Genbombe - Caitlin Shetterly - E-Book

Genbombe E-Book

Caitlin Shetterly

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Beschreibung

Nach jahrelangem Leidensweg mit diffusen Krankheitssymptomen erhält Caitlin Shetterly die Diagnose, allergisch auf genmanipulierten Mais zu sein. Auf diesen zu verzichten: kein Problem. Oder doch? Bei ihrer akribischen Recherche, die die Autorin auf der Spur der Lebensmittel aus den USA schnell auch nach Brüssel und Deutschland führt, zeigt sich die erschreckende Wahrheit darüber, wie weit unser Essen schon von genmanipulierten Substanzen unterwandert ist. Ein beunruhigender Blick auf den größten Lebensmittelkampf unserer Zeit, der gerade erst begonnen hat.

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Nach jahrelangem Leidensweg mit diffusen Krankheitssymptomen erhält Caitlin Shetterly die Diagnose, allergisch auf genmanipulierten Mais zu sein. Auf diesen zu verzichten: kein Problem. Oder doch? Bei ihrer akribischen Recherche, die die Autorin auf der Spur der Lebensmittel aus den USA schnell auch nach Europa und Deutschland führt, zeigt sich die erschreckende Wahrheit darüber, wie weit unser Essen schon von genmanipulierten Substanzen unterwandert ist. Ein beunruhigender Blick auf den größten Lebensmittelkampf unserer Zeit, der gerade erst begonnen hat.

CAITLIN SHETTERLEY

GENBOMBE

Wie sich genmanipulierte Lebensmittelunbemerkt in unser Essen schleichen

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anne Emmert und Fabienne Pfeiffer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem TitelModified. GMOs and the Threat to Our Food, Our Land, Our Futurebei G. P. Putnam’s Sons, New York. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2016 by Caitlin Shetterly All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with G. P. Putnam’s Sons, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC. © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Die Übersetzerin Anne Emmert dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e. V. für ein Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde. Redaktion: Maren Wetcke Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Meinem süßen Hasen und meinem zärtlichen Löwen,

Zwischen dem Schicksal der Erde und dem Schicksal der Menschen besteht keinerlei Unterschied.

Wendell Berry,

VORWORT

Als sich Professor Ignacio Chapela von der University of California, Berkeley, im September 2013 per E-Mail bei mir meldete, um den Kontakt zu Caitlin Shetterly herzustellen, hatte ich keine Vorstellung davon, dass sich daraus eine gemeinsame Reise nach Brüssel und später dann ein wesentlicher Teil dieses Buches ergeben würde.

Er schickte mir einen Link zu einem Artikel in der Zeitschrift Elle, welcher nach seinen Worten »die Bluthunde« der Gentechnikindustrie auf den Plan gerufen hatte. Ein zweiter Link in seiner E-Mail führte zu einer Stellungnahme der Zeitschrift zur heftigen Kritik am Inhalt des ursprünglichen Artikels.

Der Schlagabtausch kam mir sehr bekannt vor. Als Imker hatten wir ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Gut bezahlte Experten beteuerten die Sicherheit der Produkte der Gentechnikindustrie; die PR-Maschine der Konzerne lief auf Hochtouren. Kritischen Fragen versuchte man durch Diskreditierung der Fragesteller als ahnungslose Bedenkenträger zu begegnen. Wer nicht selbst in dieser Branche arbeitete und Organismen modifizierte, war kein qualifizierter Teilnehmer an der Diskussion um die Sicherheit der Produkte aus der schönen neuen Welt der Biotechnologie.

Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie man zum Gentechnikexperten werden kann. Der klassische Weg ist ein Universitätsstudium mit anschließender Karriere in diesem Fachgebiet. Man wird dafür bezahlt, an diesem Thema zu arbeiten. Das Geld dafür kommt in der Regel von der Industrie, welche mit neuen Produkten Geld verdienen möchte, oder einer öffentlichen Quelle, die hier ein Potenzial für Innovation und Arbeitsplätze sieht. Eine allzu intensive Beschäftigung mit den Risiken und Nebenwirkungen der neuen Methoden führt in der Regel nicht zu einer steilen Karriere, sondern sehr schnell ins berufliche Abseits.

Im Fall von Caitlin Shetterly haben wir es mit einer anderen Art von Expertentum zu tun. Ich würde sie vielleicht als unfreiwillige Autodidaktin bezeichnen. Irgendein besonderer Umstand zwingt einen Menschen dazu, sich wesentlich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen, als es der durchschnittliche Verbraucher (ein schreckliches Wort) bereit ist zu tun. Ohne eine entsprechende fachliche Ausbildung und ohne Bezahlung beginnt eine Suche nach Antworten, wobei sich nach jeder scheinbar plausiblen Erklärung wieder neue Fragen ergeben.

Caitlin wurde durch ihre persönlichen Erfahrungen mit der eigenen Gesundheit und der ihres Kindes auf diesen Weg gebracht, den sie eindrucksvoll und nachvollziehbar in ihrem Buch beschreibt. Unsere Wege kreuzten sich dann Jahre später, weil ich durch einen Zufall im Vorstand des Deutschen Berufs- und Erwerbsimkerbundes die Aufgabe zugeteilt bekommen hatte, herauszufinden, ob der geplante großflächige Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland ein Problem für die Gesundheit unserer Bienen und die Vermarktbarkeit unserer Bienenprodukte werden könnte.

Ähnlich wie bei Caitlin, begann auch meine Reise in die Welt der gentechnisch veränderten Organismen nicht als Aktivist, sondern ergebnisoffen mit dem Versuch, plausible Antworten auf Fragen zu bekommen, mit denen sich die bezahlten Experten bestenfalls mit dem Ziel beschäftigen durften, die Sorgen von branchenfremden Bedenkenträgern zu zerstreuen.

Die sehr persönlichen Erfahrungen, an welchen Caitlin in ihrem Buch den Leser teilhaben lässt, sind die Motivation und das verbindende Element ihrer akribischen Recherchen zu wichtigen Fragen, mit denen sich jeder Mensch beschäftigen sollte, der versucht, sich bewusst zu ernähren.

Wie akribisch und hartnäckig die journalistische Arbeit von Caitlin geleistet wird, durfte ich am eigenen Leib erfahren. In einer kritischen Phase meiner ehrenamtlichen Interessenvertretung der europäischen Imker, im Vorfeld einer entscheidenden Abstimmung im Europäischen Parlament, war sie einfach nicht abzuschütteln.

Heute bin ich natürlich froh darüber, denn sie hat mit ihrem Buch nicht nur ihren Weg zu wichtigen Erkenntnissen über gentechnisch veränderte Nahrungsmittel dargestellt, sondern nebenbei auch noch einen entscheidenden Abschnitt des Kampfes um die Rechte von uns Imkern und unseren Kunden in diesem Spannungsfeld dokumentiert.

So wie die persönlichen Erfahrungen von Caitlin exemplarisch für viele Menschen stehen, die mehr über den Zusammenhang zwischen der Herkunft ihrer Nahrungsmittel und ihrer eigenen Gesundheit erfahren wollen, ist der Honig ein besonders erhellendes Beispiel, wenn man verstehen will, wie Politik und Zulassungsbehörden mit dem Thema Gentechnik umgehen.

Durch die aufmerksamen Augen der Journalistin erhält der Leser einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen der Lobbyschlacht um die Gentechnik auf beiden Seiten des Atlantiks. Auf unterschiedliche Weise geraten Bürger in den USA und der EU in eine äußerst unbefriedigende Lage. Als Steuerzahler finanzieren wir eine Bürokratie, die eigentlich die Aufgabe hätte, unabhängig auch die Risiken und Nebenwirkungen der mächtigen Werkzeuge der Biotechnologie zu bewerten und glaubwürdige Antworten parat zu haben. Caitlin zeigt, was auch ich auf meinem Weg erfahren habe. Das Geld der Gentechnikindustrie macht die etablierten Strukturen auf dem Risikoauge blind. Würden die staatlichen Institutionen ihren Job machen, hätte Caitlin mehr Zeit für ihre anderen Themen und ihre Familie und ich mehr Zeit für meine Bienen gehabt.

Andererseits ermutigt das Buch zum zivilgesellschaftlichen Engagement und zeigt, wie man sich auch auf unkonventionellen Wegen und mit einer sehr individuellen Herangehensweise das notwendige Wissen erarbeiten kann, um im gesellschaftlichen Dialog über die Zukunft unserer Ernährung und Landwirtschaft ein Wörtchen mitreden zu können.

Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei Professor Ignacio Chapela bedanken, dass er den Kontakt zwischen mir und Caitlin hergestellt hat, und auch dafür, dass er als Experte im klassischen Sinne vorlebt, wie man sich in der Wissenschaft vor allem von seinen Erkenntnissen und weniger von seinen Karrierechancen leiten lassen kann.

Wenige engagierte Bürger oder Journalisten erhalten in ihrem Leben die Möglichkeit, sich so tief in ein Thema einzuarbeiten. Dieses Buch dokumentiert eine Ausnahmeleistung, und es macht zugleich deutlich, dass solche Leistungen nicht als dauerhafter Teil des Managements von Hochrisikotechnologien in unserer Gesellschaft vorausgesetzt werden dürfen. Es ist vielmehr unser aller Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unabhängige Wissenschaft möglich ist, und dass die Experten, auf deren Rat wir bei so wichtigen Fragen angewiesen sind, ihre Seele nicht bei der Drittmitteleinwerbung verkaufen müssen. Risikoforschung eignet sich ganz sicher nicht für das Modell »Public Private Partnership«.

Walter Haefeker, Präsident der Vereinigung der Europäischen Berufsimker (EPBA) März 2017

TEIL I

FLYOVER COUNTRY

»Der Mensch ist ein Teil der Natur, daher ist sein Krieg gegen die Natur zwangsläufig ein Krieg gegen sich selbst.«

Rachel Carson, Interview in der CBS-Sendung The SilentSpring of Rachel Carson, 1963

»In den Great Plains sind die Ausblicke wie Musik, wie Hymnen aus Gras …«

GretelEhrlich, The Solace of Open Spaces

KAPITEL 1

Der blaue Himmel von Nebraska spannte sich wie ein Gummiband über die Landschaft, erbarmungslos blies der Präriewind und unerbittlich brannte die Sonne. So weit das Auge reichte, sah man nichts als staubige braune Sojaäcker und goldene Maisfelder. Es gab keinerlei Bäume, sondern nur eine endlose Weite aus Soja und Mais und noch mehr Soja und Mais, die sich abwechselnd golden und braun dem blauen Himmel entgegenreckten. Traktoren glitzerten im Sonnenlicht wie weit entfernte Schiffe auf dem Meer und schnitten gleichmäßige Streifen in den sepiabraunen Ozean. Hinter ihnen ballten sich undurchdringlich dicke Staubwolken. Es war Erntezeit.

Einen Tag zuvor war ich am späten Nachmittag in Denver, Colorado, gelandet. Als ich aus dem Flughafengebäude auf den heißen trockenen Betonboden trat, den Griff des Rollkoffers in der rechten Hand, den schwarzen L. L. Bean-Rucksack über der linken Schulter, überkam mich plötzlich ein unbändiger Durst. Vor mir erhoben sich, scheinbar ganz nah, die Rocky Mountains mit ihren glitzernden schneebedeckten Gipfeln. Fast kam es mir vor, als könnte ich durch die tief stehende Sonne hindurch in den Schnee greifen und mir zur Abkühlung eine Handvoll in den Mund stecken. Hinter den Parkplätzen mit den Mietwagen, die ich nun ansteuerte, erstreckten sich flach wie Papier die Great Plains vom Osten Colorados bis nach Nebraska. Dort wollte ich hin.

Ich war nach Denver geflogen, um einen Anfang zu machen. Einen Anfang, die Geschichte zu erzählen, in die ich zufällig hineingeraten war, weil wie so oft die Grenzen zwischen Leben und Kunst verschwammen. Zwei Monate zuvor hatte ich für die Zeitschrift Elle einen Artikel über meine hartnäckige und langwierige Krankheit verfasst, unter der ich fast vier Jahre gelitten hatte, bis ich den Allergologen und Immunologen Dr. Paris Mansmann aufsuchte. Er lebt in der Kleinstadt Yarmouth in Maine, unweit meiner Heimatstadt Portland, der größten Stadt unseres Bundesstaates und zugleich dessen kulturelles Zentrum. Mansmann vermutete, dass ich eine Überempfindlichkeit gegen Proteine entwickelt hatte, die durch das Einbringen fremder DNA-Sequenzen in Mais entstehen; diese Genveränderungen des sogenannten GV-Mais (gentechnisch veränderter Mais) sollen die Pflanze resistent gegen Herbizide machen und ihr ein eigenes Pestizid mit auf den Weg geben. Und dagegen, so Mansmann, laufe mein Immunsystem Amok.

Obwohl mir die Theorie unorthodox, wenn nicht gar etwas verrückt erschien – und wie ich später erfuhr, ist sie auch höchst umstritten –, wollte ich der Sache nachgehen. Meine Verzweiflung war einfach zu groß. Die Krankheit hatte bereits das erste Jahr meiner Ehe und die ersten beiden Lebensjahre meines Sohnes Marsden überschattet. Und mit »krank« meine ich nicht »ein bisschen unpässlich« oder »nicht ganz gesund«: Oft kam ich gar nicht aus dem Bett heraus, da arthritische Schmerzen in meinen gesamten Körper ausstrahlten, und meine Oberschenkel und Fußgelenke dermaßen schwächten, dass ich durch die Gegend humpelte wie eine 90-Jährige (es fühle sich an, wie ich meinem Mann Dan erklärte, als habe Kathy Bates aus dem Film Misery meine Füße in die Mangel genommen). Ich war erschöpft, doch gleichzeitig kam es mir vor, als stünde mein Körper unter Strom, sodass an Entspannung und Schlaf nicht zu denken war. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, einen Dauerschnupfen, Kribbeln und Taubheit in Füßen, Beinen und Armen und einen Ausschlag im Gesicht, der aussah wie Ketchupspritzer. Im Lauf der Zeit hatte ich mich auf jede Therapie – und jede Theorie – gestürzt, derer ich habhaft werden konnte: Hormonbehandlungen, Vitaminspritzen, Jodtabletten, Ausschlussdiäten und die lange und kräftezehrende Einnahme hochdosierter Antibiotika gegen eine chronische Lyme-Borreliose. Doch das alles schien mich eher noch kränker als gesünder zu machen. Ich kam mir vor wie Christina in dem berühmten Bild von Andrew Wyeth: Die Welt blieb immer knapp außerhalb meiner Reichweite, das Leben zog an mir vorüber. Wir zahlten Tausende von Dollar, die wir eigentlich nicht hatten, an alle, die bereit waren, mir einen Termin zu geben – vom Harvard-Mediziner bis hin zum Schamanen. Und natürlich hofften wir, einer von ihnen würde den Schlüssel zu dem Rätsel finden und mich heilen.

Aber nicht nur die Verzweiflung veranlasste mich dazu, Mansmanns Theorie ernst zu nehmen. Im Jahr 2010, lange bevor ich mich überhaupt mit gentechnisch veränderten Organismen (GVO) beschäftigt oder auch nur den Schimmer einer Ahnung hatte, was mir fehlte, begann mein damals einjähriger Sohn Marsden, abends beim Schlafengehen so stark zu schreien, bis der Atem aussetzte und er blau anlief. Beim ersten Mal packten mein Mann Dan und ich Marsy hastig ins Auto und brachten ihn in die Notaufnahme, wo ein EKG gemacht wurde. »Das ist ein Verhaltensproblem, der sogenannte respiratorische Affektkrampf«, lautete die Diagnose. Wir sahen die Ärztin verständnislos an. »Das ist so etwas wie ein Wutanfall«, fuhr sie fort. »Kinder machen das manchmal, um ihren Kopf durchzusetzen. Sie müssen als Eltern entschiedener auftreten – wenn Bettzeit ist, dann ist wirklich Bettzeit.« Eine Krankenschwester ergänzte: »Ich kannte mal ein Kind, das bekam solche Anfälle, bis es fünf war! In der Familie hieß es nur noch: ›Ach, geht das schon wieder los …‹« Die Notärztin schlug vor, wir sollten Marsden ablenken, damit er »vergaß«, die Luft anzuhalten. Drei Tage lang befolgte ich ihren Rat. Während Marsy in meinen Armen wie verrückt kreischend erst blau und dann weiß im Gesicht wurde, sang ich »If you’re happy and you know it, clap your hands«. Ich hatte das bizarre Gefühl, in einem schlechten Film gelandet zu sein.

Eine Mutter, die um ihr Kind bangt, altert mit einem Schlag um 150 Jahre. Vermutlich war es mein Mutterinstinkt, der mir nach drei Abenden Luftanhalten sagte, dass wir es hier nicht nur mit einem »Verhaltensproblem« unseres Sohnes zu tun hatten, sondern dass mehr dahintersteckte. Als Marsden zur Welt gekommen war, hatte er Ruhe und Gelassenheit ausgestrahlt. Der Gesichtsausdruck, mit dem er Dan und mich begrüßte, schien zu sagen: »Was soll die Aufregung, Leute?« Er schrie nur selten und betrachtete fasziniert unsere große komplizierte Welt. Als er zwei Monate alt war, zogen wir wegen der Wirtschaftskrise von Los Angeles zu meiner Mutter nach Maine, kutschierten ihn also einmal quer durchs ganze Land. Die lange Fahrt über war er die Ruhe selbst. Bis zu den Schreiattacken hatte er gut geschlafen und war ein glückliches und friedfertiges Baby gewesen.

Gott sei Dank glaubte auch unsere Kinderärztin nicht, dass die Symptome von einer Verhaltensstörung oder Charakterschwäche Marsys herrührten, die es zu beseitigen galt. Manchmal, erklärte sie, könnten respiratorische Affektkrämpfe, also solche »Anfälle«, eine Folge von Eisenmangel sein oder auch von Angst, Traumatisierung oder Schmerzen, die ein Kleinkind nicht mitteilen kann.1 Sie wollte auch noch einmal seine dauernden Hautausschläge in den Blick nehmen, die er schon als kleines Baby gehabt hatte. Seit er feste Nahrung zu sich nahm, hatten diese Ekzeme um sich gegriffen wie ein kalifornischer Waldbrand. Aus kleinen wunden Stellen in den Kniekehlen und Armbeugen waren großflächige Rötungen an den Beinen und am Rumpf geworden, die sich bis zu den Wangen ausbreiteten. Abends rieb ich Marsy mit Pflanzenölen ein und schmierte Zinkoxid auf die wunden Stellen, obwohl es nicht half. Nun schlug unsere Kinderärztin eine Ausschlussdiät vor, denn sie sagte, Nahrungsmittelallergien könnten sich auch auf das Verhalten auswirken.

In den folgenden Monaten, den Winter über bis in den Frühling hinein, setzten wir unseren Sohn auf eine strenge Diät, die gleichzeitig auf Weizen, Eier, Milch, Mais, Soja, Nachtschattengewächse, Meeresfrüchte, Erdnüsse und andere Nüsse verzichtete. Soweit ich mich erinnere, aßen wir in dieser Zeit jede Menge Truthahnfleisch, braunen Reis und Brokkolie. Interessant ist, dass die meisten Ausschlussdiäten damals Mais und auch Nachtschattengewächse nicht berücksichtigten (obwohl der Kinderarzt-Guru Dr. William Sears empfielt, sie mit aufzunehmen). Doch da unsere Kinderärztin sie als mögliche – wenngleich wie im Fall der Nachtschattengewächse eher unwahrscheinliche – Übeltäter betrachtete, ließen wir um der Sorgfalt willen auch sie weg. Schon nach wenigen Tagen hörten die erstickungsähnlichen Anfälle auf, und der Ausschlag verblasste.

Als es Marsy deutlich besser ging, führten wir die Nahrungsmittel eins nach dem anderen wieder ein. Als Erstes war der Mais an der Reihe, das amerikanischste und gesündeste aller Nahrungsmittel. Ich hielt es für absolut sicher und konnte mir nicht vorstellen, dass jemand keinen Mais verträgt. Ich liebte Mais über alles. Mir gefiel schon allein das Aussehen dieser für die USA typischen Pflanze, die mit ihren großen grünen Blättern so unschuldig auf vielen Äckern wächst. Und ich aß ihn auch unglaublich gern: Maischips, Tortillas, Popcorn, Nachos, Sahnemais, cremige Polenta, kurz vor dem Anrichten mit Parmesan und Butter verfeinert, dazu überbackenen Grünkohl (das war das erste Gericht, das ich je für Dan gekocht hatte). Pürierten Zuckermais hatte ich auch sehr häufig den selbst gekochten Breichen für Marsden beigemischt, als zusätzliche Ballaststoffquelle, süß und gesund. Weil ich als selbsterklärte Feinschmeckerin gern koche und esse, kannte ich in punkto Lebensmittel keine Tabus. Für mich zählten Konsistenz, Geschmack, Farbe und Gehalt. Und Mais oder Maisprodukte waren ein selbstverständlicher Bestandteil meines Speiseplans.2

In meiner Kindheit gab mein Vater, der für sein Leben gern Fritos Maischips isst, Ende August, wenn die Maiskolben auf den Äckern reif waren, gern eine Familienanekdote zum Besten. Er erzählte uns die Geschichte eines Küchengeräts, das mein Urgroßvater Orton Galloway erfunden hatte. Man konnte damit die frischen saftigen Körner für den Sahnemais vom Kolben schaben. Das Gerät sah aus wie eine Miniatur-Holzbank mit Nägeln in der Mitte, hinter denen sich eine kleine Öffnung für die Körner befand. Als mein Urgroßvater Orton zum US-Patentamt fuhr, um seine Erfindung anzumelden, so die Familienanekdote, betrat er dort einen Raum voll mit Leuten, die Variationen eben dieses Maisschabegeräts patentieren lassen wollten. Orton warf einen Blick auf seine Konkurrenz und kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, auf ein Patent für seine Erfindung zu hoffen. Enttäuscht verließ er das Amt und fuhr zurück nach Wyoming, Ohio. Doch als ich noch klein war, verwendete mein Dad die Erfindung seines Großvaters treulich jeden Sommer, garte die frischen Körner im Wasserbad, damit sie nicht anbrannten, und gab Butter, Salz und Pfeffer dazu. Manchmal aßen wir den Sahnemais wie Porridge zum Frühstück, manchmal auch zu Fisch oder Hamburgern.

Doch vor einigen Jahren ereilte diese Geräte das Schicksal der Dinosaurier, und sie verschwanden gänzlich. Eines Sommers war mein Dad auf Geschäftsreise in Kentucky unterwegs und kam an einem Sonntagmorgen an einem Trödelladen vorbei. Im Schaufenster sah er einen Maisschaber, der genau so aussah wie der, den mein Urgroßvater erfunden hatte. Das Gerät stand auf einem kleinen Kartonschild, auf das jemand mit schwarzem Filzstift geschrieben hatte: »Was ist das?« Als mein Vater am nächsten Tag nach Maine zurückgekehrt war, rief er in dem Laden an und klärte den Inhaber auf. Dann erwarb er den Schaber und ließ ihn als Geschenk an meinen Bruder schicken.

Unsere Kinderärztin hatte uns gebeten, unserem kleinen Patienten jedes Nahrungsmittel, das wir zuvor weggelassen hatten, drei Tage lang reichlich zu geben, damit es in den Stoffwechselkreislauf gelangte. Und siehe da: In der Testperiode für Mais sprossen erst einzelne rote Flecken, und schon bald wütete der Ausschlag rot und schmerzhaft auf Gliedmaßen und Wangen. Die Nase lief, bis Marsy seinen eigenen Nasenschleim verschluckte und wieder aushustete. Unser Sohn war launischer, schlief unruhig, hatte Durchfall und atmete nachts rasselnd. Wieder schrie er sich beim Zubettgehen in Rage. Marsy war erst 15 Monate alt und konnte uns daher nicht viel mitteilen – dass ihm Bauch und Kopf wehtaten oder es überall juckte. Aber Dan und ich sahen ja mit eigenen Augen, dass es ihm schlecht ging.

Unter Anleitung unserer Kinderärztin eliminierten wir den Mais wieder aus Marsdens Nahrung – oder zumindest dachten wir das. Bald merkten wir, dass die Arzneimittelbehörde FDA die Kennzeichnung von Mais als Allergen auf Lebensmittelverpackungen nicht vorschreibt. Und 80 Prozent aller abgepackten Lebensmittel enthalten Inhaltsstoffe, die aus GV-Mais oder – Soja hergestellt sind. Tatsächlich sind in amerikanischen »Bio«-Lebensmitteln mehr als 250 nicht biologisch erzeugte Stoffe erlaubt, häufig Chemikalien, die aus industriellem, also gentechnisch verändertem Mais gewonnen werden. GVO müssen in den Vereinigten Staaten bislang nicht gekennzeichnet werden (und in Washington kämpfen die Lobbyisten der Chemiekonzerne dafür, dass den Bundesstaaten eine eigene Kennzeichnung und Regulierung untersagt wird).3

Weil die Proteste gegen GVO und die industrielle Nahrungsmittelerzeugung lauter werden, kennzeichnen ungeachtet dieser politischen Entscheidung immer mehr Hersteller den Genmais oder verzichten gleich ganz auf GVO. Als ich mir neulich einmal die Kennzeichnung von Biokartoffelchips mit Salz und Pfeffer ansah, kippte ich fast aus den Latschen. Unter der Liste der Inhaltsstoffe, die auch »Dextrose« und »Maltodextrin« enthielt, stand in Großbuchstaben: »Auf Maisbasis.« Das war neu.4

Mit wachsender Hilflosigkeit mussten Dan und ich feststellen, dass Mais überall enthalten ist. Wie der Hase im Wettlauf gegen den Igel war er immer schon da, wo wir ihn am wenigsten vermutet hatten: im Backpulver, im Käse, in Vitaminpräparaten und Medikamenten, in Teebeuteln, Saft, Geschirrspülmittel, in Kondomen, der Beschichtung von Pappbechern und der Wachsummantelung von Obst aus dem Supermarkt. So gut wie alles, was meine Familie verwendete, und wenn es noch so natürlich und biologisch war, ließ sich zu irgendeinem Maisfeld in Iowa zurückverfolgen. Die Stoffe tarnten sich mit allen möglichen Namen, sei es »Xanthangummi«5, »pflanzliche Stärke«, »modifizierte Speisestärke«, »Zitronensäure«, »natürliche Aromen« oder »Vitamin C«. Fast täglich machten wir eine neue Entdeckung. »In der Zahnpasta ist Mais!« Am nächsten Tag: »Warte mal, das Geschirrspülmittel ist auch aus Mais gemacht!« Eine Woche später: »Oh Gott, Jodsalz enthält Dextrose!« Und: »Das Ibuprofen für Kinder ist voll mit Mais!« Sogar Babynahrung, die als »100 Prozent biologisch« und »GVO-frei« ausgezeichnet ist, kann als Konservierungsstoffe Zitronen- und Ascorbinsäure aus GV-Mais enthalten. Eines Abends war ich mit den Nerven am Ende. »So geht das einfach nicht weiter«, sagte ich zu Dan. Obwohl es im Rückblick verrückt, wenn nicht sogar unverantwortlich klingt, kamen wir überein, unsere Niederlage hinzunehmen. Wir waren erschöpft und ratlos, wir hielten es einfach nicht mehr aus. Wenn unsere drei wichtigsten Aufgaben waren, unserem Sohn Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu geben, so scheiterten wir schon an der ersten. Wir nahmen uns vor, dafür zu sorgen, dass unser Sohn »so gesund wie möglich« wurde. Mais war einfach ein zu starker Gegner, als dass wir ihn vollständig hätten eliminieren können.

In dieser verwirrenden Zeit, in der wir die erdrückende Mais-Flut in unserem Leben aufzuhalten versuchten, verstärkte sich der Stress noch dadurch, dass meine nicht näher bestimmte Krankheit weiter fortschritt. Einige der Symptome glichen denen meines Sohnes: die Hautausschläge im Gesicht, der unablässige Schnupfen, das Reizdarmsyndrom (RDS). Aber am meisten litt ich unter den Schmerzen am ganzen Körper, die immer schlimmer wurden. Besonders deprimierte mich, dass sie auch in die Hände gewandert waren. Mit meinen steifen schmerzenden Fingern konnte ich nicht einmal mehr Marsys Hemdchen zuknöpfen, ihm Pflaster auf die entzündeten Hautstellen kleben, Gläser mit Babynahrung öffnen oder Petersilie hacken, die ich für so gut wie jedes meiner Gerichte brauche. Mir taten die Hände weh, wenn ich mit unserem großen Rottweiler-Schäferhund-Mischling Hopper spazieren gehen wollte, und die steifen Finger beförderten auch nicht gerade meine Laufbahn als Autorin. Monatelang hatte ich die Symptome zu ignorieren versucht – hatte Schmerzmittel genommen, Vitamine geschluckt (immer gleich eine ganze Handvoll Präparate, die alle versprachen, einen bärenstark zu machen), hatte mich möglichst gesund ernährt, Kaffee getrunken, um mich ein bisschen aufzuputschen – und mich auf mein Kind konzentriert. Was mit mir körperlich los war, wollte ich gar nicht so genau wissen.

Wie schlecht es mir ging, erzählte ich so gut wie niemandem, nicht einmal Freunden und der weiteren Verwandtschaft, denn ich konnte ja nicht erklären, was mir eigentlich fehlte: Ich hatte keine Diagnose, sondern nur ein Sammelsurium an Symptomen. »Das ist der Stress«, sagte Dan abends zu mir.

»Das ist der Stress«, erklärte ich meiner Mutter.

Rückblickend würde ich sagen, Dan und ich waren die meiste Zeit damit beschäftigt, dem Rest der Welt weiszumachen, dass »bei uns alles in bester Ordnung ist«. Dabei kreisten wir, wenn wir alleine waren, stundenlang nur um meine Gesundheit und die Suche nach den Ursachen. Ansonsten beteten wir einfach, dass die Krankheit doch bitte weggehen möge.

Dann, an einem warmen Sommerabend im August 2010, nach einem besonders harten Tag, an dem ich das Bett kaum hatte verlassen können, blickten Dan und ich uns in die Augen und sagten: »Da stimmt wirklich etwas nicht. Nichts hilft. So können wir nicht weitermachen.« Ich erinnere mich so genau an den Moment, weil er den Wendepunkt markierte: Wir fürchteten nun das Schlimmste. Die Krankheit hatte uns und unseren Alltag unerbittlich im Griff. Sie mochte nicht lebensbedrohlich sein, doch sie ruinierte unser Leben gründlich. In dem Moment, in dem wir uns unsere Angst eingestanden, schien es, als hätten wir schon kapituliert. Ich weiß noch, dass an jenem Abend die Knie unter mir nachgaben. Ich stand in unserer kleinen Speisekammer, Dan in der Küche, und als ich in mich zusammensackte, war ich todunglücklich und die Tränen schossen mir in die Augen. Es war wie in diesen alten Schwarz-Weiß-Filmen, in denen die Heldin ohnmächtig wird und mit Riechsalz wiederbelebt werden muss. (Mein zweiter Name ist Scarlett.)

Ein paar Wochen später ließ ich mich im Mass General Hospital in Boston durchchecken. In einer Unmenge neuer Tests wurde ich auf jede mögliche und unmögliche Allergie oder Erkrankung untersucht. Mit jeder Untersuchung wappneten Dan und ich uns für eine schreckliche Diagnose. Doch meine Symptome verwirrten, ja irritierten die Spezialisten. Jeder Arzt, der mich untersuchte, sah mich ratlos an und überwies mich an den nächsten Facharzt. In den folgenden Monaten wurde eine Vermutung nach der anderen angestellt und verworfen: Es wurden Hirnscans und neurologische Untersuchungen durchgeführt, ich nahm einen Berg Medikamente ein, die auf alle möglichen Erkrankungen abzielten; eine war Fibromyalgie, eine »schwammige Krankheit«, wie mein Hausarzt mir schon vorher erklärt hatte, von der niemand genau wisse, was das sei oder wie man es behandeln könne. Nichts half mir. Es wurde nur immer schlimmer.

Im Februar 2011 machte ich mich dann auf den Weg zu Dr. Mansmanns Praxis. Sie liegt am Ufer des Royal River, eines breiten Flusses, der in New Gloucester entspringt, sich gen Süden schlängelt und nach Yarmouth in die Casco Bay mündet. Das Wasser war weiß gefroren, und die kahlen Bäume säumten wie silberne Wachtürme die Ufer. Dr. Mansmann trägt einen Helm aus dickem ergrautem Haar und strahlt eine große Ernsthaftigkeit aus. Er spricht leise mit einem bedächtigen, fast schon monotonen Tonfall. An jenem Februartag führte er mich, nachdem seine Frau Leslie die Anmeldung erledigt hatte, durch das Wartezimmer, dessen Wände hinter Aktenschränken und hohen Stapeln medizinischer Fachzeitschriften und dicker Bücher mit Titeln wie Immunology, Rhinitis und Stedman’s Medical Dictionary verschwanden. Wir durchquerten ein kleines Labor, in dem Mikroskope, Messbecher und alle möglichen Flaschen standen. Dr. Mansmann lotste mich in ein kleines Untersuchungszimmer, das mit einem Metalltisch, einem Schreibtisch aus Holz und ein paar Stühlen ausgestattet war.

Mansmann ist Allergologe in dritter Generation. Schon als Schüler jobbte er in der Allergieklinik seines Vaters am Jefferson Medical College in Philadelphia. In aller Bescheidenheit erzählte er mir, er habe in seiner Collegezeit an der St. Joseph’s University in Philadelphia seinem Vater bei der Entwicklung »einiger« Asthma-Medikamente geholfen. (Der Wirkstoff Theophyllin wurde jahrelang in der Asthmatherapie eingesetzt.) Nach dem Grundstudium spezialisierte sich Mansmann auf drei Fachgebiete: Allgemeinmedizin, Kinderheilkunde und schließlich Allergologie und Immunologie. Seinen Abschluss absolvierte er mit einem Stipendium des National Institutes of Health an der Duke University in North Carolina. Anschließend ging er an die West Virginia University in Morgantown, wo er eine Abteilung für Allergologie und Immunologie leitete und in Zusammenarbeit mit dem National Institute for Occupational Safety and Health (Staatliches Institut für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz) arbeitsplatzbezogene Atemwegserkrankungen untersuchte. Im Jahr 2000 zogen er und seine Familie nach Yarmouth in Maine, damit sie näher bei seinen Eltern waren, die mittlerweile am Rangeley Lake wohnten und gern ein Familienmitglied in ihrer Nähe haben wollten.

Mansmann und ich setzten uns. Als Erstes schob er den dicken Stapel meiner medizinischen Unterlagen beiseite und legte sich ein leeres Blatt Papier zurecht. Er habe alles gelesen, erklärte er mir, wolle jedoch aus meinem Mund hören, wie es sich von Anfang an entwickelt habe. »Sie haben jeden Test gemacht, der mir einfallen würde«, erklärte er mir. »Deshalb habe ich zunächst einmal nur Fragen an Sie.« Die Fragen, die nun folgten, hatte mir mit dieser Routine und Systematik noch niemand stellt: Wann verstärkte sich der Ausschlag? War der Schmerz ein Muskelschmerz, oder ging er tiefer? Fühlten sich meine Hände gespannt und steif an, oder schmerzten eher die Gelenke? War es morgens nach dem Aufwachen oder am Abend schlimmer? Gab es gute und schlechte Phasen? Hatte ich permanent diese Erkältung? Litt ich jemals unter Atembeschwerden? Dr. Mansmann schien alle Zeit der Welt zu haben. Ich entspannte mich ein wenig, weil ich zum ersten Mal nach vier Jahren das Gefühl hatte, dass mir jemand wirklich zuhörte, jemand, der zumindest dem Eindruck nach meine Symptome einer sinnstiftenden Liste zuordnen konnte.

Ich erzählte ihm von meiner Verzweiflung, weil ich mich nicht ausreichend um mein Kind kümmern konnte, und dass das alles schon viel zu lang dauerte. Und dann, in einem schwachen Moment, vertraute ich ihm an, dass ich Angst hatte. Er nickte und erklärte mir ohne viel Pathos, dass Autoimmunkrankheiten oft erst nach acht Jahren diagnostiziert werden. »Allerdings halte ich es für möglich«, sagte er fast schon beiläufig, »dass Sie eine Allergie gegen gentechnisch veränderten Mais entwickelt haben.«

Ich sah ihn zweifelnd an. »Wie bitte?«

Ob es auch Erschöpfung sein könne?, fragte ich. Immerhin hätte ich gerade erst ein Buch fertiggestellt … vor fast einem Jahr, aber trotzdem. Hatte George Orwell nicht geschrieben: »Ein Buch zu schreiben ist ein furchtbarer, erschöpfender Kampf, ähnlich einer langen schmerzhaften Krankheit«? Konnte es nicht Stress sein? Seine Diagnose erschien mir einfach zu abwegig.

Er schüttelte den Kopf. In den Jahren seit Einführung der ersten GVO sei er zu dem Schluss gekommen, dass Menschen eine Art chronische Allergie entwickeln können, die nicht vom Mais selbst ausgelöst würde. Schuld seien vielmehr einerseits die Proteine, die von den für die Schädlingsresistenz in den Mais hineingezüchteten Enterotoxinen gebildet werden, andererseits die Proteine, die den Mais »Roundup Ready« machen (also unempfindlich gegen das Herbizid Glyphosat, das von Monsanto unter dem Markennamen Roundup vermarktet wird). Diese geringfügigen genetischen Veränderungen in der DNA des Maises können laut Mansmann eine Überreaktion des Immunsystems auslösen, also gewissermaßen einen Hahn öffnen. Der Körper werde bei dieser spezifischen Reaktion dazu veranlasst, eine Lawine von Eosinophilen freizusetzen, eine Art weißer Blutkörperchen, die aus dem Blutkreislauf in die Schleimhäute, in die Muskeln, ins Faszien- und ins Verdauungssystem gelangen. Mit fortschreitender Erkrankung glichen die Reaktionen immer stärker einer Autoimmunkrankheit oder der sogenannten chronischen »Serumkrankheit«.6 Eine chronische Serumkrankheit ist eine Überreaktion des Immunsystems, häufig auf Medikamente. Für die Diagnose werden folgende Symptome herangezogen: »Ausschlag, Arthritis, Gelenkschmerz und andere systemische Symptome«. Mansmann zufolge können die DNA-Modifikationen im gentechnisch veränderten Mais genau wie ein Medikament die Serumkrankheit auslösen. Seiner Ansicht nach war mein Körper mittlerweile »in permanenter Alarmbereitschaft« und reagierte unablässig, scheinbar allergisch – also überempfindlich – gegen so gut wie alles, was ich aß oder mit dem ich in Kontakt kam.

Um seine Theorie zu überprüfen, nahm er eine Schleimprobe aus meiner Nase. Wenn die Augen das Fenster zur Seele sind, so ist die Nase für Dr. Mansmann das Fenster zum Immunsystem.7 Er gab den Schleim auf einen gläsernen Objektträger und färbte ihn blau ein; mit dieser sogenannten Hansel-Färbung können Eosinophile nachgewiesen werden. Als er die Farbe abspülte, blieb eine rosa Schmiere zurück. Er schob den Objektträger unter das Mikroskop, trat einen Schritt zurück und sagte: »Sehen Sie sich das an.« Auf dem Glasplättchen befanden sich Hunderte von rosa Kreisen, bei denen es sich, wie er mir erklärte, um Eosinophile handelte. Meine Nase war voll damit. Wenn das Immunsystem richtig funktioniere, so Mansmann, schwärmten die Eosinophile zu Parasiten, Viren und anderen Eindringlingen aus, um sie zu zerstören. Manchmal veranlasse aber auch ein allergenes Protein das Immunsystem zur Freisetzung der Eosinophile. Wenn der Patient dieses Allergen nicht aufspüren und eliminieren könne, schwärmten immer mehr Esoinophile aus, und der Zustand werde chronisch. Wenn es gelinge, meinen Körper zu beruhigen, indem ich Mais mied, werde alles wieder ins Lot kommen.

Mansmann riet mir, Mais komplett aus meiner Ernährung zu streichen, unabhängig davon, ob er nun biologisch angebaut sei oder nicht (»biologisch« bedeutet nach Kennzeichnung gemäß dem US-Landwirtschaftsministerium per se »nicht gentechnisch verändert«). Denn in den Vereinigten Staaten (oder anderswo) sei sauberer, nicht gentechnisch veränderter Mais kaum zu finden. Als Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre GV-Mais in den USA erstmals in Feldversuchen angebaut und dann vom Landwirtschaftsministerium zugelassen wurde (heute wächst er auf 90 Prozent der Maisfelder im Land, das sind mehr als 36 Millionen Hektar), brachten es die Bestäubung durch Wind, Vögel und Bienen sowie menschliches Versagen mit sich, dass auch herkömmlicher Mais kontaminiert wurde. »Nicht jeder Mensch ist allergisch«, sagte er. »Es hängt alles davon ab, wie intensiv man dem Mais ausgesetzt ist. Kommt jemand mit einem Allergen in Kontakt, kann er oder sie eine Allergie entwickeln.« Das Problem in Amerika sei, »dass unser Nahrungsmittelsystem sehr stark auf Mais basiert. Weil Mais überall drin ist, ist die Belastung tagein, tagaus sehr hoch.« Ich fragte ihn, wie es denn mit Soja aussehe. Ich hatte gehört, dass GV-Soja ebenfalls weitverbreitet ist. Das sei eine gute Frage, erwiderte er. Obwohl Soja nicht in dem Maß wie der Mais das Leben der Amerikaner durchdrungen habe, sei es dennoch angeraten, sich von gentechnisch verändertem Soja fernzuhalten. Außerdem erklärte er mir, dass Maisstärke noch viele allergene Proteine in sich trage und weniger stark verarbeitet sei als Maiszucker, in dem durch die starke Verarbeitung fast keine Proteine der Originalpflanze mehr enthalten sind. Er empfahl Dan und mir, praktisch alles, was wir essen, selbst zuzubereiten und uns mit dem örtlichen Bauernmarkt und saisonalen Gemüsesorten vertraut zu machen. Außerdem sollte ich auf verborgenen Mais in Vitaminpräparaten achten. Mansmann pries die Vorteile der saisonalen Produkte und sang ein Loblied auf »Frühlingsgemüse«, bei dem mir das Wasser im Mund zusammenlief. Laut Mansmann würde es ein Jahr dauern, bis mein Körper vollständig geheilt sei. Aber er habe auch noch eine gute Nachricht: Nach zwei bis drei Jahren maisfreier Ernährung werde mein Körper kleine Mengen womöglich wieder tolerieren.

Dan und ich befolgten Mansmanns Rat und stürzten uns mit Feuereifer in die maisfreie Ernährung. Wir buken unser eigenes Brot und lernten, Backpulver zu mischen und aus anderen Mehlsorten Tortillas, Nudeln sowie Muffins und Kuchen selber herzustellen. Und wir mixten Mayonnaise, Bohnendips und Eiscreme von nun an selbst.8

Den Bauernmarkt von Portland sahen wir mit völlig neuen Augen, denn nun kauften wir ja mehr nicht nur für ein schönes Essen am Samstagabend ein, sondern die Lebensmittel für die ganze Woche. Nach und nach freundeten wir uns mit den Rockstars des Marktes an: Daniel von der Freedom Farm, Chris und Galit von Fishbowl, Simon von der Thirty Acre Farm, Jan von Goranson’s und den Leuten vom Uncle’s-Stand. Gegen Ende des Sommers kauften wir alles in großen Mengen: getrocknete Bohnen aus Maine (schwarze Bohnen, grüne Bohnen, Marfax, Yellow Eye, Navy), Tomaten, Brokkoli, Gurken, Steinobst, Beeren, Weißkohl, Sellerie, Kürbisse und Ingwer. Im September und Anfang Oktober verbrachten wir dann unsere Abende damit, Obst und Gemüse in Gläsern einzumachen oder einzufrieren. Wir traten einer regionalen Einkaufsgemeinschaft bei, die frische Lebensmittel aus Maine und dem Umland bezog. Tomaten, Kräuter, Salat, Spinat, Zucchini und Paprika bauten wir selber an. Im Herbst pflückten wir in Ricker Hill, einem alten Obstgarten in den Bergen in der Nähe von Lewiston, Unmengen Äpfel und kochten Apfelmus ein. In einem Herbst buk ich in weiser Voraussicht sechs Apfelkuchen, die ich für den kommenden Winter einfror. Getreide kauften wir nur noch, wenn es in Maine erzeugt worden war.

Mit etwas Glück erfuhren wir von einem mutigen Bauern, bei dem wir maisfrei gemästete Hühner kaufen konnten (das ist schwerer als gedacht, weil Hühner buchstäblich dahin gezüchtet worden sind, dass sie mit Mais schnell fett werden). Von einem jungen Cornell-Absolventen, der in der Nähe von Portland eine Landwirtschaft aufgebaut hatte, bezogen wir Weiderind. Wir erhielten Hackfleisch für Hamburger, Braten, Steaks, Schmorfleisch (daraus bereite ich in den kalten Wintermonaten oft Texas-Chili zu, das ich auf leckerem braunem oder weißem Reis mit einem großzügigen Löffel Guacamole obendrauf serviere), ein Bruststück für den typischen Neuengland-Eintopf oder einen langsam geschmorten Braten mit Tomaten, Wein, Pilzen, Sellerie und Gewürzen. Wir kauften Fangfisch (niemals Fisch aus Aquakultur, der häufig mit gentechnisch verändertem Soja und Mais gefüttert wird), und wir stöberten einen Bauern in der Nähe auf, der seine Milchkühe mit Gras und Heu füttert. Marsy und ich nahmen keine maishaltigen Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel mehr zu uns. Stattdessen ließen wir uns vom örtlichen Apotheker maisfreies Paracetamol und Diphenhydramin herstellen.9 Wenn wir aus dem Haus gingen, hatten wir stets unsere Wasserflaschen und Kaffeetassen aus Edelstahl dabei, um die Pappbecher zu vermeiden, die mit einer Maisbeschichtung versehen sind.

Schon nach wenigen Monaten kamen 85 Prozent unserer Lebensmittel, wenn nicht sogar mehr, aus der Region, und alles, was wir aßen, war biologisch erzeugt. Nun darf man nicht vergessen, dass wir weder in Geld schwammen noch in idyllischer Umgebung nach Lust und Laune gärtnern konnten. Wir lebten die meiste Zeit in einer Wohnung und mieteten erst ein paar Jahre später ein Haus mit einem kleinen sandigen Garten. Dort stellten wir Hochbeete auf, in denen wir möglichst viel selbst anbauten, und um die Lebensmittel haltbar zu machen, kauften wir uns eine große Gefriertruhe. Wir steckten einen nicht geringen Teil unserer Einkünfte in die Ernährung und sparten dafür an Ski-Wochenenden, Unterhaltungselektronik und schicken Outdoorwesten. Dazu kam, dass wir uns den Wahlspruch, nach dem die meisten Amerikaner leben, völlig aus dem Kopf schlagen mussten: Zeit ist Geld. Für uns hieß es: Zeit ist Nahrung. Wir widerstanden dem Wunsch nach einer schnellen Mahlzeit, fuhren das Tempo herunter, recherchierten langsam, was wir zum Essen einkaufen mussten, bereiteten es langsam zu und aßen es langsam auf. Dieses Tempo konnte anstrengend sein, wenn wir an einem Wochentag um elf Uhr abends noch 20 Kilo Tomaten einzuwecken hatten, damit sie nicht schlecht wurden. Aber wenn Hippokrates’ Worte »Eure Lebensmittel sollen eure Heilmittel sein« als Lebensdevise zu verstehen sind, dann hielten wir uns daran fest wie an einem Rettungsanker.

Weil wir die Anordnungen eines Arztes befolgten, schreckte uns die Sisyphosaufgabe diesmal nicht. Und als wir den Mais konsequent eliminiert hatten, verschwand Marsdens Ekzem vollständig. Seine Nase hörte auf zu laufen, und sein gesamter Körper entspannte sich sichtbar. An mir fiel mir als Erstes auf, dass meine scheinbar nicht behandelbaren unerträglichen Hautausschläge langsam zurückgingen. Nach und nach ließen auch die Schmerzen nach, und ich konnte zum ersten Mal seit Jahren längere Strecken gehen, ohne zu humpeln, und sogar leicht joggen. Bald schon hatte ich deutlich mehr Energie und schlief nachts auch besser. Der Schnupfen verschwand – Simsalabim –, und ich kam endlich ohne Taschentücher aus. Knapp vier Monate später, Ende Mai, fühlte ich mich fast so wie in alten Tagen.

Während dieses Experiments bildete Dan sozusagen unsere Kontrollgruppe. Soweit bekannt, hatte er keine Probleme mit Mais. Und wie wir war er nie positiv auf eine Maisallergie getestet worden. Doch er hatte sein Leben lang mit einer Autoimmunkrankheit zu kämpfen gehabt, der sogenannten Immunthrombozytopenie (ITP): Weil die weißen Blutkörperchen die Thrombozyten angreifen, haben ITP-Patienten weniger dieser Blutplättchen. Die meisten Menschen spazieren mit 150 000 bis 450 000 Blutplättchen durch die Welt. Bei Dan dagegen lag die Zahl im Extremfall bei 7000, was für einige Menschen lebensbedrohlich sein kann. (Später erfuhren wir, dass deshalb Dan beim Ausbruch der Krankheit zwar sehr krank wurde, später jedoch damit zurechtkam, weil sein Körper die niedrige Thrombozytenzahl mit ungewöhnlich großen Blutplättchen kompensiert.) Seiner Erinnerung nach trat die niedrigste Thrombozytenzahl von 7000 in einer Zeit auf, in der wir massenweise Mais aßen – Polenta, Tortillas, Popcorn, Ersatzbutter aus Maisöl –, um Milchprodukte und Gluten zu meiden, von denen wir, dem Volksglauben folgend, damals fürchteten, dass sie uns schaden könnten. Nach einem Jahr maisfreier Ernährung war die Zahl der Blutplättchen bei Dan dramatisch auf über 45 000 gestiegen und lag damit höher als je zuvor in seinem Leben. War das ein Zufall? Vielleicht, wir wissen es nicht. Die Gesundheit ist ein wahres Mysterium!

Unterdessen war ich von meinem körperlichen Wohlempfinden dermaßen überrascht, dass ich es nicht genießen konnte. Wenn ich abends zu Bett ging, machte ich mich darauf gefasst, bis zum nächsten Morgen wach zu liegen und dann wieder krank zu sein. Wie eine Schallplatte, die hängt, fragte ich Dan in einer Tour, ob es wohl wirklich am GV-Mais gelegen hatte. Und, wenn es nicht so war, ob alles wieder von vorne anfangen würde? Würde dieser wunderbare Zustand wirklich anhalten? Ich konnte es nicht einfach darauf beruhen lassen. Ich musste mehr erfahren.

Die erste Frage, die ich klären wollte, lautete: Was ist eigentlich gentechnisch veränderter Mais? Wie viele andere auch hatte ich Michael Pollans Das Omnivoren-Dilemma gelesen und Aaron Woolfs Dokumentarfilm King Corn gesehen. Beiden hatte ich entnommen, dass Mais in unserer Nahrung und in Alltagsprodukten allgegenwärtig ist. Aber um ehrlich zu sein, war mir die ganze Sache mit den GVO, gelinde gesagt, noch immer etwas schleierhaft. Ich hatte nie ernsthaft erwogen, dass der Mais, den ich zu mir nahm, nicht der gute alte Mais sein könnte, den meine Eltern und meine Großeltern schon in ihrer Kindheit verzehrt hatten (oder der Mais, für den mein Urgroßvater seinen Schaber erfunden hatte). Und obwohl ein abgelegener Bereich meines Gehirns vermutlich ahnte, dass »GVO« ein zumindest verdächtiger Begriff ist, wurde mir wie einem Kind, das zum ersten Mal begreift, welche Bedeutung hinter einem Schimpfwort steckt, nun erst klar, dass ich mir darüber nie ernsthaft Gedanken gemacht hatte.

Meine Recherche begann klein, wuchs sich aber nach und nach aus und erbrachte folgende Informationen: Um Nahrungsmittel gentechnisch zu verändern, nimmt ein Wissenschaftler zwei verschiedene Arten – zum Beispiel eine Flunder und eine Erdbeere (das habe ich nicht erfunden, es ist ein reales Beispiel!) – und spleißt die DNAs (verbindet sie also miteinander). Dieses Spleißen wird meist mit Goldkugeln vorgenommen – ja, genau, mit richtigen Geschossen –, die in DNA-Stränge mit den erwünschten Eigenschaften und manchmal in Wolframpulver getaucht wurden. Abgeschossen werden die Goldkügelchen mit einer Genpistole. Die ist wirklich so etwas wie eine Pistole.10 Für eine der ersten GVO verwendete man eine Crosman-Luftpistole. Sie sah in etwa so aus:

Heutzutage haben Genpistolen die Kraft einer Waffe mit Kaliber .22. Manche sehen aus wie die spacigen Science-Fiction-Wummen, die man aus StarWars kennt. Bei anderen ist der Lauf in ein raffiniertes Gerät eingebaut, das aussieht wie die Eiswürfelmaschine, die man oft in amerikanischen Bars findet: groß, mit einer Öffnung nach oben und einem großen Edelstahlbehälter. Auch mit diesem Gerät werden die Kügelchen, beschleunigt von Helium, auf die entsprechenden Zellen in einer Petrischale abgeschossen. Wenn die Kugel auf die Zelle der Wirtspflanze trifft, bricht sie den Zellkern auf und schleust die mitgebrachte DNA in die Doppelhelix ein. Bei dieser genetischen Modifikation fällt mir immer ein Lied aus dem Musical Annie Get YourGun ein: »Anything you can do, I can do better; I can do anything better than you« (Alles was du machst, kann ich besser; ich kann alles besser als du). Diese Methode ist allerdings ziemlich ungenau, denn es bleibt unklar, wo genau die Gene landen und wie genau sie exprimiert werden, wie also ihre Informationen in Erscheinung treten. Was klar ist: Die Pflanze, die verändert wird, also die Erdbeere, der Mais, die Baumwolle, das Soja und so weiter, vollbringen anschließend ein kleines wissenschaftliches Wunder, denn sie stellen die DNA mit dem eingefügten Teilstück selbst her.

Einigen Forschern zufolge trifft daher die Bezeichnung »transgene Organismen« die Sache besser als »gentechnisch veränderte Organismen. Im Lager der GVO-Befürworter hat sich der Begriff aus offensichtlichen Gründen (er erinnert eben doch an »transgender«) nicht durchsetzen können. Dort spricht man lieber weiterhin von GVO. In Amerika kürzt man das GMO (Genetically Modified Organism) gern zu GM ab (Genetically Modified), um die negativen Konnotationen, die dem Akronym GMO mittlerweile anhaften, zu vermeiden. Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass in den USA auch viele Gentechnik-Gegner diese Bezeichnung übernommen haben. Das liegt daran, dass ihnen von Gentechnik-Befürwortern gern vorgeworfen wird, nicht wissenschaftlich zu argumentieren, wenn sie den Begriff GMO verwenden, weil GMO mittlerweile zunehmend auch in der Medizin zum Tragen kommen, wo gentechnische Therapien für Krankheiten entwickelt werden. So ist zum Beispiel eine Superstechmücke in Arbeit, die bei der Ausrottung der Zika-Stechmücke helfen soll. GM (oder deutsch GV), so heißt es nun in beiden Lagern, beziehe sich hingegen nur auf Getreide. Zu allem Überfluss bezeichnet die US-Arzneimittelbehörde FDA alle GVO nur noch als GE (Genetically Engineered). Für unsere Zwecke reicht der Begriff GVO jedoch völlig aus, weil er allgemein gebräuchlich ist.

Ein wichtiger Punkt wird in diesem Zusammenhang nur selten erwähnt: Es wird nicht nur die DNA der, sagen wir, Flunder in die der Erdbeere eingeschleust, sondern noch weitere Gene: Erstens der »Promotor«, eine DNA-Sequenz aus einem Pflanzenvirus, der als eine Art »Anschalter« dient und das eingefügte Gen in die Lage versetzt, in der fremden Umgebung zu funktionieren; zweitens der »Marker«, auch »Reportergen« genannt, das anzeigt, ob die eingefügte DNA den Transfer überlebt hat – diese Gene sind in der Regel antibiotikaresistent, weshalb Wissenschaftler befürchten, dass die so gewonnenen GVO die Antibiotikaresistenz in der Bevölkerung befördern könnten. Und dann gibt es drittens den »Terminator«, den »Ausschalter«: Er signalisiert der DNA, wo die Transkription gestoppt werden soll und sorgt dafür, dass unerwünschte DNA nicht transkripiert wird.

Beim Mais gehört die eingeschleuste DNA-Sequenz – in diesem Fall also die »Flunder« – zu einem Bakterium (keine Pflanze) mit Namen Bacillus Thuringiensis oder Bt. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Ein Bakterium hat biologisch mit einer Pflanze gar nichts zu tun. In der Natur würde sich ein Bakterium im Leben nicht mit Mais fortpflanzen, ebenso wenig, wie eine Erdbeere und eine Flunder ein Paar werden könnten, und wenn die Flunder noch so scharf oder die Erdbeere noch so lecker wäre. Es ist etwas völlig anderes, wenn man zum Beispiel eine Aprikose und eine Pflaume kreuzt oder einen Pfirsich mit einer Pflaume und das Ergebnis mit einer Aprikose, sodass eine Pluot herauskäme. Ich höre oft, dass Bauern unsere Nahrungsmittel angeblich seit 10 000 Jahren »genetisch verändern«. Das stimmt so einfach nicht. Ein GVO trägt meistens Gene zweier verschiedener Arten in sich, und das lässt sich (abgesehen von ganz seltenen Ausnahmen) nur mit Gentechnik bewerkstelligen. Kein Landwirt, kein Pflanzenzüchter, kein Botaniker kann außerhalb eines Labors GVO herstellen. In der Natur entsteht ein GVO nie von allein, und auch der genialste Landwirt kann so etwas nicht auf seinem Acker züchten. Nach der Kennzeichnung des US-Landwirtschaftsministerium USDA kann ein GVO auch niemals »biologisch« sein, obwohl die Vertreter der Biotechnologie genau dies gebetsmühlenartig wiederholen.11 In Die Botanik der Begierde schreibt Michael Pollan, wenn man über Arten- und sogar über Phylengrenzen hinweg fremde Gene in eine Pflanze einschleuse, so werde das Wesen der Pflanze, ihre Identität gestört, und zwar nicht durch einen Virus, wie es in der Natur vorkomme, sondern durch den Menschen und seine mächtigen neuen Werkzeuge.

Zurück zum Mais: Bt ist ein recht interessantes Bakterium. Entdeckt wurde es 1901 von dem japanischen Biologen Ishiwatari Shigetane. Es kommt überwiegend im Boden vor, manchmal auch auf der Blattoberfläche von Pflanzen, im Kot von Tieren und in einer insektenreichen Umgebung – kurz, es ist überall. Bt kann sogenannte Endotoxine oder Cry-Proteine produzieren, die eine insektizide Wirkung gegen eine Reihe von Motten, Käfern, Wespen, Wildbienen, Ameisen, Fliegen, Stechmücken und auch gegen Fadenwürmer haben. Bt ist eng verwandt mit B. anthracis, dem Anthrax-Erreger, unterscheidet sich jedoch im Plasmid, dem kleinen ringförmigen DNA-Molekül, das in Bakterien vorkommt, aber nicht zu deren Chromosom gehört. Im Falle des Bt greift das vom Plasmid hergestellte Cry-Protein nur Raupen an, während es beim Anthrax Menschen und Nutztiere sind.

Im Jahr 1911 konnte der deutsche Wissenschaftler Ernst Berliner das Bakterium in Mehlmottenraupen als Ursache für die Schlafsucht (Hypersomnie) identifizieren, und in den folgenden Jahrzehnten wies die Forschung nach, dass es bei einigen Insekten als Gift wirkte. 1962 schrieb Rachel Carson in ihrem bahnbrechenden Buch Der stumme Frühling, in dem sie die Gefahren und Risiken des Pestizids DDT beschreibt, optimistisch über das Bakterium: »Große Hoffnungen erwecken nun Versuche mit einem anderen Bakterium, dem Bacillus thuringiensis … Dieses Bakterium tötet mehr durch sein Gift als durch Krankheitssymptome. Zugleich mit den Sporen werden in seinen Stäbchen besondere Eiweißkristalle gebildet, die für gewisse Insekten höchst giftig sind, insbesondere für die Raupen von Motten. Kurz nachdem die Raupen Blätter gefressen haben, die mit diesem Toxin überzogen sind, werden sie gelähmt, hören zu fressen auf und verenden bald darauf.«12

In den Jahren nach Erscheinen von Der stumme Frühling wurde Bt von verschiedenen Firmen in den USA als landwirtschaftliche Alternative zu Pestiziden hergestellt, gegen die die Insekten mittlerweile resistent geworden waren. Frühe Studien schienen zu belegen, dass Bt, als Insektizid bei Getreide eingesetzt, eine Zeit lang wirkte und sich nach und nach unter dem Einfluss von Regen, Sonne und Luft auflöste. So gelangte man zu dem Schluss, dass es auf Bestäuber, Umwelt, Menschen und Tierwelt wenig Einfluss habe. Deshalb wurden einige Bt-Stämme für den Einsatz in der biologischen Landwirtschaft zugelassen. Im Jahr 1995 ließ Monsanto dann den ersten gentechnisch hergestellten Bt-Mais, der also die DNA von Bt enthielt, bei der US-Umweltbehörde EPA registrieren. Monsanto ist der wohl berühmteste Chemie- und Biotechnologiekonzern der Welt und hat seinen Sitz in St. Louis, Missouri. Die Firma stellte gemeinsam mit Dow Chemical Agent Orange her und produzierte Saccharin, BST (Rinder-Somatotropin), PCBs, Roundup und einige der ersten GVO.13 Monsanto schleuste Bt in die Pflanze ein, damit die Larve des Maiszünslers schon nach dem ersten Bissen Mais (Frucht, Blatt oder Stängel) starb. Ein Maiszünsler sieht übrigens so aus:

Das ist das Viech, das die ersten GVO auf den Weg brachte und den großen Krieg in Gang setzte. Hübsches Kerlchen, was?

Der Bt-Mais von Monsanto erwies sich im Kampf gegen den Maiszünsler als unglaublich effektiv, und bald wurde klar, dass der Konzern einen echten Treffer gelandet hatte. Im Jahr 1996 wurde er in den Vereinigten Staaten ohne größere Umstände zugelassen, obwohl die Umweltbehörde EPA, das Landwirtschaftsministerium USDA und die Arzneimittelbehörde FDA keine unabhängigen Tests durchgeführt hatten, um die Sicherheit des Produkts für den menschlichen Konsum zu gewährleisten. Monsanto behauptete, man habe selbst jede Menge Tests durchgeführt und die Berichte an die staatlichen Regulierungsbehörden weitergereicht. In einer E-Mail aus dem Jahr 2013 schrieb mir die Behörde: »Das Landwirtschaftsministerium untersucht GV-Pflanzen, um sicherzustellen, dass sie für Landwirtschaft und Umwelt unbedenklich sind. Der Antragsteller reicht meist ein 400 Seiten starkes Dokument ein, das Daten aus Labor- und Feldversuchen enthält. Produkte mit Eigenschaften, die Pflanzen vor Insektenbefall und Krankheiten schützen, werden von der Umweltbehörde geprüft. Der Antragsteller reicht meist um die 20 Ordner mit Studien ein, die auf mehreren Tausend Seiten Daten zur Sicherheit des eingeschleusten Proteins darlegen.« Einige Jahre später, im Jahr 1999, zeigten die Bernsteins, ein Allergologenteam aus zwei Brüdern und ihrem Vater an der University of Cincinnati in einer Studie, dass mexikanische Landarbeiter, die mit Bt als Spritzmittel in Berührung kamen, allergisch darauf reagierten. Das ist die einzige mir bekannte Studie, die auch nur ansatzweise die Möglichkeit darstellt, dass Bt, wenn Menschen ihm in hohen Dosen ausgesetzt sind – sei es in der Landwirtschaft oder über die Nahrung –, als Allergen wirken könnte.

Mittlerweile haben zahlreiche Bt-Stämme Eingang in gentechnisch veränderte Feldfrüchte gefunden – Soja, Baumwolle, Mais, Kartoffeln und viele weitere –, wobei verschiedene Cry-Proteine für verschiedene Insektenarten entwickelt und eingeschleust wurden. An dieser Stelle sei nur gesagt, dass Bt-modifizierte Kulturpflanzen in der Landschaft und in der Küche der USA allgegenwärtig sind. So allgegenwärtig, dass einer 2011 in der Zeitschrift Reproductive Toxicology veröffentlichten kanadischen Studie zufolge Bt-Gift sogar im Nabelschnurblut schwangerer Mütter gefunden wurde.

Mittlerweile tragen die meisten gentechnisch veränderten Maispflanzen verschiedene Bt-Stämme, deren Cry-Proteine gegen eine Reihe verschiedener Insekten wirken. Darüber hinaus hat der Mais ein »Roundup Ready«-Gen, das die Maispflanze resistent gegen das Monsanto-Herbizid Roundup macht, damit die beiden gemeinsam eingesetzt werden können. (In der schon genannten kanadischen Studie wurde Glyphosat auch im Blut nicht schwangerer Frauen gefunden.) Der Mais kann sogar noch weiter genetisch modifiziert werden – beim Mais sind die Möglichkeiten geradezu schwindelerregend. GVO-Gegnern zufolge arbeiten die großen Pharmakonzerne derzeit daran, Mais gentechnisch so zu verändern, dass er Hormone zur Geburtenkontrolle, Antibiotika und andere Arzneimittel in sich tragen kann. Zwar gibt es dafür bisher noch keine klaren Beweise, aber natürlich ist das ein faszinierender Gedanke. (Ganz zu schweigen von der schönen neuen Vorstellung, Pflanzen-RNA im Kampf gegen Krebs einzusetzen.) Merken wir uns also: Auch Soja enthält sowohl Bt als auch Roundup-Ready-DNA, ebenso wie Kartoffeln, Rüben und Baumwolle. Und Tatsache ist, wenn man erst herausgefunden hat, wie man solche Pflanzen gentechnisch verändern kann, dann kann man auch an vielen anderen Stellen herumbasteln.

Während sich mein Gesundheitszustand dank der maisfreien Ernährung weiter verbesserte, bekämpfte ich meine innere Skepsis, indem ich möglichst viel über GVO in Erfahrung brachte. Doch mir kam es vor, als versänke ich immer tiefer in dem Sumpf aus wissenschaftlichen Theorien, anekdotischer Evidenz, öffentlichen Meinungen und allen möglichen und unmöglichen Ansichten. Da ich eines Tages festhalten wollte, was mir widerfahren und wie ich wieder gesund geworden war, suchte ich das Gespräch mit Experten. Doch nach jedem Interview hatte ich mehr Fragen als zuvor. Wie ein Chamäleon war ich abwechselnd überzeugt von den Vorzügen und den Gefahren der GVO, je nachdem, mit wem ich gerade gesprochen hatte. Nachts lag ich wach und stolperte im Geiste durch den grauen Nebel, der die beiden Lager umwaberte. In der Stille der Nacht grübelte ich oft darüber nach, was mir trotz der Ausführungen meines Interviewpartners X oder Y in die eine oder andere Richtung noch nicht klar war. Je mehr ich mich in das Thema vertiefte, desto mehr Menschen – auch Experten – lernte ich kennen, die nicht genau wussten, wie sich GVO letztendlich auf Menschen, Pflanzen, Tiere und die Umwelt auswirken.

Meine Krankheit und die komplizierten Ergebnisse meiner Recherche mündeten schließlich in den Artikel, der im August 2013 in der Zeitschrift Elle erschien. Für den Text erntete ich überwältigenden Zuspruch, aber auch heftigen Protest auf Internetseiten wie Slate und Forbes. Der Artikel fungierte als eine Art Blitzableiter für die extrem aufgewühlte GVO-Debatte. Über Nacht war ich das Aushängeschild der GVO-Gegner im Kampf gegen die Irrwege der Gentechnik und Zielscheibe der Biotechnologiebefürworter, die mich als Idiotin ohne jede journalistische Glaubwürdigkeit beschimpften. Freundliche Kommentare wie auch Verachtung erreichten mich nicht nur über Plattformen wie Facebook und Twitter (wo eine Gruppe über meinen Text diskutierte und zu dem Schluss kam, dass mein Problem eine einfache Maisallergie sei; dabei hatte ich erwähnt, dass ich auf Maisproteine negativ getestet worden war), sondern auch in einer wahren Flut von E-Mails und einigen wenig schmeichelhaften Texten im Netz. Und obwohl ich am liebsten das Weite gesucht hätte – jeder neue Aspekt des Themas ließ widersprüchliche Aussagen meiner nächsten Gesprächspartner erwarten –, schob ich mein Unbehagen zur Seite und entschloss mich, weiter zu recherchieren. Warum hatte mein Artikel solch einen Nerv getroffen?

Anfang Oktober 2013 flog ich von meiner Heimatstadt Portland in Maine westwärts nach Denver, Colorado. Von dort aus hatte ich eine Autofahrt quer durch die Kornkammer der USA geplant. Unterwegs wollte ich bei dem jungen Landwirt Zach Hunnicutt haltmachen, der mitten in Nebraska Popcorn-Mais sowie GV-Mais und – Soja anbaut. Von dort aus wollte ich weiter gen Osten nach Iowa fahren, um mich mit Lisa Stokke und Dave Murphy zu treffen, den Gründern von Food Democracy Now!14, einer einflussreichen Anti-GVO-Aktivistengruppe. Außerdem hatte ich auf dem Weg nach Iowa einen kleinen Abstecher zu dem ehemaligen Monsanto-Forscher und Saatgutexperten Richard Goodman vor, der an der University of Nebraska-Lincoln arbeitet. Dieser Termin hing davon ab, wie viel Zeit und Entschlossenheit ich aufbringen konnte. Dazu später mehr. Vor allem aber wollte ich, ehe ich auch nur ein weiteres Wort über das Thema GVO schrieb, die Prärie und das Herz Amerikas, das heute den Maisgürtel der USA beherbergt, selbst in Augenschein nehmen. Ich wollte sie sehen, die Felder mit gentechnisch verändertem Mais und Soja, Mittelpunkt der erhitzten Debatte, über die ich erst als Patientin und Mutter, dann als Autorin gestolpert war. Ich wollte erfahren, wie es ist, diese endlose bernsteinfarbene Weite vor mir zu haben, die Wellen, die im Wind der Prärie wogen und sich erst am Horizont im flachen hellblauen Himmel verlieren.

KAPITEL 2

In Denver mietete ich einen silbernen VW Käfer mit Colorado-Kennzeichen; der Kleinwagen erwies sich bald als denkbar unsinnigste Wahl für eine Fahrt durch die Great Plains, da auf den Straßen dort beinahe ausschließlich Traktoren mit riesigen Hängern, Monstertrucks und Geländewagen die schnurgeraden Highways entlangbrettern. Dann fand ich einen Supermarkt, wo ich mich mit Kaffee für meine erste Reiseetappe sowie Hummus, Crackern, einem gemischten Salat, ein paar Kartoffelchips, einer Box Hanf-Buchweizen-Biomüsli, einer Tüte Biosojamilch (denn für richtige Milch hätte ich eine Kühltasche gebraucht), einem Glas Salatdressing und einer Tüte Biotrockenfleisch eindeckte. Ich fürchtete, dass (zumindest für mich) die Auswahl an genießbaren Lebensmitteln in den ersten Tagen eher dürftig sein würde, und darauf musste ich vorbereitet sein. Während die Sonne hinter mir langsam unterging, machte ich mich auf den Weg nach Osten.

Nachdem ich die Außenbezirke Denvers hinter mir gelassen hatte, wich die Bebauung allmählich riesigen Sand- und Kiesfeldern am Straßenrand, die wiederum bald in weite Gebiete ausgedörrten Buschlands mit Wüstenbeifuß und Pferden übergingen. Ich schloss mein iPhone ans Radio an und hörte Ryan Adams, und seine Musik löste eine Welle von Gefühlen in mir aus – Liebe, Nostalgie, tiefe Traurigkeit und Freude – und ich fühlte mich plötzlich ganz lebendig. Und dann wechselte ich zu Lucinda Williams, deren Stimme so rau und trocken war wie die Landschaft draußen. In Anlehnung an ein Zitat aus Tennessee Williams’ Theaterstück Die Glasmenagerie habe ich immer von mir gesagt, dass ich in Bewegung am leistungsfähigsten bin; »meine Ruhelosigkeit war der Ausdruck dafür, nicht zu zeigen, daß ich keine Luft zum Atmen hatte«.1

Amerika auf diese Weise kennenzulernen – allein auf einem Roadtrip quer durch das Land – war für mich beinahe so, als fände ich wieder Zugang zu einem fernen Teil meiner Seele, zu dem ich seit Jahren keinen Kontakt gehabt hatte, seit ich geheiratet hatte, Mutter geworden war und mein Leben nach den Gewohnheiten und Bedürfnissen anderer Leute ausgerichtet hatte. Derart wild und frei war ich zuletzt quer durch Amerika gefahren, als Dan und ich während der Finanzkrise nach Los Angeles gezogen waren.

Als sich die Sonne dem Horizont näherte, bemerkte ich, dass dem Land hier etwas Harsches anhaftete, als hätte sich dieser westliche Rand der Great Plains nie ganz von den verheerenden Staubstürmen erholt, die die sogenannte Dust Bowl, die Staubschüssel, in den 1930er-Jahren heimgesucht hatten. Noch immer ist der Osten Colorados unfruchtbar und schwer zu bewirtschaften. Hier überziehen Ranches mit grasenden Black-Angus-Rindern die Weiten, und Kornweihen sitzen auf den Koppelpfosten und halten im Gestrüpp nach Beute Ausschau. Der Wind trägt den Duft von Wüstenbeifuß mit sich und weckt kollektive Erinnerungen an Wildnis, Cowboylieder und uramerikanisches Brauchtum.

Bald ging der Cowboystaat Colorado in Nebraska über, die Route 76 wurde zur Route 80 und die Landschaft aufgeräumter und von intensiver Bewässerung durchzogen: Ich sah Getreidekreise und Silos, Zuckerrübenfarmen (vermutlich allesamt mit GV-Rüben, die heutzutage für alles Mögliche verwendet werden, vom einfachen Haushaltszucker über Zuckerrübensirup bis hin zu Viehfutter2) und Fabriken, in denen die Rüben verarbeitet werden. Ich sah ein schmuddeliges kleines Lokal mit einem riesigen Reklameschild, das hoch über dem Highway aufragte. An der Grenze zwischen Colorado und Nebraska veränderte sich die Luft so dramatisch, als wäre eine Sturmfront aufgezogen, und ein penetranter, stechender Heugeruch sowie der trockene Erntestaub drangen ins Auto und brachten sofort meine Nase zum Laufen und die Augen zum Tränen. Als es dunkel wurde, folgte ich großen Lastwagen, die mit weißen GV-Zuckerrüben mit dem Umfang von Grapefruits beladen waren, auf dem Highway, bis ich zu müde wurde, um noch weiterzufahren, und bei einem Hampton Inn in North Platte, Nebraska, von der Straße abfuhr.

North Platte liegt im südwestlichen Teil des Bundesstaates, wo sich der nördliche und südliche Arm des Flusses Platte zu einem einzigen Fluss vereinigen. Tatsächlich hat der Staat dem Fluss seinen Namen zu verdanken: Die amerikanischen Ureinwohner der Stämme Otoe, Pawnee und Omaha nannten den Fluss »flaches Wasser«, und der Begriff der Otoe für »flaches Wasser« war »nebrathka«. Die französischen Entdecker benannten den Platte in »Rivière plate« um (ausgesprochen »platt«, was auf Französisch »flach« bedeutet), und dabei blieb es. Hier am Platte machen mehr als 500 000 Kanadakraniche Station, wenn sie im Frühjahr aus dem Süden von Texas und aus Mexiko nordwärts bis hinauf nach Alaska oder Sibirien zu ihren Brutplätzen ziehen. Hier fressen die Kraniche wirbellose Wassertiere in den Sumpfgebieten am Fluss und die Körner des GV-Getreides von den Feldern rund um das Wasser.3 Nach einer zwei- oder dreiwöchigen Rast, wenn sie sich ordentlich gestärkt haben, setzen die Kraniche ihren Weg nach Norden fort.