das Gewicht von zwei Menschen an einer Bergwand auszuhalten. Das improvisierte Seil war weder stark noch lang genug und …

Donner rollte über den Himmel. Sienna sah auf. Da bauschten sich dunkle Gewitterwolken zusammen, es sah geradezu unheimlich aus. Nervös leckte sie sich über die Lippen – und schmeckte ihn.

Wut. Stärke. Entschlossenheit. Und dann noch den Geschmack von Mann und Verlangen.

„Fertig?“

Sie blinzelte. Der Fremde wickelte sich ein Ende der zusammengeknoteten Gürtel um das Handgelenk. Es war ein kräftiges Handgelenk, proportional passend zum Rest. Zu seiner Größe, seinen breiten Schultern, den langen Beinen, dem muskulösen Hinterteil …

„Sie betteln geradezu um Schwierigkeiten, wenn Sie mich weiter so anstarren“, knurrte er.

Das Blut schoss ihr ins Gesicht. „Wie heißen Sie?“

Er sah sie an, als sei sie nicht bei Sinnen. Vielleicht war sie das ja auch nicht. Aber bevor sie sich da in den leeren Raum begab – geträumt oder real –, wollte sie wenigstens wissen, wer er war.

„Ist das wichtig?“

Sie warf einen hastigen Blick in den gähnenden Graben, hinunter zum Boden des Canyons. Dann schaute sie den Fremden wieder an. „Ja“, beharrte sie starrsinnig, „es ist wichtig.“

Als sie schon dachte, er würde nicht antworten, sagte er: „Jesse. Jesse Blackwolf.“

Verstört starrte sie ihn an. „Aber … aber …“

„Sie wollten meinen Namen wissen, nun kennen Sie ihn. Und jetzt sollten wir uns endlich in Bewegung setzen, bevor das Gewitter losschlägt.“

„Aber …“, sagte sie noch einmal.

Er packte nur ihr Handgelenk. „Genug geredet, verstanden?“

Ja, sie hatte verstanden. Außerdem … was sollte sie noch sagen? Wie sollte sie ihm klarmachen, dass er unmöglich Jesse Blackwolf sein konnte? Denn Jesse Blackwolf, sollte er jemals wieder auftauchen, musste über sechzig sein. Also hielt sie den Mund und ließ sich von ihm den Gürtel um ihr Handgelenk wickeln.

„Sie machen mir alles genauestens nach, haben Sie das verstanden? Die Regeln sind einfach.“

„Regeln?“ Sie lachte nervös.

„Genau, Regeln. Fünf an der Zahl.“ Er packte sie bei den Schultern. „Nicht nach unten sehen. Nicht nach oben sehen. Halten Sie Ihre Augen nur auf Ihre Hände und Füße und auf mich gerichtet. Passen Sie genau auf, was ich zu Ihnen sage, und tun Sie auch genau das, was ich Ihnen sage. Ist das klar?“

Sie bekam keinen Ton heraus, stattdessen nickte sie stumm. Eigentlich jedoch war ihr nur klar, dass sie noch nie im Leben solche Angst gehabt hatte.

Er drehte sich um und machte einen Schritt vor.

„Warten Sie!“

Über die Schulter blickte er zu ihr zurück, das Gesicht angespannt vor Ungeduld. „Was denn noch?“

„Was genau muss ich jetzt tun? Suche ich nach Spalten und Ritzen, nach Vorsprüngen, an denen ich mich festhalten kann?“

„Habe ich doch gerade erklärt. Sind Sie schwer von Begriff? Sie tun das, was ich tue. Hören Sie auf, alles analysieren zu wollen. Das hier ist eine Felswand, der Boden liegt meterweit unter uns, und bis dahin gibt es genügend Möglichkeiten, wie wir uns den Hals brechen können.“ Er kniff die Augen zusammen. „Sie werden mir einfach vertrauen müssen.“

Ihm vertrauen? Einem Mann, der gar nicht existieren konnte? Mit dem sie auf einem Bergplateau stand, auf das sie unmöglich geklettert sein konnte?

„Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig.“

Hatte er ihre Gedanken gelesen? Aber er hatte recht, sie hatte keine Wahl. Vielleicht träumte sie ja doch. Oder halluzinierte. Oder was immer man eben tat, wenn man nicht bei Bewusstsein war. Vielleicht aber auch nicht. Und falls tatsächlich nicht, dann gab es keinen anderen Weg. Ihr entfuhr ein kleiner Laut.

„Angst?“

Welchen Sinn hätte es zu lügen? Dennoch wollte sie nicht hysterisch klingen. „Da haben Sie verdammt recht! Ich habe sogar große Angst.“

Er lächelte. Es dauerte nicht länger als eine Sekunde und war eigentlich nur das Verziehen eines Mundwinkels, aber es verwandelte ihn vom furchterregenden Wilden zu einem überwältigend gut aussehenden Mann. Sie musste verrückt sein, ausgerechnet in einem solchen Moment so etwas zu denken!

„Umso besser. Nur ein Narr würde keine Angst haben, und ein Narr wäre jetzt der letzte Mensch, an den ich angebunden sein wollte.“ Mit seiner großen Hand fasste er ihr Kinn. „Seien Sie ein braves Mädchen, und tun Sie, was ich Ihnen sage, dann werden wir heil und in einem Stück unten ankommen.“

Fast hätte sie gelacht, trotz der Angst, die einen metallenen Geschmack in ihrem Mund zurückließ. Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte niemand mehr so etwas zu ihr gesagt.

„Abgemacht?“

Sie nickte. Er lehnte sich vor und strich mit seinem Mund flüchtig über ihre Lippen. „Das bringt Glück.“ Dann drehte er sich um und verschwand über dem Klippenrand.

Natürlich war er nicht verschwunden. Sein Kopf und seine Schultern tauchten jetzt wieder auf, er streckte die Hand nach ihr aus. „Kommen Sie endlich.“

„Ich komme ja.“ Und das würde sie auch – in zehn Jahren vielleicht. Im Moment jedoch schienen ihre Füße an dem heiligen Stein festgeklebt.

„Wissen Sie noch, was ich Ihnen erklärt habe? Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage.“

„Es gibt da etwas, das Sie über mich wissen sollten“, meinte sie übertrieben munter, während sie Zentimeter um Zentimeter auf den Rand zurutschte. „Ich nehme grundsätzlich keine Befehle entgegen, schon gar nicht von einem Mann.“

„Wenn Sie unbedingt ihre Unabhängigkeit demonstrieren wollen, dann müssen Sie das woanders tun.“

Dieses Mal lachte sie über die Absurdität des Ganzen, trotz ihrer Angst.

„Gut, entspannen Sie sich, atmen Sie tief durch. Und jetzt geben Sie mir Ihre Hand.“

„Gleich …“

„Jetzt!“, befahl er barsch. „Hören Sie den Donner? Das Gewitter kommt näher. Glauben Sie mir, prasselnder Regen auf einem offenen Felsplateau ist alles andere als angenehm.“ Prompt krachte es genau über ihnen am Himmel. „Sienna! Geben Sie mir die Hand!“

Wer hätte sich solch Autorität widersetzen können?

Ich auf jeden Fall nicht, dachte Sienna, legte ihre Hand in seine und trat über die Klippe.

Bis sie auf dem Boden des Canyons angekommen waren, hatte der Regen eingesetzt.

Was nun den Weg nach unten anging … Sienna hatte keine bewusste Erinnerung daran. Nachdem sie sich in panischer Suche nach einem Halt sämtliche Fingernägel abgerissen und mit ihren Zehen auf der gleichen Suche immer wieder Geröll losgetreten hatte, befolgte sie endlich Jesses Rat.

Sie hörte auf zu denken.

Danach war es einfacher geworden, dennoch hatte er sie zweimal vor dem Absturz retten müssen. Mit aller Kraft hatte er ihr Handgelenk umklammert gehalten, bis ihre Füße, die frei in der Luft baumelten, endlich wieder einen Halt an der Felswand gefunden hatten.

Jetzt waren sie endlich unten angekommen. Und als der Mann, der von sich behauptete, Jesse Blackwolf zu sein, dieses Mal „braves Mädchen“ zu ihr sagte, da war es Sienna völlig gleich, ob es gönnerhaft klang oder sie zum letzten Mal mit zwölf so genannt worden war … Sie strauchelte in seine offenen Arme, weil sie einfach nur überglücklich war, noch am Leben zu sein.

„Danke“, flüsterte sie bebend. Mehr bekam sie nicht heraus.

Es reichte auch aus. Jesse nickte und fragte sich still, ob er ihr gestehen sollte, dass sie ihn mit ihrer Courage erstaunt hatte.

Nein. Wozu ihr gratulieren, dass sie eine Situation geschaffen hatte, in der sie beide ihr Leben hätten verlieren können? Außerdem sollten sie zusehen, dass sie aus dem Canyon herauskamen, bevor der Sturm zu seiner vollen Kraft auflief. Es würde ein schlimmes Unwetter werden, alle Zeichen waren bereits zu erkennen – der dunkle Himmel, Wind, Blitz und Donner … Dieses Unwetter würde den trägen Bach, der zwischen dem Canyon und der Ranch floss, zu einem reißenden Fluss anschwellen lassen.

Jeden Moment also würde er die Frau, die er umarmt hielt, loslassen müssen. Aber noch nicht gleich.

Sie brauchte dringend Wärme. Sie klapperte mit den Zähnen, und ihre Haut war eiskalt. Gut möglich, dass der Schock bei ihr einsetzte.

Wäre kein Wunder. Er hatte es bei Männern erlebt, bei ausgebildeten Kämpfern, die dem Tod gegenübergestanden und überlebt hatten – und dann zusammensackten, sobald die Gefahr vorüber war.

Sienna Cummings hatte soeben eine ähnliche Situation durchgemacht.

Ihr gegenüber hatte er es klingen lassen, als verlangte der Abstieg nichts als ihre Bereitschaft, seinen Anweisungen zu folgen. Er wusste es besser. Um lebendig von dem Felsen herunterzukommen, waren Mumm, Selbstbeherrschung und Entschlossenheit nötig gewesen. Sie hatte alle drei bewiesen.

Natürlich, sie war ja auch hinaufgekommen. Wie? Das war die große Preisfrage.

Eine einleuchtende Antwort fiel ihm nicht ein.

Möglich, dass ihr jemand geholfen hatte. Sie hatte doch diesen John oder Jim oder Jack erwähnt. Richtig, Jack. War Jack mit ihr hier heraufgeklettert? Und was dann? Hatte er sie allein zurückgelassen?

Was für ein Mann ließ eine Frau allein auf einem Felsen zurück?

So viele Fragen und keine einzige Antwort. Keine zumindest, die sich sofort finden ließe. Nicht wenn Gefahr im Anzug war und Sienna noch immer in seinen Armen bebte.

Er spürte das Hämmern ihres Herzschlags an seiner Brust, spürte ihren Atem auf seiner Haut. Er zog sie noch enger an sich, stützte das Kinn auf ihren Kopf. Ihr Haar war weich und seidig, es roch nach Regen und schwach nach Flieder. „He, alles in Ordnung“, murmelte er. „Wir stehen auf sicherem Boden. Ihnen kann nichts passieren.“

Er war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Dann holte sie erschauernd Luft.

„Ich dachte, wir schaffen es nicht.“

„Blackwolf Mountain und ich kennen uns schon eine sehr lange Zeit.“

Sie lachte zitternd. „Was für ein Glück!“

Nicht wirklich, aber das brauchte sie nicht zu wissen. „Geht es wieder?“

„Ja, ich bin in Ordnung.“

Nein, war sie nicht. Noch immer zitterte sie, und sie war bleich wie ein Laken. An ihrem Kopf prangte eine dicke Beule, ihr T-Shirt und die Jeans waren zerrissen. Schweiß von der Anstrengung und Regen pressten den Stoff nass an ihre Haut, betonten einen schlanken Körper mit perfekten weiblichen Formen, so wie ein Mann es sich nur wünschen konnte. Durch den Stoff des T-Shirts konnte er die harten Spitzen ihrer Brüste gegen seine nackte Haut drücken spüren. Was ihm gleich mehrere Dinge sagte: Sie fror, sie trug keinen BH, und ihre Brüste hatten eine leicht aufgerichtete Form, so als wollten sie sich den Lippen eines Mannes entgegenrecken.

Er schloss die Augen und verdrängte die Bilder, rief sich bemüht ihr Gesicht in Erinnerung. Das war sicherer. Sie hatte ein hübsches Gesicht, und wichtiger, ein intelligentes Gesicht.

Eigentlich sah sie weder wie ein Blumenkind noch wie eine Diebin aus. Eher wie eine Frau, die ein Mann in seinem Bett haben wollte. Allerdings kein Mann wie er. Seine Geheimnisse waren zu düster, die Dämonen, die ihn jagten, zu hässlich. Doch irgendein Mann würde eine Frau wie sie besitzen wollen.

Er zog sich von ihr zurück. Verdammt, er konnte nur hoffen, dass sie den untrüglichen Beweis seiner Erregung nicht bemerkt hatte! Er hatte eindeutig zu lange keine Frau mehr gehabt. Es gab keinen anderen Grund, warum sonst Sienna Cummings eine solche Reaktion in ihm auslösen könnte. Die Sachlage war simpel: Sie hatte unbefugt sein Land betreten und war auf seinen Berg geklettert. Er wollte sie so schnell wie möglich ihrer Wege schicken.

„Also gut“, brummte er grimmig. „Setzen wir uns in Bewegung.“

Donner rollte über seine Worte hinweg, ein Blitz zuckte am Horizont. Ein weißer Blitz. Als wäre das der Startschuss gewesen, öffnete der Himmel seine Schleusen. Innerhalb von Sekunden waren sie beide von Kopf bis Fuß nass. Seine ungebetene Besucherin schrie auf, er konnte es ihr nicht verübeln. Die Temperatur fiel schlagartig um gute zehn Grad, der Regen war eiskalt und stach scharf wie Nadeln in die Haut.

Jesse fasste nach ihrem Arm. Sie riss sich los und drehte sich hektisch im Kreis. „Was treiben Sie da?“ Er musste schreien, um sich über den prasselnden Regen hinweg verständlich zu machen.

„Ich suche meine Leute.“

„Ich sagte doch schon, Ihr Freund hat Sie sitzen lassen.“

„Nein, unmöglich!“

„Okay, Lady, machen Sie, was Sie wollen. Ich sehe zu, dass ich ins Trockene komme.“

Sie sah ihn an, und am liebsten hätte er gelacht. Die letzte Kreatur, die so bemitleidenswert und jämmerlich ausgesehen hatte, war ein Kalb gewesen, das er kurz vor dem Ertrinken aus dem Fluss gezogen hatte.

„Kommen Sie mit oder nicht?“

Sie nickte kaum merklich. Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff gellend. Cloud kam prompt angaloppiert. Sienna stieß einen erschreckten Schrei aus und versteckte sich Schutz suchend hinter Jesse. Das Lachen, das er die ganze Zeit zurückgehalten hatte, suchte sich sein Ventil in einem lauten Schnauben.

„Das ist ein Pferd, kein Puma.“

„Haben Sie keinen Truck?“

Die Frau hatte Nerven! Jesse schwang sich auf den Rücken des Hengstes und streckte ihr die Hand entgegen. „Sie wollen ein Transportmittel? Das hier ist es. Was ist jetzt, ja oder nein?“

Sie starrte ihn an, dann klammerte sie die Finger um seinen Arm und schwang sich hinter ihm auf den Pferderücken.

„Halten Sie sich fest.“

Sienna blinzelte. Festhalten? Woran? Es gab keinen Sattel, nur den Mann und das Pferd.

„Legen Sie die Arme um mich. Es sei denn, Sie möchten sich an Clouds Schweif festhalten.“

Natürlich hatte er recht. Es war nur Minuten her, dass er sie umarmt hatte. Albern, jetzt davor zurückzuschrecken, ihn zu berühren, dachte sie und schlang die Arme um seine Taille.

Seine Haut war samten und nass und warm. Sie fühlte seine Bauchmuskeln unter ihren Fingern zucken. Sie schnappte nach Luft und wollte gerade von ihm abrücken, als er dem Pferd die Fersen in die Seiten drückte und der Hengst lang gestreckt vorpreschte, als wollte er in die Luft steigen und abheben. Sienna stieß einen erstickten Schrei aus und klammerte sich verzweifelt an Jesse fest.

„Braves Mädchen“, rief er zu ihr zurück.

Sienna verdrehte die Augen. Also noch ein sexistisch-gönnerhaftes Tätscheln aufs Haupt! Doch was konnte sie schon daran ändern? Und war es überhaupt wichtig?

Sollte das hier wirklich die Realität sein, dann brauchte sie mit diesem Mann nie wieder etwas zu tun zu haben, sobald sie dort ankamen, wohin er ritt. Wahrscheinlich Bozeman. Hoffte sie. Jack saß bestimmt mit den anderen dort und wartete auf sie. Jack würde auch eine vernünftige Erklärung für alles haben. Und falls das hier nur ein Traum war … dann würde sie sicher gleich aufwachen.

Schließlich gab es nur diese beiden Möglichkeiten, nicht wahr? Und beide schränkten Jesse Blackwolfs Präsenz auf eine kurze Zeit ein.

Nein, dachte sie mit einem mulmigen Gefühl und schloss die Augen, das sind nicht die einzig vorstellbaren Möglichkeiten. Was, wenn dieser grüne Blitz sie getroffen hatte, sie im Koma in irgendeinem Krankenhaus lag und wilde Träume zusammenfantasierte? Es wäre durchaus nachvollziehbar, dass sie von einem Ort träumte, mit dem sie sich in ihren Studien monatelang beschäftigt hatte. Und von einem düsteren, geheimnisvollen Mann. Auch wenn ihre Studien im Mittelpunkt ihres Lebens standen, sie war noch immer eine Frau. Und sie untersuchte alte Kulturen. Wäre sie der Typ Frau, der sich in romantischen Fantasien erging – was sie natürlich nicht war! –, dann entspräche dieser Mann eigentlich perfekt dem Bild.

Ein Koma war demnach eine absolut logische Erklärung. Jeden Moment würde sie aufwachen und sich in einem Krankenzimmer wiederfinden …

„Halten Sie sich gut fest!“

Sie riss die Augen wieder auf. Vor ihr lag ein Meer, zumindest sah es so aus. Wirbelnde, gurgelnde Wassermassen, die sie niemals durchqueren konnten. Doch der Hengst stürzte sich ohne zu zögern in die reißenden Strudel.

Konnte man in einem Fluss ertrinken, den es nur in der eigenen Imagination gab?

Wasser spülte über ihre Füße, ihre Waden, ihre Schenkel. Das Pferd konnte unmöglich hier durchkommen … Doch der Hengst tat genau das, unablässig angetrieben von Jesse.

„Guter Junge. Du schaffst es“, sagte er immer wieder, und Sienna begann zu lachen. Sie lachte und lachte. Sie wusste, das war eindeutig Hysterie, aber sie konnte nicht aufhören. Sie konnte sich nur an den Mann klammern, der nicht real war, ihre Wange an seinen breiten Rücken pressen, der nicht existierte, und darauf hoffen, dass das alles irgendwann ein Ende fand.

Eine ganze Ewigkeit später blieb das Pferd stehen.

„Wir sind da“, sagte Jesse.

Sienna löste die Umklammerung und setzte sich auf. Sie bewegten sich nicht mehr, aber sie konnte nicht mehr sehen als eine undurchdringliche Regenwand. Umso besser. Sie war nicht sicher, ob sie überhaupt etwas sehen wollte. „Wo?“

Wortlos glitt Jesse von Clouds Rücken und fasste Sienna um die Taille, um sie vom Pferd zu heben.

Vielleicht tauchte sie ja jetzt aus der Bewusstlosigkeit auf. Sie würde sich umschauen und die beruhigende Umgebung eines Krankenzimmers mit weißen Wänden erblicken …

Und so schaute sie sich um. Aber es gab kein Krankenzimmer, stattdessen eine riesige rechteckige Konstruktion aus Holz und viel Glas – ein Haus. Und ein Gehege, eine große Scheune, einen Garten neben dem Haus …

Also kein Traum. Auch kein Koma.

Sie verstand nicht genug von Autos, um die Modelle zu erkennen, die auf dem Hof geparkt standen. Da gab es einen schnittigen roten Sportwagen, wohl ein ausländisches Modell, einen schwarzen Pick-up und einen alten verbeulten Jeep. Ihr Blick fiel auf die Nummernschilder. Jeder der Wagen war in Montana registriert, wie sich an den Kennzeichen erkennen ließ. Und neben dem Zulassungsstaat stand das Zulassungsdatum, das da besagte … das besagte …

Sienna schlug das Herz bis in den Hals. Sie schwang zu Jesse herum. „Das Datum“, flüsterte sie. „Welches Datum haben wir?“

Er starrte sie nur kalt an. Sie wusste, ihre Stimme hatte erstickt geklungen, vielleicht hatte er sie ja gar nicht verstanden. Sie musste ihre Frage wiederholen, so schwer es ihr auch fiel, die Worte über die Lippen zu bringen.

„Bitte, sagen Sie mir, welches Datum wir heute haben.“

„Ist das wieder eines Ihrer Spielchen? Heute ist der 22. Juni. Ich bin sicher, das wissen Sie selbst.“

„Nicht der 21.? Die Sonnenwende …“

„Ist dieses Jahr auf den 22. gefallen. Das passiert …“

Sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. „… nur alle vierhundert Jahre, ich weiß.“ Sie leckte sich über die Lippen, hatte Angst, weiterzusprechen. „Das letzte Mal war das im Jahr 1975.“

„War? Was soll das, Lady? Wir haben jetzt 1975.“

„Jetzt?“ Sie klang völlig nüchtern und sachlich. „Jetzt haben wir das Jahr …“ Dann verdrehte sie die Augen und sank ohnmächtig zusammen.

4. KAPITEL

Erst starrte diese Frau ihn an, als hätte er den Verstand verloren, und im nächsten Moment sackte sie zu Boden. Oder wäre gesackt, hätte er sie nicht vorher aufgefangen.

Großartig, dachte er bissig und hielt sie bei den Schultern fest. Ein unerwünschter Eindringling, der viktorianische Ohnmachtsanfälle zur Kunst perfektioniert hatte!

„Miss Cummings“, knurrte er. „Kommen Sie schon, machen Sie die Augen wieder auf.“ Er schüttelte sie, nicht gerade sanft, doch nichts, nicht einmal ein Flattern mit den langen Wimpern. Sie war tatsächlich bewusstlos, mitten in einem ausgewachsenen Taifun. Und damit hatte er sie nun vorerst am Hals!

Der Hengst stieß ihn mit der weichen Schnauze an.

„Sicher, in Ordnung“, sagte Jesse grimmig. Die Frau hielt er mit einem Arm, während er mit dem anderen das Zaumzeug von Clouds Kopf zog. „Geh nach Hause, mein Junge.“ Das große Tier trottete auf die offene Stalltür zu, Jesse hob seine unwillkommene Besucherin auf die Arme und eilte in die entgegengesetzte Richtung zum Haus.

Das würde noch ein langer Tag werden.

Mit ausholenden Schritten nahm er die Stufen zur Veranda, verlagerte das Gewicht der Frau – nicht dass es da viel zu verlagern gäbe, sie war ein mageres kleines Ding – und stieß die schwere Eichentür auf. Na schön, mager war sie nicht. Er hatte sich ja bereits überzeugen können, dass sie all die richtigen Rundungen an all den richtigen Stellen besaß.

Als ob das wichtig wäre!

Mit einem Fuß trat er die Tür hinter sich wieder zu. Das Prasseln des Regens war jetzt nur noch gedämpft zu hören, aber der Donner grollte laut wie ein Raubtier auf Beutezug.

Jesse ging geradewegs bis in den Wohnraum durch. Sein ungeladener Gast war noch immer bewusstlos, aber jetzt zitterte sie am ganzen Körper. Kein Wunder, der Regen hatte sie bis auf die Haut durchnässt, die Kälte musste ihr bis ins Mark gedrungen sein. Er musste sie aufwärmen, bevor echte Unterkühlung einsetzte.

Auf dem Sofa lagen Zeitungen verstreut, mit einer Hand wischte er sie zu Boden und legte seine Last ab, griff nach der Patchwork-Decke und breitete sie über Sienna aus.

„Cummings, öffnen Sie die Augen.“

Sie stöhnte. Immerhin ein Anfang.

„He, sehen Sie mich an.“

Jetzt flatterten ihre Lider, mehr nicht. Teufel noch mal, sie sah zerbrechlich aus wie das Porzellan seiner Mutter. Ein Muskel zuckte in seiner Wange. Wo war die resolute „Mit-mir-nicht!“-Braut geblieben, der er auf dem Berg gegenübergestanden hatte? Er wollte sie nicht fragil und hilflos sehen. Weil er nicht für sie verantwortlich sein wollte. Nie wieder wollte er für irgendjemanden verantwortlich sein.

Ein Mann tat, was ein Mann tun musste. Die wichtigste Lektion des Lebens, dachte er bitter. Selbst wenn man sich mit einem Dieb abgeben musste, einem Eindringling.

Oder einer Frau. Nun, diese hier würde spätestens morgen wieder verschwunden sein.

Jesse ging in die Küche, griff sich ein Handtuch und trocknete sich hastig Arme und die bloße Brust ab. Er war durchgefroren, seine Jeans eiskalt und nass, aber das Wichtigste zuerst – die Frau. Ihr die nassen Sachen ausziehen, sie abtrocknen, ihr etwas Heißes zu trinken einflößen, ihre Körpertemperatur vor dem Absinken bewahren.

Und den Arzt herholen. Bis der Doc ankam, würde sie bestimmt wieder in Ordnung sein, aber sicher war sicher. Und dann konnte der Doc sie gleich mit in die Stadt nehmen. Zu einem Motel, ins Krankenhaus, wohin auch immer.

Er nahm den Telefonhörer auf und begann zu wählen. Und stellte fest, dass die Leitung tot war.

„Verdammt!“

Natürlich waren die Leitungen tot! Vielleicht war der Blitz eingeschlagen, vielleicht hatte der Sturm die Telefonmasten umgeknickt … Konnte auch sein, dass ein Grizzly das besorgt hatte, weil er sich sein Hinterteil an einem der Pfähle gescheuert hatte! Es wäre nicht das erste Mal. Außerdem … in dem Wetter kam der Doc gar nicht bis hier heraus. Bäume würden umgestürzt sein, Straßen überflutet, und der Fluss, der zwischen der Stadt und der Ranch floss, würde den Bach, den sie vom Canyon hierher durchquert hatten, wie ein lächerlich dünnes Rinnsal aussehen lassen. In Bozeman stand ein Helikopter, aber in diesem Wetter konnte der auch nicht fliegen.

„Na schön“, murmelte er in den Raum hinein.