Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Zukunft der Kirche hat schon begonnen. Gemeinde geht weiter. Zusammenarbeit und Leitung sind ihre unausgeschöpften Ressourcen. Mit Versuchen, das Bisherige zu optimieren, lässt sich die derzeitige Krise der evangelischen und katholischen Großkirchen allerdings nicht bewältigen. Weitreichende gesellschaftliche, wirtschaftlich-technische und politische Veränderungen seit den 1970er Jahren haben ihre organisationalen Rahmenbedingungen grundlegend verändert. Soll Gemeinde weitergehen, muss Kirche weiter denken. Teil I dieses Buches bietet grundlegende theologische, historische und kybernetische Überlegungen zur Erneuerung kirchlicher Struktur, Politik, Kultur und Leitung. Sie bilden den Hintergrund für methodische Anregungen zu einer auftrags- und lebensweltorientierten Selbstgestaltung - für ein erneuertes kirchliches Handeln und neue Gestaltungsmöglichkeiten christlichen Lebens (Teil II). Ein Buch für Haupt- und Ehrenamtliche auf allen Ebenen der Landeskirchen und Bistümer.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 187
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Steffen SchrammLothar Hoffmann
Gemeinde geht weiter
Theorie- und Praxisimpulse für kirchliche Leitungskräfte
Verlag W. Kohlhammer
Diese Veröffentlichung wurde finanziell unterstützt durch
die Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche)
1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-032507-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-032508-1
epub: ISBN 978-3-17-033349-9
mobi: ISBN 978-3-17-033350-5
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Die Zukunft der Kirche hat schon begonnen. Gemeinde geht weiter. Zusammenarbeit und Leitung sind ihre unausgeschöpften Ressourcen. Mit Versuchen, das Bisherige zu optimieren, lässt sich die derzeitige Krise der evangelischen und katholischen Großkirchen allerdings nicht bewältigen. Weitreichende gesellschaftliche, wirtschaftlich-technische und politische Veränderungen seit den 1970er Jahren haben ihre organisationalen Rahmenbedingungen grundlegend verändert.
Soll Gemeinde weitergehen, muss Kirche weiter denken. Teil I dieses Buches bietet grundlegende theologische, historische und kybernetische Überlegungen zur Erneuerung kirchlicher Struktur, Politik, Kultur und Leitung. Sie bilden den Hintergrund für methodische Anregungen zu einer auftrags- und lebensweltorientierten Selbstgestaltung - für ein erneuertes kirchliches Handeln und neue Gestaltungsmöglichkeiten hristlichen Lebens (Teil II).
Ein Buch für Haupt- und Ehrenamtliche auf allen Ebenen der Landeskirchen und Bistümer.
Dr. Steffen Schramm, Pfarrer und Leiter des Instituts für kirchliche Fortbildung in der Evangelischen Kirche der Pfalz;
Lothar Hoffmann, ehemals Fortbildungsreferent ebendort.
Vorab: Gemeinde geht weiter
Zur Einführung: Weiterdenken – weitergehen
I. weiter denken Neue Gestalten kirchlichen Lebens sind möglich. Überlegungen dazu
1. Kirche: Vom zweifachen zum dreifachen Kirchenbegriff
2. Kirchenentwicklung: Von der Differenzierungs- in die Integrationsphase
3. Struktur: Von der Versäulung zur Vernetzung
4. Leitung: Von der Verwaltung zur Gestaltung
5. Aktivitäten: Von »kirchlichen Angeboten« zur »Kirche mit den Menschen«
6. Wahrnehmung: Von der Auslegung des Textes zur biblischen Relecture der Wirklichkeit
7. Mitarbeitende: Von der status-quo-Fixierung zur Möglichkeitenorientierung
Bevor Sie weitergehen: Einige Bemerkungen zur Vorgehensweise
II. weiter gehenNeue Konzepte kirchlichen Lebens entwickeln.Anregungen dazu
Im Überblick: Zu neuen Konzepten kirchlichen Lebens in 7 Schritten
1. Was sollen wir? Auftrag annehmen
2. Wer lebt hier? Lebenswelt wahrnehmen
3. Wer sind wir? Aufgaben erkennen
4. Wohin soll es gehen? Leitbild entwickeln.
5. Wie gelingt, was wir wollen? Konzepte ausarbeiten
6. Was macht wer wann? Veränderungen schrittweise gestalten
7. Wie erfahren es alle? Öffentlich machen
Halten Sie Kurs: Kirchen-Controlling
Anhang
Abbildungen und Arbeitsmaterialien
Literaturverzeichnis
Autoren
Die Zukunft unserer Kirche hat schon begonnen. Zahlreiche Kirchenvorstände, Pfarrer und Gemeinden haben sich schon auf den Weg gemacht. An vielen Stellen wächst bereits Neues. Mit diesem Buch möchten wir Sie darin bestärken, mit ihrer Gemeinde, ihrer Region oder ihrem Kirchenbezirk weiter zu gehen.
In allen Bereichen zeigt sich, dass wir in einer globalen Transformationsphase leben: politisch bildet sich nach dem Ende des Ost-West-Antagonismus eine polyzentrische Weltordnung aus. Die digitale Revolution verändert die weltweiten Wirtschaftsbeziehungen, die Berufswelt und unseren Alltag mit noch nicht absehbaren Folgen. Gesellschaftlich erleben wir Momente weitergehender ethischer und kultureller Durchmischung und Pluralisierung, begleitet von massiven Renationalisierungs- und Abschottungstendenzen. Die demographische Entwicklung in Deutschland wirkt sich auf den Mitgliederbestand, die Finanzkraft wie auch auf die Anzahl der in der Kirche Tätigen aus, vor allem der Pfarrerinnen und Pfarrer. Für Landeskirchen und Bistümer verändern sich dadurch fundamentale Rahmenbedingungen ihrer Organisation und ihres Handelns.
Wenn sich so vieles verändert, können Landeskirchen und Bistümer nicht bleiben wie sie sind. Die Kirche Jesu Christi will immer neu Gestalt gewinnen. Und sie tut es auf immer neuen Wegen.
Dieses Buch lädt ein, weiterzugehen und neue kirchliche Lebensgestalten zu entwickeln. Zwei Wege, die wichtiger werden, sind Zusammenarbeit und Leitung. Hinter dem Gedanken stärkerer Kooperation steht die Einsicht: Vieles wird zukünftig besser möglich sein, wenn in den Kirchen mehr zusammengearbeitet wird. Und wenn mehr zusammenarbeitet wird, ist vieles möglich, was bisher nicht ging. Besondere Bedeutung kommt einer neuen Form der Selbstgestaltung zu: Konzepte in regionaler Vernetzung werden zukünftig eine größere Rolle spielen und die Zusammenarbeit steuern. Spirituelle und theologische Aspekte gewinnen dabei an Bedeutung.
Mit der Entwicklung von Konzepten und einer konzeptgesteuerten Zusammenarbeit haben kirchliche Leitungsgremien noch nicht allzu viel Erfahrung. Sie werden sie nur gewinnen, indem sie in der Praxis neue Schritte tun. Deshalb beschreibt der zweite Teil dieses Buches sieben konkrete Schritte zu neuen Konzepten kirchlichen Lebens – knapp, praxisnah und mit Materialien. Sie können den zweiten Teil verwenden ohne den ersten zu lesen.
Die vorgeschlagenen Schritte resultieren aber aus wissenschaftlichen Analysen und Reflexionen, die im ersten Teil dieses Buches erläutert werden. Er beschäftigt sich mit der neuen Situation und stellt dar, welche Überlegungen uns leiten, wenn wir Ihnen sieben Schritte zur Entwicklung von Konzepten in regionaler Vernetzung vorschlagen.
Weil es eine breite Ökumene organisationaler Problemlagen gibt, wendet sich dieses Buch an Menschen in Landeskirchen und Bistümern, obwohl es im evangelischen Kontext entstanden ist. Seine Wurzeln liegen einerseits in der Perspektiventwicklung der Evangelischen Kirche der Pfalz, an der Steffen Schramm seit 1999 beteiligt war. Als Leiter des Instituts für kirchliche Fortbildung hat er seit 2006 die Veranstaltungsreihe »Perspektive 2020 – Herausforderungen annehmen, den Wandel gestalten« entwickelt und zusammen mit Lothar Hoffmann durchgeführt. Lothar Hoffmann hat als Referent im Institut für kirchliche Fortbildung Gemeinde-Projekte begleitet, die aus dieser Arbeit hervorgegangen sind. Seine diesbezüglichen Erfahrungen in der Altenarbeit hat er bereits an anderer Stelle publiziert.1 Die zweite Wurzel ist die aus der Mitarbeit in diversen Perspektivkommissionen erwachsene Dissertation von Steffen Schramm2, die 2014 in das Strategiepapier der Evangelischen Kirche der Pfalz »Pfarramt und Dekansamt im Wandel. Impulse zur Weiterentwicklung von Amt und Aufgaben« einfloss, das Projekte zur Konzeptentwicklung in regionaler Vernetzung initiierte.
Lothar Hoffmann hat in Teil II die Kapitel über Sozialraumanalyse, Milieuperspektive, Projektmanagement und Öffentlichkeitsarbeit geschrieben, Steffen Schramm die anderen Kapitel verfasst und die Graphiken erstellt.
Die Gestaltungshinweise von Ute Ziegler und Hajo Sommer haben weitergeführt, wie immer. Die Begleitung durch Herrn Dr. Weigert vom Kohlhammer-Verlag war förderlich, der Druckkostenzuschuss der Evangelischen Kirche der Pfalz eine schöne Anerkennung.
Den Genannten gilt unser Dank für ihre Unterstützung, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für Ihr Interesse an der Zukunft Ihrer Kirche.
Pfingsten 2017
Steffen Schramm, Lothar Hoffmann
Inklusive Sprache kennt noch keine festen Regeln. Wir verwenden abwechselnd männliche und weibliche Formen.
Evangelische Landeskirchen und katholische Bistümer befinden sich in einem epochalen Umbruch. Viele merken es: die bisherigen Aktivitäten erfahren geringere Resonanz, Strukturen tragen nicht mehr. Die weniger werdenden Pfarrerinnen und Pfarrer und auch Presbyterien ächzen unter der Last immer neuer, zusätzlicher Aufgaben. Leitung stößt an ihre Grenzen, erkennbar an Problemstau und Perspektivenschwäche. Die Frage nach dem Warum und Wozu, nach Sinn- und Funktion bisheriger kirchlicher Lebensformen und auch der Kirche selbst ist in ihrer Mitte angekommen.
Die Kirchengestalt, die in den letzten 50 Jahren kirchliches Leben geprägt hat, vergeht – nicht weil die Kirchen und ihre Mitarbeitenden versagt, zu wenig gearbeitet oder sich nicht genug bemüht hätten. Sie vergeht, weil sich die Rahmenbedingungen fundamental verändern. Die beiden großen Kirchen leben unter neuen Realitäten. Mit ihnen gilt es umzugehen.
Nachdem über 250 Jahre lang die Zahl der Kirchenmitglieder demographisch bedingt wuchs, sinkt sie seit 1968 – eine Entwicklung, die auch im Jahr 2050 noch nicht beendet sein wird. Nach über 100 Jahren Kaufkraftzuwachs geht die kirchliche Finanzkraft langfristig zurück. Und in den 2020er Jahren treten die Babyboomer in den Ruhestand ein, wodurch sich die Anzahl der Pfarrerinnen und Pfarrer deutlich verringern wird. Hinzu kommt, dass die Tradierungsprobleme des Glaubens seit langem anhalten und sich angesichts von Individualisierung und Pluralisierung zu verschärfen drohen.
Manche deprimiert das. Insbesondere Kirchenleitende sprechen vom »Bedeutungsverlust« der Kirche, andere von Niedergang. Gefordert wird good und best practice, Ausschöpfen von Einsparpotentialen, Verbesserung der Abläufe. Und vor allem reagieren Landeskirchen durch einen Rückbau von Strukturen und Einsparungen – häufig nach dem Rasenmäherprinzip und in der Absicht, vom Bisherigen so viel wie möglich zu erhalten.
Die Einschätzung, es ginge in den laufenden Reformen nur um eine Optimierung des Bestehenden, dürfte jedoch täuschen. Die Veränderungsnotwendigkeiten reichen tiefer.
Je nach Umfang und Tiefe ist der Wandel einer Organisation eher als Optimierung oder als Erneuerung zu charakterisieren. Während Optimierung mit einem Fine-Tuning innerhalb gegebener Strukturen und Muster verglichen werden kann, ist von Erneuerung zu sprechen, wenn
kollektive Denk- und Deutungsmuster,
das Selbstverständnis und die Identität,
die Einbettung in die Umwelt,
grundlegende Aufgaben und Leistungsangebote,
organisationale Routinen, Interaktionsformen und Haltungen im Blick auf Anspruchsgruppen,
Formen der Führung und Zusammenarbeit,
Prozessarchitektur und Prozessmuster
oder zumindest eine der genannten Kategorien mit erheblichen Auswirkungen betroffen sind.
Wie es scheint müssen sich die Landeskirchen in jeder dieser Hinsichten verändern. Der Wandel ist breit in seinem Umfang, denn es sind viele Arbeitsfelder, Tätigkeitsbereiche, Prozesse und Menschen gleichzeitig in die Veränderungen involviert, und dies flächendeckend. Der Wandel ist tief und von großer Tragweite, weil die strukturellen Festlegungen, das kulturelle Selbstverständnis und die organisationalen Routinen betroffen sind. Und der Wandel vollzieht sich mit hoher Geschwindigkeit, er ist intensiv.
Angesichts des dreifachen »Weniger« (Mitglieder, Finanzkraft, Personal) haben Landeskirchen und Bistümer die Wahl zwischen mangelinduzierter Restrukturierung und auftragsorientierter Reform, zwischen der Verwaltung des Ressourcenrückgangs und der Gestaltung der Transformation. Verwaltung des Ressourcenrückgangs heißt: weiter wie bisher, aber auf niedrigerem Level und unter erschwerten Bedingungen. Gestaltung der Transformation bedeutet, die Muster des Handelns, das Verhältnis zur Umwelt, die Identität, die Kultur und Arbeitsweise weiter zu entwickeln, um dadurch neue Möglichkeiten und Chancen einer Kirche im Werden zu entdecken und zu nutzen.
Soziale Systeme sterben, wenn sie an gewachsenen Formen festhalten. Lebendig ist eine Kirche, die sich an ihrem Auftrag orientiert, lebensfähig eine Organisation, die ihre Funktionalität durch Wandel wahrt.
Jeder Versuch, die bisherigen Handlungsmaximen und -muster beizubehalten, läuft zwangsläufig auf eine Mangelverwaltung hinaus. Der Mut zu neuen Handlungsmustern birgt die Chance erneuernder, auftragsgemäßer Selbstgestaltung.
Je länger eine Landeskirche oder eine Diözese als Organisation an bisherigen Maximen festhält, desto stärker dürfte sie in Bedrängnis geraten und umso härter wird sie irgendwann umsteuern müssen – sofern sie dann noch über die nötigen Mittel verfügt.
In der Transformationskrise ist eine Verunsicherung über Wesen, Wege und Formen christlichen Lebens eingetreten: Wer sind wir als Kirche? Was ist unser Auftrag? Wohin soll es gehen?
Diese Fragen stellen sich nicht zum ersten Mal. Vieles, was an kirchlichem Leben und kirchlicher Organisation heute normal ist, stellte ursprünglich eine zunächst ungewohnte Reaktion auf ähnliche Verunsicherungen dar.
Die Gründung diakonischer Einrichtungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa war eine solche Innovation kirchlichen Lebens. Die Motivation Bedürftigen zu helfen ist so alt wie das Christentum, die Form von privaten Stiftungen und modernen Vereinen war damals etwas Neues. Auch unsere heutigen, territorial kleinräumigen Kirchengemeinden, die ihren eigenen Pfarrer, ihre eigene Kirche und vor allem ihr eigenes Gemeindehaus haben, galten um 1900 als »revolutionäres« Gemeindekonzept.
Diese wenigen Beispiele zeigen: Was heute vergeht, war vor gar nicht allzu langer Zeit eine Innovation, die sich gegen Widerstände durchsetzen musste. Vor allem aber zeigen sie: Das Christentum war immer innovativ. Warum soll heute nicht gelingen, was damals gelang?
Seit Mitte der 1990er Jahre führen viele Landeskirchen und Bistümer Rückbaumaßnahmen und Strukturreformen durch. Doch wenn es nicht um eine Optimierung, sondern um eine Erneuerung kirchlicher Organisation und kirchlichen Lebens geht, dann heißt das, alle Aspekte kirchlichen Lebens und kirchlicher Organisation sind weiter zu entwickeln und aufeinander zu beziehen. Es hilft nicht, »geistliche Erneuerung« und »Strukturreform« als Gegensätze zu konstruieren. Ein ganzheitlicher Blick ist gefragt und nötig.
Wenn das Bisherige fragil wird, tut man gut daran, inne zu halten, sich des eigenen Standorts zu vergewissern und sich zu besinnen. Soll Gemeinde weitergehen, muss sie weiter denken.
Der erste Teil des Buches stellt sieben Überlegungen an, die auf die Ermöglichung neuer Gestalten kirchlichen Lebens zielen. Sie beziehen sich auf den Kirchenbegriff, die bisherige Entwicklung der Landeskirchen als Organisationen, ihre Struktur, Leitung, Politik und Kultur.
Kapitel eins skizziert einen dreifachen Kirchenbegriff, um deutlich zu machen: Es ist der Auftrag, dem unsere Kirche und unsere Gemeinden treu bleiben sollen, nicht die aktuellen sozialen Formen und organisationalen Strukturen. Die sind veränderbar und gehen weiter.
Der zweite Abschnitt hilft einzuschätzen, wo unsere Gemeinden und Landeskirchen als Organisationen stehen, wie sie dorthin gekommen sind und wohin es gehen kann.
Das dritte Kapitel erläutert die Vorzüge von Netzwerkstrukturen gegenüber der aktuellen territorialen und funktionalen Versäulung.
Kapitel vier beantwortet die Frage, warum sich auch kirchliche Leitung weiterentwickeln muss und unter den Bedingungen von Dynamik und Komplexität eine Steuerung durch Leitbilder und Konzepte weiter führt.
Das fünfte Kapitel beschreibt, was grundlegend für die Entwicklung kirchlicher Konzepte ist: die Orientierung am kirchlichen Auftrag und an den Lebensräumen und Lebenswelten der Menschen.
Eine Kirche, die sich nicht verändern will, obwohl doch alles um sie herum sich ändert, wird niedergehen. Lebendig ihrer Aufgabe nachkommen wird sie, wenn sie sich neu in ihren gesellschaftlichen Bezügen positioniert, indem sie sich auf ihren Auftrag besinnt. Von besonderer Bedeutung ist deshalb die Frage, wie christliche Spiritualität und theologische Reflexion in den Prozess kirchlicher Selbstgestaltung implementiert werden kann. Das sechste Kapitel beschäftigt sich damit unter dem Stichwort »auftragsorientierte Wahrnehmung«.
Keine Kirche kann die notwendige Erneuerung leisten, wenn die Mitarbeitenden dies nicht wollen. Kapitel sieben fragt nach Grundhaltungen kirchlicher Mitarbeitender, die Grund, Gestalt und Bestimmung der Kirche entsprechen.
In einem Zwischenschritt finden Sie zunächst eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen, und danach einige methodische Hinweise, für den Fall, dass Sie mit ihrer Gemeinde, ihrer Region, ihrem Kirchenkreis weitergehen wollen.
Basierend auf den in Teil I angestellten Überlegungen bietet Teil II eine Arbeitshilfe, die sieben Schritte auf dem Weg der Weiterentwicklung von Kirche in regionaler Vernetzung beschreibt. Ziel sind erneuerte und neue Konzepte und Gestalten kirchlichen Lebens. Wir laden Sie ein, diesen Schritten zu folgen.
Damit Sie auf gutem Weg bleiben und Kurs halten, erläutert der letzte Abschnitt ein noch ungewohntes, aber wichtiger werdendes Thema: Controlling in der Kirche. Nicht »Kontrolle« steht im Focus, sondern die Frage: kommen wir unserm Ziel näher oder müssen wir nachsteuern?
Der Leitfaden in Teil II ermöglicht beides: Sie können den Weg Ihrer Gemeinde oder Region als Ganzes reflektieren, indem Sie ein Leitbild mit den entsprechenden Teilkonzepten erarbeiten. Dazu geben wir in sieben Schritten Anregungen.
Sie können aber auch klein anfangen und zunächst einen Teil ihrer Gemeindearbeit in regionaler Vernetzung erneuern, indem Sie z. B. ein Gottesdienst- oder Seelsorgekonzept entwickeln. Wie die vorgeschlagenen Schritte bei einer Teilkonzeptentwicklung ausgestaltet werden können, illustriert ein Beispiel zur Konfirmandenarbeit. Sie finden es jeweils am Ende eines Kapitels in einem mit grauem Rand markierten Textfeld.
Dieses Buch ist ein Werkbuch. Teil I fordert die Diskussion heraus. Die sieben Schritte zur Konzeptentwicklung in Teil II laden zu neuen Wegen der Selbstgestaltung ein.
Unter http://blog.kohlhammer.de/theologie/gemeinde-geht-weiter/ stehen Ihnen alle Arbeitsblätter und Tabellen aus diesem Buch sowie weitere Materialien zur Verfügung: in einem größeren Format für ihre konkrete Arbeit vor Ort. Sie können die Arbeitsblätter ausdrucken und dann damit arbeiten. Sie können sie aber auch in ihrem Computer ausfüllen, z. B. indem Sie in einer Sitzung oder einem Workshop einen Beamer verwenden, so dass alle mitlesen und mitdenken können.
Als Autoren sind wir gespannt auf Ihre Rückmeldungen und Erfahrungen. Bitte schreiben Sie uns:
Steffen Schramm: [email protected];
Lothar Hoffmann: [email protected].
Die erste Überlegung bezieht sich auf das Kirchenverständnis und führt einige Unterscheidungen ein. Sie geht von der Beobachtung aus, dass sich viele Gemeinden schwer damit tun, wenn ihre bisherigen Aktivitäten an Attraktivität verlieren und keine neuen Menschen anziehen. Viel Kraft wird darauf verwendet, bisherige Sozialformen zu erhalten, bis dahin, dass unkenntlich wird, wofür Kirche eigentlich steht. Dabei ist es die Bestimmung von Kirche, die gleich bleibt, während Sozialformen, Strukturen und Handlungsweisen variabel sind.
Beim Stichwort Kirche stellt sich als erste Assoziation das Kirchengebäude ein. Kirce wird aber auch identifiziert mit organisatorischen Strukturen wie Parochialgemeinden oder bestimmten Sozialformen wie zum Beispiel den Gruppen und Kreisen im Gemeindehaus.
In diesem Abschnitt soll auf die Frage nach den Sozialformen und Strukturen der Kirche ein grundsätzlicher Blick geworfen werden, der deutlich macht: kirchliche Sozialformen und Strukturen sind nicht beliebig, aber variabel. Stabil und stetig ist der Auftrag der Kirche. Wandelt sich die Welt, in die Kirche und Gemeinden gewiesen sind, müssen sich auch ihre Sozialformen und Strukturen wandeln, wenn sie ihrem Auftrag treu bleiben wollen. Die Treue gilt nicht den Sozialformen und Strukturen, sondern dem Auftrag und der Bestimmung der Kirche.
Wie ist das im Einzelnen zu denken? Am besten im Rahmen eines dreifachen Kirchenbegriffs.1
Bekannt sind duale Kirchenbegriffe, die die geglaubte und die empirische, die sichtbare und die verborgene Kirche unterscheiden. Für die zu Großorganisationen gewordenen Landeskirchen macht es aber Sinn, Kirche als Glaubensgemeinschaft, Handlungsgemeinschaft und Rechtsgemeinschaft zu beschreiben. Damit sind nicht drei unterschiedliche Gemeinschaften gemeint, sondern drei Dimensionen von Kirche. Eine Gemeinschaft von Menschen, die glaubt, wird auch aus diesem Glauben heraus handeln. Und wer gemeinsam handelt, wird sich überlegen, wie er sich am besten organisiert, damit sein Handeln dauerhaft möglich und erfolgreich wird. Dafür stellt er Regeln auf, im Falle der Kirchen das Kirchenrecht, und bildet Berufsrollen resp. Ämter aus.
Grundlegend für das Kirchenverständnis ist die Einsicht, dass sich die Kirche als Glaubensgemeinschaft ganz dem Wirken Gottes verdankt, die Kirche als Handlungs- und Rechtsgemeinschaft aber ganz in der Verantwortung der Menschen liegt.
Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden ist Folge des Handelns Gottes. Setzen sich Menschen mit Gottes Wort auseinander und machen sie dabei die Erfahrung, dass sich hier ihrem Leben ein tragender Sinn erschließt, so wird diese Wirkung dem Geist Gottes zugeschrieben. Die Kirche als Glaubensgemeinschaft entsteht nicht aus sich selbst oder durch einen freien Entschluss, sondern aus dem Wirken des Geistes Gottes, der in Menschen Glauben weckt. Die Kirche als Glaubensgemeinschaft ist Geschöpf des Wortes Gottes, durch das Wirken des Heiligen Geistes. Der Grund der Kirche ist Gottes versöhnendes Handeln in Jesus Christus.
Abb. 1: Dreifacher Kirchenbegriff
Die Glaubenden sind eine Gemeinschaft versöhnter Verschiedener und als solche der Leib Christi. Der Leib Christi ist nur einer, weil er nur ein Haupt hat: Christus. Er ist heilig, nicht weil er moralisch einwandfrei wäre, sondern weil er zu Christus gehört. Er ist »katholisch«, weil universal und umfassend. Und der Leib Christi ist apostolisch, weil er aus der Quelle der in der Bibel bewahrten apostolischen Überlieferung lebt und ihr verpflichtet ist. Der Leib Christi ist die eine, heilige, katholische, apostolische Kirche.
Diese Glaubensgemeinschaft hat eine Bestimmung: sie ist beauftragt, Zeichen des Reiches Gottes zu sein (vgl. Apg 1, 1-8).
Jesus hat das in seiner Person und in seinem Wirken schon anbrechende Reich Gottes in Gleichnissen angesagt und in Zeichen vergegenwärtigt. In seiner Gegenwart und durch sein Handeln erfuhren Menschen Befreiung, Heilung und Heil: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt (Mt 11,5).
Die Gemeinschaft der Glaubenden kann das Reich Gottes nicht selbst herbeiführen. Sie ist auch nicht selbst das Reich Gottes. Sie hat den Auftrag, vorläufige Darstellung des Reiches Gottes zu sein, Zeichen, Vorgeschmack. Wie macht sie das? Indem sie aus Glauben handelt.
Wenn die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden die Bestimmung hat, Zeichen des Reiches Gottes zu sein, durch welche Handlungen kann sie dann als Handlungsgemeinschaft diesem Auftrag nachkommen?
Am deutlichsten tut sie es in der Feier des Gottesdienstes: durch die Verkündigung des Wortes und die Feier der Sakramente. In Predigten wird Gottes Heilshandeln persönlich bezeugt, in Taufe und Abendmahl bekennt die Gemeinde ihren Glauben. In der Taufe feiert sie die neue Identität eines Menschen in Christus, im Herrenmahl die neue Gemeinschaft in Christus.
Die liturgische Feier des Gottesdienstes hängt mit dem Gottesdienst im Alltag der Welt untrennbar zusammen. Auf welchen Feldern und wie soll die Gemeinschaft, die am Sonntag Gottesdienst feiert, durch ihr Handeln im Alltag der Welt den Gott des Lebens feiern? Man kann diese Frage so beantworten, dass man den Gottesdienst der Christinnen und Christen in der Welt im liturgischen Gottesdienst verankert.
Weil die Wortverkündigung selbst schon ein Bildungsgeschehen ist und weil das Verständnis der Verkündigung ein gewisses Maß an Bildung voraussetzt, hat Kirche stets einen starken Impuls zur Bildung im umfassenden Sinn und ein Interesse daran, dass alle Menschen Zugang zu Bildungsprozessen haben. Aber auch, weil der Glaube ein Leben in verantworteter Freiheit intendiert, nimmt Kirche durch ihr eigenes Bildungshandeln am Bildungsprozess der Gesellschaft teil, um durch wirklichkeitserschließendes Wissen und handlungsorientierende Gewissheiten zu einem Leben in verantworteter Freiheit beizutragen. Kirche kann sich nicht für Unbildung einsetzen, weil Bildung die Voraussetzung für ein wohlgeordnetes Gemeinwesen darstellt und nur ein solches hinweist auf das Heil, das Gott seiner Schöpfung zugedenkt. Deshalb wird eine Kirche, die sich nicht für Bildung einsetzt, nicht Zeichen des Reiches Gottes sein.
In der Taufe feiert die Kirche die Zuwendung Gottes zu jedem einzelnen Menschen, dem damit eine unverlierbare Würde zugesprochen ist. Haben Menschen die gleiche Würde, dann haben sie auch Anspruch auf gleiche Freiheitsrechte und gleiche rechtliche Anerkennung. Eine Kirche, die Menschen tauft, wird sich auch für Recht und Gerechtigkeit einsetzen und am Gerechtigkeitshandeln der Gesellschaft teilnehmen. Eine Kirche, die sich nicht für Gerechtigkeit einsetzt, wird nicht Zeichen des Reiches Gottes sein.
In der Mahlfeier der Gemeinde kommt die Versöhntheit der Verschiedenen zeichenhaft zum Ausdruck. Die am Tisch des Herrn zusammen feiern, können sich im Alltag der Welt nicht gleichgültig sein. Im Herrenmahl symbolisiert sich die Zusammengehörigkeit der Glaubenden. Wer im Glauben zusammengehört, steht sich im Leben bei. Liturgie und Diakonie sind zwei Seiten einer Medaille. Solidarische Hilfe für Einzelne und die Beachtung besonderer Bedürftigkeit ist deshalb für die Kirche als Handlungsgemeinschaft elementar. Eine Kirche, die den Bedürftigen nicht hilft, wird nicht Zeichen des Reiches Gottes sein.2
Das gemeinsame Handeln einer Gemeinschaft muss organisiert werden. Will eine Gemeinschaft ihr Verkündigungs-, Bildungs-, Gerechtigkeits- und Hilfehandeln auf Dauer ermöglichen, dann muss sie sich absprechen und koordinieren. Sie muss festlegen, wo sie Gottesdienste feiern will und dafür Gebäude errichten. Sie muss bestimmen, wer predigen und Kinder und Jugendliche im christlichen Glauben unterrichten darf. Sie muss sich darüber verständigen, nach welchen Regeln die einzelnen Mitglieder zum gemeinsamen Sein und Handeln beitragen sollen und können, angefangen bei den Finanzen bis hin zur Frage, wer welche Aufgaben übernimmt. Sie muss also unterschiedliche Mitgliedschaftsrollen schaffen (z. B. Mitglied und Mitarbeiter/Amtsträger), Kompetenzen regeln und Strukturen ausbilden (z. B. durch Einrichtung von Gremien und Zuweisung von Entscheidungsbefugnissen), die sie in Rechtssätzen festhält. Sie muss aber auch Ziele und Absichten festlegen und sich entscheiden, was genau sie tun, wo und wie sie handeln will – sie muss eine Politik entwickeln. Eine Kirche, die eine Organisation ausbildet, entwickelt darin mit der Zeit auch eine bestimmte Kultur: