Geniestreich der Waldwesen - Manfred Geerligs-Wilm - E-Book

Geniestreich der Waldwesen E-Book

Manfred Geerligs-Wilm

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Beschreibung

Seit Beginn der Rodungsarbeiten für das Einkaufscenter am Stadtrand Mittelsteins ereignen sich merkwürdige Dinge. In der Stadtbibliothek Mittelsteins wird ein mysteriöses Buch entdeckt. In der Tageszeitung erscheint eine Sensationsmeldung ohne Kenntnis der Redaktion. Im Schutz der Dunkelheit schleichen seltsame Gestalten durch die Gassen der Stadt. Eine sonderbare, am Waldrand entdeckte Steinsäule ruft das Kulturamt auf den Plan. Ein Rubin von unschätzbarem Wert bringt einen Finanzbeamten ins Gefängnis. Hunderte von Krähen steigen in Pilzform auf und tragen einen Ruf ins Land. Die Ereignisse sind Folgen eines Plans - dem Geniestreich der Waldwesen.

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Seitenzahl: 285

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In den schottischen Highlands fiel mein von Whisky ungetrübter Blick durch das Fenster meines Hotelzimmers auf die Kamine der Häuser. Ich beobachtete eine Krähe, die zum wiederholten Mal in einen der Schlote eintauchte, um ihre Jungen zu füttern. Dabei kam mir spontan die Idee zu diesem Roman. Der Zufall wollte es, dass uns die Reise auf der Isle of Skye zum Tal der Feen führte, die, nach Überzeugung der Einwohner hier ihren Platz gefunden haben. Diese Begegnung bekräftigte meinen Entschluss, die Geschichte in Romanform niederzuschreiben. Umgehend begann ich mit dem Entwurf der Handlung und skizzierte unterschiedlichste Schriften der Wesen, deren Zeichensätze sich im Anhang wiederfinden. Außerdem gibt der Anhang Aufschluss über Gravierungen und Anordnung der Kultsteine.

Der schmale Grat der Zeit:

Während heute gestern noch morgen war, ist heute morgen bereits gestern.

Manfred Geerligs-Wilm

Geniestreich der Waldwesen

© 2018 Manfred Geerligs-Wilm

Umschlag, Illustration: Manfred Geerligs-Wilm

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

Zweite, überarbeitete Auflage

ISBN

Paperback978-3-7469-1981-2 (Paperback)

Hardcover978-3-7469-1982-9 (Hardcover)

e-Book978-3-7469-1983-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Die Entdeckung

Aufstellung der Wesen

Ruf der Wesen

Große Versammlung

Die Glaskugel des Jungen

Der geheimnisvolle Beutel

Unverhoffter Ausgang

Besuch für Albert Kranz

Einbruch bei Goldschmidt

Dringender Handlungsbedarf

Nächtliche Aktion

Zusammentreffen im Wald

Eklat in der Zeitungsredaktion

Beim alten Steinmetz

Ein merkwürdiger Auftrag

Der Gehilfe

Nächtliches Ereignis

Die vollendeten Steine

Geschäftigkeit in der Dunkelheit

Die Vorbereitungen

Nachts in der Stadtbibliothek

Der Verdacht

Das alte Stadtwappen

Besuch vom Kulturamt

Der Fund des ersten Steins

Der wandelnde Kultstein

Die Suchaktion

Ein bedauerlicher Zwischenfall

Der Polizeibericht im Mittelsteiner Anzeiger

Die Treibjagd

Bauarbeiter in Aufruhr

Suche nach der Kultanlage

Eigenheiten der Kultsteine

Die 1225-Jahrfeier

Eskiter und Etrusker oder drohendes Unheil

Der Künstler in der Kultanlage

Gottfrieds alte Kate

Die Freilichtspiele

Der Himmelsstein

Anhänge

Liste handelnder Personen und Wesen

Die Speichenschrift der Kobolde

Die Meißelschrift der Zwerge

Die Zweigeschrift der Wichtel

Die Fingerschrift der Riesen

Die Punkt-Augen-Schrift der Feen

Die Sichelschrift der Elfen

Die Hexen- oder Hakenschrift

Die Radialschrift der Zauberer

Kultsteine mit Inschriften und Satz-Anweisungen

Anordnung der Kultsteine

Die Entdeckung

Erste Sonnenstrahlen durchbrachen die Nebel der Nacht. Schritte harter Ledersohlen auf Kopfsteinpflaster hallen durch die Gasse. Der Mann mit Hut und schwerem Umhang aus blauem Stoff hielt vor dem Portal der Stadtbibliothek inne. Aus der Rocktasche zog Bibliothekar Samuel Koop den eisernen Schlüssel. Krachend dreht sich sein zackiger Bart im Schloss zweimal herum. Das Schnappen zeigt ihm an, dass er eintreten kann. Koop zieht den Schlüssel aus dem Schlüsselloch, lässt ihn in seine Tasche gleiten und drückt die massive Klinke aus poliertem Messing nach unten. Der Glockenschlag vom Turm verkündete die achte Stunde. Koop öffnete seinen Umhang, zog an der Kette zur Westentasche, klappte den Deckel der Taschenuhr auf und tat einen flüchtigen Blick auf das Ziffernblatt. Leise, mit einem Schmunzeln sagte er: „Gutes Stück.“ Die goldene Uhr hatte ihm der Stadtrat zum vierzigsten Dienstjubiläum überreicht. Zwischen Daumen und Zeigefinger drehte er, wie jeden Morgen, ihr Aufzugrad bis das Federwerk sperrte.

Kraftvoll schob er den Riegel vor die Eingangstür. Schließlich blieb noch eine Stunde, bis er den Bürgern der Stadt Einlass gewähren würde. Auf seinem Schreibtisch sah er bereits den dampfenden Tee. Er ist guter Dinge, denn es verspricht ein heiterer Tag zu werden. Wie konnte er auf den Marmorstufen zum Lesesaal ahnen, dass ihm Ärger ins Haus stand, dessen Ursache ihn auf unabsehbare Zeit beschäftigen sollte.

Beschwingt stieß er die Flügeltüren auf und betrat den lichtdurchfluteten Lesesaal mit seinen hoch aufragenden Fenstern. Er wollte sich seinem Dienstzimmer zuwenden, als sein Blick die Lesetische streifte und seine Augen auf etwas trafen, dass er auf den Tod nicht leiden konnte. Auf einem Lesetisch lag ein Buch. „Verflixt und zugenäht!“, schrie er, „welcher gottverdammte Esel hat das Buch nicht zurückgestellt!“, dass ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. Vom Hall seiner Stimme im leeren Saal erschrocken, wo sonst allenfalls Flüsterton erlaubt war, fuhr er zusammen. Er stutzte. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, er selbst könnte … Doch im nächsten Moment wies er diesen Gedanken von sich. „Ausgeschlossen“, sagte er sich. „Vielleicht“, dachte er, „gibt das Buch Auskunft über den liederlichen Leser!“ Schnellen Schritts ging er auf den Lesetisch zu, auf dem das Buch lag. Er beugte sich zur Seite um den Titel vom Buchrücken abzulesen: „Walthers Enzyklopädie U bis W.“ Koop konnte sich nicht erinnern, gestern einen der Leser dieses Buch in Händen haltend gesehen zu haben. Der Bibliothekar hängte Umhang und Hut an die Garderobe in seinem Amtszimmer, füllte Wasser in den Kocher, und stellte ihn auf achtzig Grad ein – genau richtig für grünen Tee, den er in der Früh stets trank. Aus dem Schrank nahm er die Kanne, füllte das Tee-Ei, hängte es in die Kanne und hakte die Kette in die Tülle ein. Zurück am Lesetisch nahm er das Buch und betrachtete es von allen Seiten. „Tadelloser Zustand“, sagte er sich. Mit dem Exemplar in der Hand stieg er die Treppe zum Regal hinauf, in dem das geballte Wissenswerk zu finden war und schob die Leiter dorthin, wo die Lücke erkennbar rechts in der Buchreihe klaffte. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren nahm er vorsichtig Stufe für Stufe. In seinem Alter war man nicht mehr so flott auf den Beinen wie früher. Unter der Buchlücke angekommen hob er das fehlende Exemplar hoch und wollte es in die sonst lückenlose Kette der Buchstabenfolge einreihen. Doch so sehr er sich auch abmühte und drückte, das Buch ließ sich nicht einfügen. „Zuerst muss ich die dicht gedrängte Reihe zur Linken zusammendrücken, dann sollte es gehen“, dachte Koop. Unsicher balancierend stieg er zwei Stufen höher, sodass er in Brusthöhe zur Lücke kam, legte das Buch beiseite und zog die Buchlücke mit ganzer Kraft auseinander. Er hatte das Gefühl sie hätte etwas nachgegeben. Deshalb nahm er das fehlende Buch vorsichtig auf und drückte es in den Zwischenraum. Vergeblich. Er war drauf und dran das Buch einfach hineinzupressen, damit endlich Ordnung herrschte. Doch die Ausgabe der Enzyklopädie war von großem Wert und wollte pfleglich behandelt werden. „Verdammt! Wenn ich den Pflichtvergessenen erwische! Der kann etwas erleben!“ fluchte er. Dass ein Buch, einmal entnommen, dort nicht wieder Platz fand, wollte ihm nicht einleuchten. Samuel Koop musste es genau wissen. Er beugte sich zur Lücke vor, setzte das fehlende Exemplar unten auf, und kippte den Rücken zu sich. Von oben verglich er die Breite des Buches mit den feinen Staubrändern, die sich zwischen den Büchern gebildet hatten. „Mmm“, knurrte er, „entweder der Zwischenraum ist geschrumpft, oder – das Buch beansprucht mehr Platz. Vielleicht hat es an Weisheit zugenommen“, sagte Koop und kicherte. Das Buch in der Hand, stieg Koop behutsam von der Leiter, nahm die Stufen der Treppe abwärts und legte es auf den Lesetisch zurück.

Jäh riss ihn das Signal des Wasserkochers aus seinen Gedanken. Schnell brühte er den Tee, zog die Uhr aus seiner Tasche, wartete drei Minuten, zog das Tee-Ei heraus und legte es in die Spüle.

Er ging zum Lesetisch zurück, setzte sich, schlug das Buch auf und blätterte es von vorn bis hinten durch. Weshalb er gerade auf der Seite Wesel innehielt, konnte er im Nachhinein nicht mehr genau sagen. Ein verlockender Duft war ihm beim Blättern in die Nase gestiegen – ein fremdartig süßlicher Geruch der zu keinem Buch passte. Dafür hatte er in seinem Leben zu viele Bücher in Händen gehalten. Koop beugte seinen Kopf über die aufgeschlagenen Seiten und schnupperte. „Sollte einer Dame im Lesesaal versehentlich etwas Parfüm auf die Seite getropft sein?“, fragte sich der Bibliothekar. Deutlich vernahm seine Nase den exotischen Duft. Mit zusammengekniffenen Augen glitt sein Blick suchend über das Papier. „Es ist, um aus der Haut zu fahren. Nichts deutet auf einen Tropfen hin“, dachte Koop. Er spürte, dass mit der Seite irgendetwas nicht stimmte. Mit einem Ruck erhob er sich vom Stuhl, legte seine Hände auf dem Rücken zusammen, schlug mit der äußeren Hand unruhig auf die innere und ging nachdenklich um den Lesetisch herum, den Blick auf das zweifelhafte Objekt geheftet. Er wollte seinen Blick bereits abwenden, als ihn vom einfallenden Licht durch das Fenster eine Reflexion von der Buchseite traf, wo er keine vermutet hätte. Vorsichtig setzte er seine Füße rückwärts und betrachtete dabei das geöffnete Buch. Da war sie wieder. Deutlich warf eine schmale Stelle auf der Seite das Licht zurück. Koop richtete seinen Körper auf das Buch aus und ging geradewegs auf den Lesetisch zu, die Reflexion stets im Auge haltend. Um ja die Stelle nicht zu verlieren streckte er kurz vor dem Tisch seine Hand aus und zielte mit dem Finger auf den leuchtenden Fleck. Seine Fingerkuppe ertastete eine glatte Fläche. Vorsichtig strich sein Finger über einen schmalen glatten Streifen. Samuel Koop schob sich mit der anderen Hand den Stuhl unter das Gesäß und nahm darauf Platz. Mit aufgesetztem Finger schob er das Buch zu sich und las:

Wesen

„Wesen, die: real vorkommende Kreaturen. Stehen unter Naturschutz und dürfen weder gejagt noch gefangen genommen werden. Leben tief in den Wäldern, die es ebenfalls zu schützen gilt. Wesen sind vorwiegend gutmütig, treiben jedoch mitunter Schabernack mit Menschen. Siehe Anhang!“

Koop runzelte die Stirn. Einen derartigen Eintrag hatte er weder erwartet, noch je zuvor zu Gesicht bekommen. Und was wohl Anhang bedeutete. Abbildungen, Karten, Tabellen, das kannte Koop aus Enzyklopädien, doch Anhang? Samuel Koop beschloss ins Archiv zu gehen. Bis zum Eintreffen erster Besucher blieb ihm noch Zeit. Mit dem Buch in der Hand stieg er die Stufen der engen Wendeltreppe zum Archiv hinab, die sich am Ende des Lesesaals befand. Weil es im Lesesaal an Platz mangelte, war die ältere Ausgabe von Walthers Enzyklopädie ins Archiv ausgelagert worden. „Viel wird sich am Begriff Wesen in der Zwischenzeit wohl nicht verändert haben“, dachte Koop. Im funzeligen Licht der spärlichen Beleuchtung schritt er die Regale ab und blieb vor einer langen Buchreihe stehen. „D - E, G – I, U – W. Jetzt bin ich gespannt“, sagte sich der Bibliothekar. Mit einem Luftstoß blies er den Staub vom Kopfschnitt des Buchs, dass er husten musste. Hastig blätterte er die hinteren Seiten durch. „Ah, hier!“ Er hielt sich das Buch nahe vors Gesicht und las:

Wesen

„Der Ausdruck Wesen (griechisch ousia, lateinisch essentia, quidditas) hat im philosophischen Sprachgebrauch eine Doppelbedeutung.…

Wesen

Wesen, das, allgemein: Lebewesen, Geschöpf; auch Eigenart, Charakter eines Menschen …“

Koop blickte auf, als habe er begriffen, und sagte: „Kein Sterbenswörtchen von Real vorkommende Kreaturen, stehen unter Naturschutz oder Anhang.“ Koop stellte das alte Exemplar wieder zurück. „Da hat sich jemand einen Schabernack mit der städtischen Bibliothek erlaubt!“, empörte sich Koop lauthals. Zurück am Lesetisch untersuchte er das zweifelhafte Objekt. Erneut nahm er den Text mit der offensichtlich falschen Botschaft unter Augenschein. Ein „Saubere Arbeit“, entfleuchte ihm. Doch im nächsten Moment korrigierte er sich und rief: „Unerhört!“ „Sollte tatsächlich ein Anhang existieren, so müsste er, wie der Name bereits sagt am Ende des Buchs zu finden sein. Der würde auch erklären weshalb das Buch aus dem Leim gegangen ist“, dachte Koop. Mit einem Griff legte er den rechten Buchdeckel um und begann, Seite für Seite von hinten umzublättern. Koop las:“ Bildquellenverzeichnis. Dem geneigten Leser empfohlene Wegweisung zur Benutzung des Werkes. Betonung und Aussprache. Reihenfolge und Schreibweise der Stichwörter.“ Um zu sehen, was folgte, legte er hastig die leere Seite um, und schrak zurück. „Hatte ihm nicht soeben etwas zugezwinkert?“, fragte er sich verstört. „Quatsch, Samuel! Du siehst Gespenster!“, rief er.

Die Turmuhr schlug zur neunten Stunde. „Ich muss öffnen“, sagte sich Koop. Er nahm das Buch, schritt damit in seine Amtsstube und legte es auf den Tisch. Bevor er ging goss er sich eine Tasse Tee ein, schlürfte etwas davon und schritt die Stufen hinab zum Eingang, vor dem bereits Besucher warteten. Herein trat wieder der ältere Herr im grauen Anzug, zwei Buben im Vorschulalter und eine adrett gekleidete Dame mittleren Alters. Koop stieg hinter ihnen die Treppe hinauf. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die vor ihm gehenden einen Duft verströmten der ihm vertraut vorkam. Koop kehrte zurück in sein Amtszimmer und trank die Tasse mit dem Tee aus, um sich einen neuen einzuschenken. „Verzeihung, der Herr!“, rief die adrette Dame, die plötzlich in der Tür stand. „Ja bitte?“, fragte Koop. „Ich suche von Walthers Enzyklopädie den Band U bis W.“ Koop wurde hellhörig. Das konnte kein Zufall sein. Er wollte sagen: „Das Buch liegt hier auf dem Tisch.“ Doch besann er sich, schob seinen Unterarm über den Buchdeckel und antwortete: „Ist im Moment ausgeliehen. Wenn sie möchten, kann ich ihnen ein älteres Exemplar aus dem Archiv holen.“ „Wie lange ist es denn ausgeliehen?“, fragte die Dame. „Drei Wochen!“, antwortete Koop wie aus der Pistole geschossen. „Sie kennen sich aber gut aus. Haben sie alle Ausleihen im Kopf?“, antwortete die Dame. „Nur, weil es erst kürzlich war“, antwortete Koop. „Schade. Dann muss ich wohl warten“, antwortete die Dame. Koop fiel der Duft auf, der durch die Tür in sein Arbeitszimmer zog. Es war derselbe süßliche Geruch wie der im Buch. Sollte die Dame etwas mit dem Eintrag im Buch zu tun haben? Aber wie hätte sie es anstellen sollen. Das Buch hatte niemand ausgeliehen! Außerdem sah er sie zum ersten Mal in der Bibliothek. Koop erhob sich von seinem Stuhl und ging auf die Dame zu. Er musste sich vergewissern ob wirklich sie es war, die den Duft verströmte. Deshalb näherte er sich ihr soweit, wie es der Anstand erlaubte und sagte: „Tut mir aufrichtig leid.“ Es gab keinen Zweifel. Sie brachte den Geruch mit sich. Samuel Koop wurde neugierig: „Wenn sie eine Tasse Tee möchten – bitte, treten sie nur ein.“ „Gern, das lasse ich mir nicht zweimal sagen“, antwortete sie und schritt zum Tisch. Koop bat sie auf einem Stuhl Platz zu nehmen. „Sehr nett“, bedankte sich die Dame. Sie zog die Tageszeitung aus ihrer Manteltasche, legte sie auf den Tisch und setzte sich. Koop nahm eine Tasse samt Untertasse aus dem Schrank, stellte ihr das Geschirr hin und goss Tee ein. „Ist nicht mehr ganz heiß aber ich denke, er ist noch trinkbar“, entschuldigte sich der Bibliothekar und begann, die Dame in ein Gespräch zu verwickeln: „Ich sehe sie hier zum ersten Mal. Wohnen sie schon länger in Mittelstein?“ „Ich verweile vorerst nur kurz in der Stadt. Ein Auftrag von höchster Stelle führt mich hierher“, antwortete die Dame. „So, so, von höchster Stelle. Dann handelt es sich wohl um eine geheime Aktion. Sie wird der Stadt doch keinen Schaden zufügen?“, antwortete Koop besorgt. „Im Gegenteil! Sie soll der Stadt zur Geltung verhelfen“, beruhigte ihn die Dame. „Wie das?“, fragte Samuel Koop erstaunt. „Wie sie selbst sagten, ist die Sache streng geheim. Man will keine Pferde scheu machen. Aber so viel darf ich ihnen verraten: Es handelt sich um einen sensationell kulturhistorischen Fund“, sagte die Dame, wobei sie kulturhistorischen Fund besonders betonte. „Hier? Bei uns?“, fragte Koop und musste lachen. „Mehr darf ich ihnen nicht preisgeben“, entgegnete die Dame und blickte auf ihr Handgelenk, als ob sie auf ihre Armbanduhr schaute, wo Koop jedoch keine Uhr entdecken konnte und sagte: „Es ist Zeit. Ich muss gehen.“ In diesem Moment schlug die Turmuhr zweimal – es war Halbzehn. „Vielen Dank für den Tee und ihre Gesellschaft“, bedankte sich die Dame, erhob sich von ihrem Stuhl, verabschiedete sich mit einem Nicken und verschwand so plötzlich durch die Tür, wie sie erschienen war. Samuel Koop hatte sich nachdenklich von seinem Stuhl erhoben und sah ihr hinterher. Er kratzte sich hinterm Ohr und goss sich eine Tasse Tee ein. Auf dem Tisch lag noch die Zeitung der Dame. „Madame!“, rief Koop, „ihre Zeitung!“ Hastig lief er an die Flügeltür, die zur Treppe führte, um die Dame noch vor dem Ausgang zu erwischen. Doch die war bereits auf die Straße getreten. Er hörte wie die Eingangstür ins Schloss fiel. Als pflichtbewusster Bibliothekar konnte er das Gebäude nicht verlassen. So sagte er sich: „Sie wird schon zurückkommen, wenn sie es merkt.“ Doch die Dame dachte gar nicht daran zurückzukehren.

Koop betrachtete die zusammengelegte Zeitung auf dem Tisch, zog sie neben seine Teetasse und setzte sich. Er war unschlüssig ob er das Recht hatte, die Zeitung zu lesen. Schließlich gehörte sie der Dame. „Die Titelseite werde ich ja wohl betrachten dürfen“, dachte Koop und schlug die umgeklappte Hälfte der Lokalzeitung um. In großer Aufmachung mit Bild vom Sitzungssaal, wurde von der UNO-Klimakonferenz berichtet. „Umweltverbände verlassen die Konferenz wutentbrannt und enttäuscht“, titelte das Blatt. „Der Rubel muss halt rollen. Davon ist alles in dieser Welt abhängig“, dachte sich Koop. Weiter unten las er: „Moderne Waldwirtschaft schadet dem Wald. Die komplett befahrenen Flächen mit schwerem Gerät sind für ein gesundes Baumwachstum dauerhaft zerstört.“ „Früher waren verborgene Wege im Wald begehbar. Heute muss man Trittsicherheit mitbringen, um darauf wegen der quergelegten Äste für die schweren Harvester nicht zu straucheln!“, schimpfte Samuel Koop. In einem Kasten in der Mitte des Titelblatts berichtete die Presse vom neuen Gewerbegebiet außerhalb Mittelsteins samt Zufahrtsstraßen, wofür große Waldflächen gerodet werden müssen. „Wie sollen Kinder und alte Menschen zum Einkauf dorthin gelangen. Eine Busverbindung die dreimal täglich fährt, ist doch unzumutbar. Damit gräbt man Geschäften in der Stadt das Wasser ab. Zurück bleiben letztlich Ruinen die abgerissen werden müssen - gerissene Wunden in ein intaktes Stadtleben“, murmelte Koop. Den Schluss der Seite unten bildete ein schmaler Satz mit der Überschrift: „Sensationeller Fund im Wald von Mittelstein!“ Der Artikel nahm die gesamte Breite der Seite ein. Koop stutzte. Hatte nicht die Dame einen sensationellen kulturhistorischen Fund angesprochen. Koop las weiter: „Im Wald von Mittelstein entdeckten Waldarbeiter einen seltsam gezeichneten Stein. Es handelt sich wohl um bisher nicht entzifferte Zeichen, wie es scheint aus aller Herren Länder. Es ist daher davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine vor langer Zeit untergegangene Kultur handelt. Die Rodungsarbeiten für das Gewerbegebiet sind bis auf Weiteres einzustellen. Das Kulturamt des Landes wurde bereits informiert.“ „Aha, deshalb die adrett gekleidete Dame. Sie hat das Kulturamt entsandt“, dachte Koop. Der folgende Satz elektrisierte ihn: „Bisher unbestätigt blieben Vermutungen der Fachleute, in einer Sonderausgabe von Walthers Enzyklopädie sei eine Abhandlung über die verschollene Kultur zu finden. Erkenntnisse darüber erbittet das Kulturamt unter folgender Adresse …, oder unter der Telefonnummer …“ „Das also führte die Dame in die Bibliothek“, dachte Koop. Er erinnerte sich an den merkwürdigen Eintrag in der Enzyklopädie unter dem Begriff Wesen. „Sollte dort, in diesem ominösen Anhang tatsächlich eine Abhandlung darüber zu finden sein?“, fragte er sich.

Koop zog Walthers Enzyklopädie U – W zu sich herüber, schlug den Buchdeckel der Rückseite auf und begann zu blättern. Wieder schlug er die leere Seite um und schrak zurück. Da war es wieder, das Zwinkern. Samuel Koop hatte es bereits vergessen. Doch dieses Mal tat er es nicht als Hirngespinst ab. Er schwenkte die Seite leicht vor und zurück. Jedes Mal zwinkerte ihm ein Etwas zu und Etwas war der richtige Ausdruck dafür, denn er konnte nicht erkennen, was es war. Koop untersuchte die Seite. Er strich mit dem Finger darüber, rieb sie zwischen den Fingerspitzen hin und her, kippte sie schräg gegen das hell erleuchtete Fenster, ob eine Struktur zu erkennen war und betrachtete sie im einfallenden Licht, ob so etwas wie ein Wasserzeichen erschien. Nichts, aber auch gar nichts Auffälliges war zu erkennen. Selbst als er das dünne Papier mit der Schmalseite in die einfallenden Sonnenstrahlen hielt und daran entlang schaute, war keine Absonderlichkeit zu erkennen. Samuel Koop besann sich auf sein eigentliches Anliegen – die Abhandlung über die verschollene Kultur. Mit geschlossenen Augen schlug er die leere Seite um. Er öffnete die Augen und wollte rückwärts weiterblättern, als ihn der Drang zu diesem Zwinkern die Seite zurückschlagen ließ um zu prüfen, ob dieser Effekt auch beim Vorwärtsblättern auftrat. Mit einem Satz sprang er vom Stuhl, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und rief: „Herr im Himmel! Was war das?“ Es war, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Mit geschlossenen Augen drehte er das Buch mit den Seiten nach unten, blätterte die Seite um, und legte es so auf den Tisch. „Wie soll man dieses Buch lesen, wenn einem mit jeder Seite etwas Absurdes ins Auge springt“, entrüstete sich Koop. Die Stundenglocke vom Turm verkündete die zehnte Stunde. Er trat aus seinem Büro und schritt den Lesesaal ab. Am hinteren Tisch saß der Herr im grauen Anzug, vorn hatten die beiden Buben am Tisch nebeneinander Platz genommen und kicherten. Koop dachte nach. Ob es nützte, beim Lesen der Enzyklopädie eine Sonnenbrille aufzusetzen? Was sollten Büchereibesucher denken, wenn sie ihn mit einer Sonnenbrille im Büro antrafen. Womöglich hielten sie ihn für einen Alkoholiker oder Drogensüchtigen. Für einen Blinden würden sie ihn wohl kaum halten, wenn er ein normales Buch las, statt eines in Brailleschrift. Und als blinder Bibliothekar hätte er hier keine Existenzberechtigung. Nachdenklich ging er in sein Büro zurück, ergriff das Buch und drehte es um. Irgendwo müsste doch dieser Anhang beginnen. Er schloss die Augen und schlug das Nachschlagewerk etwa in der Mitte auf. Von hier wollte er nach hinten blättern. Koop öffnete die Augen. Er war auf der letzten Seite des Buchstaben U angelangt und las:

„Uxmal [Uʃ'mal], Ruinenstätte (Weltkulturerbe) der Maya in Yucatán, Mexiko, südlich von Mérida; die bedeutende Stadt war zw. dem 7. und 11. Jh. besiedelt, Blütezeit gegen Ende des 10. Jahrhunderts.“

„Merkwürdig“, dachte Koop, „ausgerechnet jetzt finde ich die Ruinenstätten der Maya. Er sah in die Zeitung. „Hier steht es - Zeichen aus aller Herren Länder. Maya im Wald von Mittelstein? Das glaube wer will. Aber hatte er diesen Begriff im Buch wirklich zufällig gefunden?“, fragte sich Koop.

Mit geschlossenen Augen legte er Seite für Seite um. Kein Blitzen, kein Zwinkern hatte er verspürt. Nach jeder Seite öffnete er die Augen und orientierte sich, ob bereits das Ende der Begriffe dieses Bandes erreicht war. Endlich las er:

„Wyszyńsky [viʃ'iĩski], Stefan, poln. Kath. Theologe und Kardinal …

„Das wird wohl der letzte Eintrag im Band U – W sein“, sagte sich Koop. Er schloss die Augen und wendete das Blatt. Doch nichts hatte sich getan. Vorsichtig öffnete er die Augenlieder. Auf der Seite prangte der Titel:

 

Wesen und Eskiter

Eine außergewöhnliche Gemeinschaft

Studie über vergessene Kulturen nahe Mittelstein

Eine Abhandlung von Dr. Wilhelm Sansibar

Koop schnappte nach Luft, so atemberaubend war das was dort zu lesen war. Er war drauf und dran das Kulturamt anzurufen. Doch besann er sich. Zuerst musste er sich vom Inhalt überzeugen, um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Vielleicht waren die Ausführungen auf den folgenden Seiten so banal, dass niemand es interessierte. Oder es hatte sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt. Mit geschlossenen Augen schlug er die Seite um und, nachdem sich nichts getan hatte, blinzelte er durch die Wimpern der halb zugekniffenen Augen und las:

Einführung

„Lang schon gab es Vermutungen, Wesen in Märchen und Geschichten seien nicht frei erfunden, sondern beruhten auf wahren Begegnungen. Bereits vor der Hochkultur der Eskiter, die lange vor der Gründung des Ortes Mittelstein in den umliegenden Wäldern Kultstätten errichteten, hatten Menschen mit Wesen Bekanntschaft gemacht. Doch die Furcht, wegen angeblicher Hirngespinste verspottet oder gar vor Gericht gestellt zu werden, hielt Menschen davon ab ihre Begegnungen preiszugeben und zu bekräftigen.

Deshalb soll hier, verborgen vor der Öffentlichkeit, eine Abhandlung sowohl über Wesen als auch über Eskiter vorgestellt werden. Beide, Eskiter und Wesen lebten in enger Gemeinschaft, in der sie sich gegenseitig unterstützten um Wissen und Künste einander austauschten, wodurch sie eine ideale Gemeinschaft im Einklang mit der Natur bildeten.“

Samuel Koop rieb sich das Kinn. Er fragte sich was wohl mit Wesen gemeint war.

„Im Folgenden eine Aufstellung der echten Wesen“, las er am Ende des Abschnitts, bevor er die Seite umblätterte. In der Anspannung hatte er vergessen die Augen zu schließen. Doch hätte das nichts genützt, denn als er die Seite umschlug ertönte ein helles Glöckchen. Koop musste schmunzeln. Vergnüglich schlug er die Seite zurück, um sich noch einmal am hellen Klang der Glocke zu erfreuen. Doch dabei tat es einen heftigen dumpfen Schlag, worauf er zu den Lesern im Saal aufschaute. Der Herr im Anzug und die beiden Buben sahen zu ihm herüber. Sie hatten den Schlag wohl mitbekommen, doch vertieften sie sich augenblicklich wieder in ihre Bücher. „Was werden die Besucher wohl denken, wenn gleich das Glöckchen ertönt“, dachte Koop. Am liebsten hätte er das Buch unter einem dicken Tuch verhüllt, damit es den Klang dämpfte. Doch das hätte erst recht merkwürdig angemutet. Also schlug er die Seite wieder vor und, wie erwartet, ertönte das „Kling“. Koop beobachtet die Besucher, wie sie wohl reagierten. Doch hatten die keine Notiz davon genommen.

„Zunächst soll auf die Eskiter eingegangen werden.“, las Koop weiter. „Aus Überlieferungen unbekannter Quellen erschließen sich Rituale dieses Volkes, die erheblich von denen anderer Völker abweichen. So heißt es, ihre Kultstätte sei weder auf Sonnwend oder Frühlingspunkt ausgerichtet, sondern entspreche in seiner Lage exakt der Nord-Süd, respektive Ost-West-Richtung. Es muss sich bei den Eskitern folglich um Menschen mit außerordentlicher astronomischer Kenntnis gehandelt haben. So seien die Himmelsrichtungen im Außenbereich der Kultstätte wie folgt benannt worden: Nord mit Mond, Süd mit Sonne, Ost mit Künftig und West mit das Einstige oder Einst. Im Inneren dagegen seien die bereits genannten Himmelsrichtungen mit Nacht, Tag, Ungewiss und Gewiss bezeichnet worden. Die Nacht stand für die Ewigkeit, was die Überlieferung einer Aussage Nacht war und wird werden erhärtet. Vermutlich war hier der Zustand des Universums gemeint, das aus Nacht entstand und in Nacht enden wird.

Der Tag symbolisierte Vergänglichkeit, was den Charakter des Tages ausmacht, in seinem Tageslauf wie auch dann, wenn das Zentralgestirn unseres Sonnensystems einmal nicht mehr sein wird. Osten wiederum stand für Ungewiss, weil vieles, was in der Zukunft liegt (der neue Tag kommt aus dem Osten), unvorhersehbar ist. Und schließlich war West Symbol für Gewissheit (untergehende Sonne, der vergangene Tag). Vergangenes ist bereits geschehen und kann belegt werden. Dazwischen, in den Neben-Himmelsrichtungen Nord-Ost und Nord-West, hatten weltanschaulich EE (das einstig Ewige), KE (das kommend Ewige), so wie in Süd-Ost und Süd-West EV (das einstig Vergängliche), KV (das kommend Vergängliche) ihren Platz.“

Koop zeichnete die Anordnung der Buchstaben auf ein Blatt Papier. M und S im Abstand senkrecht auf einer Achse, K und E im Abstand beidseitig waagerecht. Identisch N und T, so wie U und G weiter innen. Reihum zwei EE, KE, EV und KV inmitten.

Irgendwie kam ihm die Anordnung bekannt vor, aber woher? Weiter las er: „In den Bereichen um das Zentrum nun wurden die Wesen verehrt und zwar in den Himmelsrichtungen Nord-Ost, Süd-Ost, Süd-West und Nord-West. Den Aufzeichnungen nach gab es unsterbliche und sterbliche Tag- wie Nachtwesen. Daher die vier Neben-Himmelsrichtungen.

Im Zentrum aber, im alles überragenden Mittelstein, kamen alle rundum liegenden Medien zusammen. Es symbolisierte das Zentrum der Welt für die Eskiter. Seine, die anderen Kultsteine überragende Höhe richtete sich zum Himmelszelt auf, dem eigentlichen Mysterium der Eskiter. An diesem Punkt stießen das Zukünftige und das Vergangene gleichermaßen in die Gegenwart. Hier vereinte sich alles. Der Mittelstein galt als unantastbar. Wer ihn berührte wurde unsterblich. Doch wer dies wagte wurde aus der Gemeinschaft ausgestoßen.“ Koop wurde nachdenklich und dachte: „Ein starkes Volk, diese Eskiter. Verfügten über ein Mittel zur Unsterblichkeit und machten keinen Gebrauch davon, ja ächteten es geradezu. Das durfte auf keinen Fall ruchbar werden. Und wenn doch, und der Stein würde tatsächlich gefunden, was konnte sich daraus entwickeln? Dieses Geheimnis durfte er auf keinen Fall preisgeben. Gleichzeitig müsste Sorge getragen werden, dass der Stein unberührt bliebe, sonst wäre in Mittelstein der Teufel los!“ Koop sah bereits Menschenmassen aus aller Herren Länder anreisen die sich, wie in Mekka, um den heiligen Stein wälzen, einmal im Leben den Stein berührt zu haben. „Der Stein müsste jeglichem Zugriff entzogen werden. Um das zu erreichen, würde Mittelstein zum europäischen Fort Knox. Die Eskiter werden ihre Gründe dafür gehabt haben, sich nicht mit der Unsterblichkeit zu infizieren!“, sagte sich Koop.

Er suchte den Anfang der Ausführungen. Hatte er richtig gelesen? Das Zentrum soll wirklich nahe Mittelstein gelegen haben? Tatsächlich - hier stand Mittelstein. „Weshalb war nie etwas darüber berichtet worden?“, dachte Samuel Koop. „Vermutlich waren Artefakte der Eskiter nie zuvor entdeckt worden. Der jetzige Fund veränderte alles. Das war wirklich eine Sensation“, sagte er sich. Koop blickte vorsichtshalber auf das Titelblatt der Zeitung, um sich zu vergewissern. Dort stand es im wahrsten Sinne des Wortes schwarz auf weiß. „Doch was war mit den Wesen? Gab es tatsächlich unsterbliche Tagund Nachtwesen, wie beschrieben? Unglaublich! Sollte das zutreffen, dann existierten sie noch heute. Aber wo und in welcher Gestalt traten sie auf?“, dachte Koop. Er schloss die Augen und blätterte die Seite um. Zum Glück war nur ein leichtes Klicken zu vernehmen, kaum hörbar für die Leser im Saal. Im selben Moment bellte ein Hund im Nachbarhaus. Koop maß dem keine Bedeutung bei. Auf der Rückseite fand er eine Aufstellung der Wesen mit all ihren Eigenheiten.

„Aufstellung der Wesen“ (siehe nächstes Kapitel)

Koop konnte kaum glauben, was er las: „Berggeister, Der Butt (aus „Vom Fischer und seiner Frau“), Elfen, Feen, Geister (böse und gute), Gespenster, Hexen, Hexenmeister, Holle (Frau), Klabautermann, Kobold, Riesen, Rübezahl, Rumpelstilzchen, Siebenzwerge, Wassermann, Wichtel, Zauberer, Zwerge und für jedes eine Erklärung samt Fähigkeiten und Eigenarten“, sagte er leise vor sich hin. Koop musste über deren Eigenarten schmunzeln. „Bergriesen – temperamentvolle Tänzer“, las er, oder „Flaschengeister seien lästig“, und „Zauberer wegen ihrer Hochnäsigkeit von den Wesen verachtet.“ Er musste an sich halten um nicht laut loszuprusten.

Samuel Koop schüttelte den Kopf. Dieses Exemplar von Walthers Enzyklopädie vor ihm, mit seinen merkwürdigen Effekten beim Blättern war kein gewöhnliches Buch. Er schloss die Augen und blätterte zurück auf die Einführung. Leichtes Knarren, wie das schlecht geölte Scharnier einer Tür war zu vernehmen. Er konnte es sich nicht verkneifen nochmals auf die Seite der Wesen zu blättern. Da war es wieder, das kaum hörbare Klicken. Doch wie vorhin bellte im selben Augenblick der Hund im Nachbarhaus. „Das konnte doch kein Zufall sein“, dachte Koop und machte sich einen Spaß daraus, die Seite wiederholt hin und her zu blättern, worauf sich Knarren und Klicken abwechselten, zu dem stets der Hund bellte. Das Buch begann ihm zu gefallen. „Wenn er dem Kulturamt Hinweise gab“, sagte sich Koop, „dann lediglich von den Eskitern. Auf keinen Fall durfte er die Wesen erwähnen, sonst hielten sie ihn für einen Spinner.“ Ihm wurde bewusst, dass vor ihm ein einmaliges Dokument lag. Diesen Trumpf durfte er auf keinen Fall aus der Hand geben. Er wollte diesen Vorteil für sich nutzen. Doch was hatte er schon zu erwarten? Er stand kurz vor der Pensionierung. Mit einer Beförderung konnte er wohl kaum rechnen. Doch wollte er die Gunst der Stunde nutzen und wenn sie nur dazu diente, ihm ein wenig Anerkennung und Ansehen in der Stadt zu verschaffen. Auf keinen Fall durfte er dem Kulturamt seine Quelle auf die Nase binden. Er musste das vor ihm liegende Exemplar der Ausleihe entziehen und es unter Verschluss halten. Koop kam die glorreiche Idee das archivierte Gegenstück aus dem Tiefgeschoss in die fehlende Lücke der Enzyklopädie einzusetzen. Das würde kaum auffallen, denn die ältere Ausgabe hatte nahezu die gleiche Aufmachung. Nur durfte er die Lücke erst schließen, wenn die dreiwöchige Leihfrist verstrichen war, sonst würde die Dame Verdacht schöpfen, sollte sie noch einmal auftauchen. Allerdings könnte das ausgeliehene Exemplar auch vorzeitig zurückgegeben worden sein. Diese Entscheidung hatte noch Zeit. Erst musste er sich beim Kulturamt erkundigen um zu erfahren, wie weiter verfahren wird, was bereits bekannt ist und wie er in diesem Fall behilflich sein kann. Man konnte schlecht von ihm verlangen in der Stadt nach der adretten Dame zu suchen. Wenn man ihm ihre Adresse in der Stadt nennen würde, könnte er direkt Kontakt mit ihr aufnehmen.

Koop griff zum Hörer des Telefons und wählte die im Zeitungsartikel angegeben Nummer. „Hier Samuel Koop, Bibliothekar der Stadt Mittelstein. Ich rufe an wegen des sensationellen Funds - sie wissen schon, der Stein im Mittelsteiner Wald.“ „Was meinen sie mit nie gehört!“ „Worum es sich handelt?“ „Es steht doch bereits in unserer Lokalpresse, dann sollten sie es doch längst erfahren haben.“ Koop kratzte sich hinterm Ohr. „Der Herr am anderen Ende der Leitung war wohl nur ein kleiner Beamter“, sagte sich Koop. „Aber sie haben doch extra die Dame nach Mittelstein geschickt, um diesen Fund zu untersuchen!“ „Welche Dame? Na die adrett gekleidete nette Dame, die heute in unserer Bibliothek erschien, um mehr über die Hintergründe der historischen Entdeckung zu erfahren“, erklärte Koop.

„Sie haben im Kulturamt keine Dame in der Wissenschaftsabteilung? Dann sollten sie einen Herrn schicken, der sich der Sensation annimmt, bevor sie in falsche Hände gerät. Der Stein dürfte ein Vermögen wert sein!“, rief Koop in den Hörer. „Ich soll den Stein beschreiben? Moment“, sagte Koop, zog die Zeitung zu sich und las ein seltsam gezeichneter Stein mit bisher nicht entzifferten Zeichen aus aller Herren Länder, wie es scheint. Man muss davon ausgehen, dass es sich dabei um eine vor langer Zeit untergegangene Kultur handelt.“ „Ja. - Gut. - Sie schicken jemanden vorbei. - Ja. - Sie melden sich in der Bibliothek. - Gut. - Dann bis morgen. - Auf Wiederhören!“ Koop schüttelte den Kopf. „Woher wusste die Lokalpresse von diesem Stein, während das Kulturamt ahnungslos war?“, zischelte Koop.

Von der Liste der Wesen blätterte er weiter. Deutliches Knistern war zu hören. Koop schmunzelte zufrieden und las: