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"Genius" ist der vierte Teil der Krimireihe um den Kölner Ermittler Mark Birkholz. Die ersten drei Bände "Uterus", "Animus" und "Exodus" sind ebenso im Frankfurter Verlag mainbook erschienen. Nicht Gott, sondern GENIUS entscheidet über Leben und Tod. In einem schwer zugänglichen Waldgebiet am Fort Deckstein wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Die Tote wurde erwürgt, in ihrem Rachen steckt eine Münze. Der Fund ver-setzt Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz und sein Team in höchste Alarmbereitschaft. Welche geheimnisvolle Botschaft verbirgt sich hinter dem Mord? Was hat es mit dem olym-pischen Diskuswerfer auf sich, der auf der Münze geprägt ist? Und wie ist Marks neuer Vor-gesetzter in den Fall verstrickt? Vieles ist unklar, eines steht fest: Der Mord ist kein Einzelfall, sondern Anfang einer grausa-men Mordserie …
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Seitenzahl: 315
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Astrid Schwikardi
Ein Köln-Krimi
eISBN 978-3-911008-09-9
Copyright © 2024 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd Fischer
Covergestaltung: Lukas Hüttner
Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher:
www.mainbook.de
Die Autorin
Das Buch
Prolog
Kapitel 1 Donnerstag, 15. Juni
Kapitel 2 Samstag, 01. Juli
Kapitel 3 Samstag, 01. Juli
Kapitel 4 Samstag, 01. Juli
Kapitel 5 Samstag, 01. Juli
Kapitel 6 Sonntag, 02. Juli
Kapitel 7 Montag, 03. Juli
Kapitel 8 Montag, 03. Juli
Kapitel 9 Montag, 03. Juli
Kapitel 10 Montag, 03. Juli
Kapitel 11 Montag, 03. Juli
Kapitel 12 Montag, 03. Juli
Kapitel 13 Montag, 03. Juli
Kapitel 14 Montag, 03. Juli
Kapitel 15 Dienstag, 04. Juli
Kapitel 16 Dienstag, 04. Juli
Kapitel 17 Dienstag, 04. Juli
Kapitel 18 Mittwoch, 05. Juli
Kapitel 19 Mittwoch, 05. Juli
Kapitel 20 Mittwoch, 05. Juli
Kapitel 21 Mittwoch, 05. Juli
Kapitel 22 Mittwoch, 05. Juli
Kapitel 23 Donnerstag, 06. Juli
Kapitel 24 Donnerstag, 06. Juli
Kapitel 25 Donnerstag, 06. Juli
Kapitel 26 Freitag, 07. Juli
Kapitel 27 Freitag, 07. Juli
Kapitel 28 Freitag, 07. Juli
Kapitel 29 Freitag, 07. Juli
Kapitel 30 Freitag, 07. Juli
Kapitel 31 Freitag, 07. Juli
Kapitel 32 Freitag, 07. Juli
Kapitel 33 Freitag, 07. Juli
Kapitel 34 Samstag, 08. Juli
Kapitel 35 Montag, 10. Juli
Kapitel 36 Montag, 10. Juli
Kapitel 37 Montag, 10. Juli
Kapitel 38 Montag, 10. Juli
Kapitel 39 Montag, 10. Juli
Kapitel 40 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 41 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 42 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 43 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 44 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 45 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 46 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 47 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 48 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 49 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 50 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 51 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 52 Dienstag, 11. Juli
Kapitel 53 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 54 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 55 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 56 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 57 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 58 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 59 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 60 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 61 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 62 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 63 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 64 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 65 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 66 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 67 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 68 Mittwoch, 12. Juli
Kapitel 69 Mittwoch, 12. Juli
Epilog
Astrid Schwikardi, geboren 1974, lebt mit ihrer Familie in Schwelm. Sowohl unter ihrem realen Namen als auch unter ihrem Pseudonym V.J. Courtier sind bereits einige ihrer Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht worden.
Ihr Debütroman „Uterus“ erschien 2019 im Frankfurter Verlag Mainbook und war gleichzeitig der Auftakt zu einer spannenden Kriminalreihe um den Ermittler Mark Birkholz. In den darauffolgenden Jahren folgten die Fortsetzungsromane „Animus“ und „Exodus“.
Mehr über die Autorin und ihre aktuellen Buchprojekte erfahren Sie unter www.astridschwikardi.de
Kriminalhauptkommissar Birkholz hat endlich seinen Seelenfrieden gefunden. Privat könnte es nicht besser laufen, nachdem Mark und Staatsanwältin Maja Reinhold in eine gemeinsame Wohnung in der Kölner Innenstadt gezogen sind. Doch mit der unbeschwerten Zeit ist es erst mal vorbei, als in einem schwer zugänglichen Waldgebiet am Fort Deckstein die Leiche der angehenden Unternehmerin Jessica Haupt entdeckt wird.
Schnell steht fest: die Tote wurde erwürgt. In ihrem Rachen steckt eine Münze.
Der grausame Fund versetzt Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz und sein Team in höchste Alarmbereitschaft. Zu recht, denn vieles deutet daraufhin, dass der Mord kein Einzelfall bleibt, sondern der Anfang einer grausamen Mordserie sein könnte.
Wenige Tage darauf werden ihre Befürchtungen zur schrecklichen Realität, als eine weitere junge Frau mit einer Münze im Hals ermordet aufgefunden wird.
Was für eine geheimnisvolle Botschaft verbirgt sich hinter den Morden? Und welche Rolle spielt der olympische Diskuswerfer, der auf der Münze eingeprägt ist?
Der Fall wird immer mysteriöser, als Mark auf Beweise stößt, die seinen neuen Vorgesetzten Jochen Weidler schwer belasten …
„Genius“ ist der vierte Teil der Krimireihe um den Kölner Ermittler Mark Birkholz. Die ersten drei Bände „Uterus“, „Animus“ und „Exodus“ sind ebenfalls im Frankfurter Verlag mainbook erschienen.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Donnerstag, 15. Juni
Eine rötliche Abenddämmerung legte sich über die Wohnsiedlung, als Jessica Haupt ihren Wagen auf der Zufahrt der Villa parkte und ausstieg. Sie eilte den mit Unkraut übersäten Kiesweg entlang, hetzte die Steinstufen hinauf und klingelte. Es dauerte einen Augenblick, bis die Haustür geöffnet wurde und eine alte Dame auf einem Gehstock gestützt ihr entgegentrat. Sie lächelte und bat Jessica hinein.
Das Gesicht der Seniorin war mit tiefen Falten durchzogen. Ihr weißes, dünnes Haar hatte sie zu einem Dutt zusammengesteckt.
„Watson hat schon sehnsüchtig auf dich gewartet. Er muss so dringend, dass er fast schon in den Flur gepinkelt hätte“, wurde Jessica von Rose Chevalier mit einem Augenzwinkern empfangen.
Energisch kämpfte sich der sieben Monate alte Schmetterlingshund an seiner Besitzerin vorbei und sprang an Jessicas Beinen hoch. Er bellte und drehte sich mehrmals um die eigene Achse.
Im Flur offenbarte eine Bildergalerie, was für eine Schönheit Rose Chevalier in jungen Jahren gewesen sein musste. Und obwohl der Höhepunkt ihrer Schauspielkarriere einige Jahrzehnte zurücklag, umgab sie immer noch die strahlende Aura von einst. Von der Schauspielerin ging eine Herzlichkeit aus, die Mensch und Tier gleichermaßen in den Bann zog.
„Tut mir leid, dass du so lange auf mich warten musstest. Dafür drehen wir gleich eine extra Runde“, entschuldigte sich Jessica bei dem Welpen und streichelte über seinen Kopf. Danach wandte sie sich der Schauspielerin zu.
„Mein Chef hatte vergessen, dass er für morgen eine Präsentation vorbereiten muss. Und wer durfte mal wieder die undankbare Aufgabe übernehmen, weil alle anderen bereits Feierabend gemacht haben?“
Rose verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern.
„Ich habe dir schon mal gesagt, dass du zu viel arbeitest, Liebes. Danken wird es dir niemand. Vielleicht solltest du in Zukunft einfach früher Schluss machen. Die anderen machen das doch auch.“
Sie wandte sich ihrem Hund zu und hob ermahnend den Zeigefinger.
„Und du vergiss nicht, was Jessica dir beim letzten Mal gesagt hat. Es kann nicht immer nur nach deiner Nase gehen, Watson. Auch Hunde müssen lernen, zu warten.“
Der Vierbeiner antwortete mit einem Bellen. Rose nahm die Hundeleine vom Sideboard und drückte sie Jessica in die Hand. Eilig befestigte sie die Leine am Halsband und nickte dem Hund auffordernd zu.
„Komm Watson, auf geht’s!“
Das kleine Energiebündel bellte und zog aufgeregt zur Straße.
„Nimm den Schlüssel mit, Liebes. Falls ich die Klingel nicht höre.“
„Sie meinen, für den Fall, dass der Film wieder so spannend ist? Was kommt denn?“
Rose strahlte übers ganze Gesicht, als sie Jessica den Schlüssel in die Hand drückte.
„Irgendein skandinavischer Krimi“, antwortete Rose, schaute auf die Uhr und blickte sie erstaunt an. „Schon zehn nach neun? Ich muss mich beeilen. Den Anfang darf ich auf keinen Fall verpassen. Da passiert doch immer der Mord.“
„Und wenn man den verpasst, ist der Film nur halb so spannend. Ich weiß“, erwiderte sie schmunzelnd.
„So ist es, mein Kind.“
„Dann ermitteln Sie mal fleißig. Wir sind in spätestens einer Stunde zurück.“
Sie war sich nicht sicher, ob Rose überhaupt verstanden hatte, was sie gesagt hatte, denn noch während sie den Satz zu Ende sprach, fiel die Haustür bereits ins Schloss.
Der Welpe hatte es unfassbar eilig. Aufgeregt zog er sie den Kiesweg entlang und verrichtete bereits auf dem Bürgersteig sein Geschäft.
Sie machten sich auf den Weg und erreichten nach zwanzig Minuten den Decksteiner Weiher. Der See zählte zu den beliebtesten Ausflugszielen in Köln und Umgebung und war eine künstlich angelegte Parkanlage mit zum größten Teil gradlinig verlaufenden Ufern. Trotz vorangeschrittener Uhrzeit war der Park gut besucht. Einige Pärchen hatten es sich mit einer Wolldecke auf der Wiese gemütlich gemacht. Ein Rentnerehepaar saß auf einer Bank und fütterte die Enten.
Es kam eher selten vor, dass Jessica mit Watson am Decksteiner Weiher spazieren ging, dafür war der Weg einfach zu weit, doch da sie dem Vierbeiner eine große Runde versprochen hatte, entschied sie sich, ausnahmsweise am Felsengarten vorbeizugehen.
Watson zog unaufhaltsam an der Leine und schnüffelte an jedem Strauch, an dem sie vorbeikamen. Kurz darauf steuerte er zielstrebig auf einen Trampelpfad zu. Er führte direkt in den Wald, unmittelbar am Fort Deckstein vorbei. Gedankenversunken betrachtete Jessica den Abendhimmel. Der Horizont war rötlich gefärbt. Die Dämmerung hatte längst eingesetzt, nicht mehr lange und es wäre stockdunkel.
Jessica zog Watson vom Gebüsch weg und lenkte ihn auf den angrenzenden Spazierweg. Mit schnellen Schritten setzten sie den Spaziergang fort, ließen das Fort hinter sich und durchquerten ein zugewuchertes Waldstück. Unaufhörlich zog Watson an der Leine und eilte voraus. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihnen schon länger kein Spaziergänger mehr entgegengekommen war.
Watson inspizierte sämtliche Sträucher, wechselte von einer Seite zur anderen, hob immer wieder sein Bein und steuerte auf den Felsengarten zu. Nur noch wenige Meter trennten sie vom Plateau, als der Hund plötzlich zusammenzuckte, die Ohren aufrichtete und abrupt stehenblieb. Jessica wollte weitergehen, doch der Vierbeiner sträubte sich und verweigerte jeden weiteren Meter.
„Jetzt komm schon! So weit ist es doch nicht mehr.“
Sie versuchte, Watson hinter sich herzuziehen, doch er rührte sich nicht vom Fleck. Stattdessen fing er an, lautstark zu knurren.
„Was hast du denn?“
Watson wirkte wie elektrisiert. Anstatt auf ihre Frage zu reagieren und weiterzugehen, starrte er gebannt zum Wald. Schon kurz darauf bellte er und stemmte die Vorderpfoten in den Boden, während Jessica versuchte, ihn wegzuziehen.
„Was ist denn los? So kenn ich dich gar nicht.“
Er bellte in einer Tour, nur um kurz danach wieder zu knurren. Jessica kniete sich zu ihm, streichelte seinen Kopf und blickte zu der Stelle, die er unentwegt fixierte. Aber da war nichts.
Mit einem Mal erstarb sein Knurren und schlug in ein jämmerliches Jaulen um. Sekunden darauf breitete sich eine beängstigende Stille aus. Jessica konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor an diesem Ort so eine Energie wahrgenommen zu haben. Von einem Moment auf den nächsten war es windstill. Sämtliches Vogelgezwitscher war verstummt.
Irritiert sah sie sich um und hielt Ausschau nach Passanten. Dabei fiel ihr Blick auf den Hund. Watson war in eine Schockstarre gefallen. Er wirkte wie erstarrt und gab keinen Laut mehr von sich.
Jessica hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, bis sie endlich wieder Vogelstimmen vernahm. Eine leichte Brise zog durch die Baumkronen, und mit dem Rascheln der Blätter verflüchtigte sich die angsteinflößende Stille. Sie war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob sie sich doch alles nur eingebildet hatte. Ihr Blick fiel auf die Hundeleine. Nach wie vor hielt sie sie in der Hand, doch Watson war verschwunden.
Ruckartig sprang sie auf, schaute sich suchend um und rief seinen Namen. Mittlerweile war die Abenddämmerung so weit fortgeschritten, dass die Sicht stark eingeschränkt war. Weiterhin befand sie sich auf dem Trampelpfad. Stellenweise war der Durchgang fast zugewuchert. Meterhohe Sträucher und Bäume ragten empor und versperrten die Sicht.
„Watson!“
Sie lauschte, doch weder ein Bellen noch ein Jaulen war zu hören. Von dem Hund fehlte jede Spur, als wäre er nie dort gewesen. Sie betrachtete den Karabinerhaken und runzelte verwundert die Stirn. Der Verschluss war einwandfrei. Wie um alles in der Welt war das möglich? Wie hatte es der Hund fertiggebracht, sich loszureißen?
Sie schob den kleinen Riegel hoch und bemerkte, dass kaum ein Widerstand vorhanden war. Erneut schweifte ihr Blick zu der Stelle, die Watson anvisiert hatte, bevor er erschrocken zurückgewichen war.
Aus weiter Ferne vernahm sie plötzlich Gebell. Eilig setzte sie sich in Bewegung und zwängte sich durch das Gestrüpp.
„Watson!“
Sie gelangte tiefer in den Wald. Immer wieder peitschten ihr Zweige ins Gesicht, sodass sie nur mühsam vorankam. Doch je weiter sie vordrang, desto lauter wurde das Gebell. Sie stolperte über eine Baumwurzel und verlor das Gleichgewicht. Im letzten Augenblick schaffte sie es, sich an einem Ast festzuhalten. Ein Abhang lag unmittelbar vor ihr. Watson musste ganz in der Nähe sein. Er bellte in einer Tour. Kurz darauf vernahm sie ein Jaulen. Danach Stille.
„Watson!“
Ihre Blicke schnellten umher. Stück für Stück kämpfte sie sich die Böschung hinunter. Unten angekommen glaubte sie plötzlich, einige Meter entfernt den Umriss einer Gestalt zu erkennen.
„Ist da jemand?“
Im schwachen Licht der Abenddämmerung sah sie jetzt klar und deutlich einen Schatten. Blankes Entsetzen packte sie, als ihr klar wurde, dass sich jemand auf sie zubewegte. Ohne zu überlegen, fuhr sie herum und rannte los. Sie kletterte den Abhang hinauf, während sich hinter ihr jemand mit rasender Geschwindigkeit näherte. Sie rang nach Luft, atmete schwer und hatte Mühe, nicht den Halt zu verlieren. Sie schrie panisch um Hilfe, obwohl sie bereits ahnte, dass es zwecklos war und sie niemand hören würde.
Ihre eigenen Schreie waren das Letzte, was Jessica hörte, bevor sie gepackt wurde und sich abgrundtiefe Schwärze über ihr Bewusstsein legte.
Es war Viertel nach zehn, als Rose Chevalier auf die Uhr sah und den Fernseher ausschaltete. Kurz zuvor war der spannende Krimi zu Ende gegangen. Sie überlegte, ob sie vielleicht die Klingel überhört hatte. Andererseits hatte sie für einen solchen Fall Jessica den Haustürschlüssel mitgegeben. Schwerfällig erhob sie sich aus dem Sessel, nahm den Gehstock und ging zur Haustür. Suchend blickte sie zur Straße, doch von Jessica und ihrem Hund war weit und breit nichts zu sehen. Zwar hatte Jessica angedeutet, dass sie vorhatte, mit Watson eine große Runde zu drehen, doch es war fast dunkel, und sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass Jessica jemals so lange mit ihrem Hund unterwegs gewesen war.
Rose atmete erleichtert auf, als sie einige Meter entfernt das Licht einer Taschenlampe entdeckte. Doch die Erleichterung verflog augenblicklich, als sie feststellte, dass es nur ein Nachbar war, der mit seinem Schäferhund Gassi ging. Er grüßte freundlich und blieb an der Zufahrt stehen.
„Guten Abend, Rose. Ist alles in Ordnung?“
Sie hob die Hand und nickte.
„Alles gut, Patrick. Ich warte nur auf Jessica und Watson. Die zwei wollten schon längst hier sein.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Die kommen bestimmt gleich.“ Ihr Nachbar schaute hinauf zum wolkenverhangenen Himmel. „Spätestens, wenn das Gewitter loslegt“, setzte er lachend hinterher.
„Wird aber auch Zeit, dass es mal regnet. Die Blumen lassen schon die Köpfe hängen.“
„Da haben Sie recht, Rose. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sich Regen anfühlt.“
Er winkte zum Abschied, wünschte ihr eine angenehme Nacht und war kurz darauf verschwunden.
Nachdenklich drückte die Schauspielerin die Haustür ins Schloss und schaute mit sorgenvoller Miene auf die Uhr. Mittlerweile war es fast halb elf. So lange war Jessica noch nie mit Watson unterwegs gewesen, jedenfalls nicht, wenn es draußen schon dunkel war. Sie versuchte, Jessica über ihr Handy zu erreichen. Nachdem es mehrmals geklingelt hatte, sprang die Mailbox an, und die Stimme der jungen Frau war zu hören.
Rose Chevalier legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. In den darauffolgenden Minuten versuchte sie es immer wieder. Doch ihre Anrufe liefen ins Leere. Es war fast dreiundzwanzig Uhr, als sie die Notrufnummer der Polizei anrief und Jessica Haupt als vermisst meldete.
Schwer atmend liefen Jacob und Gereon durch den Wald und hielten Ausschau nach einem geeigneten Versteck. Ihre Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen. Nicht mehr lange und sie hätten sie eingeholt. Der elfjährige Jacob machte einen Schlenker, sprang über eine Baumwurzel und hetzte eine Böschung hinunter. Gereon folgte nur wenige Meter dahinter. Nachdem die Jungs am Fuße des Abhangs angelangt waren, verschnauften sie einen Augenblick und liefen dann weiter zu einem Gebüsch. Dort verschanzten sie sich und richteten die Aufmerksamkeit auf den nahegelegenen Berghang. Doch von den anderen war nichts zu sehen. Verwundert sahen sie sich an. Sie waren außer Atem und dankbar für die kurze Verschnaufpause.
Gereon wusste nicht, wie lange sie schon in ihrem Versteck ausharrten, als Jacob plötzlich den Finger auf den Mund legte und ihm zu verstehen gab, dass er leise sein sollte. Sie lauschten in die Stille.
„Wir müssen hier weg, sonst haben die uns gleich“, flüsterte Jacob, ohne dabei die Böschung eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Gereon wollte gerade etwas erwidern, als Jacob innehielt und sich irritiert umsah.
„Hörst du das?“
Gereon horchte, doch im ersten Moment fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf.
„Was meinst du?“
„Hörst du das nicht?“
Gereon schüttelte den Kopf.
„Nein.“
„Dieses Summen.“
„Ich hör nichts.“
„Wenn ich’s dir doch sag. Wie von einem Bienenschwarm.“
Vorsichtig krabbelten die Jungs aus dem Versteck und näherten sich einem Gebüsch. Meter um Meter drangen sie tiefer in den Wald, bis ihnen dichtes Gestrüpp endgültig den Weg versperrte. Die Sträucher waren meterhoch, ein Durchkommen war kaum möglich. Doch immerhin hörte Gereon das Brummen jetzt auch.
„Vielleicht ist in der Nähe ein Wespennest.“
Stimmengemurmel drang zu ihnen durch und erinnerte sie daran, dass sie sich beeilen mussten.
„Komm, da lang! Da finden die uns nie.“
Jacob schob seinen Freund einige Meter weiter. Zu einer Stelle, an der die Sträucher lichter wirkten.
„Da durch? Du hast wenigstens eine lange Hose an.“
„Stell dich nicht so an. In ein paar Minuten haben wir eh gewonnen.“
Jacob schlug Gereon aufmunternd auf die Schulter und machte sich bereits an den Ästen zu schaffen. Die Zweige leisteten kaum Widerstand, und innerhalb kürzester Zeit hatten sie sich durchgekämpft.
Nur wenige Meter entfernt erkannten sie einen Felsvorsprung. Darunter befand sich ein Loch. Hintereinander durchquerten sie die Schlucht und näherten sich einer Steinwand. Zeitgleich drangen die Stimmen ihrer Verfolger durch den Wald. Gebannt schauten sie den Abhang hinauf.
„Was glaubst du, was das für ein Loch ist?“
„Willst du da etwa rein?“
„Warum nicht? Groß genug müsste es sein.“
„Das ist viel zu gefährlich!“
„Was bist du denn für ein Hosenscheißer? Umkehren können wir immer noch.“
„Aber die anderen suchen uns doch.“
„Die können ruhig etwas warten,“ erwiderte Jacob, kletterte kurzerhand die Böschung hinauf und war kurz darauf verschwunden. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte Gereon seinem Freund. Er fand ihn auf der entgegengesetzten Seite. Ein schmaler Trampelpfad führte hinüber zum Plateau.
„Stimmt was nicht?“
„Spürst du das?“
„Was?“
„Diese Kälte?“
„Wovon redest du?“
„Seitdem wir durch das Gebüsch gegangen sind, ist es hier kühler.“
Fragend sah Jacob seinen Freund an. In seinem Blick lag etwas Sonderbares. Gereon konnte es nicht genau in Worte fassen, doch wenn jemand ihn in diesem Augenblick gefragt hätte, hätte er vermutlich Jacobs Gesichtsausdruck, mit dem eines Wahnsinnigen verglichen.
„Du machst mir Angst, Jacob. Komm, lass uns gehen! Mir ist das nicht geheuer.“
„Unser kleiner Hosenscheißer hat Angst.“
„Hab ich nicht!“
„Hast du wohl!“
„Nein!“ Gereon schrie und schubste Jacob so kräftig, dass er über die eigenen Füße stolperte und hinfiel.
„Spinnst du!“
In Windeseile sprang Jacob auf und setzte zum Gegenangriff an, doch Gereon reagierte nicht. Stattdessen schaute er durch Jacob hindurch. Wie hypnotisiert starrte er zu einer Stelle und begriff nicht, was nur wenige Meter entfernt am Boden lag. Zu entsetzlich war die grausame Realität, die gerade seine schlimmsten Albträume wahr werden ließ. Mit weit aufgerissenen Augen verharrte er regungslos und fing an zu zittern. Blitzschnell drehte sich Jacob um. Tiefes Entsetzen legte sich über seine kindlichen Gesichtszüge, als er die verweste Frauenleiche entdeckte.
„Etwas nach links“, sagte Maja Reinhold, während sie nachdenklich das Bild betrachtete, das Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz gerade im Wohnzimmer aufhängen wollte.
Maja war Staatsanwältin bei der Kölner Staatsanwaltschaft und vor einigen Jahren von Frankfurt nach Köln gezogen, nachdem sie in Frankfurt das zweite Staatsexamen erfolgreich absolviert und die Befähigung zum Richteramt erworben hatte. Mark und Maja hatten sich vor einigen Jahren kennengelernt. Zu der Zeit hatte ein vermeintlicher Serienkiller bei den Kölner Bürgern für Angst und Schrecken gesorgt. Ihr erster gemeinsamer Serienmörderfall hatte Mark und Maja nicht nur beruflich, sondern auch privat nähergebracht. Doch bis sie schließlich zueinandergefunden hatten, waren einige Jahre vergangen. Aufregende Jahre, mit Höhen und Tiefen, in denen Maja zwischen zwei Stühlen saß und weder ein noch aus gewusst hatte. Aber schlussendlich waren Mark und Maja doch zusammengekommen, obwohl es zwischenzeitlich nicht danach ausgesehen hatte.
Vor fast fünfzehn Jahren waren Majas Eltern bei einem Flugzeugabsturz vor der Küste Norderneys auf tragische Weise ums Leben gekommen. Majas Vater war ein erfolgreicher Rechtsanwalt gewesen, der internationale Unternehmen mit Jahresumsätzen in Milliardenhöhe juristisch beraten hatte. An einem sonnigen Herbsttag sollte ihn eine Cessna zu einem Kunden auf die ostfriesische Insel fliegen. Wie schon so oft in der Vergangenheit hatte ihre Mutter ihn begleitet.
Doch nur wenige Kilometer vor der Insel war das Flugzeug in eine Gewitterfront geraten. Der letzte Funkspruch des Piloten ließ darauf schließen, dass es Probleme mit der Steuerung gegeben und die Elektronik versagt hatte. Keine Stunde später hatte ein Suchtrupp vor der Küste die ersten Wrackteile geortet.
Mark erinnerte sie sehr an ihren Vater. Er war genauso launisch gewesen. Ein Eigenbrötler wie er im Buche stand, und doch zweifelte sie nie an Marks Aufrichtigkeit. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sich Maja zum ersten Mal wieder geliebt gefühlt. Mark akzeptierte sie so, wie sie war, mit all ihren Fehlern und Schwächen. Sein letztes Hemd würde er für sie geben. Sie verteidigen, auch wenn er mit seiner Meinung allein auf weiter Flur stünde. Mark war alles andere als ein Romantiker, doch das war ihr egal. Wichtig war, was sie fühlte.
Das war das Einzige, was zählte.
Harte Zeiten lagen hinter ihnen, nachdem Mark endlich herausgefunden hatte, wer seine Schwester Patricia ermordet hatte. Die grausame Erkenntnis hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen und ihn erneut in eine schwere Krise gestürzt. Zu dem Zeitpunkt hatte Maja schon länger mit sich gehadert und eine längst fällige Entscheidung getroffen.
Nach vielen leidvollen Jahren hatte sie endgültig einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen und sich von ihrem langjährigen Expartner getrennt. Nur wenige Tage nachdem sich Mark in eine stationäre, psychiatrische Behandlung begeben hatte. Bis zum heutigen Tag hatte sie diese Entscheidung keine Sekunde bereut.
„Noch ein Stückchen nach links.“
Mark verdrehte die Augen und verrückte das Landschaftsbild einige Zentimeter.
„Stopp. Das war zu weit. Wieder nach rechts.“
Sichtlich genervt verschob er das Bild zur anderen Seite.
„Schatz, ich kann das Bild noch stundenlang hin- und herschieben, aber aus Mist kann niemals Gold werden.“
Sie strafte ihn mit einem bösen Blick.
„Willst du damit sagen, das Bild ist hässlich?“
Mark grinste.
„Meiner Meinung nach hätte der Antiquitätenhändler dir was zahlen müssen. Und zwar Schmerzensgeld.“
„Du Schuft!“
Sie schnappte sich ein Kissen und warf es ihm an den Kopf.
Mark lachte, lehnte den alten Schinken an die Wand und nahm sie in den Arm.
„Ich wüsste den optimalen Platz für das Bild. Im Keller. Dort stört es niemanden“, sagte er und küsste sie.
Mit offenem Mund sah sie ihn an.
„Du bist …“ Sie stockte mitten im Satz, als das Klingeln eines Handys zu hören war. In Anbetracht der Tatsache, dass Marks freier Tag war, war beiden sofort klar, dass der Anrufer vermutlich nichts Gutes zu verkünden hatte. Kurzerhand eilte Mark in die Küche und nahm das Gespräch entgegen.
„Birkholz“, meldete er sich mit fester Stimme.
„Herr Birkholz, ich störe Sie nur ungern. Und dann noch an Ihrem freien Tag, aber Mallow bat mich, Sie unmittelbar zu informieren.“
„Um was geht’s?“
Er hörte den Kollegen von der Schutzpolizei hüsteln. „Wir haben eine Leiche gefunden, Herr Birkholz. Im Felsengarten. In der Nähe des Plateaus.“
Der Felsengarten lag in der Nähe des Forts Deckstein und bestand größtenteils aus den Betontrümmern einer gesprengten Festung. Im neunzehnten Jahrhundert war die Stadt Köln mit einem Festungsring umsäumt worden, zu dem mehrere Forts errichtet werden mussten. Das Fort Deckstein war eines davon gewesen, bis es in den frühen 1920er Jahren abgerissen wurde. Schmale Wanderpfade durchzogen die künstlich angelegte Schlucht und führten die Besucher an teilweise zwanzig Meter hohen Steinwänden vorbei. Meterhohe Bäume ragten aus dem Erdboden und verliehen dem Wald etwas Mystisches. Am Rande des Waldgebietes bot eine Hochebene einen wunderbaren Blick auf den Decksteiner Weiher.
Es war später Nachmittag, als Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz seinen schwarzen BMW auf dem nahegelegenen Parkplatz abstellte und sich auf den Weg zum Plateau machte. Schon von weitem erkannte er das Absperrband und das Zelt, das die Kollegen von der Spurensicherung aufgebaut hatten, um den Schaulustigen die Sicht auf die Leiche zu versperren. Es war Wochenende, noch dazu ein sonniger Tag mit sommerlichen Temperaturen. Optimale Voraussetzungen, um mit der Familie einen Ausflug ins Grüne zu unternehmen. Speziell für die Polizei eher miserable Bedingungen, um ungestört mit den Ermittlungsarbeiten zu beginnen. In einem Umkreis von mehreren hundert Metern wimmelte es von Fußabdrücken. Sogar von der Absperrung ließen sich Passanten nicht abschrecken. Mark beschleunigte seine Schritte und steuerte einen hageren Jogger mit kurzer Hose und Muskelshirt an. Kurz zuvor hatte sich der Mann unter dem Absperrband hindurch gekämpft und versucht, einen Blick ins Innere des Zeltes zu erhaschen.
„Was machen Sie da?“
Der Mann reagierte nicht. Erst als Mark bis auf wenige Meter herangekommen war, verstaute er das Handy in der Hosentasche und nahm Reißaus. Kopfschüttelnd schaute Mark ihm hinterher. Zuerst überlegte er, ob er hinterherlaufen und sich den Kerl vorknöpfen sollte, doch es war äußerst unwahrscheinlich, dass der Mann von der Leiche Fotos gemacht hatte. Nicht umsonst errichteten sie in freier Natur ein Schutzzelt. So schützten sie zumindest die Würde der Toten vor den Blicken neugieriger Schaulustiger.
Noch immer überkam Mark ein flaues Gefühl, wenn er zu Fundorten gerufen wurde, die in einem Waldgebiet lagen. Die düstere Atmosphäre, die manchmal in Wäldern herrschte, dazu die wuchtigen Bäume und der Geruch nach feuchter Erde versetzten ihn jedes Mal um Jahre zurück. Zu dem Tag, an dem Kollegen seine Schwester Patricia am Rande eines Waldstücks ermordet aufgefunden hatten. Viele Jahre waren seitdem ve rgangen. Schreckliche Jahre, in denen Mark manchmal so verzweifelt war, dass er sich sogar einmal ertappt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Seine Rettung war die therapeutische Unterstützung eines Psychiaters gewesen, auf die er sich lange Zeit nicht einlassen wollte, weil er davon überzeugt war, es allein schaffen zu können. Er hatte sich lange etwas vorgemacht und seine geschundene Seele zum Schweigen gebracht. Ein menschenunwürdiges Verhalten, das ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre.
Besonders tragisch war, dass der grausame Mord an seiner Schwester seine Familie fast zerstört hätte. Zum Glück war es nicht so weit gekommen. Gut zwei Jahre hatte er gebraucht, bis er überhaupt wieder in der Lage war, mit seinen Eltern in Kontakt zu treten und sich seiner Trauer zu stellen. Phasenweise hatte er abgrundtiefe Dunkelheit durchschritten, letztendlich aber doch Patricias Mörder zur Strecke gebracht. Zwar machte das seine Schwester nicht wieder lebendig, aber es kam dem Gefühl von Gerechtigkeit zumindest ansatzweise nahe.
Mark tauchte unter dem Absperrband hindurch und trat zum Zelt. Zwei Kollegen standen in unmittelbarer Nähe des Eingangs und sprachen gerade miteinander. Obwohl ihm einer der Kollegen den Rücken zudrehte, erkannte er seinen Bürogenossen Peter Eiser sofort. Peter hatte seinen Vollbart in den zurückliegenden Tagen ordentlich gestutzt, doch nur was die Länge betraf. Die Breite seines Barts nahm mittlerweile voluminöse Ausmaße an.
Peter Eiser war gerade vertieft in ein Gespräch mit dem Nachfolger von Thomas Dahlmann. Jochen Weidler war vor einigen Monaten zu ihnen gestoßen, nachdem Marks alter Chef Thomas Dahlmann Ende letzten Jahres seinen wohlverdienten Ruhestand angetreten hatte.
Jochen Weidler war ein eiskalter Fisch, der sich von nichts und niemandem etwas sagen ließ und von seiner Makellosigkeit überzeugt war. Ein Mensch, den Mark vom ersten Moment ihrer Begegnung an gehasst hatte.
Für einen Augenblick verharrte Mark und ertappte sich bei dem Gedanken, kehrtzumachen und das Zelt aus einer anderen Richtung anzusteuern, doch dafür war es eindeutig zu spät. Schon längst hatte Jochen ihn bemerkt. Mit einem durchdringenden Blick fixierte ihn sein neuer Vorgesetzter, während er zeitgleich auf Peter Eiser einredete. Schon kurz darauf wandte sich Jochen ab und ließ Peter irritiert zurück. Mit schnellen Schritten bewegte sich Jochen Weidler auf Mark zu und baute sich vor ihm auf.
„Was machst du hier? Du hast doch frei.“
„Die schöne Aussicht genießen. Was sonst?“
Sein Chef zog den Mundwinkel hoch. Er gab sich keinerlei Mühe, die Antipathie, die er Mark gegenüber empfand, zu verbergen.
„Dämliche Sprüche kannst du in deinen vier Wänden klopfen. Aber wenn du schon hier bist, kannst du Peter zur Hand gehen. Die letzten Monate ohne Chef waren für den einen oder anderen für den Erhalt des Intellekts nicht gerade förderlich.“
„Für den Erhalt … Ich glaub, dir haben sie …“
Noch bevor Mark den Satz zu Ende sprechen konnte, fiel Peter ihm ins Wort.
„Mark! Gut, dass du hier bist. Das musst du dir anschauen. Entschuldige Jochen, wenn ich euer Gespräch unterbreche, aber es ist wichtig.“
Der Gesichtsausdruck seines Vorgesetzten blieb starr. Kaum merkbar nickte er Peter zu. Peter wiederum zögerte keinen Augenblick und zog Mark zum Zelt.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Der macht Kleinholz aus dir, wenn du ihm weiterhin querkommst“, raunte Peter ihm zu.
„Soll er machen. Ich bin gespannt, was er draufhat.“
Peter schüttelte den Kopf, zog den Sichtschutz des Zelts zur Seite und gewährte Mark den Vortritt.
Im Inneren verrichtete gerade Rechtsmediziner Dr. Karsten Mallow mit einem Kollegen von der Spurensicherung seine Arbeit. Es kam eher selten vor, dass ein Gerichtsmediziner bereits an einem Leichenfundort auftauchte. Zumindest war es einige Zeit her, dass er Mallow an einem Fundort angetroffen hatte. Mallow schaute auf und grinste, als er Mark und Peter erblickte.
„Schön euch zu sehen. Und Glückwunsch zum Klassenerhalt.“
Irritiert runzelte Mark die Stirn.
„Hört sich so an, als wenn wir kurz vorm Abstieg gestanden hätten.“
„Habt ihr das nicht?“
Mark winkte ab. „Du hast wirklich keine Ahnung von Fußball.“
Mallow lachte.
„Immerhin seid ihr so in den Genuss gekommen, die Meisterschale aus nächster Nähe zu sehen“, erwiderte der Rechtsmediziner und spielte auf das verlorene Fußballspiel der Kölner gegen den FC Bayern München an. In der neunundachtzigsten Minute hatte Mittelfeldspieler Jamal Musiala durch einen platzierten Distanzschuss ins rechte untere Eck den Sieg gesichert und so den Bayern zum Gewinn der Deutschen Meisterschaft verholfen. Mallow wandte den Blick ab und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder der Toten.
Die Luft im Zelt war stickig, dazu verströmte die Leiche den penetranten Gestank der Verwesung. Mark betrachtete die sterblichen Überreste der jungen Frau. Die Zersetzung war bereits weit vorangeschritten. Die Haut der Toten war dunkel verfärbt. In ihrem Gesicht sowie an Armen und Beinen waren Blasen zu erkennen. Sie musste schon vor einiger Zeit gestorben sein. Die Jeans und die langärmlige Bluse waren gut erhalten. An den Füssen trug sie Sneakers.
„Kannst du schon sagen, wann sie ungefähr gestorben ist?“
„Schätzungsweise vor knapp zwei Wochen. Genau kann ich es noch nicht sagen. Dafür müsste ich sie mir genauer anschauen.“
„Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ermordet wurde?“
„Extrem hoch. An ihrem Hals befinden sich Würgemale. An einem Arm sind mir Hämatome aufgefallen, die vermutlich von einem Kampf oder Sturz stammen könnten.“
Mark betrachtete die Leiche der toten Frau.
„Warum hat man sie erst jetzt entdeckt? Findest du das nicht komisch?“
„Ganz und gar nicht. Das Gelände ist an dieser Stelle schwer zugänglich. Der nächstgelegene Weg verläuft da hinten, viele Meter entfernt. Außerdem ist alles zugewuchert.“
„Aber vom Plateau aus hätte man sie doch sehen müssen.“
Der Rechtsmediziner strich sich über seine Glatze und massierte nachdenklich sein Kinn.
„Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber jetzt, wo du es sagst.“
„Aber du bist dir sicher, dass sie hier gestorben ist?“
Mallow nickte.
„Wieso hat sie dann niemand entdeckt?“, murmelte Mark nachdenklich zu sich selbst und verließ ohne ein weiteres Wort das Zelt. Sein Blick schweifte über den Felsengarten. Nachdenklich verharrte er einen Moment vor dem Zelteingang und setzte sich dann in Bewegung.
Mit schnellen Schritten steuerte er den nächstgelegenen Pfad an und schaute zum Leichenfundort. Von dieser Stelle aus wäre es tatsächlich unmöglich gewesen, zu erkennen, was sich hinter den Gebüschen befand. Er schaute sich um und blieb am Plateau hängen. Von dort aus hätte man die Leiche doch sehen müssen. Entschlossen eilte er den Weg hinauf. Oben angelangt ließ er die Umgebung auf sich wirken und ließ den Blick durch den Wald wandern. Von der Plattform hatte man eine gute Sicht auf das Fort Deckstein. Aus Zeitungsberichten wusste er, dass in den Räumlichkeiten der Kölner Bezirksligist SC Blau-Weiß 06 untergebracht war.
Nachdenklich beugte er sich über das Geländer, checkte jede Stelle, bis er sich eingestehen musste, dass die Tote vom Plateau aus tatsächlich nicht zu sehen gewesen war. Er verließ den Aussichtspunkt und kehrte zurück zum Fundort. Gerade als er das Zelt betrat, fing Mallow an, seine Sachen zusammenzupacken. Die Leiche der jungen Frau hatten sie bereits in einen Transportsack verstaut.
Fragend blickte Mark den Rechtsmediziner an.
„Hatte sie eigentlich Papiere dabei?“
Mallow schüttelte den Kopf.
„Nur eine Gürteltasche mit einem einzelnen Schlüssel und einem Schlüsselbund. Und eine Art Ausweis. Allerdings steht nichts drauf.“
„Zeig mal.“
Für einen Moment glaubte Mark, einen Anflug von Widerwillen in Mallows Gesicht zu erkennen. Mit verkniffenem Mund winkte der Rechtsmediziner den Kollegen von der Spurensicherung heran.
„Geben Sie Herrn Birkholz bitte die Tüte mit dem Beweismaterial.“
Der Mann im weißen Overall nickte, verschwand aus dem Zelt und kam kurz darauf mit den Fundstücken zurück.
„Wollen Sie die Sachen mitnehmen?“, wollte er wissen, während er Mark die Beweise in die Hand drückte.
„Wenn niemand etwas dagegen hat“, erwiderte er und schielte hinüber zu Mallow. Der wiederum schnappte sich nur kopfschüttelnd den Alukoffer und verließ wortlos das Zelt. Mark folgte ihm nur wenige Meter dahinter.
„Irgendwann kriegst du mal mächtig Ärger. Pass bloß auf! Bei Weidler hast du keinen Stein im Brett wie bei Dahlmann.“
Mark ignorierte die Warnung des Rechtsmediziners und inspizierte aufmerksam den Inhalt des Asservatenbeutels. Der Schlüssel sah aus wie ein gewöhnlicher Haustürschlüssel. An dem Schlüsselbund befanden sich fünf Schlüssel, unter anderem ein Autoschlüssel eines renommierten Autoherstellers. Er wies kaum Gebrauchsspuren auf, was auf ein neueres Modell schließen ließ. Gut möglich, dass er über den Autoschlüssel an die Identität der Toten rankäme.
Nur wenige Minuten darauf verabschiedeten sich Mallow und Mark und schlugen den Rückweg zum Parkplatz ein. Mark nutzte die Gelegenheit und erkundigte sich nach dem Befinden des Rechtsmediziners. Eine Zeitlang hatte er sich ernsthaft Sorgen gemacht, nachdem Mallow ihm anvertraut hatte, wie schlecht es um seine Ehe bestellt war. Kurz vorher hatte er herausgefunden, dass seine Frau ihn mit einem anderen Mann betrog. Er war seiner Frau nur wenige Monate vor Ausbruch der Coronapandemie auf die Schliche gekommen. Seitdem war viel passiert. Mittlerweile hatte sich Mallow von seiner Frau getrennt und sich eine Wohnung in der Kölner Innenstadt gesucht. Doch er sah alles andere als glücklich aus, auch kam es Mark vor, als habe er in den letzten Wochen weiter abgenommen. Seit Jahren trug der Rechtsmediziner eine Glatze. Mit einer Körpergröße von zwei Metern und seinem schlaksigen Körperbau wäre Mallow der geborene Basketballspieler, sofern er ein Faible für diese Sportart gehabt hätte.
Schweigend gingen die Männer nebeneinanderher, bis Mark das Wort ergriff.
„Und, wie geht’s dir?“
Mallow zuckte gleichgültig mit den Schultern und hielt den Blick auf den Gehweg gerichtet.
„Wie soll’s mir gehen? Beschissen. Nächste Woche ist die Scheidung.“
Er sah den Gerichtsmediziner mitfühlend an.
„Das wird bestimmt noch mal heftig.“
Mallow nickte nur und wechselte das Thema.
„Hast du dir schon überlegt, wie ihr vorgeht?“
Mark hatte schon damit gerechnet, dass Mallow nicht nach Reden zumute war, daher ließ er das Thema auf sich beruhen, beschloss aber, ihn in den nächsten Tagen erneut darauf anzusprechen.
„Zwei Kollegen haben bereits die Vermisstenanzeigen gecheckt. So wie es aussieht, kommen momentan mehrere Frauen in Betracht. Ich gehe davon aus, dass wir spätestens morgen wissen, wer die Tote ist. Auf dem Schlüssel sind bestimmt Daten gespeichert.“
Der Wald wurde lichter, in der Ferne waren schon die Ausläufer des Weihers zu erkennen.
„Wann planst du, sie zu obduzieren?“
Mallow warf einen Blick auf die Uhr.
„Der Tag ist noch jung. Außerdem wartet niemand auf mich. Ich denke, ich lege eine Nachtschicht ein.“
Der Entschluss kam Mark sehr gelegen. Je früher Mallow die Leiche der jungen Frau sezierte, desto schneller brachte er Details ans Tageslicht, die bisher im Verborgenen geblieben waren.
„Dann rufe ich gleich beim Notdienst des Autoherstellers an.“
„Da wirst du kein Glück haben. Ich glaube nicht, dass ein Notdienst Daten vom Schlüssel auslesen kann. Da musst du schon bis Montag warten.“
„Ein Versuch ist es zumindest wert.“
Mallow ließ die letzten Worte unkommentiert und stellte die Unterhaltung von diesem Augenblick an ein. Erst als sie wenige Minuten darauf zum Parkplatz gelangten, versprach der Rechtsmediziner, sich zu melden, sobald es neue Erkenntnisse gebe.
Noch während sie am Tatort waren, hatte Jochen Weidler bereits angekündigt, bei der Obduktion der jungen Frau anwesend zu sein. Zu Marks Freude, so musste er zumindest nicht dabei sein, zumal Leichensektionen noch nie zu seinen Vorlieben gezählt hatten. Und das würde sich unter Garantie auch zukünftig nicht ändern.
Nachdenklich stieg Mark in den BMW und schaute Mallows Wagen hinterher, bis er hinter einer Kurve verschwand. Er ließ ihr Gespräch noch kurz sacken und rief dann den Notdienst des Autoherstellers an. Allerdings wurde sein Optimismus augenblicklich ausgebremst, als der Mitarbeiter abblockte und Mark auf den nächsten Werktag vertröstete.
Es war früher Abend, als Mark die Haustür aufschloss und im Treppenhaus fast von Maja über den Haufen gerannt wurde.
Verdutzt sah er sie an.
„Wohin des Weges, schöne Frau?“
Maja lächelte zuckersüß und küsste ihn auf den Mund.
„Jochen hat eben angerufen. Ich soll bei der Obduktion dabei sein.“
„Jochen? Seit wann duzt du den Arsch?“
Sie schüttelte lachend den Kopf.
„Sei nicht albern. Ich beeil mich auch“, beruhigte sie ihn, warf ihm einen Luftkuss zu und war kurz darauf verschwunden. Mit einem Knall fiel die Haustür ins Schloss.
Schlecht gelaunt ging Mark hinauf in die gemeinsame Wohnung. Nach langen Diskussionen und reiflicher Überlegung hatte er sich vor einem halben Jahr endlich überreden lassen und war mit Maja zusammengezogen. Den Großteil seiner Habseligkeiten hatte er über Kleinanzeigen verscherbelt. Lediglich seine Anziehsachen, seine CD-Sammlung und seine Sportutensilien hatte er beim Umzug mitgenommen. Immerhin zehn Umzugskartons, von denen vier unangerührt im Schlafzimmer standen.