Gemeindeorientierte pädagogische Dienstleistungen -  - E-Book

Gemeindeorientierte pädagogische Dienstleistungen E-Book

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Im Mittelpunkt des Bandes stehen Organisation und Erbringung professioneller pädagogischer und sozialer Dienstleistungen für eine gemeinde-integrierte Lebensführung. Der Band fokussiert professionelle Hilfen als Teil der sozialen Netzwerke behinderter Menschen, als Unterstützungssysteme im Kontext der Lebenslage und Lebensbewältigung von Menschen in Gemeinden; zugleich sind sie Dienstleistungssysteme in der Gesellschaft und damit eingespannt in gesellschaftliche Fragen der Verteilung gerechter Teilhabechancen und der politisch-rechtlichen Steuerung. Ausgehend von grundsätzlichen Fragen nach der Gesellschaftsentwicklung und sozialer Gerechtigkeit, nach der Institutionalisierung von Behinderung und der modernen Organisation des professionellen Handelns bietet der Band Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Bedingungen und Felder, die Rolle, Funktionen und Leistungen der Dienstleistungen beeinflussen, sowie eine lebensphasen- und lebensbereichsübergreifende Widerspiegelung zentraler Aufgabenfelder, der Qualitätsentwicklung bis hin zu den rechtlichen Aspekten und ihren strukturellen Folgen.

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Im Mittelpunkt des Bandes stehen Organisation und Erbringung professioneller pädagogischer und sozialer Dienstleistungen für eine gemeinde-integrierte Lebensführung. Der Band fokussiert professionelle Hilfen als Teil der sozialen Netzwerke behinderter Menschen, als Unterstützungssysteme im Kontext der Lebenslage und Lebensbewältigung von Menschen in Gemeinden; zugleich sind sie Dienstleistungssysteme in der Gesellschaft und damit eingespannt in gesellschaftliche Fragen der Verteilung gerechter Teilhabechancen und der politisch-rechtlichen Steuerung. Ausgehend von grundsätzlichen Fragen nach der Gesellschaftsentwicklung und sozialer Gerechtigkeit, nach der Institutionalisierung von Behinderung und der modernen Organisation des professionellen Handelns bietet der Band Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Bedingungen und Felder, die Rolle, Funktionen und Leistungen der Dienstleistungen beeinflussen, sowie eine lebensphasen- und lebensbereichsübergreifende Widerspiegelung zentraler Aufgabenfelder, der Qualitätsentwicklung bis hin zu den rechtlichen Aspekten und ihren strukturellen Folgen.

Prof. Dr. Iris Beck ist Professorin für Bildung und Partizipation bei Behinderung und Benachteiligung im Arbeitsbereich Allgemeine Behindertenpädagogik an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Heinrich Greving lehrt Allgemeine und Spezielle Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster.

Behinderung, Bildung, Partizipation Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik

Herausgegeben von Iris Beck, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen, Peter Wachtel

Gesamtherausgeber: Wolfgang Jantzen

Redaktion: Birger Siebert

Band 6

Iris Beck/Heinrich Greving (Hrsg.)

Gemeindeorientierte pädagogische Dienstleistungen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Alle Rechte vorbehalten © 2011 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

ISBN 978-3-17-019635-3

E-Book-Formate

epub:

978-3-17-027720-5

mobi:

978-3-17-027721-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Gesamtherausgeber

Vorwort

Teil I Grundlegung

Gesellschaftsentwicklung und soziale Gerechtigkeit(Detlef Horster)

Institution und Organisation(Iris Beck & Heinrich Greving)

Teil II Zentrale Fragestellungen

Globalisierung, Deregulierung, Ökonomisierung(Christian von Ferber)

Öffentlichkeit und Gemeinde(Helmut Richter)

Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft(Ansgar Klein)

Personorientierte Hilfen, Soziale Netzwerkförderung, Umfeldkonzepte(Daniel Franz, Bettina Lindmeier & Karen Ling)

Programm-, Personal- und Organisationsentwicklung zwischen System und Lebenswelt(Daniel Oberholzer)

Dienstleistungen für Kinder und Jugendliche und ihre Familien(Grit Wachtel)

Dienstleistungen für Ausbildung und Beschäftigung(Mathilde Niehaus & Dörte Bernhard)

Dienstleistungen für das Wohnen und die soziale Teilhabe(Bettina Lindmeier & Christian Lindmeier)

Dienstleistungen für gesundheitliches und psychosoziales Wohlbefinden(Christian Bradl)

Dienstleistungen für die Lebensführung im Alter(Alexander Skiba)

Teil III Einzelprobleme

Modelle der Evaluation personenbezogener Dienstleistungen(Wolfgang Beywl)

Praktische Evaluationsverfahren(Wolfgang Beywl)

Nutzerkontrolle durch Kompetenztransfer(Gisela Hermes)

Nutzerkontrolle durch Evaluation(Tina Ebert)

Nutzerkontrolle bei eingeschränkter oder fehlender verbaler Kommunikation(Karen Ling)

Persönliches Budget(Klaus Lachwitz)

Professionen und Professionalisierung(Wilfried Ferchhoff)

Kompetenz(Kerstin Ziemen)

Paternalismus(Wolfgang Jantzen)

Helfersyndrom und Burnout(Wolfgang Schmidbauer)

Kooperation und Koordination(Martin Stahlmann)

Inter- und Transdisziplinarität(Martin Stahlmann)

Förderung der Selbsthilfe und Interessensvertretung(Martina Greiner & Jan Weisser)

Nonprofit-/Nongovernmental-Organisationen (NPO/NGO)(Georg Albers)

Randständigkeit im kommunalen Raum: Migration und Armut(Peter Jauch & Hans Weiß)

Randständigkeit im kommunalen Raum: Flucht und Asyl(Joachim Schroeder)

Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)(Michael F. Schuntermann)

Rechtsgrundlagen von Teilhabe und Gleichstellung(Jost Hüttenbrink)

Rechtsgrundlagen für das gemeinsame Lernen und Leben: Inklusion in Kindergarten, Schule und selbstbestimmtes Wohnen(Wolfgang Urban)

Rechtsgrundlagen für das Einkommen(Felix Welti)

Rechtsgrundlagen für Beschäftigung und Qualifikation(Felix Welti)

Rechtsgrundlagen für Gesundheit und Rehabilitation(Felix Welti)

Rechtsgrundlagen der Hilfen für Kinder und Familien(Johannes Demmer)

Rechtsgrundlagen der Betreuung(Peter Trenk-Hinterberger)

Rechtsgrundlagen des Erbens(Jost Hüttenbrink)

Rechtsgrundlagen der Sterbehilfe und von Verfügungen(Jost Hüttenbrink)

Stichwortregister

Die Autoren

Vorwort der Gesamtherausgeber

Das Enzyklopädische Handbuch der Behindertenpädagogik „Behinderung, Bildung, Partizipation“ ist ein Lexikon in Stichwörtern, die jedoch nicht alphabetisch, sondern thematisch in 10 Bänden strukturiert wurden. Insgesamt wurden ca. 20 Haupt-, 100 mittlere und 300 kleine Stichwörter erarbeitet. Sie suchen zum einen in ihrer Gesamtheit einen Zusammenhang des Fachwissens herzustellen, in dem jedes Stichwort und zugleich jeder Band verortet ist. Zum anderen aber bilden die Einzelbände aufeinander bezogene thematische Einheiten. Somit ist das Gesamtwerk in zwei Richtungen lesbar und muss zugleich auch so gelesen werden: als Bestand aufeinander verweisender zentraler Begriffe des Fachs zum einen und als thematischer Zusammenhang in den Einzelbänden zum anderen, der aber jeweils auf die weiteren Bände verweist und mit ihnen in engstem Zusammenhang steht. Dementsprechend wurden Verweise sowohl innerhalb der Einzelbände als auch zwischen den Bänden vorgenommen, wobei einzelne Überschneidungen unvermeidbar waren.

Der Anspruch, das Gesamtgebiet der Behindertenpädagogik darzustellen, kann angesichts der Differenzierung und Spezialisierung der Einzelgebiete und ihrer schon je komplexen Wissensbestände nicht ohne Einschränkung vorgenommen werden. So ging es uns nicht darum, diese Komplexität aller Theorien, Methoden, Handlungsansätze und Einzelprobleme in Theorie und Praxis einzufangen, sondern den Wirklichkeits- als Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Behindertenpädagogik hinsichtlich seiner konstitutiven Begriffe, Aufgaben und Problemstellungen zu erfassen. Dabei sollte der grundlegende, auf aktuellen Wissensbeständen beruhende und der zugleich erwartbar zukunftsträchtige nationale und internationale Forschungs- und Entwicklungstand im Sinne einer synthetischen Human- und Sozialwissenschaft berücksichtigt werden. Reflexives Wissen bereit zu stellen ist also die wesentliche Intention. Dies gelingt nur, wenn aus anderen Wissenschaften resultierende Forschungsstände und Erkenntnisse möglichst breit und grundlegend verfügbar gemacht werden. Aufgrund der komplexen biopsychosozialen Zusammenhänge sowohl von Behinderung als auch von Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation müssen das gesamte humanwissenschaftliche Spektrum Berücksichtigung finden und insbesondere Philosophie, Psychologie und Soziologie, aber auch Medizin und Neurowissenschaften einbezogen werden. Gerade der neurowissenschaftliche Bezug, der selbstverständlich äußerst kritisch betrachtet wird, ist notwendig, um gegen neue Formen der Biologisierung die entsprechenden Argumente für Vielfalt und Differenz auf jeder Wissenschaftsebene, also auch auf der neurowissenschaftlichen, in die Debatte führen zu können. Vorrangig mit Blick auf die disziplinäre Verortung ist jedoch die Erziehungswissenschaft, Behindertenpädagogik ist eines ihrer Teilgebiete.

Für die Konzeption ist ein Bildungsverständnis tragend, das Bildung als Möglichkeit zur selbst bestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe betrachtet; mit Wolfgang Klafki: Entwicklung der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, entwicklungspsychologisch mit Wolfgang Stegemann als Entwicklung auf höheres und auf höherem Niveau. Die erziehungswissenschaftliche Begründung von Bildungs- und Erziehungszielen muss über gesellschaftliche Erwartungen, wie sie sich in Forderungen nach einem Wissenskanon als Zurüstung auf die berufliche Eingliederung niederschlagen können, notwendigerweise hinausreichen und die Lebensbewältigung insgesamt umfassen. Bildung und Erziehung eröffnen Optionen für die Lebensgestaltung, und das bedeutet, die eigene Identität nicht nur schicksalhaft oder einzig von außen determiniert zu erleben, sondern auch über Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Auswahl von Handlungsmöglichkeiten zu verfügen, Zwänge und Grenzen ebenso wie Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten erkennen und nutzen zu können. Nicht in jedem Fall, in dem diese Möglichkeiten nicht per se aufscheinen, ist diese Problematik begrifflich quasi automatisch mit Behinderung zu fassen. Umgekehrt heißt Bildung aber auch, solche Strukturen und Prozesse zu gestalten, die „Bildung für alle, im Medium des Allgemeinen“, unabhängig von Kriterien, ermöglichen. Behinderungen im pädagogischen Sinn liegen dort vor, wo die Teilhabe an Bildung und Erziehung gefährdet oder erschwert ist oder wo Ausgrenzungsprozesse drohen oder erfolgt sind, und zwar aufgrund eines Wechselspiels individueller, sozialer und ökonomischer Bedingungen. Hier tritt die Frage der Ermöglichung von Partizipation in den Vordergrund. „Wo Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen herausgestoßen werden, da wird lernender und wissender Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität zur Lebensfrage“ (Oskar Negt) und ebenso die Ermöglichung von Lebenschancen. Damit werden zugleich eine Abgrenzung zu sozial- oder bildungsrechtlichen Definitionen und eine weite Begriffsbestimmung von Behinderung vorgenommen, im Bewusstsein der Problematik, die diese mit sich bringt. Doch fasst auch der schulrechtliche Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der wiederum nur partiell deckungsgleich mit dem sozialrechtlichen Behinderungsbegriff ist, äußerst heterogene, darunter auch rein sozial bedingte Benachteiligungsprozesse zusammen. Pädagogik heißt für uns somit auch nicht einseitige und ständige Förderung. Emil E. Kobi hat dies in der Gegenüberstellung einer ‚Pädagogik des Bewerkstelligens‘, der es immer um den Fortschritt geht, die sich nur auf den Defekt richtet und das So-Sein nicht anzuerkennen in der Lage ist, und einer ‚Pädagogik der Daseinsgestaltung‘ beschrieben, die anerkannte Lebensbedingungen zwischen gleichberechtigten und als gleichwertig anerkannten Subjekten und eine befriedigende Lebensführung auch bei fortbestehenden Beeinträchtigungen zu schaffen vermag. In diesem pädagogischen Verständnis von Behinderung liegt eine Begründung für die Beibehaltung des Begriffes der Behindertenpädagogik. Wir respektieren Benennungen wie Förder-, Rehabilitations-, Sonder-, Heil-, Integrations- und Inklusionspädagogik; der Begriff der Behinderung hebt jedoch wie kein anderer nicht nur die intransitive Sicht des behindert Seins, sondern auch die transitive Sicht des behindert Werdens hervor und lässt sich pädagogisch sinnvoll begründen. Ebenso entgeht er Verengungen mit Blick auf den Gegenstandsbereich; behindertenpädagogisches Handeln greift weit über den Bereich der institutionalisierten Erziehung und Bildung hinaus und findet lebensphasen- und lebensbereichsübergreifend statt; auch innerhalb des schulischen Bereiches ist das Handeln weitaus vielfältiger als allein unterrichtsbezogene Tätigkeiten; gleichwohl bleiben diese prominente Aufgaben. Behindertenpädagogik, in diesem weiten Sinne intransitiv verstanden, ist zwar einerseits Teilgebiet der Erziehungswissenschaft, andererseits trägt sie in transitiver Hinsicht zu deren Grundlagen bei. Denn behindert werden und eingeschränkt zu sein sind alltäglich und schlagen sich keineswegs nur in der sozialen Zuschreibung von Behinderung nieder. Entgegen der noch vorfindbaren Gliederung nach Arten von Beeinträchtigungen bzw. schulischen Förderschwerpunkten und einer institutionellen Orientierung ist für uns ein an den Lebenslagen und an der Lebenswirklichkeit der Adressaten von Bildungs- und Erziehungsangeboten orientiertes Verständnis pädagogischen Handelns leitend. Diese Perspektive auf den individuellen Bedarf an Unterstützung für eine möglichst selbst bestimmte Lebensführung ist der Bezugspunkt der personalen Orientierung, aber dieser Bedarf impliziert immer auch den Bedarf an Überwindung der sozialen Folgen, also der behindernden Bedingungen des Umfeldes. Traditionell wird der Lebenslauf- und Lebenslagenbezug der Pädagogik durch die Gegenstandsbezeichnungen der einzelnen Teildisziplinen angezeigt (Pädagogik, Andragogik, Geragogik einerseits; Sozial-, Berufs-, Freizeitpädagogik usw. andererseits). Hiermit können aber auch Abgrenzungen und Abschottungen einhergehen, so dass der Bezug zur Lebenslage als Ganzer und zum Lebenslauf in seiner biographischen Gewordenheit verloren geht. Lebenslagen- und Lebenslauforientierung stellen demgegenüber die notwendige Gesamtsicht her, die allerdings in ihrer Bezugnahme auf die Chancen und Grenzen selbstbestimmter Lebensführung einer Pädagogisierung im Sinne der andauernden intentionalen Erziehung entgehen muss. Sie hebt die spezifischen Gegenstandsbestimmungen und Handlungskonzepte der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen nicht auf, sondern wird als konzeptionelle und methodische Leitperspektive tragend. Ebenso hat jedes Verständnis von individueller Teilhabe- und Bildungsplanung die Deutungshoheit der auf Unterstützung und pädagogisches Handeln angewiesenen Menschen zu respektieren und zentral von politischer Mitwirkung und der Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte auszugehen. Dies verlangt die Demokratisierung und Humanisierung der Handlungsprozesse und Strukturen in Theorie und Praxis sowie die Auseinandersetzung mit Ethik, Moral und Professionalität.

Die aus diesem Verständnis von Bildung, Behinderung und Partizipation resultierenden Fragen lassen sich zusammenfassen in die nach dem Verhältnis von Ausschluss und Anerkennung, Vielfalt und Differenz, Individuum und Gesellschaft, Entwicklung und Sozialisation, System und Lebenswelt, Institution und Organisation, über die Lebensspanne hinweg und immer bezogen auf die Grundfrage nach Bildung und Partizipation angesichts behindernder Bedingungen.

Von diesen Grundgedanken ausgehend wurde die Konzeption und Anlage der Stichwörter von Iris Beck und Wolfgang Jantzen erarbeitet und dann durch das Team der Bandherausgeber kritisch überprüft und ergänzt. Es ergibt sich folgende Gesamtanlage: die Bände 1 und 2 dienen der wissenschaftlichen Konstitutionsproblematik mit Blick auf die wissenschaftstheoretische Begründung des Fachs einschließlich der erziehungswissenschaftlichen Verortung und dem Verhältnis von Behinderung und Anerkennung. Die Bände 3 bis 6 repräsentieren Aufgaben und Probleme der Bildung und Erziehung im Lebenslauf mit den Kernfragen nach Bildung, Erziehung, Didaktik und Unterricht zum einen, Lebensbewältigung und gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gemeinde zum anderen. Die Bände 7 bis 10 behandeln Entwicklung und Lernen, Sprache und Kommunikation, Sinne, Körper und Bewegung sowie Emotion und Persönlichkeit. Sie stellen grundlegende pädagogische Auseinandersetzungen über Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation angesichts behindernder und benachteiligender Bedingungen dar, und zwar in übergreifender Sicht, die zugleich die notwendigen speziellen und spezifischen Aspekte zur Geltung bringt. Allgemeines und Besonderes sind insgesamt, über alle Bände hinweg, vielfach aufeinander bezogen und haben gleichsam ihre Bewegung aneinander. Dort, wo sich gemeinsame Probleme quer zu speziellen Gebieten stellen, sind diese auch allgemein und mit der Absicht der Grundlegung behandelt, auch um Redundanzen zu vermeiden. Dort, wo ohne Spezifizierung zu grobe Verallgemeinerungen und damit unzulässige Reduktionen erfolgt wären, sind die Besonderheiten aufgenommen. Angesichts der zahlreichen Publikationen, die spezielle und spezifische Fragen en detail und mit Blick auf Einzelprobleme behandeln, ist diese Entscheidung auch vor dem Hintergrund einer ansonsten nicht zu gewährleistenden Systematik getroffen worden.

Wir sind uns bewusst, dass dieser Versuch der Systematik nicht ohne Lücken, Widersprüche und Redundanzen auskommt. Die allfällige Kritik hieran verstehen wir im Sinne des „Runden Tisches“, als den wir die Zusammenarbeit unter den Herausgebern und Autoren verstehen, als Motivation zu neuen Fragen und neuer Forschung.

Wir danken allen Bandherausgebern und Autoren für ihre konstruktive Arbeit, die in Zeiten der Arbeitsverdichtung und Effizienzsteigerung nicht mehr selbstverständlich erwartet werden kann.

Iris Beck

Georg Feuser

Wolfgang Jantzen

Peter Wachtel

Vorwort

Während sich der fünfte Band des Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik mit zentralen Fragen der Lebensführung und Lebensbewältigung angesichts von Behinderung und Benachteiligung auseinandersetzt, ist der vorliegende sechste Band der Organisation und Erbringung professioneller pädagogischer und sozialer Dienstleistungen für eine gemeinde-integrierte Lebensführung gewidmet und als Spiegelung dieser Inhalte und Strukturierungen angelegt: die individuelle Lebensbewältigung vollzieht sich im beständigen Austausch mit der sozialen und räumlichen Welt; der Band 5 zentriert auf Menschen als soziale und politische Wesen in der Gesellschaft und als davon ebenso beeinflusst wie aktiv sich auseinandersetzend. Lebensführung und Lebensbewältigung sind umweltabhängige und multifaktoriell beeinflusste Prozesse, Lebens- als Bildungschancen von und mit der Gesellschaftspolitik verknüpft. Der Band 6 fokussiert professionelle Hilfen als Teil der sozialen Netzwerke behinderter Menschen, als Unterstützungssysteme im Kontext der Lebenslage und Lebensbewältigung von Menschen in Gemeinden; zugleich sind sie Dienstleistungssysteme in der Gesellschaft und damit eingespannt in gesellschaftliche Fragen der Verteilung gerechter Teilhabechancen und der politisch-rechtlichen Steuerung. Die konzeptionelle Verbindung der beiden Bände wird geleistet durch einen offenen und lebensphasenübergreifenden Begriff von Bildung und Erziehung als Förderung von Identität, Partizipation und Lebensbewältigung; durch ein Verständnis pädagogischer Professionalität, in dem die Orientierung an lebensweltlichen Bedingungen und an kooperativen Beziehungen einen ebenso wichtigen Teil wie die fachlichen Qualifikationen bildet und durch die Thematisierung von Grundproblemen der Organisation pädagogischer Dienstleistungen im Spannungsfeld von ‚System‘ und ‚Lebenswelt‘, von gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen Bedingungen auf der einen Seite und den Ansprüchen und Hoffnungen der Adressaten auf einen gelingenden Alltag in ihrer je gegebenen, mehr oder weniger Optionen und Ressourcen beinhaltenden, makro- und mesostrukturell vorgebahnten Lebenslage auf der anderen Seite.

Die professionellen Dienstleistungen für behinderte und benachteiligte Menschen müssen für höchst unterschiedliche Problemlagen Hilfen unter einer personalen, auf individuelle Bedarfslagen gerichteten Perspektive erbringen. Die Formel „von der institutionellen zur funktionalen und personalen Perspektive“ geht u.W. auf Walter Thimm zurück, der damit Ende der 1980er Jahre den Wandel, der sich in der Behindertenpädagogik zu vollziehen begann, auf den Punkt gebracht hat. Gemeint ist damit eine Ausrichtung an den konkreten Lebenslagen und dem sozialen Umfeld, in dem sich das Alltagsleben vollzieht; eine möglichst wohnortnahe und offene Angebotsstruktur und konsequente Förderung von Selbsthilfe, sozialer Integration und Partizipation: „Ohne den Aufbau tragfähiger Strukturen im Alltagsleben ist das Projekt eines anerkannten Lebens für Familien mit behinderten Kindern nicht zu haben. Die individuenbezogene Perspektive bedarf dringend […] der Ergänzung durch eine sozial-räumliche Perspektive. Die Feststellung von individuellen Hilfen zur Integration und Partizipation […] und deren Legitimation laufen ins Leere, wenn nicht gleichzeitig die Gestaltung der Infrastruktur der sozialen Räume, in denen Partizipation und Integration verwirklicht werden müssen, in Angriff genommen wird“ (Thimm 2005: 327). Behindernde Bedingungen stellen sich auch im unmittelbaren sozialen und materiellen Umfeld dar, die personale Perspektive benötigt folglich eine Ergänzung um die auf Nahräume bis hin zur Infrastruktur und den konkreten Bedingungen von Gemeinden gerichteten Blick.

Der Band 6 nimmt seinen Ausgang von den grundsätzlichen Fragen nach der Gesellschaftsentwicklung und sozialer Gerechtigkeit, nach der Institutionalisierung, also Entwicklung und Durchsetzung von Regeln und Handlungserwartungen angesichts von Behinderung und der modernen Organisation des professionellen helfenden, beratenden, bildenden und erzieherischen Handelns. Die beiden Hauptstichworte sind hierbei als zwei Seiten einer argumentativen und analytischen Medaille zu verstehen: erst in der Zusammenschau der Themen und Bezüge der Gesellschaftsentwicklung und der sozialen Gerechtigkeit mit denjenigen der Institution und Organisation entsteht ein vollständiges Bild und Begründungsmuster zu den dann folgenden Präzisierungen zu den Dienstleistungen und zu den konkreten Themenstellungen, welche diese bedingen oder durch diese bedingt werden.

Entsprechend bieten die mittleren Stichwörter in Teil II Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Bedingungen und Felder, die von konstitutivem Einfluss auf die Rolle, Funktionen und Leistungen der Dienstleistungen sind sowie eine lebensphasen- und lebensbereichsübergreifende Widerspiegelung zentraler Aufgabenfelder. Der Aufbau und Verlauf der kleinen Stichworte in Teil III erstreckt sich dann, spezifischer auf konkrete Handlungsbedingungen bezogen, von der Frage der veränderten Rolle der Adressaten über die Organisations- und Personalentwicklung, die Kooperation bis hin zu den rechtlichen Aspekten und ihren strukturellen Folgen.

Was meinen wir, wenn wir von „gemeindeorientierten pädagogischen Dienstleistungen“ sprechen? Zuerst einmal finden diese Dienstleistungen im konkreten Handeln, in gemeindlichen und öffentlichen Vollzügen statt. Sie sind zugleich eingebunden in historische und globale Kontexte. Zudem realisieren sie Handlungsmuster, welche auf die unterschiedlichen, aktuell sich ereignenden Lebensfelder von Menschen ausgerichtet sind. Des Weiteren sind diese Dienstleistungen pädagogisch orientiert. Sie thematisieren und reflektieren hierbei die Rolle des Individuums in der Gesellschaft und konkretisieren hierzu pädagogische Handlungen, welche auf die Person, im Rahmen des Gesellschaftsganzen, ausgerichtet sind. Wir verstehen den Begriff Dienstleistung entgegen einer einseitig ökonomisch verstandenen ‚Kunden‘- oder ‚Marktorientierung‘ in einem Feld, das gerade durch die Abhängigkeit von Hilfen und eingeschränkte Wahlmöglichkeiten der Adressaten strukturiert ist, im Sinne von Grunwald/Thiersch als lebensweltlich begründete „Einlösung von Rechtsansprüchen, in den Prinzipien von Prävention, Alltagsnähe, Dezentralisierung/Regionalisierung, Vernetzung, Integration und Partizipation“ (2006, 145). Dabei sind im Sinne von Walter Thimm (1936–2006), dessen Arbeiten als einer der Wegbereiter einer gemeinde-orientierten Behindertenpädagogik den vorliegenden Band beeinflusst haben, all diese Zielbestimmungen immer nur als Mittel zu einer anerkannten Lebensführung, nie als Zweck an sich zu verstehen und erfordern beständige Auseinandersetzungen um die Frage, was hier und heute ein „Leben so normal wie möglich“ – ein anerkanntes Leben heißt.

Iris Beck/Heinrich Greving

Teil I Grundlegung

Gesellschaftsentwicklung und soziale Gerechtigkeit

Detlef Horster

1 Gesellschaftliche Entwicklung

Wer von den Befürwortern einer unbeschränkten genetischen Forschung wäre bereit, „den Preis zu zahlen, den südkoreanische Frauen entrichtet haben, damit menschliche Embryonen geklont werden konnten? Wer wäre bereit zu tun, was man Frauen in den armen Gesellschaften Asiens und Osteuropas zunehmend nahe legt? Welche Frau unterzöge sich selbst einer hormonellen Behandlung, damit sie vermehrt Eizellen ‚produziert‘, die dann von den Forschern ‚geerntet‘ werden, um sie zu Embryonen weiterzuentwickeln, die getötet werden müssen, um ihnen Stammzellen zu entnehmen? Wer riete seiner Frau, seiner Tochter, seiner Enkelin zu diesem Schritt? Rapide fällt die Erde entzwei in eine reiche, anspruchsvolle Oberflächenwelt westlicher Bauart und eine an den Rand des Bewusstseins gedrängte, nicht minder vitale Schattenwelt. […] Andererseits gibt es eine Schattenwelt innerhalb der Anspruchswelt – gibt es das Leid, das stört und das mit hohen Kosten weggeschlossen wird in die Altersheime und Kliniken, die Anstalten und Sterbestationen. […] Die wachsende Zustimmung für dubiose Heilsversprechen oder für die aktive Sterbehilfe zeigt, wie schnell die Mitglieder einer Gesellschaft deren Werteskala verinnerlichen: bloß nicht leiden, bloß nicht unproduktiv sein, bloß nicht der Familie, die man kaum kennt, den Freunden, die man zurückließ, zur Last fallen“ (Kissler 2005, 187 f.).

Das ist – ziemlich genau beschrieben – die Lage, in der wir uns befinden und die ein jeder wahrnehmen kann. Wir sind – darin sind sich Soziologen jedweder Richtung heute einig – in den Fängen der Globalisierung [→ Globalisierung, Deregulierung, Ökonomisierung], orientiert an materiellen und ökonomischen Werten.

Dieser Sachstand wird nicht nur in globalen Ausmaßen festgestellt, sondern Jürgen Habermas spricht in seiner Betrachtung nationaler Zustände davon, dass in der Gegenwartsgesellschaft die Sprache des Markts in alle Poren dringe (vgl. Börsenverein 2001, 48). Das sei auf die Dynamik der entfesselten Märkte zurückzuführen, der wir freien Lauf ließen (vgl. Habermas 2006, 11). Um die Auswirkungen der Kolonialisierung durch den Markt genauer kennzeichnen zu können, spricht Habermas an anderer Stelle von einem Kategorienfehler, wenn wir bei der Analyse und Beschreibung die Terminologie des Markts übernehmen würden: „Aber das dislozierte, an falscher Stelle angewendete wirtschaftliche Denken, das die nicht in Geld zu messenden Leistungen – ob nun in Psychiatrien und Kindergärten oder in Universitäten und Verlagen – den schlichten Maßstäben McKinseys unterwirft, ist zum gesellschaftlich wirksamen Kategorienfehler geworden“ (Habermas 2004, 3). Was Habermas hier anspricht, beobachten wir als fatale Entwicklung in allen sozialen Bereichen. Ja, es sieht so aus, dass diejenigen, die in sozialen Einrichtungen, in Heimen oder Wohngruppen arbeiten, längst von dem Strudel mitgerissen wurden und oft begeistert von „Qualitätssicherung“ sprechen, ohne zu sehen, dass es sich um einen Etikettenschwindel handelt, denn es ist keine Qualitätssicherung, die durch entsprechende Maßnahmen erreicht wird, sondern eine Qualitätsverschlechterung. Denn wenn es so ist, dass die Menschen zwar gut versorgt sind, d.h. in medizinischer und pflegerischer Sicht optimal betreut werden, fehlt es doch oft und meist an Zuwendung und Ansprache, wenn wir uns unsere betreuten Wohngruppen, Krankenhäuser, Alten-, Pflege- und andere Heime ansehen. Die vom Arbeitgeber verordnete Zeitbemessung zur Betreuung der Menschen reicht nicht für eine über die ausschließlichen Pflegeaufgaben hinausgehende Zuwendung. Nicht nur dort müssen wir diese verhängnisvolle Entwicklung beobachten, sondern beispielsweise ebenso in Volkshochschulen. Alles wird dort neuerdings unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen, soziale und pädagogische Aspekte spielen keine Rolle mehr. Zertifizierungsinstitute werden mit der Bewertung von Kursen betraut. Dafür gibt es computergestützte Programme. Das bekannteste Bewertungsinstrument ist ISO 9000. „ISO 9000 kommt über die Wirtschaft, über die betriebliche Weiterbildung zu uns“, sagt ein Mitarbeiter einer Volkshochschule (Hufer 1999, 175). Man sieht einfach nicht mehr, dass es sich bei Bildung nicht um eine Ware handelt. Doch: „Das Normensystem ISO 9000 ist an einem privatwirtschaftlich verfassten Markt orientiert; die Qualitätssicherung und Zertifizierung liegt in den Händen der Wirtschaft, staatliche Einflussnahme und damit auch öffentliche Verantwortung werden zurückgedrängt und abgebaut“ (Hufer 1999, 180).

Noch eine andere Erfahrung, die uns sehen lässt, dass in unserer unmittelbaren alltäglichen Umgebung die Marktmechanismen sichtbar werden und automatisch die Frage nach Gerechtigkeit aufwerfen: „Beim Pfarrfest in unserer Kirchengemeinde zahlen die Kinder für Attraktionen, indem sie sich Kappen für zwei Euro kaufen. Wer eine trägt, darf überall mitmachen. In unserem Viertel ist der Reichtum ungleich verteilt. Die Kinder aus den ‚guten‘ Straßenzügen kaufen die Kappen, jene aus den sozialen Brennpunkten oft nicht. Am Karussell ließ ich zunächst die ‚Problem‘-Kinder ohne Kappe fahren, weil sie ja definitiv ärmer sind. Das ging nicht lang gut: Die Kinder mit Kappe kamen sich ungerecht behandelt vor. Nun frage ich mich: Welcher Wert wiegt höher? Die Gerechtigkeit oder die Nachsicht gegenüber den wirtschaftlich Schwächeren? Christa R., Berlin“ (Süddeutsche Zeitung, Magazin Nr. 30 vom 29. Juli 2005, 5)

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