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Tine Nell

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Beschreibung

Im zweiten Teil ihrer Schweden-Dilogie erzählt Tine Nell eine wunderschöne Enemies-to-lovers-Romance: Die quirlige Liv lebt in Stockholm und liebt ihre Arbeit als Touristenführerin. Zweimal im Jahr verbringt sie Auszeiten bei ihrer Tante Edda in der Kleinstadt Nora. Bei ihrem letzten Besuch hat sie Cai geküsst, den sie eigentlich nicht leiden kann. Diesmal muss sie ihren Aufenthalt in Nora unfreiwillig verlängern. Sie braucht einen Übergangsjob und bekommt ihn ausgerechnet im Elchpark, den Cai betreibt. Er ist abweisend und scheint wegen Livs fluchtartigen Verschwindens nach dem Kuss verärgert zu sein. Liv ahnt nicht, dass hinter Cais kühler Fassade eine tiefe Verletztheit steckt, die er niemandem offenbart. Doch je näher die beiden sich täglich kommen, umso stärker wird die Anziehung zwischen ihnen.

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Seitenzahl: 445

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Tine Nell

Genau hier bei dir

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die quirlige Liv lebt in Stockholm und liebt ihre Arbeit als Touristenführerin. Zweimal im Jahr verbringt sie Auszeiten bei ihrer Tante Edda in der Kleinstadt Nora. Bei ihrem letzten Besuch hat sie dummerweise den muffeligen Cai geküsst, den sie eigentlich nicht leiden kann. Diesmal muss sie ihren Aufenthalt in Nora unfreiwillig verlängern, um ihrer Familie zu helfen. Sie braucht einen Übergangsjob und bekommt ihn ausgerechnet im Elchpark, den Cai neben seinem Outdoorladen auch noch betreibt. Er ist abweisend und scheint wegen Livs fluchtartigen Verschwindens nach dem Kuss verärgert zu sein. Liv ahnt nicht, dass hinter Cais kühler Fassade eine tiefe Verletztheit steckt, die er niemandem offenbart. Doch je näher die beiden sich täglich kommen, umso stärker wird die Anziehung zwischen ihnen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Tine Nell lebt mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einem Hund in der Nähe von Siegen, wo sie Tage und Nächte mit Schreiben und Lesen verbringt. Sie liebt die Stille, das Meer und wenn aus Gedanken eine Geschichte entsteht. Die alte Holzstadt Nora in Südschweden hat sie selbst besucht für ihre Recherche.

Inhalt

[Widmung]

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Epilog

Danksagung

[Anzeige Love at first Page]

Für alle, die schon einmal gebrochen wurden.

Ihr seid stark, ihr werdet heilen.

Prolog

Seine Lippen fuhren über meine – selbstbewusst und leidenschaftlicher, als ich erwartet hatte. Aber hatte ich überhaupt etwas erwartet? Dazu war schließlich kaum Zeit geblieben, während ich mit Cai neben die Bühne getaumelt und er mich so intensiv angesehen hatte, dass mir schwindelig geworden war. Vielleicht trug auch der Schnaps zu meinem benebelten Zustand bei, den wir in den letzten Stunden getrunken hatten. Ich war nicht wirklich betrunken, aber offensichtlich beschwipst genug, um Cais Kuss ohne Zögern zu erwidern und meine Hände in seinen dunklen Haaren zu vergraben. Die leichten Wellen am Oberkopf fühlten sich weich zwischen meinen Fingern an, an den Seiten kratzten die kürzer geschnittenen Haare über meine Handflächen. Ich hatte keine Ahnung, wie es plötzlich dazu gekommen war, dass wir uns küssten – auf dem Herbstfest in Nora, neben der Bühne, auf der eine schwedische Popband spielte. Vor Minuten hatten wir uns noch finstere Blicke zugeworfen, weil wir uns seit unserer ersten Begegnung nicht ausstehen konnten. Und jetzt … Jetzt küssten wir uns! Für einen kurzen Moment dachte ich an meine Halbschwester Alma, die mit ihrem Freund Liam und ihrer Kollegin Valentina in der Menge stand und davon ausging, dass ich jeden Augenblick von der Toilette zurückehren würde. Doch auf halber Strecke waren Cai und ich uns in die Arme gelaufen, inmitten der Menschenmasse. Wir hatten uns angesehen – nein, angefunkelt, während wir uns so nahe gegenüberstanden, dass mir zum ersten Mal das kleine Muttermal unter seinem rechten Auge auffiel. Keiner von uns rührte sich, und binnen Sekunden veränderte sich irgendwas. Sein Blick glitt über mein Gesicht, erst widerwillig, dann eingehend. Als er bei meinen Lippen hängen blieb und sich eine tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete, lief ein wohliger Schauer mein Rückgrat hinab, und mein Verstand schaltete sich aus. Intuitiv war ich näher zu ihm herangetreten, ohne den Blickkontakt abbrechen zu lassen. Vielleicht hatte ich ihn herausgefordert. Die Stimmung zwischen uns war schon den ganzen Abend angespannt gewesen – wie ein Pulverfass, das jeden Augenblick zu explodieren drohte. Jetzt war es hochgegangen. Allerdings auf andere Weise als gedacht.

Als ich über diese absurde Wendung schmunzelte, löste sich Cai von mir. Er hob den Kopf nur so weit, dass sich unsere kühlen Nasenspitzen berührten. Sein Atem roch nach einer Mischung aus Grog und Minze, und obwohl wir beide dicke Winterjacken trugen, meinte ich, seinen warmen Körper durch den Stoff zu spüren.

»Alles okay?« Seine Stimme klang rauer als sonst, aber auch eine Spur sanfter. Anders. Obwohl ich dieses anders mochte, machte es mir gleichzeitig Angst. Weil das hier nicht echt war – es war ein flüchtiger, verrückter Moment, den ich wie durch einen Nebel wahrnahm und nicht einschätzen konnte. Ich haderte mit mir, wusste, ich sollte das hier sofort beenden, weil ich tief in meinem Inneren verstand, wie falsch es war. Nicht nur, weil ich morgen nach Stockholm fahren und in mein Leben zurückkehren würde, sondern vor allem deshalb, weil Cai all das war, was ich nicht wollte.

Seine Hand glitt in meinen Nacken, schob die glitzernde Mütze, die ich trug, ein Stück nach oben. Ich hatte sie absichtlich aufgesetzt, weil ich wusste, dass Cai sie nicht mochte. Das hatte er bei unserer letzten Begegnung mit seinem abwertenden Blick deutlich gezeigt. Ich fand es lächerlich, dass er etwas gegen eine Kopfbedeckung hatte, besonders weil Cai keinen blassen Schimmer von Mode zu haben schien. Der Mann trug ausschließlich zweckmäßige Kleidung mit diesem typischen Holzfällercharakter – derbe Boots, Bluejeans, Wollpullover oder irgendwelche Hemden mit Karomustern.

In Cais Blick schien keinerlei Unsicherheit zu liegen. Stattdessen erkannte ich in seinen dunklen Augen nur Hitze und Neugier. In meiner Magengegend kribbelte es.

Du bist angetrunken, Liv. Er ist betrunken. Das hier ist total falsch. Ein riesiger Fehler.

»Ja, alles okay«, hörte ich mich leise sagen, bevor ich ihn wieder an mich zog und meinen Mund auf seinen presste.

Kurz darauf verließ ich fluchtartig und ohne mich von ihm zu verabschieden das Fest und fuhr am nächsten Tag nach Hause – zurück nach Stockholm, in mein richtiges Leben.

1

Fünf Monate später

»Liv, hej. Kannst du kurz sprechen?« Alma klang aufgewühlt. Es war ungewöhnlich, dass sie mich während meiner Arbeitszeit anrief, deshalb war ich gleich drangegangen. Ich ließ meine Reisegruppe stehen, die vor dem prunkvollen Schloss Drottningholm stand und Handyfotos schoss. Kurz warf ich dem jungen Mann einen Blick zu, der noch etwas blass im Gesicht auf einer Bank in der Nähe saß und an einer Wasserflasche nippte. Bei der einstündigen Überfahrt vom Stadtzentrum zur Insel Lovön, auf der sich der private Wohnsitz der schwedischen Königsfamilie befand, war er glatt seekrank geworden. Wie gut, dass es nicht das erste Mal war, dass es während meiner Stadttour durch Stockholm irgendwelche unvorhersehbaren Zwischenfälle gab.

»Was ist los?«

»Edda …« Ihre Stimme klang besorgt, als sie den Namen unserer Tante aussprach – der Frau, die neben meiner Mutter, meinem Stiefvater und meiner Halbschwester Alma meine Familie war. Seit ich sie ausfindig gemacht und sie mich mit offenen Armen empfangen hatte, besuchte ich Edda jeden Herbst, wenn die Saison in Stockholm vorbei war und ich für ein paar Wochen mein geliebtes turbulentes Stadtleben gegen die friedliche Ruhe in der verschlafenen Kleinstadt Nora eintauschte. Edda war ein Ruhepol und mit einer Weisheit gesegnet, die ich faszinierend fand.

»Sie musste ins Krankenhaus.«

»Was ist passiert?« Sofort war ich in Alarmbereitschaft. Edda schleppte seit dem letzten Winter einen hartnäckigen Husten mit sich herum, doch trotz unserer Bitte, die Ursache dafür von einem Arzt abklären zu lassen, hatte sie sich vehement geweigert. Sie war ein Sturkopf.

»Heute Morgen war sie nicht unten in der Küche, und du weißt ja, wie früh sie vor der Arbeit eigentlich immer aufsteht. Ich habe sie husten gehört, so stark wie noch nie. Als ich in ihr Schlafzimmer kam, saß sie auf der Bettkante und hat ganz schwer und angestrengt geatmet. Ich habe sofort den Notarzt gerufen.« Sie seufzte ins Telefon. »Ich weiß noch nicht, was los ist, sie wird die nächsten Tage untersucht und komplett auf den Kopf gestellt. Ich wollte dir direkt Bescheid geben.«

Ich machte mir so schreckliche Sorgen um Edda, dass mir für einen Moment die Worte fehlten.

»Sie kommt wieder auf die Beine«, sagte ich mehr zu mir selbst. Ich hoffte inständig, dass tatsächlich alles wieder schnell in Ordnung kommen würde.

»Ja, das wird sie. Natürlich wird sie das.«

Nachdem Alma mir versprochen hatte, mich auf dem Laufenden zu halten, legten wir auf. Ich musste zurück zu meiner Gruppe, die etwas verloren herumstand und sich nach mir umsah. Doch meine Konzentration ließ seit dem Telefonat zu wünschen übrig, weil meine Gedanken um Edda kreisten. Alma hatte berichtet, dass sie keinen Besuch empfangen konnte, bis die Untersuchungen abgeschlossen waren, und doch kam es mir falsch vor, in Stockholm zu sitzen und abzuwarten, während Alma in Nora von jetzt auf gleich mit der Hebammenpraxis und Eddas großem Haus allein dastand. Ich wusste, dass sie ihren Freund Liam als Stütze hatte, aber der hatte mit seinem Job und seiner alleinerziehenden Schwester selbst alle Hände voll zu tun.

Nach der Stadttour fuhr ich zurück in die WG, packte kurz entschlossen ein paar Sachen zusammen und machte mich auf den Weg nach Nora.

***

Zweieinhalb Stunden später stieg ich aus meinem Auto und lief über den Kies auf das schwedenrote Holzhaus zu, vorbei an der Hebammenpraxis Magkänsla, in der Alma seit letztem Jahr arbeitete.

Edda hatte sich mit der Praxis vor Jahren einen Traum erfüllt und ihre Leidenschaft zum eigenen Business gemacht. Ich konnte zwar nicht viel mit Schwangeren und Babys anfangen, aber dennoch imponierte mir ihr Mut, ihre Geschäftsidee umzusetzen, die sich als Volltreffer erwiesen hatte, denn die Hebammenpraxis boomte.

Der Wind rauschte in den gigantischen Kiefern des Waldes, der an Eddas Grundstück angrenzte, und das rote Schwedenhäuschen umschloss. Ich liebte Eddas Haus, weil es auf eine gute Weise kitschig und typisch schwedisch war. Es gab mir das Gefühl, ein Zuhause zu haben, das gemütlich und voller Wärme war. Meine Mama lebte mit meinem Stiefvater in Örebro und auch das war mein Hafen, wenn ich eine Auszeit von Stockholm brauchte. Aber Edda und dieses Haus umgab eine besondere Magie, eine positive Energie, die mich Jahr für Jahr anzog. Hier lud ich meine Batterien auf und meine Vorräte an Eddas selbstgemachter Marmelade.

Als ich klingelte und wartete, nahm ich wahr, wie sich die Natur um mich herum seit meinem letzten Besuch im Herbst verändert hatte. Die zarten Strahlen der Nachmittagssonne waren wärmer, die Luft roch nach Gras und Kiefernadeln, und nur noch vereinzelte kleine Schneehaufen bedeckten den Boden. Ich war zum ersten Mal im Frühling in Nora. Wie gern ich das mit Edda geteilt hätte.

Ich dachte daran, wie strahlend sie mich bei jedem Besuch empfangen hatte, wie sie mir immer das Gefühl gegeben hatte, zu Hause und willkommen zu sein. Sie hatte mich dazu gebracht, das fehlende Puzzleteil in meinem Herzen zu vergessen und es so unvollkommen anzunehmen, wie es war. Edda war ein Geschenk für mich, und ich konnte es kaum erwarten, sie im Krankenhaus zu besuchen und sie fest zu umarmen.

Die Tür öffnete sich.

»Liv.« Alma machte große Augen. Sie trug eine weite Strickjacke und Jogginghose. Ihr blondes Haar hatte sie locker hochgesteckt. »Was machst du denn hier?« Ihr Blick wanderte zu dem Rollkoffer neben meinen Füßen.

»Ich konnte nicht zu Hause rumsitzen«, sagte ich. »Ich möchte für dich und Edda da sein und bleibe ein paar Tage. Wenn du einverstanden bist.«

Alma schürzte die Lippen, dann lächelte sie und zog mich in eine Umarmung. Als wir uns voneinander lösten, trat Liam in den Flur. Er blickte nicht weniger erstaunt als seine Freundin drein. »Das ist ja eine Überraschung.« Sein kinnlanges blondes Haar hatte er zurückgebunden, das Grau seiner Augen strahlte heller, als ich es in Erinnerung hatte. Ich mochte ihn, auch wenn wir uns nur wenige Male begegnet waren. Er war nett und herzlich und vergötterte meine Halbschwester, was man in jedem der Blicke, die er ihr zuwarf, lesen konnte.

»Liv bleibt ein paar Tage«, verkündete Alma. »Ist das nicht schön?«

»Ich hoffe, ich überfalle euch damit nicht.« Liam wohnte zwar nicht in Eddas Haus, dennoch kam mir erst jetzt der Gedanke, dass es ihn stören könnte, wenn ich hier von jetzt auf gleich aufkreuzte.

»Überfallen?« Alma keuchte. »Du bist meine Rettung. Ich bin ein Nervenbündel, seit Edda heute Morgen abgeholt wurde. Liam hat mir schon hundertmal gesagt, dass alles gut wird, aber na ja … ich habe einfach Angst.«

»Edda ist zäh, sie schafft das.« Liam nahm Almas Hand und warf mir einen Blick zu, in dem ich las, dass er sich selbst sorgte, auch wenn er es Alma zuliebe nicht zugab.

***

Während Liam meinen notdürftig gepackten Koffer in eines der oberen Zimmer des Hauses brachte, zogen Alma und ich uns ins Wohnzimmer zurück. Vor dem Kamin lagen Ben und Jerry, Almas Kater, die sie bei ihrer Auswanderung aus Deutschland mit nach Schweden gebracht hatte. Ich fand es süß, dass sie ihnen den Namen ihrer Lieblingseismarke gegeben hatte.

Neugierig hoben sie die Köpfe und musterten mich aus ihren goldbraunen Augen. Bens Nase zuckte, und im nächsten Moment kam er auch schon auf mich zugelaufen. Dieser Kater war mir bei meinem letzten Besuch ans Herz gewachsen. Laut Alma war Ben eigentlich eher zurückhaltend, wenn er auf neue Menschen traf, aber wir beide hatten uns auf Anhieb gemocht.

»Willst du was trinken?« Alma deutete auf die Wasserkaraffe, die auf dem Tisch stand. »Oder lieber Tee?«

»Wasser ist okay. Danke.«

Ich setzte mich auf das geblümte Sofa und ließ meinen Blick durch das offene Wohn-Esszimmer gleiten. Auf dem Tisch lagen Eddas Gartenhandschuhe. Abgesehen von Kochen war Gartenarbeit ihr liebstes Hobby. Obwohl ich wusste, dass sie im Krankenhaus war, hoffte ich, dass sich jeden Moment die Terrassentür öffnen und sie mit ihren Gummistiefeln ins Haus stapfen würde.

Seufzend sah ich hinunter zu Ben, der sich in diesem Moment zu mir gesellte und sich neben meinem Schoß einrollte. Langsam ließ ich meine Finger über das seidige Fell gleiten, was irgendwie tröstlich war.

»Das muss ein Schock für dich gewesen sein. Edda so vorzufinden«, sagte ich, als Alma mit einem Glas Wasser zurückkehrte und es auf dem Couchtisch abstellte.

»Ich hatte schreckliche Angst.« Sie setzte sich auf den Sessel mir gegenüber.

Dahinter brannte ein kleines Feuer im Kamin, welches in Schweden auch noch im Frühling notwendig war. Auf dem Kaminsims standen die Bilderrahmen mit den Fotos, die ich mir bei jedem Besuch angesehen hatte. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie ich das Kinderfoto von Alma angestarrt hatte und wie sehr ich mir gewünscht hatte, sie eines Tages kennenzulernen. Noch immer war ich dankbar, dass es letztes Jahr endlich dazu gekommen war, auch wenn unser Start ein wenig holprig verlaufen war. Mein Auftauchen hatte Alma überfordert, was ich jedoch gut nachvollziehen konnte. Immerhin war es für sie eine heftige Enttäuschung gewesen, zu erfahren, dass unser Erzeuger ein Kind mit einer heimlichen Affäre gezeugt hatte. Dennoch hatten wir schnell einen Draht zueinander gefunden, trotz unserer unterschiedlichen Charaktere. Seitdem hielten wir engen Kontakt, telefonierten und schrieben uns Nachrichten. Die besondere Verbindung zwischen uns hatte ich schon in der ersten Sekunde unseres Kennenlernens gespürt. Auch wenn ich das väterliche Bindeglied, welches uns genetisch miteinander verknüpfte, am liebsten komplett daraus verbannen wollte, war ich glücklich, Alma als meine Halbschwester in meinem Leben zu haben.

»Aber sie ist in guten Händen, und ich vertraue den Ärztinnen und Ärzten. Ich hoffe, sie meldet sich schnell bei uns. Diese Warterei macht einen krank.«

»Und die Hebammenpraxis? Wie regelst du es morgen?«

»Astrid und Valentina helfen mir, Eddas Termine aufzufangen. Die Abendkurse übernehme ich, bis sie wieder zurückkommt.«

»Und ich bin auch noch da. Sag mir, was ich tun kann, und ich mach’s.«

»Bekommst du denn keine Schwierigkeiten, wenn du so spontan auf der Arbeit ausfällst?«

»Ich habe eine Vertretung, die meine Touren übernimmt. Zumindest für ein paar Tage, bis ihr euch sortiert habt und wir wissen, wie es mit Edda weitergeht.«

»Du bist ein Engel, weißt du das?«

»Das ist selbstverständlich«, sagte ich. »Wir sind eine Familie.«

Alma lächelte. »Ja. Das sind wir. En familj håller samman.«

2

Am Abend waren Alma und ich allein, denn Liam war zu seinem Elternhaus gefahren, in dem seine Schwester mit ihren beiden Kindern lebte. Seit ihr Mann sie während ihrer zweiten Schwangerschaft verlassen hatte, war Liam von Örebro nach Nora gezogen, um sie zu unterstützen.

Alma schaute auf ihr Handy, was sie schon den gesamten Nachmittag immer wieder tat. Wir hofften beide auf irgendein Lebenszeichen, wussten aber mittlerweile, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging, weil Alma im Krankenhaus angerufen hatte. Wir hatten zwar nicht mit Edda sprechen können, aber mit einer Krankenschwester, die von Edda wusste.

Alma kuschelte sich unter die Wolldecke auf das Sofa. Ich saß neben ihr, eine Tasse Tee in der Hand und Kater Ben auf dem Schoß, der sich schnurrend den Bauch kraulen ließ.

Als Almas Handy piepste, schreckte sie sofort wieder hoch, seufzte dann aber. »Liam schreibt, dass es noch dauert, bis er zurückkommt. Fynn kann nicht einschlafen und will, dass er ihm eine Geschichte nach der anderen vorliest.«

»Er ist so ein lieber Onkel, Fynn hat Glück.«

»Seit wir zusammen sind und Liam öfter bei mir ist, hat er große Trennungsängste. Manchmal fühle ich mich deshalb schlecht. Als hätte ich dem Kleinen seinen Halt genommen.«

»Aber Liam kümmert sich doch weiterhin um ihn. Er ist ja nicht aus der Welt.«

»Ja, schon. Trotzdem ist es für Fynn wieder eine Veränderung. Die Sache mit Oskar, seinem Vater, war schon schwer genug für ihn.«

»Kümmert er sich denn gar nicht um ihn und Stina?«

»Er meldet sich nur sporadisch und holt Fynn hin und wieder ab. Aber das ist nicht verlässlich, weil seine Depressionen unberechenbar sind. Für einen kleinen Jungen ist das schwer zu verstehen.« Alma seufzte. »Aber Elsa ist stark und eine so tolle Mutter. Sie hätte in den letzten Monaten allen Grund dazu gehabt, den Kopf in den Sand zu stecken, aber das hat sie nicht getan. Sie hat sich durchgekämpft, für sich, Stina und Fynn.«

»Alleine mit zwei Kindern. Das muss hart sein. Vor allem, wenn eins davon noch ein Säugling ist. Ich wäre jedenfalls überfordert.«

Alma wickelte sich eine lose Haarsträhne um den Finger. »Klar, ein Kind bedeutet viel Arbeit. Durch meinen Job sehe ich jeden Tag, wie sich das Leben der Eltern verändert, sobald das Baby da ist. Aber ich sehe auch die glücklichen Gesichter und diese Liebe. Ich möchte schon irgendwann Kinder haben.«

»Na das will ich hoffen. Schließlich würden Liam und du wunderschöne Babys produzieren.« Ich grinste. »Und mit der Rolle als beste Tante der Welt bin ich durchaus einverstanden.«

Obwohl das Feuer und die Stehlampe die einzigen Lichtquellen in der Dunkelheit waren, erkannte ich die zarte Röte, die sich auf Almas Wangen bildete.

»Das wird noch dauern. Wir sind ja gerade erst zusammengekommen.«

»Gerade erst vor sechs Monaten.« Ich schmunzelte. »Aber im Ernst. Ihr zwei seht glücklich zusammen aus.«

»Das sind wir auch.« Almas Lächeln wurde selig, und ihre Augen schienen vor Glück zu leuchten. »Es ist, als wäre er schon immer in meinem Leben gewesen.«

»Gut, dass ihr euch damals beide zusammengerauft habt.«

»Gott, ja.«

Ich dachte daran zurück, dass Alma beinahe ihren Job hingeworfen hätte und aus Nora weggezogen wäre. Und das nur, weil sie Liam und Edda nicht den wahren Grund verraten wollte, warum sie aus Deutschland ausgewandert war.

»Du warst die Einzige, die mein Geheimnis kannte«, sagte sie und verzog angesichts der Erinnerung das Gesicht.

»Und dann habe ich mich vor Liam verplappert.« Ich schluckte, als ich an den Moment zurückdachte, in dem aus mir herausgeplatzt war, was Alma im Frankfurter Klinikum geschehen war, wo sie als Hebamme gearbeitet und ein Baby unter der Geburt verloren hatte. Damit hatte ich ein Minenfeld betreten. Manchmal war es besser, den Mund zu halten, was mir zugegebenermaßen nicht leichtfiel.

»Es ist alles richtig gekommen, Liv. Wer weiß, ob ich ansonsten reinen Tisch gemacht hätte. Eher wäre ich wieder vor meinen Problemen geflohen.«

»Edda hätte dich nicht einfach gehen lassen. Du kennst sie.«

»Wahrscheinlich hast du recht.« In diesem Moment klingelte Almas Handy. Ihr Blick huschte erst auf das Display, dann zu mir. Schnell nahm sie ab.

»Edda! Wie geht es dir? Oh, warte, Liv ist auch hier. Ich stelle den Lautsprecher an.«

Alma und ich blickten uns voller Erleichterung an, als Eddas Stimme durch das Telefon drang.

»Liv? Sie ist bei dir?«

»Ja. Sie ist hergekommen, nachdem ich sie angerufen hatte.«

»Wie schön.« Edda seufzte. »Ich wurde bis eben untersucht, deshalb konnte ich mich nicht melden.«

»Eine Krankenschwester hat uns Bescheid gegeben, dass es dir gut geht und sie verschiedene Untersuchungen machen. War schon ein Arzt bei dir? Weißt du, was los ist?«

»Ja. Aber das erzähle ich euch morgen.«

»Morgen?«, fragte ich.

»Wenn ihr möchtet, könnt ihr mich besuchen kommen. Außerdem brauche ich dringend frische Kleidung. Ich trage gerade diese scheußlichen Krankenhaushemden.«

»Moment, heißt das, du musst länger im Krankenhaus bleiben?« Alma blickte mich nervös an.

»Es ist besser, wir reden morgen darüber. Ich bin sehr müde.«

»Ja, natürlich.«

»Liv kann auch alleine kommen, Alma. Du weißt, dass ich es verstehe.«

»Ich komme auf jeden Fall mit, Edda.«

Unsere Tante seufzte. »Ich fühle mich schuldig, dass ich nicht auf euch gehört habe und zum Arzt gegangen bin. Das war nicht richtig.«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Alma. »Das Wichtigste ist, dass du schnell wieder gesund wirst.«

»Wir erkundigen uns nach den Öffnungszeiten, und dann kommen wir«, versicherte ich.

»Schön. Danke, ihr beiden. Ich schreibe euch noch eine Nachricht mit den Dingen, die ihr für mich zusammenpacken könnt. Bis morgen.«

Alma legte auf und ließ das Handy sinken. »Das klingt nicht gut, oder?«

»Das wissen wir nicht.« Tief im Inneren spürte ich, dass irgendwas nicht okay war, aber ich wollte Alma nicht noch mehr beunruhigen.

»Hat sie wirklich geglaubt, dass ich nicht mitkomme?«

»Edda weiß, dass du Angst vor Krankhäusern hast. Sie macht sich Sorgen, dass es dir zu viel ist.«

Nach Almas Trauma, das sie im Kreißsaal in Frankfurt erlebt hatte, verursachte das Betreten von Krankenhäusern ab und zu Panikattacken bei ihr.

»Ich weiß, aber ich traue es mir zu. Es ist okay für mich, seit ich darüber gesprochen habe.«

»Vielleicht hilft es dir, wenn Liam dabei ist?«

»Der muss morgen arbeiten. Cai würde ihm bestimmt dafür freigeben, aber das möchte ich nicht.«

»Okay, dann schaffen wir das schon.«

Sie nickte, und ich gab mir Mühe, mich bei der Erwähnung von Cai neutral zu verhalten. Allein sein Name löste seltsame Gefühle in mir aus. Nach unserem Kuss letzten Herbst und meiner überstürzten Abreise hatte ich das Thema um ihn bei jedem Gespräch mit Alma umschifft. Niemand wusste, was auf dem Fest neben der Bühne geschehen war. Ich hätte mich immer noch dafür ohrfeigen können, weil es eine ganz bescheuerte Idee gewesen war, ausgerechnet Cai zu küssen – einen Kerl, der unsympathischer nicht sein konnte. Es war ein offenes Geheimnis, dass wir beide uns nicht leiden konnten. Umso schlimmer war es, dass wir die Kontrolle verloren hatten. Seither verfluchte ich den schwedischen Alkohol und seine verheerende Wirkung.

Es war spät, als Liam zurückkam und sich zu uns setzte. Wir unterhielten uns noch ein wenig, bevor wir alle, müde von den Ereignissen, ins Bett gingen. Ich kuschelte mich in mein Kissen, das nach dem vertrauten Waschmittel meiner Tante roch. Es würde alles gut werden, Edda würde es schaffen, egal was bei den Untersuchungen herausgekommen war. Sie war nicht allein. Sie hatte uns und einen sehr starken Willen.

***

Liam war schon zur Arbeit aufgebrochen, als Alma und ich unseren Kaffee tranken, eine Kleinigkeit frühstückten und dann zum Krankenhaus nach Örebro aufbrachen. Hinter dem Steuer saß ich, weil ich den Eindruck hatte, dass Alma zu nervös war. Ich schaltete das Radio ein und ließ sie etwas aus meiner Playlist am Handy auswählen in der Hoffnung, dass sie das ablenkte. Bevor sie einen Song abspielte, hörten wir noch, wie der Radiosprecher vor Unwetter in der Nacht warnte.

»Dann sollten wir später die Gartenstühle reinstellen«, sagte Alma und tippte den ersten Titel an.

»So schlimm wird es wohl nicht werden, dass Holzstühle durch die Luft fliegen, oder?«

»Wahrscheinlich hast du recht.«

Wir fuhren die Landstraße entlang, die an Wiesen, Wäldern und vereinzelten roten Schwedenhäusern vorbeiführte. Ständig wiesen Warnschilder darauf hin, dass Elche den Weg passieren könnten. Zum Glück war mir noch kein Elch vors Auto gelaufen. Die einzigen, die ich in meinem Leben gesehen hatte, waren die im Elchpark gewesen – in Cais Elchpark. Damals war ich noch ein Kind gewesen und hatte kaum Erinnerungen daran. Es war eine seltsame Vorstellung, dass ich ihm vielleicht schon früher begegnet war. Ich war mir sicher, dass ich ihm als Kind die Zunge rausgestreckt hätte.

»Wieso guckst du so sauer?«

Ich blickte zu Alma, die mich forschend musterte.

»An was denkst du?«

»Äh, an nichts. Ich fahre. Das ist mein konzentriertes Gesicht.«

»Ja, klar.« Sie grinste. »Ich glaube, ich habe dich selten mit so einer verdrießlichen Miene gesehen, außer …«

»Außer?«

»Außer wenn Cai in der Nähe war.«

»Was noch nicht oft vorgekommen ist.«

»Aber jedes Mal habt ihr diskutiert, und du bist zur Furie geworden.«

»Weil dieser Typ mich aufregt. Wie kann Liam mit ihm befreundet sein? Er ist wie ein freundlicher Golden Retriever, und Cai ist …« Ich suchte nach einem Tier, das diesem Kerl gerecht wurde. »Ein launischer Kater.«

»Hey, nichts gegen Kater«, protestierte Alma lachend. »Das mit dem Golden Retriever muss ich Liam erzählen.«

»Bloß nicht.« Ich grinste. »Auch wenn es als Kompliment gemeint ist. Liam ist eine Green Flag durch und durch.«

»Ja, das ist er.«

»Du hast Glück, Alma. Solche Männer gibt es nicht an jeder Straßenecke.« Ich wusste, wovon ich sprach, denn ich hatte ein ganz übles Exemplar erwischt, dessen wahres Gesicht ich durch meine rosa Brille viel zu spät erkannt hatte.

Die eine Stunde Fahrzeit füllten wir mit Gesprächen und summten zu unseren Lieblingssongs mit, weil wir beide keine guten Sängerinnen waren. Am Krankenhaus angekommen, liefen wir mit einer Reisetasche gefüllt mit Kleidung und Eddas Laptop zum Eingang.

»Alles in Ordnung?«, hakte ich bei Alma nach, als wir durch die Drehtür ins Foyer traten.

»Mir geht’s gut.«

»Sicher? Beim letzten Mal habe ich es zu spät mitbekommen, deshalb sag bitte früh genug …«

»Liv. Es ist wirklich alles okay.« Sie lächelte mich an. »Ich war nach der Sache mit Valentina noch mal hier, schon vergessen? Als das mit Fynn passiert ist.« Sie schluckte, und ihr Lächeln verrutschte bei der Erinnerung an den schrecklichen Unfall, der zum Glück gut ausgegangen war. Liams kleiner Neffe war letzten Herbst bei einem gemeinsamen Bootsausflug ins eiskalte Wasser gefallen und wäre beinahe ertrunken. Liam hatte ihn herausgezogen und war mit Alma hinter dem Rettungshubschrauber hergefahren, der Fynn ins Krankenhaus gebracht hatte.

Alma fasste mich am Arm und zog mich zur Anmeldung. Wir fragten den Mann am Empfang nach Eddas Zimmernummer, die er lustlos von seinem Bildschirm ablas, bevor er uns erklärte, wo wir hinmussten.

Als wir das sterile Krankenhauszimmer betraten, wirkte Edda in dem weiß bezogenen Bett blass, aber ihr Strahlen, das sie uns sofort schenkte, hatte nicht an Intensität verloren.

»Alma, Liv!«

»Hej Edda.« Almas Stimme zitterte, als ihr Blick auf die Infusion und den Apparat fiel, der irgendwas aufzeichnete. Seit wir das Krankenhaus betreten hatten, ließ ich meine Halbschwester nicht aus den Augen, aber es schien ihr gut zu gehen, was mich beruhigte.

»Schön, dass ihr hier seid.« Edda breitete die Arme aus und drückte uns an sich.

»Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.«

»Ich weiß, Alma. Aber ich bin hier in guten Händen.«

»Und, was haben die Ärzte gesagt?«, fiel ich gleich mit der Tür ins Haus, nachdem wir uns auf Stühle neben ihr Bett gesetzt hatten.

Edda seufzte. »Ich habe eine Herzschwäche und muss operiert werden.«

»Was?« Alma starrte Edda an. »Am Herzen?«

»Es ist ein Routineeingriff, deshalb müsst ihr euch keine Sorgen machen.«

»Eine Herz-OP klingt nicht nach einem kleinen Eingriff«, gab ich zu bedenken.

»Die Medizin ist heutzutage schon so weit, dass es keine große Sache mehr ist.«

Alma nickte, aber sie war deutlich blass um die Nasenspitze geworden. »Wann wirst du operiert?«

»So bald wie möglich. Aber es gibt noch keinen genauen Termin. Ich werde im Anschluss einige Tage hierbleiben müssen. Danach muss ich in eine Rehaklinik. Mehrere Wochen.«

»Mehrere Wochen«, wiederholte Alma. Die Sorge um Edda stand ihr ins Gesicht geschrieben, und auch wenn ich vom Besten ausging, fühlte auch ich mich in diesem Moment hilflos.

»Ich werde für viele Wochen nicht da sein. Nicht zu Hause in Nora und auch nicht in der Hebammenpraxis.« Edda suchte Almas Blick, der auf die weiße Bettdecke gerichtet war.

»Wir müssen darüber sprechen, wie es in dieser Zeit weitergehen soll, Alma. Ich weiß, es ist eine große Verantwortung, aber traust du dir zu, mich in dieser Zeit in der Praxis zu vertreten?«

Alma sah zu ihr und nickte sofort. »Natürlich, Edda. Du kannst dich auf mich verlassen.«

»Das weiß ich. Aber ich will nicht, dass du dich überarbeitest. Valentina und Astrid sind schon vorgewarnt, dass ich vielleicht eine Zeit lang ausfallen werde. Sie werden dich bei allem unterstützen, und ich kann mit meinem Laptop zumindest ein bisschen vom Bett aus arbeiten.«

»Du musst dich in erster Linie schonen«, erwiderte ich sanft. »Alma und die anderen bekommen das schon hin, da bin ich sicher. Und ich bin ja auch noch da. Ich kenne mich zwar nicht mit Schwangerschaft und Geburt aus, aber es wird schon genug Dinge geben, die ich übernehmen kann. Bad putzen zum Beispiel, oder Wäsche waschen. Darin bin ich wirklich gut.«

»Du musst nicht in Nora bleiben, Liv. Alleine schon, weil du jetzt hier bist, bist du Hilfe genug«, sagte Alma. Dabei lächelte sie mich auf eine Weise an, die mir das Gefühl gab, gebraucht zu werden.

Wir unterbrachen unser Gespräch, als eine Schwester mit dem Frühstück hereinkam. Edda hob den Deckel und verzog das Gesicht.

Alma und ich lachten.

»Kulinarisch wird es kein Highlight«, stellte ich beim Anblick der Scheibe Mischbrot und der abgepackten Marmelade fest.

»Wir werden dich bis dahin gut versorgen«, sagte Alma. »Am besten komme ich jeden Tag und bringe dir etwas Vernünftiges zu essen vorbei.«

»Auf gar keinen Fall«, protestierte Edda sofort. »Ihr braucht euch nicht um mich zu kümmern. Mir geht es gut. An das Essen gewöhne ich mich schon. Du bist jetzt mit der Praxis alleine, das ist Aufgabe genug.«

»Ich bin nicht alleine. Ich habe Astrid und Valentina.« Sie sah zu mir und lächelte. »Und Liv.«

Eddas Blick folgte ihrem. »Ich bin so froh, dass du hergekommen bist, Liv. Aber ich möchte nicht, dass du dich verantwortlich fühlst. Du hast deinen Job in Stockholm.«

»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Edda. Wenn es ein Problem wäre, säße ich jetzt nicht hier.« Ich schenkte ihr ein Lächeln. »Ich wäre sowieso bald hergekommen. Ich spreche mit meiner Chefin und erkläre ihr die Situation. Ich werde jetzt nicht einfach wieder fahren. Das könnt ihr beiden nicht von mir verlangen.«

Alma und Edda tauschten einen Blick. Sie wussten, dass ich mich nicht von etwas abbringen lassen würde, das ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Mein Entschluss stand fest. Ich würde bleiben, bis sich die Situation beruhigt hatte. »So erlebe ich Nora zum Frühlingsbeginn. Das ist neu.«

Eddas Augen begannen, im viel zu grellen Neonlicht zu leuchten. »Oh ja. Dieser Übergang von Winter zu Frühling ist magisch. Es kommt alles an den Tag, was unterm Schnee verborgen lag. Da passieren in Nora tatsächlich oft die zauberhaftesten Dinge.«

Ich lachte, denn ich nahm Eddas Theorie nicht wirklich ernst. Zwar liebte ich meine Tante, aber dieser ganze Quatsch, der sich um Kleinstädte rankte, konnte mir nur ein müdes Lächeln abgewinnen.

»Wer weiß, vielleicht verliebst du dich ja.« Alma zwinkerte mir zu. »Ganz unerwartet.«

Ich verzog das Gesicht. »In jemanden aus Nora? In wen denn?«

»Gustav ist noch Single.« Edda schmunzelte, und Alma prustete los.

Ich verstand nur Bahnhof. »Wer ist Gustav?«

»Ein alter Mann, der für den Gossip in Nora zuständig ist«, erklärte Alma. »Er weiß immer über alles und jeden Bescheid.«

»Klingt nicht ganz nach meinem Typ Mann.« Ich räusperte mich und reichte Edda ausweichend die Baumwolltasche, in der Wolle und Nadeln verstaut waren. Für mich stand fest, dass ich vorerst keinen Mann an meiner Seite wollte. Schon gar nicht in Nora. Nach Lars hatte ich mich aus einem Tief herausgekämpft – aus eigener Kraft. Ich brauchte keinen Mann in meinem Leben. Wenn ich allein blieb, konnte mir auch niemand wehtun und versuchen, mich zu brechen.

»Ah, danke. Jetzt habe ich endlich wieder was zu tun. Dieses Nichtstun macht mich ganz nervös.«

»Du bist erst ein paar Stunden hier, Edda. Daran wirst du dich vorerst gewöhnen müssen«, sagte ich.

Alma nickte zustimmend. »Du musst jetzt gut auf dich aufpassen. Das musst du uns versprechen.«

Edda lächelte sie an. »Wartet nur ab, ich bin schneller wieder auf den Beinen, als ihr denkt. Det som inte dödar, härdar.«

»Bis dahin ruhst du dich aber schön aus.« Alma zwinkerte ihr zu und holte eine Plastikdose aus ihrer Tasche. »Vielleicht helfen dir ein paar frisch gebackene Zimtschnecken dabei.«

3

Ich schreckte in meinem Bett hoch, als ein markerschütterndes Krachen das gesamte Haus zum Beben brachte. Ein Blitz erhellte für Sekunden den dunklen Raum, und der Regen peitschte gegen die Fensterscheibe meines Zimmers.

Schon auf der Rückfahrt vom Krankenhaus hatte der Wind zugenommen und wurde im Laufe des Tages so stark, dass Alma und ich am Ende doch die Gartenstühle in den Schuppen gestellt hatten.

Die Fensterläden klapperten, als würden sie jeden Augenblick davonfliegen. Ich stand auf, schlüpfte in eine Strickjacke und blickte nach draußen in die Nacht. Die hohen Fichten am Waldrand schwankten bedrohlich und bogen sich, als wären sie aus Gummi. Der Wind machte unheimliche jaulende Geräusche, über dem Dach grollte der Donner.

Als ich zwischen den Windböen und dem Klappern Stimmen auf dem Flur hörte, ging ich zur Tür und spähte hinaus.

»Alma? Liam? Was ist los?«

Liam kam mit einer Taschenlampe auf mich zu, dicht gefolgt von Alma, die wie ich in eine übergroße Strickjacke gehüllt war.

»Der Strom ist ausgefallen.« Liam strich sich über den Kopf. »Ich gehe in den Keller und überprüfe die Sicherung.«

Wieder donnerte es, und erneut ging mir das Geräusch durch Mark und Bein. Der Schein der Lampe reichte nicht aus, um Liams Miene genau lesen zu können, aber ich meinte, etwas Beunruhigtes darin erkannt zu haben. »Am besten geht ihr ins Wohnzimmer und wartet dort.«

»Ich muss sowieso nach den Katern sehen«, sagte Alma. »Ben und Jerry sind bestimmt total verängstigt. Die beiden sind keine Fans von Gewitter.«

»Das hier klingt auch eher nach Weltuntergang«, murmelte ich und folgte Alma und Liam nach unten. Die Holzdielen unter meinen Füßen waren so kalt, dass ich es bereute, keine dicken Socken übergezogen zu haben. Eddas Haus war schön, aber auch alt und kühlte nachts schnell aus. Die Temperaturen reichten noch lange nicht dafür aus, um das Gemäuer aufzuwärmen.

Im Wohnzimmer fanden wir die verängstigten Kater unter dem Sofa, dicht aneinandergekauert. Alma hockte sich mit der Taschenlampe auf den Boden und redete beruhigend auf sie ein, aber sie rührten sich keinen Millimeter.

»Ich werde nie wieder behaupten, dass die Wettervorhersagen übertrieben sind. Das ist Karma.«

Ich setzte mich auf einen Stuhl und blickte durch das Terrassenfenster nach draußen, wo das Unwetter tobte. Als es wieder blitzte und kurz darauf ein lauter Donnerschlag das Haus durchschüttelte, fuhren Alma und ich zeitgleich zusammen.

»Es klingt, als würde das Dach einstürzen.« Alma stand auf und holte aus einem Schrank in der Küche einige Kerzen und Streichhölzer.

Als wenig später Liam aus dem Keller zurückkehrte, war das Wohnzimmer in sanftes Kerzenlicht getaucht.

»Romantisch«, bemerkte Liam.

»Und?«, fragte Alma.

Liam zuckte mit den Achseln und setzte sich neben Alma. »Es liegt nicht an der Sicherung. Vielleicht ist ein Strommast durch den Sturm beschädigt worden.« Sein Blick ging nach oben zur Decke, als eine kräftige Windböe über das Haus fegte. Seine Miene wurde noch ernster. »Wir müssen abwarten, bis es hell geworden ist und der Sturm aufhört. Vorher können wir nichts machen.«

»Außer zu hoffen, dass das Haus morgen früh noch steht«, murmelte Alma und sprach damit das aus, was wir alle dachten.

Liam schürzte die Lippen und drückte kurz ihre Hand. »Es ist nicht der erste Sturm in Nora, den das Haus erlebt.«

»Eben deshalb.« Alma schluckte. »Das Haus ist alt, Liam. Und Edda hat, soweit ich weiß, bis auf ein paar kleine Renovierungen, noch nie etwas erneuert.«

»Es wird schon gut gehen.« Er klang nicht so überzeugt, wie ich gehofft hatte.

Alma und ich tauschten einen nervösen Blick, während Liam zum Kamin lief und einige Holzscheite darin aufstapelte. »Ich mache ein Feuer. Hier drin ist es eiskalt.«

In eine Decke gehüllt saßen wir auf dem Sofa und blickten in die Flammen. Irgendwann zog das Gewitter endlich weiter, und der Wind legte sich – vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein, weil meine Lider mit der Zeit immer schwerer wurden und ich nicht mehr richtig wahrnahm, was um mich herum passierte.

***

Eine Tür fiel ins Schloss und weckte mich. Ich fuhr hoch und blickte mich blinzelnd um, bis ich begriff, dass ich auf dem Sofa eingeschlafen sein musste. Ben saß auf dem Teppich vor dem Kamin und leckte sich die Pfote. Das Feuerholz war längst heruntergebrannt. Draußen vor den Fenstern war es hell. Erleichtert stellte ich fest, dass der Sturm sich gelegt hatte. Durch die dichte graue Wolkendecke blitzte sogar die Sonne hervor.

»Oh, du bist wach.« Alma kam aus dem Flur auf mich zugelaufen. Sie war angezogen und hielt eine Jacke im Arm.

»Ihr offensichtlich auch«, murmelte ich und strich über mein zerzaustes Haar. »Sag nicht, dass ich die Einzige bin, die eingeschlafen ist.«

»Dir sind die Augen zugefallen, als der Sturm nachgelassen hat«, erklärte sie. »Liam und ich wollten dich nicht wecken.« Ihr Lächeln wirkte verkrampft. Mir fiel auf, wie blass sie war.

Ich setzte mich auf und zog die Wolldecke um meinen Körper.

»Ist was passiert?«

»Wir waren draußen, um nachzusehen, was der Sturm angerichtet hat.«

»Ist es so schlimm?« Meine Stimme klang so belegt, dass ich mich räuspern musste.

Sie nickte und schloss mit einem Seufzen die Augen. »Sehr schlimm.«

Liam betrat die Küche, im Schlepptau einen Mann, der mir leider viel zu bekannt war. Cai. Ich versteifte mich, als sich unsere Blicke trafen und im Sekundentakt Momentaufnahmen von unserem Kuss aufflackerten. Seine Hand an meiner Wange, die andere an meiner Taille, als er mich enger an sich zog. Seine Lippen, die mit meinen verschmolzen …

Alma folgte meinem Blick. »Cai ist sofort gekommen, als Liam ihn wegen der Schäden angerufen hat.«

»Guten Morgen, Liv«, sagte Liam, ging zur Kaffeemaschine und befüllte Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit.

Cai musterte mich flüchtig, dann setzte er sich eine Basecap auf und starrte in die Kaffeetasse, die Liam ihm in die Hand drückte. Er trug Bluejeans und eine tannengrüne Funktionsjacke mit dem Logo seines Outdoorladens Älghorn, den er in Noras Stadtmitte führte. Dort arbeitete auch Liam, seit er zu seiner Schwester gezogen war.

Wow. Nicht mal ein »Guten Morgen« brachte dieser Kerl zustande. Andererseits hatte ich auch kein Wort herausgebracht. Ich sah zu Alma und Liam, die es nicht zu bemerken schienen, weil sie verständlicherweise gerade Wichtigeres im Kopf hatten.

Ich biss die Zähne zusammen und schob die Tatsache beiseite, dass ich noch meinen Pyjama und auf dem Kopf ein Vogelnest aus Haaren trug. Es sollte mir vollkommen egal sein, was Cai von mir dachte. Es sollte mir egal sein, was auf dem Herbstfest zwischen uns geschehen war, weil es keinerlei Bedeutung gehabt hatte. Und dennoch drangen die Erinnerungen an die wenigen Minuten unaufhaltsam an die Oberfläche.

»Moment, was meinst du mit Schäden?« Ich konzentrierte mich wieder auf Alma, die gedankenverloren auf ihrer Unterlippe herumkaute.

Als sie nicht antwortete, kam Liam ihr zu Hilfe. »Das Dach hat ganz schön was abbekommen. Wir können es bisher nur von außen einschätzen, aber der Sturm hat richtige Löcher reingerissen. Cai hat schon jemanden angerufen, der sich damit auskennt.«

Liam reichte nun auch Alma und mir eine Tasse Kaffee.

»Danke.« Ich zwang meinen Blick in die dampfende Flüssigkeit, nur um nicht ihn anzustarren.

»Eine Fichte ist in der Einfahrt umgefallen, haarscharf an der Praxis vorbei. Um die kümmern Cai und ich uns gleich.«

»Ich werde Valentina und Astrid Bescheid geben, dass sie direkt zu ihren Terminen fahren sollen, statt erst zur Praxis zu kommen. Meine werde ich wohl verschieben müssen.« Alma wirkte so erschöpft, dass ich mich fragte, wie sie die Kraft aufbringen wollte, zu arbeiten.

»Kann ich irgendwie helfen?«, erkundigte ich mich.

»Ich muss mich jetzt erst mal ans Telefon klemmen und die Familien anrufen. Könntest du dich um das Frühstück kümmern? Wir sollten alle etwas essen.«

»Ja, natürlich, das mache ich.«

Alma griff nach ihrem Handy und ihrem Terminkalender auf dem Tisch und verließ die Küche.

Liam seufzte und blickte aus dem Fenster. Auch der Garten sah wie ein Schlachtfeld aus. Unzählige Äste waren auf der Wiese verstreut, eine Regentonne hatte sich verselbständigt und lag in einem Beet.

»Ist wirklich so viel kaputt? Vielleicht haben wir Glück, und es sieht schlimmer aus, als es ist.«

Bei meinen Worten blickte Cai zu mir. Er zog die Brauen zusammen, als wäre ich ein naives Kind. Dabei dachte ich einfach nur positiv, was für Cai offenbar ein Fremdwort war – bei der Laune, die er immer hatte.

»Es sieht wirklich nicht gut aus«, antwortete Liam. »Ich bin kein Experte, aber wir müssen uns auf das Schlimmste einstellen.«

»Das Schlimmste? Und was wäre das?«

»Dass die Reparatur einen Haufen Geld kosten wird.«

Es waren Cais erste Worte, die er gesprochen hatte, seit er hier war, und ich konnte nichts gegen das seltsame Gefühl tun, das ich beim Klang seiner Stimme im Magen spürte.

»Alles okay?«, hallte seine Frage in meinem Kopf nach, als wir uns zwischen zwei Küssen in die Augen gesehen hatten – verwirrt darüber, was gerade geschehen war. Er hatte so anders geklungen, warm und sanft. Jetzt war er ganz der Alte, und ich war froh, dass ich rechtzeitig die Reißleine gezogen hatte und abgehauen war. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, ihn so schnell wiederzusehen. Schon gar nicht unter diesen Umständen.

Nachdem Cai und Liam ihren Kaffee getrunken hatten, verließen sie das Haus. Ich schob die Erinnerung an den Kuss zur Seite, ebenso wie die Angst vor der Einschätzung des Dachdeckers, und machte mich schnell fertig. Danach kümmerte ich mich um das Frühstück. Irgendwann stieß Alma wieder zu mir in die Küche und brachte den Männern die belegten Brote, die ich zubereitet hatte. Für ein Frühstück am Tisch war heute keine Zeit, worüber ich erleichtert war, denn die Vorstellung, mit Cai an einem Tisch zu sitzen, war alles andere als angenehm.

Während Cai und Liam die Fichte mit der Motorsäge zerlegten, schafften Alma und ich die Äste aus der Einfahrt. Im Garten stellten wir die Regentonne wieder auf und kochten danach eine schwedische Sommersuppe für den Mittag. Während ich versuchte, Eddas handgeschriebenes Rezept zu entziffern, legte Alma direkt los und schien auch ohne Anleitung genau zu wissen, welche Zutaten nötig waren. Ihr lag das Kochen im Blut, was ich von mir nicht behaupten konnte. Schlussendlich übernahm ich das Gemüseschneiden – damit konnte ich wenigstens nichts falsch machen. Wenig später kam der Dachdecker, der sich den Schaden ansah und leider keine guten Nachrichten überbrachte.

»Das ganze Dach muss erneuert werden?«, fragte Alma, nachdem der Mann sich verabschiedet hatte und in sein Auto gestiegen war.

Liam nickte und blickte Richtung Dachspitze. »Er meint, das hätte schon vor Jahren gemacht werden müssen und dass es ein Wunder sei, dass das Dach nach der Nacht überhaupt noch halbwegs intakt ist.«

»Das wird nicht billig«, murmelte Alma.

»Nein … Und ihm ist leider noch mehr aufgefallen.«

»Noch mehr?« Almas Stimme wurde von dem Motorengeräusch verschluckt, als der Dachdecker vom Grundstück fuhr.

Cai stand etwas abseits und musterte nachdenklich Eddas Haus. Ich hatte mitbekommen, dass auch im Elchpark einiges durch den Sturm verwüstet worden war. Dennoch war er hier, bei Liam und Alma. Das rechnete ich ihm hoch an, auch wenn ich nicht viel von dem muffeligen Typen hielt. Den du geküsst hast, flüsterte eine nervige Stimme mir zu.

»Der gesamte Dachstuhl ist marode. Außerdem hat er Risse in den Dachschindeln entdeckt, durch die über die Jahre Wasser ins Haus gelangt ist.«

»Und das heißt?«

»Er hat ein paar Flecken an den Wänden des Dachbodens gefunden. Das Mauerwerk ist zum Teil feucht.«

Eine Weile sagte niemand mehr etwas, weil alle wussten, was das bedeutete. In das alte Haus musste mehr Geld investiert werden, als befürchtet.

»Wie kann das sein?« Alma war den Tränen nahe, während sie den Kopf schüttelte.

»Wartungsmängel«, schaltete sich Cai in seiner gewohnten unsensiblen Art ein. »Das Dach wird oft vernachlässigt. Es liegt weit über dem Kopf. Ganz nach dem Motto: aus den Augen aus dem Sinn.« Kurz zuckte sein kühler Blick zu mir. »Haarrisse sind nichts Ungewöhnliches. Die hatte ich an meinem Haus auch. Wenn man regelmäßig danach sehen lässt, kann man vorbeugen und die Schindeln austauschen. Wenn man’s verpasst, wird es irgendwann teuer. Sehr teuer.«

Liam bedachte Cai mit einem strengen Blick, als Almas Unterlippe zu zittern begann.

»Das kostet doch sicher ein Vermögen«, sprach sie aus, was wir alle dachten. »Das … das können wir uns unmöglich leisten. Edda wird das nicht verkraften. Sie hat keine großen Ersparnisse, das weiß ich.«

Liam legte einen Arm um ihre Taille. »Der Dachdecker macht einen Kostenvoranschlag, und dann sehen wir weiter. Irgendwie bekommen wir das hin.«

4

350.000 Kronen. Das war die Summe, die seit dem Anruf des Dachdeckers wie ein blinkendes Schild im Raum stand und mir Magenschmerzen bereitete. Nicht mal das Brot mit Eddas selbstgemachter Marmelade, die ich so liebte, bekam ich runter, denn in meinem Magen schienen plötzlich Steine zu liegen.

Alma und Liam starrten in ihre Kaffeetassen. Liams Handy, über das wir die Hiobsbotschaft erhalten hatten, lag neben seinem unangetasteten Teller. Minutenlang sagte niemand etwas. Wir alle waren gerädert von den Ereignissen des gestrigen Tages und der Nachricht, wie schlecht es um Eddas Haus stand. Es war klar gewesen, dass die Reparaturen viel kosten würden, und doch hatte ich einen kleinen Funken Hoffnung gehabt, dass es eine Summe sein würde, die irgendwie zu stemmen war. Edda hatte sich nach der stürmischen Nacht bei uns erkundigt, ob mit uns und dem Haus alles okay war. Wir hatten sie angelogen, weil wir glaubten, dass dies in ihrem Zustand das Beste war.

»Welche Optionen haben wir?«, fragte Alma und hob den Blick.

Liam schürzte die Lippen. »Nicht viele. Wir könnten einen zweiten Kostenvoranschlag einholen. Vielleicht haben wir Glück, und der ist ein bisschen günstiger.«

»Selbst wenn. Dadurch können wir die Reparatur des Daches auch nicht bezahlen.« Alma schüttelte entmutigt den Kopf. »Ich muss mit Edda sprechen, sie muss die Entscheidung letztendlich treffen.«

»Alma, nein. Sie wird am Boden zerstört sein«, schaltete ich mich ein. »Edda muss gesund werden, das ist jetzt am wichtigsten. Wenn wir ihr von den Schäden erzählen, wird sie sich aufregen und alles regeln wollen. Das können wir ihr nicht zumuten.«

»Aber wir können auch nicht eigenverantwortlich über ihr Haus bestimmen. Wir müssen es ihr sagen.«

»Oder wir packen alle mit an und bekommen es anders hin«, schlug ich vor, beinahe verzweifelt, weil ich kein gutes Gefühl hatte, Edda mit den Problemen zu belasten. Ich wollte sie schützen, für sie da sein, so wie sie immer für mich da war. Edda war diejenige gewesen, bei der ich Zuflucht gefunden hatte – nach der Sache mit Andrik, meinem Vater, und nach meiner Flucht aus Stockholm vor zwei Jahren, der Flucht vor ihm.

Ich erschauderte, als mich die schlimme Erinnerung einholte. Niemand wusste davon, nicht mal Edda hatte ich von den Details erzählt. Aber sie war dennoch da gewesen, hatte mich, ohne nachzubohren, mit ihrer Fürsorge wieder aufgebaut und mir die Kraft für einen Neubeginn gegeben. Ich hatte ihr viel zu verdanken. Deshalb fühlte ich mich dazu verpflichtet, es zurückzugeben.

»Aber wie sollen wir das schaffen? Wir müssen alle arbeiten, und du musst zurück nach Stockholm«, gab Alma zu bedenken.

Entschlossen holte ich das Handy aus meiner Jeanstasche und suchte in meiner Kontaktliste nach einer Nummer.

»Ich bleibe hier. Ich spreche mit meiner Chefin und nehme für ein paar Wochen unbezahlten Urlaub. Dann kann ich euch helfen. Vielleicht finde ich hier einen Job für den Übergang. Das Geld stecken wir in die Reparaturen. Wir kratzen den Betrag irgendwie zusammen.«

»Liv, das geht doch nicht. Du …«

Ich hob die Hand und unterbrach sie. »Bitte, Alma. Ich möchte es so. Es ist mir wichtig.«

»Ich könnte mit dem Dachdecker sprechen und sehen, was Cai und ich in Eigenleistung tun können. Dadurch sparen wir auch noch mal was ein.« Liam nahm Almas Hand und lächelte zuversichtlich. »Liv hat recht, irgendwie bekommen wir das hin. Und wenn Edda zurückkommt, ist das alte Haus wie neu.«

Alma starrte uns an, lange und abwägend. Wir kannten uns erst kurze Zeit, aber zwischen uns bestand eine Verbindung, die ich schwer beschreiben konnte – eine Vertrautheit, die ohne Edda vielleicht niemals entstanden wäre. So wie ich wusste, dass Alma eine reine Seele besaß, verstand sie, dass ich zu sturköpfig war, um einen Entschluss rückgängig zu machen.

»Okay.« Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. »Wir bekommen das hin.«

Ich erwiderte ihr Lächeln und nickte entschlossen. Es würde eine Mammutaufgabe werden, aber irgendwie würden wir das schon schaffen.

***

Was ich bei meinem Plan nicht bedacht hatte, waren zwei Tatsachen. Erstens war Nora eine kleine verschlafene Stadt im Nirgendwo, in der nicht an jeder Ecke ein Nebenjob angeboten wurde, und zweitens – und das stellte mich tagtäglich auf eine emotionale Probe – begegnete ich Cai öfter, als mir lieb war. Weil er Liam bei der Reparatur unterstützte, tigerte er ständig im Haus herum. Ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen und ihn nicht weiter zu beachten, was mir schwerfiel, weil sich unsere Wege ständig kreuzten. So wie jetzt gerade. Ich war noch im Pyjama, in meinem Mund klemmte meine Zahnbürste. Ich hatte die Kaffeemaschine anstellen wollen, bevor Alma und Liam das Haus verließen und zu ihren Jobs aufbrachen – das einzige Sinnvolle, was ich zurzeit machen konnte, um eine Stütze zu sein. Solange ich noch keine Arbeit gefunden hatte, kümmerte ich mich um den Haushalt, die Einkäufe und versuchte, etwas halbwegs Nahrhaftes für uns alle zu kochen. Ich stand nicht gern am Herd, weil es mich langweilte, und um ehrlich zu sein, war ich auch nicht sonderlich talentiert. Zu meinem Glück besaß Edda viele Rezeptbücher, auch mit simplen Gerichten, die selbst ich so passabel hinbekam, dass sich bisher noch niemand beschwert hatte. In Stockholm war ich lieber mit meinen Mitbewohnerinnen essen gegangen, statt Zeit mit der Zubereitung zu verschwenden. Edda hatte mich in meinem Urlaub zwar immer wieder an die Hand genommen und versucht, mir das Backen und Kochen schmackhaft zu machen, aber der Funke war nicht übergesprungen. Ich war zu ungeduldig und meistens zu hungrig, um Zwiebeln hauchfein zu hacken. Für so etwas brauchte man Ruhe und Muße, zwei Dinge, die mich nicht unbedingt beschrieben.

Cai lehnte an der Küchenzeile, hinter ihm blubberte der Kaffee bereits in der Maschine. Der Duft füllte die gesamte Küche aus, vermischt mit einer Note, die viel zu deutlich herausstach. Es war Cais Duft, der mich an Zedernholz erinnerte und der sich seit unserem Kuss in mein Hirn eingebrannt hatte.

Am liebsten wäre ich gleich wieder abgehauen, aber ich wollte Cai nicht den Eindruck vermitteln, dass ich feige war. Nicht dass ich mit ihm hätte reden wollen. Das wollte ich auf gar keinen Fall. Aber wir waren beide erwachsene Menschen – da musste es möglich sein, sich neutral zu begegnen. Ich nahm die Zahnbürste aus dem Mund und zwang mich zu einem »Guten Morgen«.

Kurz glitt Cais Blick über mich, über mein zerknittertes Shirt und die kurze – sehr kurze – Pyjamahose. Sein Ausdruck blieb kühl, fast schon ablehnend.

»Und, wie kommt ihr voran?«, fragte ich und ignorierte die Tatsache, dass er meine Begrüßung nicht erwidert hatte.

»Gut.«

Mir war bewusst, dass ich damals nach dem Kuss theatralisch reagiert hatte und abgehauen war, ohne mich von ihm zu verabschieden. Auf der Fahrt nach Stockholm am nächsten Tag hatte ich an nichts anderes als diesen verdammten Fehltritt denken können. Aber ich war mir sicher gewesen, dass Cai es ebenso bereute wie ich. Er hasste mich genauso wie ich ihn. Das ließ er mich jetzt nur noch mehr spüren. Meine Frage war nur ein Versuch gewesen, die Situation zwischen uns zu entschärfen. Einfach nur, weil ich keine Lust auf negative Vibes hatte. Ich war hier, um zu helfen und nicht, um mich mit diesem Mann in die Haare zu kriegen.

Innerlich verdrehte ich die Augen, weil Cai offenbar eine andere Strategie fuhr - seine altbewehrte: ein unhöflicher Arsch zu sein.

Ich wollte mich gerade zum Gehen wenden, als er mich ansah. Seine dunklen Augen wirkten kühl und distanziert. Ich wusste, dass sie auch anders aussehen konnten. Wärmer.

»Ich bin hier, um Liam und Alma zu helfen.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Das weiß ich. Ich auch.«

»Und wir werden uns wohl oder übel über den Weg laufen.«

»Und?«

Cais Kiefer zuckte. »Das heißt nicht, dass wir uns unterhalten müssen. Wir müssen uns nicht zwingen, nett zueinander zu sein, Liv.«

Ich hielt seinem Blick stand und ließ mir nicht anmerken, dass seine harten Worte etwas mit mir machten. Cai war mir egal, und dennoch fuchste mich seine überhebliche Art.