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New York 1888. Eine Stadt, geprägt von Macht und Korruption. Eine Zeit, geprägt von glitzerndem Luxus und bitterer Armut. Eine Liebe, geprägt von Verrat und Lust.
Emmett und Elizabeth haben nichts gemeinsam. Er stammt aus den Slums von New York und ist heute einer der reichsten Männer der Stadt. Sie ist in einer Villa aufgewachsen, will aber nichts mehr, als ihr eigenes Geld zu verdienen. Eine Wette bringt die beiden zusammen. Ein Kuss besiegelt ihr Geschäft. Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war ...
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Seitenzahl: 482
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
DANKSAGUNGEN
Joanna Shupe hat mit ihrem Debütroman den prestigeträchtigen Golden Heart Award der Romance Writers of America gewonnen und startete damit ihre Karriere als Schriftstellerin. Ihre Romane wurden in mehrere Länder übersetzt. In Deutschland erscheint 2017 ihre Gentlemen of New York-Trilogie, mit der sie in den USA für Furore sorgte. Die Serie wurde von Lesern und Journalisten begeistert aufgenommen.
JOANNA SHUPE
GENTLEMENOFNEW YORK
Emmett
Aus dem amerikanischen Englisch vonAnita Nirschl
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Joanna Shupe
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Magnate«
Originalverlag: Zebra Books, New York
Published by Arrangement with Kensington Publishing Corp.,
New York, NY 10018 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Antonia Zauner, Olching
Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven von © Benjamin_State/Adobe Stock; © Nejron Photo/Adobe Stock
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4042-6
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Sally und Claire:
Der Mensch kann nicht ohne die Gesellschaft,und die Gesellschaft kann nicht gewahrt werdenohne Gesetze und Gepflogenheiten.
AMERICAN ETIQUETTE AND RULES OF POLITENESS, 1883
Seventy-Fifth Street und Fifth Avenue, New York CityDezember 1887
Wenn Lizzie sich entscheiden müsste, ob ihr Bären oder Bullen lieber waren, würde sie den Bullen deutlich vorziehen. Bären waren zögernd und träge, wohingegen Bullen vorwärtsstürmten und etwas bewirkten. Sie hatte endlich den Entschluss gefasst, sich selbst als Bullen zu sehen, bereit, ihre Hoffnungen und Träume mit allen nötigen Mitteln zu verfolgen.
Deshalb fand sie sich auch an diesem Nachmittag in der größten Villa der Millionärsmeile an der Upper Fifth Avenue wieder. Diese Monstrosität von einem Haus gehörte einem der reichsten Männer der Welt, einem Stahlmagnaten, der sein Imperium, wie man sagte, vor allem durch Risikobereitschaft, Entschlossenheit und einen eisernen Willen geschmiedet hatte.
Und bevor Lizzie sein Haus heute wieder verließ, würde sie ihn davon überzeugt haben, ein weiteres Risiko einzugehen, diesmal allerdings mit ihr.
Ein Geräusch zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und als sie sich umdrehte, betrat ein riesiger Mann das Empfangszimmer. »Miss Sloane, ich bin Emmett Cavanaugh.«
Lizzie verschränkte die zitternden Hände und versuchte, ihn nicht anzugaffen. Natürlich hatte sie die Gerüchte gehört. Cavanaugh war nicht nur der Besitzer der mächtigen East Coast Steel, er war außerdem der Freund ihres Bruders. Dennoch hatten die vereinzelten Häppchen aus Nachrichten und Klatsch und Tratsch sie nicht ganz auf den Schock vorbereitet, ihm tatsächlich persönlich gegenüberzustehen.
Er war riesig – ein Berg von einem Mann. Groß und kräftig, mit breiten Schultern, die nur von körperlicher Aktivität herrühren konnten. Die Ausmaße seiner Brust … gütiger Himmel! Sein Schneider musste ihm ein Vermögen für den zusätzlichen Stoff berechnen, der dafür nötig war, ihn einzukleiden.
Er lächelte nicht. Keine einladende Wärme erhellte seine Miene, kein neugieriges Funkeln leuchtete in seinen Augen. Er stand einfach nur da und sah sie an, als nähme er sie ebenso abschätzend ins Maß. Unter der Last dieses Schweigens wurden ihr die Knie weich und der Mund trocken, und Unsicherheit meldete sich als flaues Gefühl in ihrem Magen. Dieser Mann hatte eine Härte an sich, eine kantige Schärfe wie einer dieser neuen Wolkenkratzer, die unverfroren über den alten, eleganten Gebäuden der Stadt aufragten.
»Mr. Cavanaugh«, erwiderte sie und straffte die Schultern. »Danke, dass Sie mich empfangen.«
»Natürlich, obwohl ich mir bezüglich der Regeln dieses Zusammentreffens etwas im Unklaren bin. Normalerweise empfange ich keine unverheirateten Damen in meinem Heim. Soll ich Ihnen Erfrischungen anbieten?«
Ja, sie hatte die Gerüchte gehört, welche Art von Damenbesuch er unterhielt. Durchwegs Schauspielerinnen, und die Liaisons hielten nie lange. »Das ist nicht nötig. Ich verspreche, nicht zu viel von Ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen.«
»Dann nehmen Sie doch bitte Platz.«
Lizzie ließ sich auf einem Sessel nieder und musterte ihn unter gesenkten Wimpern hervor, während er sich ihr gegenübersetzte. Sie hatte nicht erwartet, dass er so … beeindruckend sein würde. Er hatte volle Lippen, und die Linie seines Kiefers war leicht geschwungen. Markante Wangenknochen und etwas längeres, dunkelbraunes Haar. Sein kühnes Kinn zierte eine kleine Einbuchtung, ein Zeichen von Unvollkommenheit an einem ansonsten vollkommenen Profil, und ihr Herz begann, Geschwindigkeit aufzunehmen und heftig in ihrer Brust zu klopfen. Seine Attraktivität machte sie noch unsicherer in Bezug auf sich selbst, in Bezug auf ihre Entscheidung, heute hierherzukommen.
Aber was hatte sie für eine Wahl? Sie brauchte einen Geschäftspartner, einen, der wohlhabend und einflussreich genug war, ihrem Unternehmen Starthilfe zu geben. Mit ihrem Talent für Börsenspekulation konnte sie die Finanzen ihrer Familie retten, wenn man ihr die Chance dazu gab. Leider hatte sich niemand sonst auch nur mit ihr treffen wollen. Emmett Cavanaugh war ihre letzte Hoffnung.
Sie räusperte sich. »Der Grund, warum ich Sie heute aufgesucht habe, ist, dass ich Ihnen ein Geschäft vorschlagen möchte.«
Eine dunkle Augenbraue schnellte hoch. »Ein Geschäft? Interessant, obwohl ich mich frage, warum Sie sich mit dieser Idee nicht an Ihren Bruder gewandt haben. William Sloane besitzt schließlich eines der größten Eisenbahnunternehmen des Landes.«
Ja, die Northeast Railroad Company war eines der größten Eisenbahnunternehmen, und Will fungierte seit dem Tod ihres Vaters als Vorsitzender. Allerdings bezog ihr älterer Bruder Lizzie nie in Geschäftsangelegenheiten mit ein. Er weigerte sich standhaft, irgendetwas ihrer finanziellen Probleme mit ihr zu besprechen, sondern beharrte darauf, alles im Griff zu haben, obwohl sie wusste, dass dem nicht so war.
»Bleib du bei deinen Partys und Theaterbesuchen, Lizzie«, sagte Will häufig. »Überlass das Geschäftliche mir.«
Warum konnte sie denn nicht beides tun, so wie Will? Genau diese Einstellung – dass Frauen geistig beschränkte Geschöpfe waren, die finanzielle Dinge nicht begreifen konnten – versetzte sie stets in Wut. Niemand nahm ihre Ambitionen ernst, nicht einmal ihre Freunde. Für sie waren ihre Träume nur eine vorübergehende Laune, die augenblicklich verschwinden würde, sobald sie den richtigen Mann zum Heiraten fand. Umso mehr Grund, ihre Pläne voranzutreiben, rasch und leise.
»Ich habe mit ihm gesprochen, ja, aber er hat sich als schwer zu überzeugen herausgestellt. Ich hoffe, Sie werden aufgeschlossener sein.«
»Nun, das macht mich in der Tat neugierig. Aber was ist mit dem jungen Rutlidge, mit dem Sie so gut wie verlobt sind?«
Wenig überraschend, dass Cavanaugh die Gerüchte über sie und Henry Rutlidge gehört hatte. Will war ganz versessen auf diese Verbindung, ebenso wie Edith Rutlidge, Lizzies Freundin und Henrys Schwester. Aber Lizzie hatte sich noch nicht entschieden. Henrys Ansichten in Bezug auf Frauen in der Geschäftswelt waren weit davon entfernt, fortschrittlich zu sein. »Mr. Rutlidge verfügt nicht frei über seine Mittel, fürchte ich, und sein Vater würde dem, was ich vorschlage, niemals zustimmen.«
»Dann darf ich mich wohl geschmeichelt fühlen, dass Sie sich an mich wenden. Sie müssen mir von dieser radikalen Idee erzählen.« Cavanaugh bewegte keinen Muskel, sein Blick war unverwandt, aber zurückhaltend. Sie hoffte, das bedeutete, dass sie sein Interesse geweckt hatte.
»Ich möchte ein Maklerbüro an der Wall Street eröffnen. Ich bin auf der Suche nach einem Geschäftspartner, der mir das nötige Startkapital zur Verfügung stellt. Jemandem, dessen Bekanntheitsgrad hoch genug ist, um mir dabei zu helfen, Kunden anzulocken.«
Kein Zeichen von Belustigung oder Entsetzen zeigte sich auf seinem Gesicht. Seine Miene blieb unergründlich. »Wie Vanderbilt es vor ein paar Jahren für Woodhull getan hat?«
»Ganz genau.« Sie entspannte sich ein wenig. Er verstand es.
»Und wer würde die finanzielle Beratung übernehmen?«
»Ich. Ich werde bei allen Transaktionen die Beratung übernehmen. Allerdings habe ich vor, diese Tatsache den männlichen Kunden vorzuenthalten, zumindest so lange, bis sie sich mit der Vorstellung angefreundet haben, mit einer Frau zusammenzuarbeiten.«
Er legte den Kopf schief und rieb sich das Kinn. »Sie spekulieren an der Börse?«
Sie nickte. »In der Tat. Natürlich kann ich selbst keine Transaktionen vornehmen, deshalb habe ich die Absicht, einen jungen Mann einzustellen, der mich auf dem Parkett vertritt.«
Er bedachte sie mit einem langen, unergründlichen Blick. Sie konnte nicht sagen, ob er ihr Vorhaben in Betracht zog oder kurz davor war, in Gelächter auszubrechen.
»Sie gehören einer der ältesten und wohlhabendsten Familien New Yorks an, Miss Sloane. Gewiss können Sie jedes nur erdenkliche Vorhaben selbst finanzieren. Verkaufen Sie ein, zwei Armbänder, um die Mittel aufzubringen. Warum wollen Sie einen Außenstehenden mit ins Boot holen?«
Das war eine heikle, wenn auch nicht völlig unerwartete Frage. Sie konnte Cavanaugh nicht die Wahrheit sagen, dass sie in Bezug auf die Finanzen der Sloanes das Schlimmste vermutete. Ihr Bruder wollte nicht darüber sprechen, aber sie war überzeugt, dass sie in Schwierigkeiten waren. Gemälde verschwanden, Dienstboten wurden entlassen, Aktien verkauft … Glaubte Will, sie würde das nicht bemerken? Dachte er ernsthaft, sie würde nicht darauf achten? Dennoch waren ihre Angebote zu helfen abgelehnt worden. Also hatte sie beschlossen, es ohne Wills Unterstützung zu tun.
Sie befeuchtete sich die trockenen Lippen und fuhr mit der Antwort fort, die sie vorbereitet hatte, der Antwort, die keine Lüge war. »Ich komme erst an meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag in den Besitz meines Treuhandvermögens, bis dahin habe ich nur sehr wenig Geld, mit dem ich arbeiten könnte. Allerdings, selbst wenn ich über das Kapital verfügte, würde ich von meinen Kunden – den männlichen Kunden – nicht ernst genommen werden, bis ich beweise, dass ich Geld erwirtschaften kann.«
»Und ich soll glauben, dass Sie kompetent sind, und Ihnen mein Geld anvertrauen?«
Sie nahm das Bilanzbuch zur Hand, das sie seit vier Jahren führte, den Beweis, dass sie kein dummes Frauenzimmer mit unrealistischen Erwartungen war. Nein, diese Seiten zeugten schwarz auf weiß von ihren unbestreitbaren Fähigkeiten. »Das sind die Aufzeichnungen aller Transaktionen, die ich getätigt hätte, wenn es mir erlaubt gewesen wäre.« Er streckte seine große Hand aus, und sie reichte ihm das Buch. »Ich lese die Börsenberichte, Mr. Cavanaugh. Ich verfolge die Märkte. Sie werden sehen, dass ich eine gesunde Bilanz habe und schwarze Zahlen schreibe.«
»Eine fiktive Bilanz«, merkte er an, bevor er die jüngsten Einträge studierte. »Die meisten davon sind naheliegend, sichere Einsätze, die jeder Händler gemacht hätte.« Er hielt inne. »Was ist das? Ein Blankoverkauf auf Pennington? Haben Sie diesen Kursabfall wirklich kommen sehen, obwohl niemand sonst es tat?«
Es war nicht leicht, sich die Selbstzufriedenheit nicht anmerken zu lassen, aber es gelang ihr. »Während der letzten drei Jahre fiel mir auf, dass sie die Zahlen des zweiten Quartals stets verspätet veröffentlichen. Dadurch fällt die Pennington-Aktie so vorhersehbar um zehn Prozent, dass man die Uhr danach stellen könnte.«
»Woher weiß ich, dass Sie diese Einträge nicht am nächsten Tag vornahmen, nachdem Sie die Zeitungen gelesen hatten?«
Hitze überzog ihre Haut, als wäre sie in heißes Badewasser getaucht worden. »Wollen Sie damit sagen, ich sei eine Lügnerin?«
Die Frage schien ihn zu amüsieren, denn um seine Lippen zuckte es, als er ihr das Buch zurückreichte. »Warum ich?«
Sie zuckte mit den Schultern, in einem Versuch, gelassen zu wirken, obwohl sie das genaue Gegenteil empfand. »Erstens haben Sie die Mittel und den nötigen Einfluss. Zweitens weiß ich, dass Sie sich einmal im Monat mit meinem Bruder, Calvin Cabot und Theodore Harper treffen.« Sie holte tief Luft und gestand die Wahrheit, wobei sie betete, ihn damit nicht zu beleidigen. »Und weder Mr. Cabot noch Mr. Harper wollten mich empfangen, als ich ihnen einen Besuch abstattete.«
»Nun, wenigstens sind Sie ehrlich und geben zu, dass ich Ihre letzte Wahl war«, sagte er trocken.
Dass man Cavanaugh Skrupellosigkeit nachsagte, hatte Einfluss auf die Entscheidung gehabt, ihn sich bis zuletzt aufzusparen. Den Gerüchten nach war er auf den Straßen von Five Points aufgewachsen, hatte sich aus den Elendsvierteln in eine Stahlfabrik hochgekämpft, die er später kaufte, um sein Imperium zu begründen. Anders als die anderen reichen Geschäftsmänner beteiligte er sich nicht an wohltätigen Anlässen und hielt sich vom gesellschaftlichen Leben fern.
Zu ihrer Überraschung erhob er sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung. »Kommen Sie mit«, sagte er und verließ das Zimmer.
Mit einem nervösen Flattern im Magen folgte sie ihm in den Flur, von wo aus sie tiefer in das protzig eingerichtete Haus vordrangen. Dabei kamen sie an der Eingangshalle vorbei, die über zwei Etagen reichte und über Treppen aus rosafarbenem Marmor mit goldenen Geländern verfügte. Dahinter folgte eine lange Galerie mit Gemälden von holländischen und italienischen Meistern und einer geschnitzten Decke, die mit Fresken und Blattgold verziert war. Wenn sie nicht so nervös gewesen wäre, hätte sie ihre Umgebung womöglich beeindruckend gefunden.
Cavanaugh ging schnell, und Lizzie musste den Saum ihrer Röcke raffen, um mit ihm Schritt zu halten. Gesprächig war er ja nicht gerade. Höflich auch nicht.
Sie hatte keine Ahnung, wohin er sie führte. Zu dem Safe, in dem er sein Geld aufbewahrte? Einer Hintertür, durch die er sie aus seinem Haus warf? Aus irgendeinem seltsamen Grund machte sie sich keine Sorgen um ihre Sicherheit. Er war geduldig mit ihr gewesen, hatte intelligente Fragen gestellt und sich ihre Antworten angehört. Darüber hinaus war er der Freund ihres Bruders.
Schließlich gelangten sie in einen großen Raum mit einem mächtigen Schreibtisch. Reihen von Büchern säumten die Wände, und eine Auswahl moderner Annehmlichkeiten – Telefon, Telegrafiegerät, Börsenschreiber – füllte das, was Cavanaughs Büro sein musste. Der Raum roch nach Zigarren, Möbelpolitur und wichtigen Geschäften. Ein Schauer durchrieselte sie, als sie sich die Geschäftsabschlüsse und das Vermögen vorstellte, deren Zeuge dieser Raum geworden war.
»Colin, lassen Sie uns bitte allein«, sagte Cavanaugh, woraufhin ein junger Mann an einem kleineren Schreibtisch in der Ecke aufstand. Er trug eine Nickelbrille, und die Augen hinter den runden Gläsern blickten neugierig, als er hinaus in den Flur eilte. Lizzie nahm an, dass nicht viele Frauen je die Schwelle dieser männlichen Domäne überschritten hatten.
Cavanaugh ging zum Börsenschreiber, der ratternd einen langen, weißen Streifen ausspuckte. Er riss das Papier ab, kehrte zu ihr zurück und reichte ihr den Streifen. »Lesen Sie vor. Die letzten fünf Aktualisierungen.«
Sie atmete tief durch, ließ sich auf einem Sessel nieder, legte ihr Bilanzbuch ab und strich den dünnen Streifen Papier zwischen ihren Fingern glatt. Cavanaugh setzte sich ebenfalls, wodurch er es ihr ersparte, sich den Hals verrenken zu müssen, um ihn anzusehen. »Deere and Company runter um sieben drei achtel. State Street Corporation zwei Punkte rauf. Seneca Textilien runter um zwölf Punkte. PPG Industries sechs ein achtel Punkte rauf. Kimberly-Clark drei fünf achtel rauf.«
»Sehr gut«, sagte er, obwohl er kaum beeindruckt klang. »Aber das Geschick liegt darin, den Streifen zu interpretieren. Also sagen Sie mir, basierend auf dem, was Sie gelesen haben, was würden Sie Ihren Kunden raten?«
Sie brauchte nicht einmal darüber nachzudenken. »Ich würde ihnen raten, Seneca Textilien zu kaufen.«
»Warum, wo sie doch seit September beständig sinken?«
»Weil in drei Monaten Ostern ist, und in ein paar Tagen werden die Damen damit anfangen, ihre Hüte, Kleider, Handschuhe und dergleichen zu bestellen. Außerdem weiß ich, dass Seneca bald verkünden wird, dass sie einen exklusiven Vertrag abgeschlossen haben und demnächst dieselbe Honiton-Spitze importieren werden, wie Queen Victoria sie bezieht.«
Cavanaugh wandte den Blick ab, die Stirn gerunzelt. Sie blieb völlig reglos, während sie ihn beobachtete und auf seine Entscheidung wartete. Seine kräftigen Finger strichen über die raue Haut seines Kiefers, und ihre Aufmerksamkeit wurde auf die kleine Einbuchtung in seinem Kinn gelenkt. Sie stellte sich vor, sie mit dem Finger nachzuzeichnen …
»Nicht übel, Miss Sloane. Ganz und gar nicht übel. Aber meine Antwort muss dennoch Nein lauten.«
Emmett musterte sie aufmerksam, während die Nachricht in ihr Bewusstsein drang. Gott, sie war wunderschön. Wie konnte ein Bastard wie Will Sloane eine so atemberaubende Schwester haben?
In ihrem hochgeschlossenen, blau-weiß gestreiften Oberteil und dem dazu passenden Rock besaß Miss Sloane eine kühle, unnahbare Schönheit, völlig anders als die Sorte Frauen, mit denen er für gewöhnlich Umgang pflegte. Sie hatte die makellose Haut, die man nur in der obersten Schicht der Gesellschaft fand – bei Menschen, die niemals arbeiteten, auf Feldern schufteten oder in der Hitze einer Stahlfabrik schwitzten. Emmett fühlte sich schon schmutzig, wenn er ihr nur gegenübersaß.
Dennoch geriet sein Blut in Wallung. Wie auch nicht? Blondes Haar, perfekte Haltung, schiefergraue Augen – bei der schönen Miss Sloane würde sich sogar ein Toter wieder regen.
Und wie sie diesen Börsenstreifen gelesen hatte, mit so viel Geschick und Selbstvertrauen, hatte ihm fast den Boden unter den Füßen weggezogen. Seit Fannie Reid, der Besitzerin des erfolgreichsten Bordells von Five Points, war er keiner Frau mehr begegnet, die so schnell im Umgang mit Zahlen war.
»Entschuldigen Sie, sagten Sie Nein?« Ihre blonden Brauen zogen sich zusammen, und er verspürte das lächerliche Bedürfnis, die winzigen Falten glattzustreichen, die es wagten, ihre makellose Stirn zu verunzieren. »Warum?«
Er zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. »Ich habe aus zwei Gründen Nein gesagt. Erstens habe ich kein Interesse daran, eine Wertpapierfirma zu besitzen. Und zweitens, obwohl es scheint, als hätten Sie ein Händchen fürs Spekulieren, kann ich nicht ersehen, dass das eine gute Idee wäre. Dennoch wünsche ich Ihnen Glück.«
Als ihre Schultern sich versteiften, wusste er, dass er sie beleidigt hatte. »Ich habe mehr als nur ein ›Händchen‹ dafür. Warum denken Sie, dass ich keinen Erfolg haben werde?«
Wie sollte er ihr klar machen, dass man mit Talent allein in der Geschäftswelt nicht weit kam? Wichtiger waren Gerissenheit, Skrupellosigkeit und ein großzügiger Vorrat an Gefälligkeiten, die man spontan einfordern konnte. Diese Frau war viel zu wohlerzogen, um auf der Straße mit dem anderen Ungeziefer zu spielen.
»Die Welt, in die Sie sich begeben wollen, ist ein schmutziges, mörderisches Geschäft. Ich glaube nicht, dass Sie die Nerven dafür haben.«
Ihre Lippen pressten sich zu einem schmalen weißen Strich zusammen. »Und woher wollen Sie wissen, wofür genau ich die Nerven habe?«
Sie gab nicht klein bei, also war Miss Sloane vielleicht stärker als sie aussah. Dennoch hatte sie keine Ahnung, worauf sie sich einließ, falls sie diesen wahnsinnigen Weg weiterverfolgte. Bestechung. Lügen. Betrug … Gott, er hatte heute bereits zwei Politiker gekauft – und der Tag war erst zur Hälfte vorüber. Keine Frau, besonders keine, deren Familie sich bis zu den niederländischen Grundherren von Neu-Amsterdam zurückverfolgen ließ, sollte in diesen schmutzigen Gewässern schwimmen.
»Sicher weiß ich es natürlich nicht«, gestand er. »Aber ich habe die starke Vermutung.«
»Eine Vermutung basierend auf meinem Äußeren. Auf meinem Familiennamen.«
Das war keine Frage, aber Emmett hatte das Gefühl, ihr die Wahrheit schuldig zu sein. »Ja. Das Leben am Washington Square wird Sie nicht darauf vorbereitet haben –«
Wut erblühte auf ihren Wangen und färbte ihre makellose Haut in einem gedämpften Rotton. »Sie haben keine Vorstellung von meinem Leben oder davon, worauf ich vorbereitet bin. Ich weiß ebenso viel über Wertpapiere wie jeder Mann. Frauen sollten sich so etwas nicht bieten lassen müssen von … von …«
Sie brach ab, und Emmett konnte die Augen nicht von ihr losreißen. Wütend war sie regelrecht atemberaubend. Emmetts Körper fing an, zu reagieren, aber das letzte, was er gebrauchen konnte, war Steifheit in seiner Hose. Mit Mühe kehrte er zur Unterhaltung zurück. »Von?«
»Von Männern wie Ihnen! Sie sind genauso engstirnig wie mein Bruder.«
Emmett runzelte die Stirn. Gott wusste, dass er nichts mit Will Sloane gemeinsam haben wollte. Emmett verabscheute ihren Bruder mit allem, was er hatte, und das war eine Menge.
Er musterte die entschlossene Haltung von Miss Sloanes Schultern. Das resolute Funkeln in ihrem festen Blick. »Warum?«, fragte er schließlich.
»Warum was?«
»Warum wollen Sie das tun? Ihnen muss bewusst sein, dass das nicht einfach werden wird. Sie werden wahrscheinlich von der vornehmen Gesellschaft gemieden werden, sobald die Sache bekannt wird. Und wer sollen Ihre Kunden sein?«
»Man wird mich nicht meiden, nicht, wenn ich mich beweise. Und das ist der Grund, warum ich einen bekannten Namen an der Tür brauche, einen, den die Leute zu Beginn akzeptieren werden. Was meine Kunden betrifft, werden es anfangs hauptsächlich Frauen sein. Verkäuferinnen, Lehrerinnen, Witwen, Damen der Gesellschaft. Und Damen mit … anderen Einnahmequellen.«
»Prostituierte, meinen Sie.« Allmächtiger, ihr Bruder würde seinen versnobten, blaublütigen Verstand verlieren, wenn er das wüsste. Langsam begann Emmett, dieses Mädchen zu mögen.
Sie errötete, wich jedoch nicht aus, sondern antwortete: »Ja, auch die. Aber ein erfolgreicher Geschäftsmann als Gesicht der Firma wird andere Männer ermutigen, ihr Geld ebenfalls zu investieren. Ich brauche eigentlich nur Starthilfe. Mein Geschlecht wird nicht von Bedeutung sein, sobald die Firma Profit abwirft.«
Er bewunderte ihre Überzeugung, fragte sich aber, welche Gründe dahintersteckten. Waren die Sloanes in irgendeiner Art von finanziellen Schwierigkeiten? Warum sonst sollte sie hier sein, so begierig darauf, sich zu beweisen, anstatt die Sache allein auf die Beine zu stellen? Die Vorstellung ließ Emmett beinahe das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er hatte schon lange ein Auge auf Sloanes Northeast Railroad Company geworfen. Das Eisenbahnunternehmen zu besitzen, das seinen Stahl durchs Land transportierte, würde Emmetts Gewinne beinahe verdoppeln.
Und diesen Sloane mit seinem Stock im Arsch zu Fall zu bringen, während er seiner Schwester dabei half, sich an etwas Skandalösem zu betätigen? Nahezu unwiderstehlich.
Dennoch hielt ihn irgendetwas zurück, unter anderem seine eigenartige Reaktion auf ihre Gegenwart. Sein Bauchgefühl sagte ihm, er solle sich unbedingt von dieser Frau fernhalten – und er vertraute stets auf sein Bauchgefühl.
»Mir gefällt Ihre Entschlossenheit«, gestand er. »Aber –«
»Warten Sie!«, platzte sie heraus. »Ich habe eine Idee. Lassen Sie uns eine Wette abschließen. Sie geben mir einen bestimmten Geldbetrag, und wenn ich ihn an der Börse nicht innerhalb von drei Monaten verdoppeln kann, sind Sie vom Haken.«
Bevor er sich eines Besseren besinnen konnte, fragte er: »Wie viel?«
Sie zuckte die Schultern. »Das überlasse ich Ihnen. Fünftausend vielleicht?«
Er bewunderte ihren Kampfgeist, also spielte er mit. »Zu wenig. Sagen wir zehn.«
»Schön. Und wenn ich es verdopple, dann bekomme ich die zwanzigtausend und weitere fünfzig, um meine Firma zu gründen.«
»Unsere Firma«, korrigierte er. »Und Sie bekommen nur drei Wochen. Nicht drei Monate.« Unnütz, es ihr leicht zu machen.
Die Kinnlade fiel ihr herunter. »Drei Wochen! Ich kann unmöglich –«
»Dann haben wir nichts weiter zu besprechen.« Er stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. »Guten Tag, Miss Sloane.«
»Also schön! Drei Wochen von heute an.«
Er verkniff sich ein Schmunzeln. Sie würde auf jeden Fall an ihrem Verhandlungsgeschick arbeiten müssen. Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Verraten Sie mir etwas.«
»Ja?«
»Was ist für mich dabei drin?«
»Nun, Geld natürlich.«
»Geld habe ich zur Genüge. Da werden Sie mir schon etwas Besseres bieten müssen.«
Das traf sie unvorbereitet, und sie begann, auf ihrer Unterlippe zu kauen. »Ich … Für Sie ist nichts weiter als Uneigennützigkeit und Geld drin, fürchte ich.«
»Das eine unattraktiv und das andere völlig unnötig. Was sonst?« Er trat näher zu ihr und stellte erleichtert fest, dass sie nicht vor ihm zurückwich, wie andere Frauen es in der Vergangenheit getan hatten. Als er den schweren Schreibtisch umrundet hatte, lehnte er sich an die Kante und überkreuzte die Beine. »Zum Beispiel, was geschieht, wenn Sie scheitern? Dann habe ich zehntausend Dollar verloren.«
»Ich habe nicht genug Geld, um es Ihnen zurückzuzahlen, zumindest noch nicht.« Sie stockte, dann hellte sich ihre Miene auf. »Aber ich kann es Ihnen in Northeast-Aktien zurückzahlen. Aus meinem Treuhandvermögen.«
»Aktien kann ich mir kaufen, wann immer ich will.«
»Das sind Vorzugsaktien. Mein Vater hat das Unternehmen nur wenige Jahre vor seinem Tod gegründet, und er hat welche für mich in einem Treuhandfond angelegt. Ich bin sicher, dass ich genug Aktien habe, die ich auf Sie übertragen lassen kann, sollte ich scheitern. Was ich nicht tun werde.«
Emmett hätte schwören können, dass er seinen Herzschlag in den Ohren pochen hörte. Northeast hatte seit acht Jahren keine Vorzugsaktien auf den Markt geworfen. Ihr Besitz versprach nicht nur höhere Dividenden an den Gewinnen des Unternehmens, solche Aktien konnten ihm möglicherweise auch Stimmrechte einbringen. Will Sloane würde sich in die Hosen machen, wenn er das herausfand – nicht, dass Emmett Elizabeth irgendetwas davon verraten würde.
»Warum warten Sie dann nicht bis zu Ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, um Ihre Firma zu gründen?«
»Weil ich das Warten leid bin. Weitere vier Jahre wären unerträglich.«
Etwas an ihrer Antwort kam ihm komisch vor. Die Frau würde in ein paar Jahren ein großes Treuhandvermögen erben, warum also nicht warten? Ein weiterer Hinweis darauf, dass im Hause Sloane nicht alles in Ordnung war.
Verdammt, er fand Gefallen an diesem Besuch, vermutlich mehr, als er sollte. Er mochte sie; es erstaunte ihn, wie sehr.
Sie beide hatten wenig gemeinsam – seine Jugend im Schmutz von Five Points könnte sich nicht stärker von ihrer privilegierten Erziehung unterscheiden –, aber sie hatte Kampfgeist, ein unerschütterliches Verlangen, Erfolg zu haben, genau wie er, als er angefangen hatte.
Schade, dass sich ihre Wege nicht wieder kreuzen würden. Sie konnte diese Wette unmöglich gewinnen, nicht in einer so kurzen Zeitspanne. Was bedeutete, ihr Bruder würde nie von ihrem Besuch erfahren. Es sei denn …
»Sie unterbreiten mir ein verlockendes Angebot, Miss Sloane. Nun, würden Sie gern mein Gegenangebot hören?«
»Ein Gegenangebot?«
»Ja, etwas, das ich im Gegenzug von Ihnen möchte.«
Sie verschränkte fest die Finger, beinahe wie um sich zu wappnen. »Und was wäre das, Mr. Cavanaugh?«
»Ich möchte, dass Sie mit mir zu Abend essen.«
»Zu Abend essen?« Runde graue Augen verengten sich argwöhnisch. Die Frau hatte keine Ahnung, wie man seine Emotionen verbarg. Wirklich, die Wölfe an der Wall Street würden sie mit einem einzigen Happs verschlingen. »Wann?«
»Freitag, bei Delmonico’s.«
»Das kann ich unmöglich tun. Was würden …«
Als sie den Satz nicht beendete, vervollständigte er: »Ja, was würden die Leute sagen? Ein Juwel der feinen Gesellschaft isst mit einem wie mir zu Abend. Könnte die Stadt mit einem solchen Skandal umgehen?«
»Sie verspotten mich.«
»Mitnichten, Miss Sloane. Ich möchte mit Ihnen zu Abend essen. Sind Sie kühn genug, oder möchten Sie lieber vorher Ihren Bruder fragen?«
Das hatte die gewünschte Wirkung. Sie straffte die Schultern, fest entschlossen zu beweisen, dass sie eine moderne, unabhängige Frau war, die niemandem Rechenschaft schuldete. Emmett konnte sich die Unterhaltungen im Hause Sloane lebhaft vorstellen. Sie musste ihren Bruder in den Wahnsinn treiben. Noch ein Grund, sie zu mögen.
»Schön. Welches Delmonico’s?«
»An der Twenty-Sixth Street natürlich«, antwortete er ruhig.
»Natürlich«, wiederholte sie in süffisantem Tonfall. Er wusste, warum ihr das missfiel. Die Örtlichkeit garantierte, dass die ganze New Yorker Gesellschaft sie zusammen sehen würde. Die Nachricht würde Sloane zu Ohren kommen, noch bevor das Dessert abserviert worden war. »Im Hauptspeisesaal, nehme ich an.«
Er nickte. »In der Tat. Soll ich den Bankscheck ausstellen? Haben wir eine Abmachung?«
Sie schluckte, Unsicherheit in den Augen, und jäh erfüllte ihn der verzweifelte Wunsch, sie möge Ja sagen. Eindeutig wegen des Verlangens, Sloane zu quälen – nicht wegen der Vorfreude, ihren vollen, köstlichen Mund beim Essen zu beobachten.
Schließlich fuhr ihr Kopf hoch. »Wir haben eine Abmachung.«
Freude und Erleichterung sprudelten in Lizzie empor, als sie das Cavanaugh-Anwesen verließ. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Ein unterzeichneter Bankscheck ruhte nun in ihrer kleinen Tasche, der erste Schritt in ihre neue Zukunft. Natürlich hatte sie ihn nicht überzeugt, ihre Firma direkt zu unterstützen, aber es war ein Anfang.
Sie zweifelte nicht an ihrer Fähigkeit, die Wette zu gewinnen, selbst wenn er den Zeitraum dafür auf beinahe nichts verkürzt hatte. Sie konnte es schaffen – nein, sie musste es schaffen. Nicht für den Namen oder das Vermächtnis der Sloanes, oder auch nur für ihre und Wills Annehmlichkeiten, sondern für die hunderten von Bediensteten und Angestellten von Northeast Railroad, deren Lebensunterhalt von den Sloanes abhing. Zwei Mitglieder ihrer Dienerschaft waren bereits entlassen worden, und Lizzie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um weitere Entlassungen zu verhindern – selbst wenn das bedeutete, mit Emmett Cavanaugh zu Abend zu essen.
Ihr Brougham befand sich immer noch dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte, an der Seventy-Fifth Street, wo neugierige Blicke ihn weniger wahrscheinlich erspähen würden. Als sie näher kam, öffnete Brookfield, ihr Kutscher, die Tür des Einspänners. »Sie haben Gäste, Miss.«
»Gäste?«
Brookfield errötete leicht. »Es tut mir leid. Ich habe nicht gesehen, wie sie sich hineingeschlichen haben, Miss, und als ich sie bemerkt habe, wollten sie nicht wieder gehen.« Er öffnete die Tür, und zwei junge Mädchen starrten aus den Tiefen der Kutsche zu ihnen heraus. Beide hatten hübsches, zu Ringellöckchen frisiertes dunkles Haar und trugen aufeinander abgestimmte gelbe Kleider. Die beiden sahen beinahe wie Zwillinge aus, aber Lizzie konnte erkennen, dass eines der Mädchen ein wenig älter war. Sie schätzte sie auf nicht älter als zwölf oder dreizehn.
»Hallo«, sagte sie, während sie in die Kutsche kletterte und sich auf die leere Bank setzte.
Beide Mädchen grinsten. »Sie sind hübsch«, sagte eines von ihnen.
»Sehr hübsch. Ihr Kleid gefällt mir«, sagte das andere Mädchen und deutete auf Lizzies Ensemble. Es war eines von Lizzies liebsten Tageskleidern, aus blau gestreifter französischer Seide, und bestand aus einem spitzenbesetzten Oberteil mit Schneppe und einem Rock mit zwei Volants und drapiertem Cul de Paris. Sie hatte so gut wie möglich aussehen wollen, wenn sie Cavanaugh traf.
»Dankeschön. Allerdings bin ich neugierig zu erfahren, wer ihr seid.«
»Wir sind Emmetts Halbschwestern. Ich bin Kathleen«, sagte das älter aussehende Mädchen. »Aber alle nennen mich Katie.«
»Ich bin Claire. Darf ich Ihren Hut anfassen?«
Cavanaughs … Halbschwestern? Lizzie erholte sich rasch von ihrer Verblüffung, lehnte sich leicht zu dem Mädchen vor und beugte den Kopf. »Ja, natürlich. Das ist eine Straußenfeder. Wie findest du sie?«
»Sie ist so weich«, hauchte das Mädchen. »Danke.«
»Gern geschehen. Mir gefällt sie auch.« Lizzie richtete sich wieder auf. »Also, wie alt seid ihr, Katie und Claire?«
»Ich bin dreizehn. Claire ist vierzehn Monate jünger als ich.«
»Oh«, erwiderte Lizzie. »Es muss schön sein, eine Schwester so nah am eigenen Alter zu haben.«
Obwohl Lizzie ihren älteren Bruder zu schätzen wusste, hatte sie sich immer eine Schwester gewünscht. Zum Kleidertauschen, Geschichten miteinander teilen, über junge Männer reden … Eine Schwester wäre eine Freundin und Vertraute gewesen, die die einsamen Jahre des Heranwachsens ein wenig leichter gemacht hätte. Will hatte so viel für sie getan, aber seine Verpflichtungen in Bezug auf die Firma und den Abschluss seiner Ausbildung hatten ihm nicht viel Zeit für seine jüngere Schwester gelassen.
»Das ist es auch, besonders da Mama starb, als ich geboren wurde«, antwortete Claire.
Lizzie wurde es eng in der Brust. Sie wusste nur zu gut, welches Loch die Abwesenheit einer Mutter im Herzen eines kleinen Mädchens hinterließ. »Das tut mir leid. Meine Mutter starb auch, als ich noch klein war.«
Beide Mädchen sahen sie mit ernstem Verständnis an. »Erinnern Sie sich noch an sie?«, fragte Katie.
»Nur sehr wenig, fürchte ich.« Lizzie war vier gewesen, als Caroline Sloane im Kindbett gestorben war, zusammen mit dem Baby. Sie konnte sich daran erinnern, abends das lange, blonde Haar ihrer Mutter gebürstet zu haben. Es existierten noch die Schemen einiger anderer kurzer Momente – ein liebes Wort oder ein Kuss auf die Stirn –, aber nie so viele, wie sie sich wünschte. Will hatte Lizzie mit den meisten der Erinnerungen versorgt, indem er ihr oft Geschichten von ihren Eltern erzählt hatte. Tat Emmett dasselbe für seine Halbschwestern?
Lizzie konzentrierte sich wieder auf die jungen Mädchen. »Ich bin sicher, eure Mutter hat euch beide sehr geliebt.«
Katie lächelte. »Brendan erzählt uns ständig von ihr.«
»Brendan?«
»Unser anderer Halbbruder«, erklärte Katie. »Wir haben alle denselben Vater. Emmett ist der älteste, dann Brendan und dann wir. Emmett und Brendans Mutter ist auch gestorben. Bevor unser Vater unsere Mutter geheiratet hat.«
»Wir verbringen viel Zeit mit Brendan. Emmett ist für gewöhnlich zu beschäftigt für uns.« Claire schaukelte mit den gestiefelten Füßen, da ihre Beine zu kurz waren, um den Boden der Kutsche zu erreichen. »Er arbeitet die ganze Zeit.«
Das konnte Lizzie sich gut vorstellen, wenn man Wills hektischen Terminplan bedachte. Imperien leiteten sich nicht von alleine. »Wie lange lebt ihr schon bei euren Brüdern?«
»Ich war fast drei. Claire war gerade ein Jahr alt geworden.«
Also hatte Emmett, damals ebenfalls noch ein junger Mann, die kleinen Mädchen aufgenommen und die Verantwortung für sie übernommen. Was war mit ihrem Vater passiert?
»Wo wohnen Sie?«, fragte Claire Lizzie. »Wir haben früher in der Nähe des Union Square gewohnt, aber Emmett hat vor ein paar Jahren dieses große Haus gebaut, und dann sind wir hierhergezogen. Dieses Haus ist so gigantig. Es hat achtundsiebzig Zimmer.«
»Gigantisch«, korrigierte Lizzie. Eine kurze Unterhaltung mit diesen beiden kleinen Mädchen hatte mehr Informationen über Cavanaugh geliefert als die Zeitungsberichte eines ganzen Jahres. »Das ist sehr groß. Aber es muss Spaß machen, so viel Platz zu haben. Ich wohne am Washington Square mit meinem Bruder.«
Katies Augen wurden groß. »Der Park dort war früher mal ein Friedhof. Haben Sie Geister? Wir wollten schon immer mal einen Geist sehen.«
»Ich habe noch keine Geister gesehen, aber ich habe auch noch nicht wirklich nach einem gesucht. Vielleicht möchtet ihr mich ja einmal besuchen, dann können wir zusammen auf Geisterjagd gehen.«
Beide Mädchen strahlten mit hoffnungsvollen Mienen. »Wirklich?«, fragte Katie. »Meinen Sie das ernst, Miss Sloane?«
»Absolut«, antwortete sie und erkannte, dass sie es wirklich so meinte. Eine Geisterjagd mit zwei reizenden jungen Mädchen klang nach einer Menge Spaß. Vielleicht konnte sie ihre Freundin Edith überreden, sich ihnen anzuschließen. »Ich werde mit eurem Bruder darüber sprechen. Übrigens, habt ihr Mädchen eine Gouvernante? Falls ja, dann könnte ich mir vorstellen, dass sie schon nach euch sucht.«
»Ja. Aber wir haben uns hinausgeschlichen«, sagte das ältere Mädchen.
»Sie glaubt, wir üben Musizieren. Ich spiele Klavier und Katie die Klarinette.« Claire imitierte mit den Fingern das Anschlagen von Klaviertasten.
»Wird sie sich denn keine Sorgen machen, wenn sie entdeckt, dass ihr verschwunden seid?«
Katie zog eine Schulter hoch. »Wahrscheinlich, aber wir mussten einfach herunterkommen und nachschauen, wie Sie aussehen.«
»Emmett bekommt nie Besuch von Damen«, erläuterte Claire und fummelte dabei an der Satinschleife an ihrem Kleid herum.
»Na ja, keine solchen Damen wie Sie«, fügte Katie hinzu, und die beiden kicherten.
»Mädchen«, tadelte Lizzie, obwohl sie sich Mühe gab, nicht zu lachen. »Das Privatleben eures Bruders geht nur ihn etwas an. Ihr solltet gar nicht wissen, welche Art von Damen er empfängt.«
Katie verdrehte die Augen. »Jeder weiß, dass Emmett sich nur mit Schauspielerinnen trifft. Wir lesen jeden Tag die Klatschspalten. Brendan sagt, das ist, weil –«
Die Tür wurde aufgerissen, und die imposante Gestalt von Emmett Cavanaugh erschien. Mit grimmiger Miene blickte er in Richtung seiner jüngeren Halbschwestern und verschränkte die Arme vor der Brust. Angespannte Stille senkte sich herab, und Katie und Claire duckten sich in die Samtpolster der Sitzbank. »Mädchen, geht zurück ins Haus«, sagte er schließlich. Seine Worte waren winzige weiße Wolken in der kalten Luft.
»Aber Emmett –«, hob Katie an, doch die harte Stimme ihres Bruders unterbrach sie.
»Sofort, Katie.«
»Heißt das, du gibst uns heute Nachmittag keinen Schwimmunterricht?«, fragte Claire. »Bitte, nimm uns nicht die Schwimmstunden weg, Emmett.«
Lizzie blieb beinahe der Mund offen stehen. Cavanaugh brachte seinen Schwestern das Schwimmen bei?
Er hob einen Finger und zeigte auf seine Schwestern. »Wenn ihr tut, was Mrs. Thomas sagt, und ihr heute nicht noch einmal entwischt, dann bekommt ihr noch eine Unterrichtsstunde. Abgemacht?«
»Abgemacht!«, antworteten die Mädchen schnell. Dann murmelten sie Lizzie höfliche Abschiedsworte zu und hasteten aus der Kutsche. »Auf Wiedersehen, Mädchen«, rief Lizzie ihnen hinterher, als sie ausstiegen.
Sie verschwanden hinter Cavanaughs breitem Rücken, dennoch behielt er seinen kühlen, ausdruckslosen Blick auf Lizzie gerichtet. »Ich entschuldige mich für meine Schwestern.«
»Das hat mich nicht gestört. Sie waren neugierig auf mich.« Sie konnte nicht widerstehen, hinzuzufügen: »Sie sagten, Sie bekommen nie Damenbesuch.«
In diesem Moment kam ein kalter Windstoß auf und zerrte an seinem dunklen Haar und dem Jackett. Er bewegte sich nicht, sondern stand einfach nur hochaufgerichtet da wie eine unerschütterliche Naturgewalt. Zu stark, um sich je zu beugen oder zu brechen. Sie erschauderte.
»Das kommt daher, dass die meisten Damen es besser wissen.« Ohne ihr eine Gelegenheit zum Antworten zu geben, trat er zurück. »Bis Freitag, Miss Sloane.«
Reichtümer sind erstrebenswert, aber schon so mancher,der über Geld verfügte, war nicht in der Lage, Zutrittzur guten Gesellschaft zu erlangen.
AMERICAN ETIQUETTE AND RULES OF POLITENESS, 1883
Der knappen Anweisung folgend, die am Tag zuvor überbracht worden war, betrat Lizzie am Freitagabend um acht Uhr das Delmonico’s. Charlie Delmonico begrüßte sie herzlich an der Tür.
»Miss Sloane.« Der junge Mann strahlte. »Willkommen zurück.«
»Hallo, Charlie. Ich bin zum Abendessen verabredet mit –«
»Mr. Cavanaugh, ja«, sagte er. »Alles ist vorbereitet, und Mr. Cavanaugh ist bereits angekommen. Ich bringe Sie an Ihren Tisch.«
Lizzie nickte, während sie versuchte, ihren nervös flatternden Magen zu beruhigen. Es ist nur ein Abendessen, sagte sie sich. Obwohl sie sich immer noch nicht denken konnte, warum Cavanaugh mit ihr dinieren wollte. Was erhoffte er sich davon?
Irgendetwas sagte ihr, dass er nie etwas ohne Grund tat.
Während der letzten drei Tage hatte Lizzie ihre Nase in Aktienberichten vergraben und über einer Strategie gebrütet, wie sie Cavanaughs Geld verdoppeln sollte. Sie brauchte mehr Zeit, aber es bestand keine Chance, dass Cavanaugh ihre Wette verlängern würde. Der Mann hatte den Ruf, so unnachgiebig wie Granit zu sein, und sie nahm an, dass es leichter wäre, Grand Central Depot nach Weehawken zu verlegen, als ihn dazu zu bringen, seine Meinung zu ändern.
Charlie führte sie tiefer in den vertrauten Speisesaal, einen Raum, der dafür entworfen war, den vornehmsten New Yorkern zu gefallen. Dunkle Mahagonimöbel glänzten im weichen Licht der Kristallleuchter, die Decke war mit beeindruckenden Fresken verziert, die eines italienischen Meisters würdig waren. Große Fenster bildeten den Rahmen für die sich wiegenden Bäume und die gelben Gaslaternen des Madison Square, eine Aussicht, die in der ganzen Stadt ihresgleichen suchte.
In der Mitte des Raumes erhob sich ein Mann, und Lizzies Herz begann zu rasen. Sie hatte Emmett Cavanaughs Wirkung völlig vergessen, die pure Eindringlichkeit seiner hochaufragenden Gestalt und seines attraktiven Gesichts. Seine breiten Schultern waren nach neuester Mode in einen schwarzen, schoßlosen Smoking gehüllt. Eine weiße, einreihige Weste spannte sich über seine gewaltige Brust, während seine weiße Fliege und der Hemdkragen einen Kontrast zu seiner gebräunten Haut bildeten. Das hier war kein Mann, der für Vergnügen und Müßiggang lebte und sich in seinem Club die Zeit vertrieb, während die Welt auf seine Launen wartete. Das hier war ein Mann, der sich nicht vor harter Arbeit scheute, der sich nahm, was er wollte und es mit seinen eigenen bloßen Händen schmiedete. Das bewunderte sie. Beneidete ihn sogar ein wenig darum.
Ihre Augen verschmolzen mit Cavanaughs obsidianschwarzem Blick. Er sah nicht zur Seite, sondern beobachtete sie mit einer unergründlichen Eindringlichkeit, die sämtliche Luft aus dem Raum zu saugen schien. Beinahe wäre sie gestolpert, schaffte es aber irgendwie, auf den Beinen zu bleiben, als sie zum begehrtesten Tisch in der Mitte des Raumes neben dem kunstvollen Marmorspringbrunnen gingen. Wo alle sie sehen würden.
»Miss Sloane«, begrüßte Cavanaugh sie und zog ihren Stuhl für sie heraus. Hatte sie da ein wenig Erleichterung auf seinem Gesicht entdeckt? Sie konnte nicht sicher sein, aber diese Spur von Verletzlichkeit machte ihn … menschlicher. Falls er je lächelte, würde sie womöglich auf der Stelle ohnmächtig werden.
»Mr. Cavanaugh.«
Sie ließ sich auf ihrem Stuhl nieder, wobei sie sorgfältig darauf achtete, ihre Tournüre nicht zu zerdrücken, während er ihr den Stuhl zurechtrückte.
»Ich dachte nicht, dass Sie kommen würden.« Er winkte einem Kellner, der sich in der Nähe bereithielt.
Seine dunkle Stimme gefiel ihr. Sie war heiserer als die von Will, jedes Wort mit gebieterischer Präzision ausgesprochen.
»Warum hätte ich nicht kommen sollen? Ich habe gesagt, dass ich mit Ihnen zu Abend essen würde. Und ich halte meine Versprechen.«
»Überraschend für eine Sloane«, murmelte er so leise, dass sie vermutete, dass es nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war.
»Was soll das –«
»Champagner, Miss?« Ein Kellner erschien mit einer teuren Flasche in der Hand, und Lizzie musste sich ihre Fragen verkneifen, während ihre Gläser gefüllt wurden.
Als sie wieder allein waren, erhob Cavanaugh seine Champagnerflöte. »Auf Möglichkeiten.« Die Worte in Verbindung mit seiner grimmigen Miene ließen ihr den Mund trocken werden. Sprach er von ihrem Geschäftsvorhaben?
Sie hob ihr Glas. »Auf Möglichkeiten.« Hastig nahm sie einen Schluck und fokussierte den Blick dabei auf die gegenüberliegende Wand anstatt auf ihn.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht«, sagte er. »Ich war so frei, unser Menü bereits zu bestellen. Ich dachte, das würde Zeit sparen.«
»Ich nehme an, das ist sinnvoll, aber was hätten Sie getan, wenn ich zu Hause geblieben wäre?«
»Höchstwahrscheinlich alleine gespeist. Haben Sie in Betracht gezogen, nicht zu kommen?«
»Natürlich nicht.« Eine Lüge. Sie hatte während der letzten Tage mindestens ein dutzend Mal daran gedacht zu kneifen.
Um seinen Mundwinkel zuckte es, eine schlichte Geste, die seine harten Züge weicher wirken ließ und ihn noch attraktiver machte. »Wenn Sie vorhaben, in die Geschäftswelt einzutreten, Miss Sloane, dann müssen Sie lernen zu lügen.«
Der Ratschlag ärgerte sie. Zuerst war er überrascht gewesen, dass sie ihr Wort gehalten hatte, heute Abend mit ihm zu speisen. Und nun ermutigte er sie zu lügen. War er wirklich so zynisch? »Das mögen Sie vielleicht für wahr halten, aber ich ziehe es vor, Ehrlichkeit in allen Dingen zu praktizieren.«
»Ist das so?« Als sie nickte, beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Haben Sie Ihrem Bruder gesagt, dass Sie sich heute Abend mit mir treffen? Oder Rutlidge?«
»Zufällig war Will diese Woche unterwegs, und Mr. Rutlidge habe ich nicht gesehen.«
»Und alle Kommunikationsmöglichkeiten, die Ihnen zur Verfügung stehen, sind …« Er wedelte mit der Hand, als suchte er nach dem richtigen Wort. »Defekt?«
Ihre Wangen wurden heiß, und Gereiztheit durchströmte sie. »Warum wollten Sie mit mir zu Abend essen, Mr. Cavanaugh? Was erhoffen Sie sich davon?«
»Gesellschaft?«
»Weil es Ihnen an weiblicher Aufmerksamkeit mangelt?« Sie trank ihren Champagner aus und stellte das Glas auf den Tisch. Sofort erschien wie aus dem Nichts ein Kellner, um es wieder zu füllen. »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
Hatte das wie ein Kompliment geklungen? Beinahe zuckte sie zusammen. Champagner neigte bedauerlicherweise dazu, ihre Zunge zu lösen.
Er neigte den Kopf zur Seite und musterte sie. »Und da dachte ich, Sie wären zu beschäftigt damit, die Börsenberichte zu lesen, um den Klatschspalten Beachtung zu schenken.«
»Ich lese sie nicht. Die Klatschspalten, meine ich. Aber man hört Gerüchte.«
»Gerüchte sind oftmals unwahr – sei es an der Börse oder in der Presse.«
»Also treffen Sie sich nicht mit dieser Schauspielerin, Mrs. Rose?«
Seine Gesichtszüge entgleisten kurz, und er öffnete leicht den Mund, fing sich aber rasch wieder. »Ich befinde mich eindeutig im Nachteil. Wie es scheint, wissen Sie einiges über mich, ich jedoch nichts über Sie. Abgesehen von Ihrer Familie und Ihrem Interesse an der Börse, natürlich.«
»Was würden Sie denn gern wissen?«
»Werden Sie Henry Rutlidge heiraten?«
Sie holte tief Luft und griff nach ihrem Champagner. Die perlende Flüssigkeit schmeckte stark und süß und verlieh ihr Mut. »Es gibt viele, die denken, dass ich es sollte.«
»Ja, aber was denken Sie, Miss Sloane?« Seine Augen, beinahe schwarz im schwachen Licht, verrieten nichts, keinen Hinweis darauf, was er dachte.
Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. »Ich werde noch viel mehr Champagner brauchen, bevor ich diese Frage beantworte.«
Der erste Gang wurde serviert, ein Teller mit frischen Bluepoint-Austern. Nachdem alles aufgetragen war, fragte der Kellner: »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«
Cavanaugh hielt Lizzies Blick fest. »Ja. Wir brauchen noch eine Flasche Champagner.«
Emmett kippte noch mehr von dem widerlich süßen Getränk hinunter und versuchte, seine lüsternen Gedanken zu zügeln. Elizabeth Sloane gegenüberzusitzen entwickelte sich zur schlimmsten Art von Folter. Sie war nicht einmal der Typ Frau, den er bevorzugte. Er mochte derbe, rohe, lüsterne Frauen, die ebenso gut im Geben wie im Nehmen waren. Aber ihr dabei zuzusehen, wie sie Austern aß und sich dann den salzigen Geschmack von den vollen Lippen leckte, war auf so unschuldige Weise erotisch, dass er den Blick nicht davon losreißen konnte.
Eine törichte Idee, im Hauptsaal zu sitzen. Er hatte geglaubt, je mehr Leute sie zusammen sahen, desto besser. Aber jetzt wünschte er sich, sie wären allein.
Und dann würdest du … was tun? Du wirst sie nie haben, Cavanaugh.
Diesen Abend trug sie ein Kleid aus dunkelgrünem Samt mit einem hochgeschnittenen Kragen, um das wunderschöne helle Gold ihres Haars zu betonen. Sie zogen von überall im Saal die Blicke auf sich – die Gäste waren zweifellos neugierig, warum die beiden miteinander speisten. Die goldene Schönheit und der Gassenjunge. Sollten sie doch reden; so würde die Nachricht Sloane schneller zu Ohren kommen. Beinahe hätte Emmett gegrinst. Was würde er nicht darum geben, das Gesicht ihres Bruders sehen zu können, wenn er davon erfuhr.
Jeder kam bei diesem Plan auf seine Kosten. Sloane wäre verärgert, Emmett würde es genießen, ihn zu verärgern, und Miss Sloane bekam die Chance, ihre Wertpapierfirma zu gründen. Ganz zu schweigen davon, dass Emmett mehr über die finanzielle Stabilität von Northeast Railroad erfahren würde. Die Sache hatte keine Nachteile, es sei denn, man zählte seine verwirrende körperliche Reaktion auf ihre Gegenwart dazu. Er hatte nicht erwartet, irgendetwas für sie zu empfinden, aber jedes Mal, wenn er ihre grauen Augen funkeln sah, jedes Mal, wenn sie ihn anlächelte, war es wie ein Faustschlag in seinen Magen.
Er musste sich einfach nur stärker bemühen, die Reaktion seines Körpers zu ignorieren. Im Lauf der Jahre hatten verschiedene unangemessene Damen eine Anziehung auf ihn ausgeübt, und er hatte erfolgreich dagegen angekämpft. Diesmal würde es nicht anders sein.
Mit der Gabel schob er sich eine Auster in den Mund und genoss den glitschigen, salzigen Geschmack, der seine Kehle hinunterglitt. Als er sich den Mund mit der Serviette abwischen wollte, bemerkte er, dass sie den Blick auf seine Lippen geheftet hatte und eine leichte Röte ihre Wangen färbte. Gütiger Gott, war das … seinetwegen? Sein Körper spannte sich an, und das Blut pochte ihm in den Lenden. Der Raum hätte in Flammen stehen können und es hätte ihn nicht gekümmert, denn alles um ihn herum hatte aufgehört zu existieren. Alles bis auf sie.
Sie brach den Blickkontakt als Erste ab und senkte den Kopf, um auf ihren Teller zu starren, und Emmett kippte den Rest seines Drinks hinunter, im verzweifelten Versuch, sich abzukühlen. Was machte diese Frau nur mit ihm?
Sie räusperte sich. »Ist es wahr, dass Sie die Stahlfabrik kauften, in der Sie früher gearbeitet haben?«
Endlich ein Thema, das jedes Interesse an ihm vernichten würde. Seine Vergangenheit stand normalerweise nicht zur Diskussion, aber sie musste sie offensichtlich hören. »Ja, das habe ich. Schockiert Sie das?«
»Nein.« Geziert tupfte sie sich den Mund mit der Leinenserviette. »Ich finde es faszinierend. Würden Sie mir die ganze Geschichte erzählen? Zweifellos steckt mehr dahinter, als das, was ich gehört habe.«
Faszinierend? »Ich bin mir nicht sicher, ob das ein passendes Tischgespräch ist.«
Sie legte den Kopf schief. »Würden Sie sich lieber über das Wetter unterhalten? Oder vielleicht über die neueste Mode auf der Ladies’ Mile?«
»Gott, nein«, murmelte er. »Ich war zwölf, als ich nach Pittsburgh ging.«
»Und Sie sind in Downtown Manhattan aufgewachsen?«
»Ja.« Er biss die Zähne zusammen. Dieser Teil seines Lebens war tabu, ganz egal, wer fragte.
»Und Sie haben Arbeit in einer Fabrik gefunden. Wie war das so?«
Er überlegte einen Moment lang. »Mörderisch. Zwölf-Stunden-Schichten, sieben Tage die Woche. Keine Pausen, oder auch nur Zeit, um zu essen. Woran ich mich am meisten erinnere, ist der Schweiß. Sie können sich nicht vorstellen, welche Hitze in einem Stahlwerk herrscht. In den ersten drei Monaten, die ich dort gearbeitet habe, habe ich fast zehn Kilo verloren, was ziemlich viel für einen spindeldürren Zwölfjährigen ist.« Den ganzen Tag lang war ihm der Schweiß Arme und Beine entlanggelaufen und hatte sich in seinen Stiefeln gesammelt. Seitdem hasste Emmett das Gefühl, wenn ihm Schweiß an Haut und Kleidern klebte.
»Wie kam es dann dazu, dass Sie das Werk gekauft haben?«
»Ich wurde verletzt, und das Unternehmen gab mir eine kleine Entschädigung, die ich mehrmals erfolgreich investiert habe. Ich kam nach New York, fing an, auf dem Markt mitzuspielen. Innerhalb von vier Jahren hatte ich genug, um das Werk zu kaufen.«
»Und East Coast Steel war geboren.«
Der Tonfall ihrer Stimme, er klang wie Bewunderung … obwohl es eigentlich Abscheu hätte sein sollen. Sie hatte etwas wahrhaft Hässliches und Widerwärtiges in seiner Vergangenheit romantisch verklärt. Wenn sie auch nur eine Ahnung von den Dingen hätte, die er in seinem Leben getan hatte, die er gesehen hatte …
Der Kellner kam mit einem weiteren Gang, diesmal gebackenem Lachs in Dillsauce. Emmett gab vor, sich mit seinem Essen zu beschäftigen, während seine Gedanken sich überschlugen.
Elizabeth Sloane verwirrte ihn völlig. Warum war es ihr nicht unangenehm, mit ihm zu essen? Sie hätte doch wenigstens eine Bestandsaufnahme des Raumes machen sollen, um zu sehen, wer morgen den Klatsch verbreiten würde. Aber er hatte nicht bemerkt, dass sie ihre Mitgäste auch nur ein einziges Mal gemustert hätte. Stattdessen hatte sie an seinen Lippen gehangen und ihn mit Fragen zu seiner Vergangenheit bombardiert. Was zum Teufel geschah hier?
Er hatte sich noch nie in Menschen getäuscht. Die Fähigkeit, andere einzuschätzen, zu wissen, was sie dachten, hatte ihn zu einem vielfachen Millionär gemacht. Er wusste, was Investoren hören mussten, damit sie ihr Geld herausrückten. Oder was man Arbeitern sagte, um einen Streik zu vermeiden. Warum also wurde er ausgerechnet aus einer High-Society-Prinzessin nicht schlau?
Er suchte nach einem unpersönlichen Gesprächsthema. »Wie wäre es, wenn Sie mir von Ihren Fortschritten bei unserer Wette erzählen? Ich bin neugierig, wie es Ihnen in den ersten Tagen ergangen ist.«
»Ich habe das Geld noch nicht investiert. Ich habe an einem Plan gearbeitet.«
»Aktien brauchen Zeit, sich zu entwickeln, das muss also bedeuten, Sie hoffen, eine kurzfristige Kursschwankung auszunutzen.« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Sie sind entweder sehr zuversichtlich oder sehr töricht.«
»Die Zeit wird es zeigen.« Sie schenkte ihm ein rätselhaftes Lächeln und nahm einen Bissen Lachs. Wie hypnotisiert sah er zu, wie sie sich das Stück in den Mund schob und wie dann ihre rosige Zunge hervorschnellte, um die Dillsauce aus dem Mundwinkel zu lecken. Seine Lenden wurden schwer und seine Hose eng. Jesus, Maria und Josef. Hatte sie irgendeine Ahnung davon, wie erotisch so eine Geste wirkte?
»Was ist der größte Betrag, den Sie je an einem Tag an der Börse verdient haben?«, fragte sie und lenkte ihn damit glücklicherweise ab.
»Fast fünfhunderttausend. Aber das war bei der Panik ’73.«
Sie machte große Augen. »Das ist beeindruckend. Sie müssen ziemlich viel über Aktien wissen.«
»Ja.«
»Was für eine Verletzung war das?«
Emmett runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Die Verletzung in dem Stahlwerk, die, derentwegen Sie die Entschädigung erhielten. Was war es?«
»Wie neugierig«, murmelte er. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht anstreben, eine zweite Nellie Bly zu werden?«
Sie warf ihm ein verärgertes Lächeln zu. »Ich nehme an, Sie haben mir gerade auf höfliche Weise mitgeteilt, dass mich das nichts angeht.«
Besser, sie fand es jetzt heraus, um sämtliche falschen Vorstellungen auszuradieren, die sie von ihm hatte. Er stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich wurde verbrannt. Eine Kette, die ein Stahlrohr über mir hielt, riss, weil das Rohr nicht genug Zeit gehabt hatte, ordentlich abzukühlen. Als das Rohr herunterfiel, landete es auf meinem Rücken.«
Ihre Augen wurden groß und füllten sich mit Mitgefühl. Bevor sie irgendetwas sagen konnte, fuhr er fort: »Wissen Sie, ich habe die anderen Männer zur Eile gedrängt. Meine Schicht war fast vorüber, und es gab da ein Bordell, keine Meile vom Stahlwerk entfernt. Ich war begierig darauf, wieder zu dem Mädchen zu kommen, das ich ein paar Nächte zuvor hatte. Also überzeugte ich die anderen, dass die Kette halten würde, damit sie sich beeilten und das Rohr schneller bewegten. Und als die Kette riss, starben zwei Männer.«
Sie versteifte sich, und das Mitgefühl in ihrer Miene war nun nur noch eine Erinnerung, dennoch hatte er nicht die Absicht, aufzuhören. Er hob sein Champagnerglas und ließ den Inhalt kreisen. »Die Gewerkschaft nahm an, dass die Anlagen des Unternehmens schuld an dem Unfall wären, und erkämpfte mir eine kleine Entschädigung. Ich nahm das Geld. Ich nahm es und sagte kein Wort darüber, wie der Unfall zustande gekommen war, dass er meine Schuld gewesen war, weil ich nichts sehnlicher wollte, als aus diesem Stahlwerk herauszukommen.«
Manchmal konnte er ihn immer noch spüren, den Schweiß. Wachte mitten in der Nacht darin gebadet auf. Nein, er empfand keinerlei Bedauern, aus diesem Stahlwerk herausgekommen zu sein, oder wegen der Dinge, die er seitdem getan hatte.
Nachdem er den Rest seines Champagners hinuntergekippt hatte, stellte er das Glas mit einem dumpfen Laut auf den Tisch. »Versuchen Sie nicht, mich zu etwas zu machen, das ich nicht bin, Miss Sloane.«
Sie schluckte, bevor sie krächzend hervorbrachte: »Und was wäre das, Mr. Cavanaugh? Was genau mache ich Sie?«
Er beugte sich vor und hielt ihren erschrockenen Blick fest. »Nett.«
Unangenehmes Schweigen breitete sich aus, und die Geräusche des Speisesaals erklangen um sie herum. Lizzie konzentrierte sich auf ihr Essen und versuchte, Cavanaughs Warnung aus dem Kopf zu bekommen. Zweifellos hatte er versucht, sie mit seiner Geschichte abzuschrecken, aber das Gegenteil war der Fall. Der Mann hatte viele Schichten, und alle davon waren faszinierend komplex. Er hatte Fehler, genau wie die übrigen Sterblichen auf Erden, aber es waren diese Fehler, die sie enthüllen und studieren wollte wie die Aktientabellen, die sie liebte.
Und das beunruhigte sie. Ihr Ziel war es nicht, all die verschiedenen Facetten von Emmett Cavanaugh zu ergründen, sondern die Finanzen ihrer Familie zu retten.
Ihr Blick flog im Raum umher, während sie versuchte, ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. In der Nähe der Fenster entdeckte sie zwei ältere Damen, die fürchterliche Klatschmäuler waren. Ihre dreisten Blicke waren auf Cavanaugh geheftet, während sie einander zuflüsterten. Beide trugen deutliche Mienen der Missbilligung zur Schau, und Lizzie wurde an seiner Stelle wütend. Er hatte heute Abend nichts Ungehöriges getan, um die Kritik dieser Frauen zu verdienen.
Dann sahen die Damen sie an, und sie konnte ihnen quer durch den ganzen Saal vom Gesicht ablesen, was sie dachten. Ist das Elizabeth Sloane? Warum um alles in der Welt diniert sie mit ihm? Haben Sie bemerkt, dass sie ihm nicht einmal Aufmerksamkeit schenkt, wie unwohl sie sich zu fühlen scheint?
Sie straffte den Rücken. Sie wollte nicht, dass irgendjemand Mitleid mit ihr hatte oder glaubte, sie wäre gegen ihren Willen hier. Zugegeben, er hatte ihr in der Angelegenheit kaum eine Wahl gelassen, aber das brauchte niemand zu wissen. Darüber hinaus war Cavanaugh ein vollkommen respektabler Tischgefährte gewesen.
Sie tat, was ihr nach Jahren der Erziehung durch Gouvernanten und Benimmlehrer in Fleisch und Blut übergegangen war: Sie setzte ein Lächeln auf und brachte eine Unterhaltung in Gang. »Sie haben einen Bruder, soweit ich weiß.«
Diese Frage schien Cavanaugh aus seinen Gedanken zu reißen. Er entspannte sich auf seinem Stuhl, und seine Lippen krümmten sich. »Ja. Brendan. Er ist Arzt.«
»Ich kann sehen, dass Sie ihn gernhaben.«
»Das stimmt. Er ist unglaublich klug. Schindet sich beinahe jeden Tag bis auf die Knochen, wenn er in den rauesten Teilen der Stadt praktiziert.«
»Er findet es sicher bereichernd«, meinte sie.
»Das nehme ich an, obwohl ich ihn immer wieder daran erinnere, dass er nicht zu arbeiten braucht und sich den Ärger sparen könnte.«
»Das könnte er, aber manche Leute ziehen es vor, zu arbeiten.«
»Ich nehme an, Sie fallen ebenfalls in diese Kategorie.« Er trommelte mit den Fingern auf die Tischkante und sah sie forschend an. »Warum Aktien?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich mag die Aufregung, das Risiko. Und ich hatte schon immer einen Sinn für Zahlen. Tatsächlich sind meine besten Erinnerungen die an meinen Vater, wie er mir beim Frühstück die Aktienkurse vorliest.«
»Wie alt waren Sie, als er starb?«
»Sieben.« Ein vertrauter Schmerz schwoll in ihrer Brust an. »Ich erinnere mich noch daran, nicht geglaubt zu haben, dass er wirklich fort war. Selbst als ich seine Leiche sah, wartete ich immer noch darauf, dass er aufstehen und mir sagen würde, es sei alles nur ein gewaltiger Scherz. Ich fürchte, ich war ziemlich anstrengend für den armen Will.«
Aus irgendeinem Grund ließ das Cavanaughs Mundwinkel zucken. »Das kann ich mir vorstellen. Sie sind klüger als andere Frauen, waren es wahrscheinlich sogar damals schon.«
Sie atmete scharf ein und nahm das unerwartete Kompliment tief in sich auf, wo Unsicherheit und Selbstzweifel gediehen. Niemand hatte sie je klug genannt – niemand außer ihrem Bruder, obwohl er das Wort benutzte, um ihre Ambitionen zu entmutigen. Will neigte dazu, Dinge zu sagen wie »Du bist zu klug, um in die Geschäftswelt zu gehen« und »Lass deine Intelligenz von einem Ehemann mit Geld würdigen«.
Es bedeutete etwas, dass Cavanaugh sie für klug hielt.
Sie nahm ihr mit kaltem Champagner gefülltes Glas und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, welche Wirkung er auf sie hatte. »Ich weiß nicht, ob ich besonders klug bin. Vielleicht einfach nur waghalsig.«
»Waghalsigkeit ist nie etwas Schlechtes.« Etwas an seinem Tonfall, an der Art, wie die tiefen, heiseren Worte aus seiner Brust grollten, sorgte dafür, dass ihr heiß wurde. Flirtete er mit ihr? Nein, das musste sie falsch gedeutet haben. Er bevorzugte Schauspielerinnen, wie jeder wusste.
Sie versuchte, die Unterhaltung wieder in sicheres Fahrwasser zu lenken. »In Geschäftsangelegenheiten, Mr. Cavanaugh?«
»In allem. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Waghalsigkeit und Dummheit.« Sorgfältig legte er Messer und Gabel auf seinem mit Goldrand verzierten Teller ab. »Und ich denke, Sie können mich ruhig Emmett nennen, zumindest während des Dinners.«
»Das wäre wohl kaum schicklich.«
Cavanaugh sagte nichts, sondern streckte nur eine große Hand nach seinem zierlichen Champagnerglas aus. Seine Haut war rau und gebräunt, mit braunen Härchen auf den Knöcheln. Starke, tüchtige Hände, die anders waren als alle, die sie bisher gesehen hatte. Sie fragte sich, wie sie sich wohl anfühlen würden, ob sie zärtlich wären.