Gemeinsam gegen Einsam - Sonja von Saldern - E-Book

Gemeinsam gegen Einsam E-Book

Sonja von Saldern

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Beschreibung

Auf einer Busreise lernen sich zufällig die beiden zwangspensionierten aber rüstigen Opernliebhaber Gunther Wagner und Siegfried Holländer kennen. Die Senioren schließen Freundschaft und entdecken, dass sie mehr verbindet als die Liebe zum Wein und zur Musik. Siegfried leidet an einer Form der Alzheimerkrankheit, bei Gunther wurde Parkinson diagnostiziert. Um ihren Ruhestand genießen und sich gegenseitig im Alltag helfen zu können, gründen sie eine Senioren-WG. Ihre Kinder sind davon alles andere als begeistert. Seite an Seite durchleben Gunther und Siegfried zahlreiche Abenteuer. Eines Tages bittet sie ihre Nachbarin und Freundin Dorotha Nowak, die einen exklusiven Club betreibt, um Hilfe. Die Geschäftsfrau hat einen Brief aus ihrer alten Heimat erhalten. Gemeinsam machen die drei sich auf den Weg nach Estland, der in Dorothas dunkle Vergangenheit führt. "Gemeinsam gegen Einsam" mit Gunther und Siegfried - ein amüsanter Gesellschaftsroman mit einem Quäntchen Tiefe.

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Das Seniorentaxi
Wein, Weiber und Wagner
Seelenverwandte
Verschollen im Taunus
Eine Allianz für das Leben
Umzug nach Oberursel
Henriette und „Indiana Jones“
Natascha und die Domina
Café Cherie
Ein bombiges Ereignis
Zwei „Schwalüren“ und verloren geglaubte Zahlen
Final Countdown
Der Weg zum Geld
Operation Fliegender Holländer
Die Mäuse vom Bodensee
Die Geburtstagsplaner
Flambierte Männer mit Sahne
Es weihnachtet wieder
Leg Dich nicht mit zwei Wallküren an
Dorotha und Dagoberta
Estland ruft
Der Barbier von Estland
Götterdämmerung
Der Pakt
DANKSAGUNG

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Autorin:

Geboren wurde Sonja von Saldern 1964 in Ehingen/Donau. Dem Schreiben verfiel sie bereits im Kindesalter. Nach ihrem Magister-studienabschluss (M. A. Anglistik, Amerikanistik und Theater-wissenschaften) begann sie eine berufliche Kariere als Journalistin. In ihren späten 40er Jahren absolvierte sie eine Ausbildung zur Erzieherin und arbeitet noch heute als Pädagogin und schreibt fortwährend Geschichten.

 

Vor einigen Jahren stellte sie bei einer Lesung ihre Figuren „Gunther und Siegfried“ vor, die beim Publikum Anklang fanden und sie ermutigte, einen Roman daraus zu erarbeiten.

 

 

 

Gemeinsam gegen Einsam

 

Sonja von Saldern

Ein amüsanter Gesellschaftsroman

 

 

 

 

Tuschel-Verlag, Stockstadt am Main

 

 

 

 

 

IMPRESSUM

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.tuschel-verlag.de

 

Taschenbuchausgabe

1.Auflage, Juli 2022

 

Alle Rechte vorbehalten

 

© 2022 Tuschel-Verlag, Stefan Katgeli, Wallstadter Str. 14a, 63811 Stockstadt am Main

 

Umschlag, Illustration: eretier | grafische gestaltung, Benedixstraße 4, 04157 Leipzig

 

Umschlagsgestaltung und Buchsatz: Tuschel-Verlag

 

Lektorat: Anja Adamczyk

 

Printed in EU

 

ISBN

Paperback 978-3-9823498-3-1

e-Book 978-3-9823498-4-8

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

 

 

 

Für Olaf Friedeck,

meinen Gefährten.

 

Das Seniorentaxi

 

Tatort Busbahnhof, Hofheim am Taunus. Ein Daimler Strich acht in taxibeige keucht schnaufend, aber schnell um die Ecke und dampft wie eine alte Lokomotive, dicht gefolgt von einem knallroten Mini mit schwarzen Rennstreifen an der Seite. Wie ein kleines Feuerwehrauto scheint der Kompaktwagen den Daimler zu verfolgen, bis es knirscht und kracht und beide Fahrzeuge auf dem - glücklicherweise leeren - Taxiparkplatz zum Stehen kommen. Der Dreitürer englischer Bauart ist mit überhöhter Geschwindigkeit auf das antike Automobil aufgefahren. Aufgebracht steigt eine Frau, etwa Ende zwanzig, aus, die farblich genau auf ihr Auto abgestimmt zu sein scheint. Trotz der Augusthitze trägt sie ein schwarzes Shirt und dazu passende enge Hosen mit einem roten Gürtel, der ihre schmale Taille betont. Ihre Füße stecken in Doc Martens. Ihr kurzes, dunkles Haar klebt an der schweißverschmierten Stirn.

„Können Sie denn nicht vernünftig Auto fahren mit Ihrer vorsintflutlichen Dampfmaschine? Sie Umweltschwein! Ich konnte bei diesen ganzen Abgasen nichts sehen, deshalb bin ich auf Sie drauf gekracht!“, schäumt die Fahrerin vor Wut.

„Das ist eine bodenlose Unverschämtheit. Normalerweise fahre ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Gelegentlich leihe ich mir ein Auto, zum Beispiel heute, weil mein Papa dringend zum Bus gebracht werden musste“, hält der blond gelockte, braun gebrannte Mann dagegen. Er lehnt sich betont lässig mit seinem weißen T-Shirt und der Tätowierung einer Windrose am rechten Arm gegen den Oldtimer. Seine stechenden blauen Augen blitzen angriffslustig. Die dünnen Fältchen unter der wettergegerbten Haut lassen auf ein Leben schließen, das in der freien Natur stattfindet. Nein, dieser Typ ist kein Taxifahrer, denkt sie und mustert den jungen Mann, den sie auf Mitte dreißig schätzt, von oben bis unten.

Mühsam und langsam schält sich ein älterer Herr aus dem Beifahrersitz des beigen Mercedes. Mit funkelnden braunen Augen, die hinter einer goldenen Nickelbrille leuchten, blickt er der Unfallverursacherin ins Gesicht. Er lüftet seinen Sonnenhut, unter dem braungrau meliertes Haar zum Vorschein kommt.

„Guten Tag, mein Name ist Gunther Wagner, ich bin der Papa aus dem Elterntaxi. Lassen Sie uns alle erst einmal anschauen, ob der Schaden an den Blechkisten wirklich so groß ist, dass wir uns deshalb streiten müssen“, schlägt er diplomatisch vor und geht schleppend zur Rückseite des Daimlers, um das Ergebnis des Auffahrunfalls zu begutachten.

„Mein Auto ist keine Blechkiste“, bekennt die junge Frau, die ihre ausdrucksvollen, dunkelbraunen Augenbrauen kritisch hochzieht.

„Freya, Tochter, was ist das denn für ein Geschrei wegen des kleinen Wumms? Da bin ich anderes von dir gewöhnt“, petzt ein hochaufgeschossener Mann, der aus dem Mini gleitet. Seine weißblonden Haare, sein heller Sommeranzug, der etwas zu dunkle Teint und die gebleichten Zähne lassen auf einen Senior schließen, der überdurchschnittlichen Wert auf sein Äußeres legt. „Mein Name ist Siegfried Holländer, ich bin der Vater dieser temperamentvollen jungen Dame. Sie ist nur unterwegs, um mich zum Bus nach Kloster Eberbach zu bringen. Wahrscheinlich bin ich schuld.“ Weiter kommt er mit seinen Ausführungen nicht, weil der junge Mann lauthals lacht.

„Siegfried Holländer und Gunther Wagner sind auf dem Weg nach Kloster Eberbach. Sagen Sie bloß, Sie sind der Andere, der zu den ‚Bayreuther Festspielen‘ wollte und diese Fahrt als Trostpreis gewonnen hat, weil das Reisebüro Pleite gemacht hat?“, fragt der blond gelockte Mann gespannt.

„Ja, das muss so sein“, greift Freya vor. „Sie sagten mir, es gab nur eine Person, die ebenfalls nach Bayreuth wollte. Dann sind wir beide Elterntaxis, die die Papas auf Reisen schicken.“

„Jawohl, Gunther Wagner“, bestätigt dieser. „Ich wollte eigentlich nach Bayreuth. Mein lieber Sohn Ingmar hat mir diese Reise im Mai zum dreiundsechzigsten Geburtstag geschenkt. Gibt es etwa ein weiteres Exemplar wie mich?“

„Vatter, der Herr, der sich gut mit Autos auskennt, fährt auch als Trostpreis zum Kloster Eberbach“, erklärt Freya ihrem Vater erfreut.

„Ich bin zwar ziemlich vergesslich, aber nicht taub“, entgegnet er vorwurfsvoll und marschiert zielsicher auf Gunther zu. „Siegfried Holländer ist der Name und ich freue mich, noch einen weiteren Wagnerfreund auf dieser Trostpreis-Reise an meiner Seite zu haben“, deklamiert er und streckt dem Träger des Sonnenhuts die Hand entgegen. Zögerlich schlägt Gunther ein. Beide lächeln sich an, als würden sie ein Reisebündnis schmieden. Ein ungleiches Paar, der weltgewandte, siegessichere Siegfried im hellen Anzug und Gunther, sportlich bequem mit seinem Sonnenhut, einem roten Leinenhemd, einer beigen Hose und breiten Zehensandalen an großen Füßen. Beim Händeschütteln fällt Siegfried sofort der extravagante Ring des Mitreisenden auf, denn er erkennt: „Das ist aber ein edles Schmuckstück, das Sie da am Finger tragen …“, weiter kommt der elegante Senior nicht.

Freya meldet sich mit einer unüberhörbaren Spur Schuldbewusstsein zu Wort: „Was ist denn jetzt mit den Autos? Ist der Schaden groß? Wollen wir die Polizei holen?“

„Auch, wenn Sie, ich kenne Ihren Namen leider nicht, schuld an der ganzen Misere sind, weil Sie zu schnell waren, halte ich das für überflüssig“, entscheidet Gunther großzügig.

„Ich bin Staatsanwältin und weiß, dass ich schuld bin“, stellt die junge Frau gespielt selbstbewusst fest. „Mein Name ist Freya Holländer.“

Ihr Vater Siegfried greift den Faden auf und schlichtet: „Ja, ein kaputtes Auto kostet eben Geld, aber es ist ja nur Geld. Freya, sollte was an deinem Mini repariert werden müssen, kenne ich eine gute Autowerkstatt in Kelkheim. Die kümmern sich übrigens auch um Oldtimer, wenn an Ihrem Vehikel doch ein größerer Schaden entstanden sein sollte.“

„Wir brauchen keine Werkstatt. Mein Papa und ich haben diesen alten Daimler schon so oft repariert“, mischt sich der junge Mann ein. „Allerdings muss ich Frau Reinheimer, die Besitzerin dieses Gefährts, informieren und fragen, wie sie den Vorfall handhaben möchte. Eine Entschädigung hätte ich schon gern von Ihnen, liebe Frau Holländer. Sie rasende Juristin! Allein für den Schreck. Mein Name ist übrigens Ingmar Wagner.“ Schnell hat er etwas entnervt sein blaues Handy aus der hinteren Hosentasche gezückt, um das Nummernschild des Minis zu fotografieren.

Freya schweigt mit verschränkten Armen und wendet sich ihrem Vater zu, der längst mit seinem Reisegefährten in ein Gespräch über Richard Wagner vertieft ist.

„Stell dir vor, Freya. Gunther hat auch den Lohengrin in Wiesbaden gesehen. Da habe ich endlich jemanden, mit dem ich mich über Wagneropern unterhalten kann“, erzählt Siegfried begeistert und fragt dann verblüfft: „Wohin fahren wir nochmal, Bayreuth?“

„Nein, Vatter“, erklärt die Tochter erschöpft. „Die Fahrt geht zum Kloster Eberbach, weil die ursprüngliche Reise der Insolvenz eines Reisebüros zum Opfer gefallen ist.“

„Lieber Wagnerfreund, ich schlage vor, wir setzen uns im Bus zusammen“, schlägt Gunther ob der Gedächtnislücke seines Mitreisenden initiativ vor. „Besser einen vergesslichen Mann zum Sitznachbar als irgendein keifendes Frauenzimmer.“ Er blickt auf den gegenüberliegenden Bussteig und erschrickt. Dort haben sich etwa vierzig schnatternde Frauen versammelt. In ihrer Mitte befindet sich ein Mann, der in seinem hellblauen Anzug und den weißen Cowboystiefeln wie eine Johnny-Cash-Imitation aussieht. Die Zusammenkunft aus Damen Ü-60, meist in pastellfarbenen Blusen und Hosen mit dazu passenden Haaren, haben den Unfall beobachtet. Als die Seniorinnen bemerken, dass sie entdeckt wurden, ruft eine von ihnen entsetzt: „Och, es ist doch Gott sei Dank nichts passiert.“ Eine andere konstatiert: „Manche Frauen können einfach kein Auto fahren. Wie gut, dass ich nie damit angefangen habe.“ Eine dritte bemerkt: „Das sind aber zwei fesche Männer. Endlich mal was in unserem Alter. Hoffentlich sind das die beiden, die noch fehlen. Der Blonde sieht richtig gut aus. Wie Lex Barker als Tarzan, nur etwas reifer.“

Siegfried, der sich zu Recht angesprochen fühlt, zischt seiner Tochter ins Ohr: „Das ist deine wirkliche Absicht? Du willst mich mit einer dieser pastellfarbenen Schachteln verkuppeln, damit du den nervigen, vergesslichen Vater endlich los bist? Das ist wohl eine Verkupplungstour, die als Weinfahrt getarnt ist.“ Er deutet auf die Gruppe Frauen, die ihn verheißungsvoll anstarrt. „Wenn das wirklich unsere Reisegruppe ist, fahre ich nicht mit.“ Der gekränkte Vater verschränkt die Arme trotzig vor der Brust und blickt in das entsetzte Gesicht seiner Tochter.

Nach einem kurzen Schreckmoment ballt diese die Fäuste und keift zurück: „Vatter, du kannst mich mal! Ich reiß mir den Arsch auf, damit deine Bayreuth-Reise nicht komplett ins Wasser fällt, chauffiere dich zwischen zwei Klienten-Terminen hierher und baue deinetwegen auch noch einen Unfall. Mir reicht’s! Ich fahre jetzt nach Frankfurt zurück. Du hast ein Handy und kannst anrufen, falls du losgefahren oder wieder angekommen bist.“ Mit diesem Satz schwingt sich die Juristin ohne Abschiedsgruß in ihren Mini und braust davon.

„Hallo und guten Morgen. Ich bin der Detlef, ihr Reiseführer“, spricht der Mann im hellblauen Outfit die beiden verdatterten Senioren mit ausgestreckter Hand an. Er hat sich aus der pastellfarbenen Masse gelöst, nachdem Freya mit quietschenden Reifen verschwunden ist. „Falls Sie Herr Wagner und Herr Holländer sind, darf ich Sie herzlich zu unserer Weinfahrt zum Kloster Eberbach begrüßen.“ Er lächelt und offenbart dabei eine Reihe zu großer Zähne. Siegfried, seinerseits ist jedoch nicht zum Lächeln aufgelegt.

„Ja, das sind wir, aber ich werde nicht mitfahren“, teilt der missmutige Senior dem Herrn Reiseführer mit.

„Ach Siegfried, jetzt mach doch keinen Stress. Ich werde dich schon vor dieser Schwadron an Frauen beschützen“, witzelt der Sonnenhutträger und zückt seine Reisebestätigung.

Begeistert zwinkert Detlef den Herren zu und lässt wissen: „Das freut mich aber, dass wir alle drei vom selben Stern sind.“ Dabei gleicht er Gunthers Namen in seiner Liste ab und greift diesem behutsam an den Unterarm, was Gunther gar nicht angenehm findet.

„Was erlauben -“, möchte er protestieren, wird allerdings von Ingmar unterbrochen.

„Danke Herr Detlef, dass Sie sich so gut um Gunther und Siegfried kümmern wollen, aber das ist nicht nötig. Die beiden kennen sich seit langem und geben gut aufeinander acht.“ Dabei bleibt er im Blickkontakt zu seinem Vater und dessen neuem Freund und gibt damit zu verstehen, dass sie ein männliches Pärchen spielen sollen.

Siegfried versteht sofort, was Ingmar meint. Obwohl er keine Tendenz zu Männern hat, spielt er mit, um der Horde Frauen zu entgehen. Deshalb zückt er freundlich, fast vornehm, seine Reisebestätigung, die in der Vorderseite seines roten Rucksacks steckt und säuselt: „Ja, so ist es. Gunther und ich sind schon seit Jahren ein gutes Team und freuen uns, viel Zeit zu zweit zu verbringen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns einen Platz etwas abseits der Frauen zuweisen. Da wir vom selben Stern sind, werden Sie das bestimmt nachvollziehen können.“

Ein verstehendes Grinsen huscht über Detlefs schmallippiges Gesicht. „Aber natürlich habe ich dafür Verständnis, meine Herren. Bei mir sind Sie in den besten Händen, Sie dürfen mich Levi nennen. Das ist mein Spitzname.“ Er zwinkert den beiden zu.

Gunther ist zwar etwas überrumpelt, aber gern bereit, bei einer Posse mitzuspielen. Zumal er nach der Trennung von seiner Frau Henriette auch kein gesteigertes Interesse an pastellfarbene Frauenmassen hat.

Ingmar umarmt seinen Vater zum Abschied herzlich und flüstert Siegfried zu: „Danke, dass Sie doch mitfahren. Das mit den Autos regeln wir schon und ich bin mir sicher, dass Sie beide viel Spaß haben werden.“

 

 

 

Wein, Weiber und Wagner

 

Wenige Minuten später steigen die beiden Senioren in den Bus ein. Die weiblichen Mitreisenden sitzen bereits alle und blicken gespannt nach vorn, um die Männer zu begutachten. Detlef fängt die Senioren ab, bevor sie sich einen Platz suchen können, greift zum Mikrofon und spricht zu der erwartungsvollen Frauengruppe: „Hoch verehrte Damen, mein Name ist Detlef, mich kennen Sie bereits. Ich möchte Ihnen die beiden einzigen Herren außer mir vorstellen, die uns auf der Fahrt zum Kloster Eberbach begleiten werden. Gunther Wagner und Siegfried Holländer.“ Ohne ihn weiterreden zu lassen klatschen die Frauen frenetisch.

Als der Beifall abebbt, spricht Detlef weiter: „Die beiden Herren wollten gemeinsam nach Bayreuth reisen. Aber jetzt sind sie bei uns gelandet und freuen sich darauf, ihre Zweisamkeit bei einer Weinprobe zu feiern und ihr Glück zu beschließen.“

Enttäuschtes Raunen schwirrt durch den Bus, aber auch Zurufe wie: „Herzlichen Glückwunsch“ oder: „Das ist ja mal was Neues in dem Alter.“

Unter neugierigen Blicken werden Gunther und Siegfried ganz nach hinten auf die Fünferbank begleitet, wo sie allein sitzen können.

Als der Bus losfährt, halten die Frauen sich tatsächlich fürnehm zurück. Ein Stück Entspannung stellt sich bei den beiden einzigen Männern der Reisegruppe ein.

„Was würde Richard dazu sagen, dass sein Bayreuth gegen ein Kloster eingetauscht wird?“, ergreift Siegfried nach einer Gesprächspause das Wort.

„Vermutlich würde er aus Frust eine seiner Champagnerflaschen köpfen, die er nie bezahlt hat“, entgegnet Gunther.

„Ja, wahrscheinlich würde er das tun. Aber wir sollten nicht ungerecht sein. Schließlich ist das Kloster nicht von Mönchen dominiert, sondern wird vom Wein beherrscht, und wir bekommen zwar keinen Champagner, aber immerhin ein paar gute Rebsorten“, sagt Siegfried, um sich selbst für die Weinfahrt nach Kloster Eberbach zu motivieren.

„Richard Wagner in Bayreuth musikalisch zu erleben war ein lang gehegter Traum von mir. Als mein Sohn Ingmar mir dann diese Reise zum Geburtstag im Mai geschenkt hat, war ich überglücklich. Es war schon eine große Enttäuschung, als das Reisebüro Pleite gemacht hat und der Ausflug geplatzt ist. Ich habe mich gefreut, mal aus Oberursel rauszukommen. Auch wenn mein Haus mit dem exquisiten Weinkeller wirklich sehr schön ist, fällt mir manchmal die Decke auf den Kopf“, gesteht Gunther seinem Reisenachbarn freimütig.

„Du denkst also, dass das mit der Pleite des Reisebüros stimmt. Das würde bedeuten, dass meine Tochter mich nicht verkuppeln will und wir rein zufällig in diese Horde von Frauen geraten sind? Dabei mag ich Frauen, wenn ich mich recht erinnere. Aber nicht solche und nicht in diesen Mengen“, erkennt Siegfried ein wenig reumütig.

„Ja, es ist ein Zufall, da bin ich mir sicher. Mein Sohn ist Meteorologe und hat diese Reise nach Bayreuth über Freunde für mich organisieren lassen. An meinem Geburtstag bekam ich von ihm einen USB-Stick mit einem Film vom Polarmeer zugeschickt. Er gratulierte mir mit den Eisbergen im Hintergrund und spielte während seiner Gratulation einen Teil aus dem ‚Ring der Nibelungen‘ bevor er mir verraten hat, dass ich diese Musik in Bayreuth genießen darf. Stell dir vor, Wagner in voller Lautstärke mitten im Polarmeer. Der Junge hat sich zu meinem Geburtstag wirklich etwas einfallen lassen“, schwärmt Gunther von seinem Sohn.

„In der Not trinkt der Teufel Wein oder Champagner. Im Moment könnte ich beides gebrauchen. Ich habe meiner Tochter Kuppelei unterstellt und nun musst du meinetwegen einen schwulen Mann spielen“, erkennt Siegfried bekümmert.

„Du könntest dich bei deiner Tochter entschuldigen, per SMS zum Beispiel. Für ein paar Stunden einen Mann zu spielen, der Männer liebt, schaffe ich mit links. Wie du bemerkt hast, bin ich etwas zittrig. Ich werde mich immer mal bei dir einhaken, damit wir nicht den Verdacht erwecken, kein Paar zu sein. Aber trotzdem hätte ich gern gewusst, woher du kommst und ob deine Reise nach Bayreuth auch ein Geschenk war?“, fragt Gunther neugierig. Siegfried sind diese Fragen unangenehm, deshalb kräuselt er seine spitze, aristokratische Nase, die je nach Perspektive etwas an Carlo Goldonis Pinocchio erinnert. Eigentlich will er nicht antworten, aber er steht in Gunthers Schuld und überwindet sich.

„Schon seit Jahren wünsche ich mir, den Ring in voller Länge zu sehen. Freya wusste das und hat mir die Reise nach Bayreuth geschenkt, als meine unangenehme Ehescheidung durch war. Ursprünglich sollte die Fahrt sogar für zwei Personen sein. Natürlich wollte meine Tochter nicht, dass ich nach einer Scheidung allein wegfahre. Allerdings habe ich keinen so guten Freund, mit dem ich verreisen würde“, offenbart sich Siegfried, denkt aber trotzdem nicht daran, sich bei seiner Tochter per SMS wegen des Streits zu entschuldigen.

„Warum hast du dich denn scheiden lassen?“, fragt Gunther unumwunden.

„Weil ich so dumm war, ein zweites Mal zu heiraten“, entgegnet Siegfried fast empört. Das Gespräch ist ihm zu privat. „Auch, wenn wir Wagnerfreunde sind, finde ich, dass du ziemlich neugierig bist. Erzähl du doch mal! Was ist das für ein seltsamer Ring an deinem Finger?“

Gunther schiebt sich verlegen die goldene Nickelbrille nach oben, obwohl sie fest auf seinen breiten Nasenflügeln sitzt. „Du hast recht. Ich bin so froh, endlich jemandem zum Reden gefunden zu haben und auch noch über Wagneropern, dass ich wirklich etwas aufdringlich war. Um dir zu beweisen, dass ich deines Vertrauens würdig bin, erzähle ich dir meine Geschichte zuerst: Ich bin ehemaliger Goldschmied und Uhrmacher. In meinem Haus in Oberursel habe ich im Untergeschoß eine Werkstatt und einen Verkaufsraum eingerichtet und das hier …“, dabei hebt er seine Hand und offenbart einen breiten Ring aus Rotgold mit filigranen Buchstaben, „das war das letzte große Werk meiner Goldschmiedekarriere“, gesteht er. „Als ich mit dem Ring fertig war, zitterten meine Finger dermaßen, dass ich nicht mehr schmieden konnte.“

„So einen ungewöhnlichen Ehering habe ich noch nie gesehen. Darf ich den mal in die Hand nehmen?“, fragt Siegfried neugierig.

„Klar. Auch wenn das kein Ehering ist.“ Gunther streift den Ring vom Finger.

Siegfried beäugt das Schmuckstück fasziniert und entziffert den Text: „Um edel zu empfinden, lasst Scham nicht aus der Seele schwinden“, liest er bedächtig vor. „Gunther, das ist ein Zitat aus Parzival! Du bist ein wirklicher Wagneranhänger, aber ist das nicht übertrieben, Richard täglich am Ringfinger der rechten Hand zu tragen? Dort haben andere ihren Ehering“, erkennt Siegfried fast ehrfürchtig und gibt den Ring wieder an Gunther, der ihn sofort zurück an den Finger der rechten Hand streift.

Während des Sprechens betrachtet er ihn eingehend. „Ich habe schwere Schuld auf mich geladen“, beginnt Gunther.

Siegfried versucht, die wachsende Schwermut des Goldschmieds außer Dienst einzudämmen, was ihm jedoch nicht gelingt. Mehr zu sich selbst als zu Siegfried spricht Gunther vor sich hin: „An meiner rechten Hand trug ich genau neunundzwanzig Jahre und elf Monate einen Ehering. Einen scheinbar ewigen Ring, den auch meine Henriette trug.“

„So lange warst du verheiratet, das ist ja wirklich fast ewig“, unterbricht Siegfried das Selbstgespräch.

„Tja, zu ewig hat es nicht gereicht. Kurz vor unserem Hochzeitstag fing ich an, ihr einen Ring zu schmieden. Rotgold, wunderschön mit Runen und Inschrift.“

„Mein Gott, was ist denn passiert?“ Siegfried kann die Spannung kaum mehr aushalten.

„Die Widmung war falsch: Ich habe Henriette mit nur einem T geschrieben und mich außerdem mit dem Datum unserer Hochzeit um einen Tag vertan. Das war zu viel für mein Henriettchen. Sie verließ mich umgehend. Seitdem stehen Henriettes Nähmaschinen allein auf dem Dachboden und ihr Arbeitszimmer ist auch leer.“

Mit offenem Mund sitzt Siegfried da: „Wie konnte das passieren?“

„Tja, durch Überarbeitung nach Feierabend. Mit ein paar Glas Riesling zu viel“, gesteht er und schiebt wieder verlegen seine Nickelbrille nach oben. „Neun Monate später schmolz ich meinen Ehering ein und arbeitete den verhängnisvollen Ring um. Seitdem trage ich ihn als Zeichen meiner Schuld.“

„Jetzt hör aber auf mit diesen Selbstbezichtigungen. Ohne Frau ist das Leben viel ruhiger und einfacher“, gibt Siegfried zu bedenken.

„Nicht mein Leben. Kurz nachdem dieser Ring hier fertig war, bekam ich die Hiobsbotschaft, an Parkinson erkrankt zu sein“, offenbart Gunther sein Geheimnis.

„Oh nein, das ist ja wirklich tragischer als eine Wagneroper“, sagt Siegfried mit zitternder Stimme und versucht, seine Betroffenheit zu überspielen. Gunther bemerkt dennoch, dass der neue Freund von seiner Erzählung berührt ist.

„Jetzt höre ich Wagneropern, statt Gold zu schmieden, und trinke Riesling aus einem Plastikglas mit dem Strohhalm. Bei meinem Gezitter geht das nicht anders, sonst ist da zu viel Schwund“, entspannt Gunter selbstironisch die Situation. Beide lachen so laut, dass die Frauenschaft sich kurz zu ihnen umdreht, aber zum Glück keine Fragen stellt.

„Dann bist du auch geschieden wie ich?“, fragt Siegfried auf der Suche nach einem weiteren gemeinsamen Schicksalsschlag und wird enttäuscht.

„Nein, geschieden bin ich nicht. Es hat mich alle Kraft gekostet, diese Krankheit zu akzeptieren und Maßnahmen zu ergreifen“, verrät der ehemalige Goldschmied aufrichtig.

Der mitreisende Senior ist ehrlich erschüttert und ringt um Fassung. Deshalb greift er in seinen roten Rucksack und trinkt einen Schluck gesundes Quellwasser, das ihm den richtigen Kommentar zufließen lässt: „Weiß dein Sohn von deiner Erkrankung?“

Gunther lacht ohne Freude und winkt ab: „Ach, i wo! Als ich vor einem Jahr meinen geliebten VW-Passat verkauft habe, log ich Ingmar vor, dass ich das nur tue, um umweltbewusster zu leben, CO2 einzusparen und den öffentlichen Nahverkehr zu fördern. Das hat mir einige Sympathiepunkte bei meinem Junior eingebracht.“

Siegfried nickt anerkennend und gibt zu: „Du bist gerissener, als ich dachte, aber es ist nicht fair, deinem Sohn nicht die Wahrheit zu sagen, findest du nicht? Mir sagst du, dass ich unfair zu meiner Tochter bin, und du bist selbst nicht besser.“

Betroffen blickt Gunther aus dem Fenster, das den Blick auf herrliche Weinberge freigibt. „Na, vielleicht ist der eitle Narr, der neben mir sitzt, ja doch ein Vorbild an Tugend. Jetzt bist du dran, ich war ehrlich zu dir, dann sei du es bitte auch.“ Fasziniert schaut er auf Siegfrieds perfekt manikürte Fingernägel. Er gräbt seine breiten Hände, die viel gearbeitet haben, ineinander, als wolle er sie verstecken.

„Du hast Recht, lieber Gunther. Es steht mir bestimmt nicht zu, mich hier als Moralapostel aufzuspielen“, gesteht der sonst so selbstgerechte, eitle Senior überraschend ehrlich. „Wenn es dich tröstet, ich habe mehr als nur eine Zahl verdreht. Mir geht es da so ähnlich wie dir bei deinem Ring“, flüstert Siegfried. „Mein Berufsleben lang war ich ein gefragter Steuerberater in Wiesbaden. Ich habe eine Menge Geld gemacht und bin übrigens auch dreiundsechzig Jahre alt, wie du.“

„Hast du das viele Geld als Steuerberater oder Hinterzieher verdient?“, will Gunther wissen, der Siegfrieds dunkle Seite erahnt und sich überhaupt nicht dafür interessiert, dass sein Nebenmann ebenso alt ist wie er.

„Als Steuervermeider“, gesteht Siegfried tiefgründig.

„Steuern vermeiden – wie geht das denn?“, will Gunther wissen.

„Tja, Cum-Cum und Cum-Ex “, verrät Siegfried geheimnisvoll.

Gunther beherrscht sein prustendes Gelächter: „Ich weiß nicht, ob ich will, dass meine Ex wiederkommt.“

„Mit Exfrauen hat das nichts zu tun. Es ist relativ einfach. Du bezahlst bei Aktiengeschäften einmal die Steuer und lässt sie dir dann mit Hilfe eines Mittelsmannes zwei Mal zurückerstatten.“

„Aha, und der Vermittler warst du?“, bohrt Gunther nach.

„Ohne meinen Anwalt sage ich nichts mehr“, erwidert Siegfried augenzwinkernd.

„Aber du kannst mir verraten, wie lange du schon Rentner bist“, will Gunther wissen.

„Mit achtundfünfzig hatte ich einen Autounfall, bei dem meine Frau starb. Zwanzig Jahre hatte sie mich ertragen. Hier stieg ich aus und arbeitete nur noch selbständig im kleinen Rahmen als Steuerberater weiter. Ich fühlte mich schuldig und konnte nicht allein sein, deshalb machte ich einen verhängnisvollen Fehler“, erzählt Siegfried. „Sie war Parfümeriefachverkäuferin und hat mich völlig eingenebelt. Ich eitler, alter Sack bin einer 35-jährigen Verkäuferin mit schwarz gefärbten Haaren auf den Leim gegangen. Jünger wurde ich dadurch nicht.“

„Aber wahrscheinlich ärmer“, wirft Gunther ein.

„Nein, das ist mir erspart geblieben, da wir nur zwei Jahre verheiratet waren. Am Ende verließ sie mich, weil ich gar kein Geld hatte“, ereifert sich Siegfried in gekränkter Eitelkeit.

„Wieso nicht?“, erkundigt sich der Goldschmied aufrichtig interessiert.

„Natascha vergaß nichts“, fuhr Siegfried fort. „Keine Zahl, keinen Kunden und vor allem nicht mein Nummernkonto in der Schweiz. Als ich die Diagnose Alzheimer bekam, war klar, dass die Karriere als Steuerberater komplett zu Ende war.“

„Naja, ein unruhiger Lebensabend mit einer 35-jährigen ist doch auch nicht übel“, gibt Gunther zu bedenken.

„Natascha wollte keinen Ruhestand mit einem Alzheimerkranken, sie wollte mein Nummernkonto, aber sie hat die Zahlenkombination nicht herausbekommen.“

„Aber du“, bemerkt Gunther.

„Eben nicht, ich habe die Kombination vergessen - Alzheimer ist schuld“, stottert Siegfried verunsichert.

„Was? Ach komm, ein Schlitzohr wie du hat einen sicheren Ort, wo er den wichtigen Zahlencode verwahrt hat“, überspielt Gunther die Peinlichkeit der Situation.

„Schon“, erklärt Siegfried, „aber auch diesen Ort habe ich vergessen.“ Die Situation ist skurril.

„Dein heiliger Gral liegt damit also in der Schweiz und ist unerreichbar?“

„So ist es“, bestätigt Mr. Cum-Cum.

„Das ist wirklich besser als jede Oper, was du da erlebt hast. Und die Reise? Ich nehme an, da deine Tochter so glücklich über deine Scheidung ist, hat sie dir eine Reise nach Bayreuth geschenkt?“, interpretiert Gunther waghalsig und erntet Zustimmung, wo er Widerspruch erwartet hat.

„So in etwa. Sie hat mich vor Natascha gewarnt, aber ich wollte nicht hören. Freya war froh, als Natascha ausgezogen ist. Sie meint es gut mit mir und ich bin manchmal ein echter Arsch“, erkennt Siegfried und erwartet dieses Mal Gunthers Widerspruch, den er nicht bekommt.

„Ja, das bist du. Weiß sie denn, dass du Alzheimer hast? Weiß sie denn von dem Geld?“, fragt Gunther, obwohl er die Antwort erahnt.

„Ach wo denkst du hin. Wenn sie das wüsste, hätte sie mich niemals allein auf diese Reise geschickt mit ihrer ewigen Besorgnis. Und von dem Konto in der Schweiz weiß sie erst recht nichts. Meine hochmoralische Tochter, die in ihrem jungen Alter bereits als Staatsanwältin arbeitet, würde mir vermutlich als Tochter kündigen, wenn sie wüsste, dass ich in solche Geschäfte verwickelt bin.“

„Das vermute ich auch“, meint Gunther und holt ein Desinfektionstuch aus seiner rindsledernen Umhängetasche, um sich die Finger zu säubern, so als wolle er sich von seinen eigenen „schmutzigen Geheimnissen“ und denen, die sein Nebenmann ihm erzählt hat, reinigen.

„Es ist merkwürdig, dass ich dir Sachen erzähle, die ich sonst für mich behalte. Keine Ahnung, warum ausgerechnet ich plötzlich so vertrauensselig bin?“, fragt sich Siegfried.

„Vielleicht, weil du sonst niemanden zum Reden hast. Fremden etwas anzuvertrauen ist manchmal einfacher, als zu den eigenen Kindern ehrlich zu sein“, vermutet der kluge Goldschmied.

In Eltville angekommen, bleibt der Bus an einer roten Ampel stehen. In diesem Moment beobachten sie durch die Scheibe, wie ein alter, volltrunkener Mann stürzt und sich in die Hose macht. Angeekelt wendet sich Siegfried ab, Gunther sieht hin und erkennt:

„Das passiert, wenn sich niemand mehr um dich kümmert und du dich nicht mehr um dich selbst kümmerst. So weit lasse ich es nicht kommen. Parkinson her oder hin“, beschließt Gunther.

„Genau“, pflichtet Siegfried ihm bei. „Aufgeben gilt nicht.“

Die beiden Senioren lächeln sich an und wissen, dass sie bei dieser Weinfahrt noch viel Spaß haben werden und aufeinander aufpassen. Der Bus bremst abrupt und beendet die für beide sehr privat gewordene Unterhaltung. Die Weingesellschaft ist in Kloster Eberbach angekommen. Bevor alle aussteigen, greift Detlef zum Mikro und spricht mit singender Stimme: „Ich heiße Sie, meine Damen und natürlich auch die beiden Herren, herzlich willkommen im Kloster Eberbach. Damit wir uns auf der Wanderung nicht verlieren, wollte ich Sie bitten, sich einen festen Partner zu suchen, mit dem Sie bis zum Weingut wandern, damit keiner zurückbleibt,“ befielt der Reiseleiter und nutzt dies als Gelegenheit, sich selbst den attraktiven Siegfried als Partner auszuwählen. Siegfried mault zunächst: „Das ist ja wie im Kindergarten.“ Levi macht dem attraktiven Senior neckische Avancen, indem er ihm zuzwinkert. Siegfried wendet sich hilfesuchend an Gunther, der ihm so unauffällig wie möglich zuflüstert: „Wir treffen uns so bald wie möglich wieder, wenn du den Reiseleiter ein paar Minuten bespaßt hast.“ Siegfried nickt vielsagend und geht vordergründig auf Levis Einladung, mit ihm gemeinsam zu wandern, ein.

Schon nach wenigen Minuten zeigt sich, dass das Paarwandern sich nicht aufrechterhalten lässt. Sowohl Detlef als auch Siegfried werden von fragenden Damen belagert, sodass sie sich trennen müssen. Sehnsüchtig blickt der Reiseleiter Siegfried hinterher, der sich bereits fünf Plätze weiter in Richtung Gunther bewegt hat und freundlich mit einer sehr gepflegten, blond gefärbten Rentnerin plaudert. Auch Gunther gibt sich dem Smalltalk hin, bis die beiden Reiseverbündeten circa fünfzehn Minuten später gemeinsam nebeneinander hergehen. Der Reiseleiter ist so verstrickt in Gespräche, dass er es aufgegeben hat, sich nach Siegfried umzusehen.

 

Weder Gunther noch Siegfried haben große Lust, sich über Enkel, Kochrezepte oder Gebrechen zu unterhalten, denn das hatten sie für männliche Verhältnisse „ausgiebig“ während der Busfahrt getan. Mehr Krankheit sollte nicht diskutiert werden. Viel lieber wollten die beiden über Riesling Sorten diskutieren und darüber, ob es Sinn macht im Sommer nur Weißwein und im Winter auschließlich Rotwein zu trinken oder ob die Alternative ein „immer beides“ je nach Anlass ist. Aufgrund der unterschiedlichen Gesprächsthemen lassen die beiden erfahrenen Weintrinker mehr Abstand zwischen sich und der Truppe schnatternder Weiber entstehen.

Als Siegfried seinen Weinlieferanten anrufen will, um eine Sendung Riesling Spätlese zu ordern, die Detlef ihm empfohlen hat, bemerkt er es: „Ich habe mein Handy vergessen“, ruft er beunruhigt. „Da steht alles drauf, was ich mir merken muss. Ich bin hilflos ohne das Ding!“

„Wo hast du es denn vergessen?“, fragt Gunther den Freund.

„Diese Frage soll wohl ein Witz sein“, empört sich Siegfried.

„Wir müssen zurück!“, befiehlt Gunther und hakt Siegfried unter. „Ich habe eine Idee, wo es sein könnte.“

Zügigen Schrittes gehen beide den Weg zurück, Gunther erinnert sich an die Strecke. Schnell kommen sie an der Bank an, dort liegt die Weinzeitschrift, die sie nicht mitschleppen wollten. Gunther nimmt Zeitschrift auf und öffnet sie. Da ist das Handy und blinkt.

„Na also!“, freut sich Siegfried, drückt direkt auf eine Taste und sagt: „Ja, ich muss meine Kreislauftablette nehmen“ verkündet ihm sein Handy, worauf er sofort ein Döschen aus dem roten Rucksack fischt und eine Pille in den Mund steckt. „Danke Gunter. Wie bist du darauf gekommen?“

„Tja, die Zeitschrift war das Einzige, was wir zurückgelassen haben“.

„Wenn ich dich nicht hätte“, freut sich Siegfried und hakt sich bei dem neu gewonnenen Freund ein.

Neben der Bank befindet sich ein Wegweiser mit der Verheißung: „Zum Weingut“.

Beide ziehen es unausgesprochen nicht mehr in Betracht, die Gruppe zu suchen. Fröhlich schwatzend kommen sie bei der Weinkellerei an.

„Die Tür zum Weinkeller ist offen“, bemerkt Gunther freudig. Mutig geworden spornt er den Freund an. „Komm, wir gehen schon mal vor und kundschaften die Weine und den Keller aus.“

Abenteuerlustig lässt Siegfried sich in das einladende kühle Kellergewölbe führen, das bei sommerlicher Hitze Entspannung verspricht.

„Wie es hier duftet!“, bemerkt Siegfried, als sie den geräumigen Keller betreten, angefüllt mit stehenden Fässern, die als Tische dienen, und liegenden Fässern, die edle Tropfen beherbergen. Überall stehen Gläser und Kerzen auf den Fasstischen.

„Wir gönnen uns jetzt einen Tropfen. Ist ja genug da“, entscheidet Gunther unternehmungslustig.

---ENDE DER LESEPROBE---