Geographie ist Schicksal - Ian Morris - E-Book

Geographie ist Schicksal E-Book

Ian Morris

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Beschreibung

Wer sind wir, wo leben wir, was haben wir, wie schützen wir uns und wer macht die Regeln? Diese Fragen treiben die Menschheit seit jeher um, und sie alle werden von der geographischen Lage bestimmt. Das zeigt Historiker, Archäologe und Bestsellerautor Ian Morris mit Blick auf Großbritannien, das einstige Imperium. Er erzählt die Geschichte seiner sich wandelnden Beziehungen zu Europa und der Welt, von der physischen Trennung am Ende der Eiszeit bis zu den ersten Anfängen des Vereinigten Königreichs, den Kämpfen um den Atlantik und dem Aufstieg der Pazifikregion. Anhand von Landkarten, Bildern und neuesten archäologischen Funden untersucht Morris, wie Geographie, Migration, Politik und neue Technologien zusammenwirkten und Ungleichheiten hervorbrachten, die bis in die Gegenwart prägend sind. Wo steht Großbritannien und wo steht Europa, wenn sich die Weltbühne in Zukunft weiter nach Osten neigt? Eine weltumspannende Herausforderung, gezeigt wie in einem Brennglas. »Ian Morris gilt als Vorreiter, wenn es darum geht, Weltgeschichte interessant und verständlich zu machen.« Jared Diamond

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Ian Morris

GEOGRAPHIE IST SCHICKSAL

Machtkampf zwischen Großbritannien, Europa und der Welt – eine 10 000-jährige Geschichte

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Wer sind wir, wo leben wir, was haben wir, wie schützen wir uns und wer macht die Regeln? Fünf Fragen, die die Menschheit seit jeher umtreiben und die alle von der geographischen Lage bestimmt werden. Das zeigt Archäologe, Historiker und Bestselllerautor Ian Morris jetzt in Hinblick auf Großbritannien, das einstige Imperium, das seit 6000 Jahren vor Christus aus 6390 separaten Inseln besteht, von denen 150 derzeit bewohnt sind. Wo steht das Land und wo steht Europa heute? Anhand von Landkarten und Bildern führt Morris durch acht Jahrtausende und bis ins nächste Jahrhundert. Er macht historische Geographie lebendig und lesbar wie einen Roman. Den Brexit sieht er dabei als Ablenkung von der entscheidenden Frage, wo Großbritannien - und damit auch der Rest Europas - auf einer sich nach Osten neigenden Weltbühne am besten hinpassen wird. Eine weltumspannende Herausforderung gezeigt wie in einem Brennglas. »Näher wird man einer Weltformel der Geschichte vermutlich nie kommen als mit diesem Buch.« Niall Ferugson zu »Wer regiert die Welt?"«

Vita

Ian Morris, in Großbritannien geboren, ist Willard-Professor für Klassische Philologie und Professor für Geschichte an der Stanford University und Mitglied des zugehörigen Archaeology Centre. Als Autor zahlreicher Bücher und preisgekrönter Veröffentlichungen tritt er häufig als Studiogast im amerikanischen Fernsehen auf. Von 2000 bis 2006 leitete er Ausgrabungen auf dem Monte Polizzo, Sizilien, eines der größten archäologischen Projekte im westlichen Mittelmeerraum. Im Jahr 2011 ist sein Bestseller »Wer regiert die Welt?« bei Campus erschienen..

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Teil I

Die Hereford-Karte: 6000 v. Chr. – 1497 n. Chr.

Teil II

Mackinders Karte: 1497 – 1945

Anmerkungen

Bildnachweise

Literaturhinweise

Register

Einleitung

Nebel im Ärmelkanal

Als ich ein Kind war, erzählte mir mein Großvater wieder und wieder, dass es in seiner Kindheit im Wetterbericht regelmäßig hieß: »Nebel im Kanal – Kontinent abgeschnitten« (Abbildung 0.1). Wie bei so vielen Witzen lag der Humor in der Mehrdeutigkeit. Wollte mein Großvater sagen, dass das Land vor die Hunde gegangen war? Oder dass die Engländer eine geradezu komische Gewissheit ihrer eigenen Bedeutung hegten? Oder beides? Oder keins von beiden? Er erklärte es mir nie. Aber mehr als 40 Jahre, nachdem er ihn mir zum letzten Mal erzählte, wirkt der Witz sehr aktuell. Am 23. Juni 2016 entschied sich die Mehrheit der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union. Bevor die Woche vorüber war, war der Premierminister gestürzt (er war der dritte von vier konservativen Regierungschefs, die über Europa stolperten), die Abgeordneten der Labour Party hatten ihrem eigenen Parteichef das Vertrauen entzogen, und 2 Billionen Dollar des globalen Vermögens hatten sich in Luft aufgelöst. Das war nicht lustig.

Am Tag nach dem Referendum entschloss ich mich, ein Buch über die Geschehnisse zu schreiben. Ich wusste, dass hunderte andere Autoren einen ähnlichen Entschluss fassen würden oder bereits gefasst hatten, und tatsächlich erschienen nur wenige Wochen später die ersten Bücher über den Brexit. Ich gelangte trotzdem zu der Überzeugung, dass es sich lohnen würde, meines zu schreiben, weil ich vermutete, dass es sich deutlich von allen anderen unterscheiden würde. Die meisten einschlägigen Darstellungen konzentrieren sich auf die sieben Jahre zwischen David Camerons Erklärung im Jahr 2013, er befürworte eine Abstimmung, und Großbritanniens Austritt im Jahr 2020. Einige gehen bis zum Jahr 1973 zurück, in dem das Land der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beitrat. Sehr wenige suchen die Ursprünge Ende der vierziger Jahre, als die ersten Pläne für eine europäische Föderation auftauchten, und eine Handvoll beginnt mit der Reformation oder der Bedrohung durch die spanische Armada im 16. Jahrhundert. Ich bin überzeugt, dass keine dieser Analysen weit genug zurückreicht. Nur wenn wir uns die gesamten 10 000 Jahre ansehen, die vergangen sind, seit der Meeresspiegel nach der Eiszeit stieg und die britischen Inseln vom europäischen Kontinent trennte, können wir die übergeordneten Muster verstehen, welche die britische Geschichte geprägt haben und weiterhin prägen.

Ich will damit nicht sagen, dass wir in den Steinen von Stonehenge außenpolitische Empfehlungen oder ewige Wahrheiten über das englische Wesen finden werden. Die Archäologen lachen mit Recht über Leute, die derart Dummes sagen. Aber wenn wir die Kräfte herausarbeiten wollen, die Großbritanniens Beziehungen zu Europa und der Welt prägen, müssen wir einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden betrachten. Erst wenn wir die Fakten in diesen Rahmen einordnen, wird uns klar, warum der Brexit auf einige so reizvoll und auf andere so schockierend wirkte und was als nächstes auf Großbritannien zukommt.

Abbildung 0.1. Reg Philips (1906 – 1980), Stahlarbeiter, Humorist, Gelegenheitsgeograph und Großvater des Autors, Anfang der dreißiger Jahre.

Eine solche langfristige Betrachtung ist keineswegs neu. Im Jahr 1944 erklärte der Teilzeithistoriker Winston Churchill: »Je weiter man in die Vergangenheit blickt, desto weiter kann man in die Zukunft blicken.«1 Doch es vergingen Jahrzehnte, bis sich hauptberufliche Historiker seinen Rat zu Herzen nahmen. Erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die Historiker wirklich mit dem angefreundet, was wir heute als »Big History«, als »große (oder tiefe) Geschichte« bezeichnen, und studieren Trends, die sich über Jahrtausende erstrecken und sich auf den gesamten Planeten auswirken. Die meisten historischen Gesamtdarstellungen (darunter auch einige Bücher von mir) entfernen sich von den Einzelheiten der Geschehnisse in bestimmten Zeiten und an einzelnen Orten, um eine Geschichte in planetarischem Maßstab zu erzählen. Hingegen möchte ich in diesem Buch das Fernrohr umdrehen und ausgehend vom Globalen das Lokale heranzoomen. Schließlich wird die Geschichte von wirklichen Menschen gemacht, und die groben Pinselstriche sind die einzelnen Haarlinien, aus denen sie bestehen, nicht wert, wenn sie uns nicht helfen, das Leben zu verstehen, das wir tatsächlich führen. Daher möchte ich in diesem Buch die Methoden der Big History anwenden, um das Großbritannien nach dem Brexit in den Kontext der Beziehungen einzuordnen, welche die britischen Inseln nach der Eiszeit zu Europa und der Welt pflegten.

Noch heute, ein Dreivierteljahrhundert nach Churchill, studiert nur eine Minderheit der Geschichtsforscher die langfristigen Prozesse. Als beispielsweise der angesehene Historiker David Edgerton in seinem vorzüglichen Buch The Rise and Fall of the British Nation erklärte, der Brexit sei »ein neues Phänomen, dessen Ursachen im Hier und Jetzt« lägen und »nichts mit der tiefen Geschichte zu tun« hätten, löste er keine Kontroverse aus.2 Aber meiner Meinung nach hätte es so sein sollen. Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen zu zeigen, dass der Brexit tatsächlich sehr viel mit der tiefen Geschichte zu tun hat, dass man ihn nur verstehen kann, wenn man ihn in einer langfristigen, weiten Perspektive betrachtet. Die Big History kann uns sogar zeigen, was der Brexit im kommenden Jahrhundert bedeuten könnte.

Wovon am wenigsten gesprochen wird

Zwei Monate und einen Tag nach dem Brexit-Referendum trat Nigel Farage, der Vorsitzende der entschieden antieuropäischen United Kingdom Independence Party (UKIP) an einem ungewöhnlichen Ort als Gastredner auf. Er war nach Jackson in Mississippi gereist, um den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump zu unterstützen, obwohl »eine kurze Umfrage unter zufällig ausgewählten Zuhörern zeigte, dass acht von zehn Anwesenden noch nie von Farage oder dem Brexit gehört hatten«, wie die entschieden proeuropäische britische Zeitung The Guardian berichtete. Davon unbeirrt, erklärte Farage, Trump habe ihn eingeladen, weil die UKIP Millionen Normalbürger mobilisiert habe, die überzeugt seien, dass sie, »indem sie losgehen und für den Brexit stimmen, die Kontrolle über ihr Land und seine Grenzen wiedererlangen und ihren Stolz und ihre Selbstachtung zurückgewinnen können«3 – und eine ähnliche Rolle beanspruchte Trump in den Vereinigten Staaten für sich.4

Farage blieb sich während seiner gesamten Pro-Brexit-Kampagne treu. Beim Brexit ging es tatsächlich um fünf Dinge: Identität (Wer glaubten die Briten zu sein?), Mobilität (Wer kam auf die britischen Inseln, wer ging weg und wer bewegte sich innerhalb des Landes?), Wohlstand (Wie reich waren die Inselbewohner und wie war ihr Reichtum verteilt?), Sicherheit (Wie sicher waren sie vor Gewalt?) und Souveränität (Wer machte die Regeln?). Farage sah den »eigentlichen Schlüssel« in der Einwanderung. Nichts anderes – nicht einmal das Geld – kam diesem Thema nahe. »Wo wir einen Nerv getroffen haben«, sagte er, »ist dies: Unser Bruttoinlandsprodukt mag durch die Masseneinwanderung steigen, aber wer profitiert davon? Die großen Unternehmen, die billige Arbeitskräfte finden, profitieren. Es gibt wichtigere Dinge im Leben als das Geld.«5

Den Zuhörern gefiel, was sie hörten. »Man muss die Grenzen kontrollieren«, sagte eine Krankenschwester aus Florence in Mississippi dem Reporter des Guardian. »Sie sagen, einer von 50 000 [Einwanderern] könnte ein Terrorist sein. Aber wenn ich ihnen eine Dose mit 50 000 M & Ms hinhalte und Ihnen sage, dass eines davon Zyanid enthält, werden Sie dann eine Handvoll nehmen?« Das war eine gute Frage, selbst wenn das libertäre Cato Institute ausgerechnet hat, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Einwanderer werde sich als Terrorist erweisen, eher bei 1 zu 29 Millionen liegt. Was Farage besser als die meisten verstand, war, dass Fakten in dieser Debatte weniger Gewicht hatten als Werte. Die eigentliche Frage war nicht, wer die Briten waren, sondern wer sie sein sollten. Die Frage war nicht, wer tatsächlich ins Land kam und es verließ, wer reich oder arm wurde, wer gewalttätig war oder den Briten sagte, was sie tun sollten – sondern wer all diese Dinge tun sollte.

Viele Leute dachten, dass Farage im Irrtum sei. Nach Einschätzung der Wirtschaftswebsite Forbes.com gab es nicht fünf, sondern nur drei Probleme, und die Zeitschrift Fortune war zwar wie Farage der Meinung, dass es beim Brexit um fünf Probleme ging, aber sie sah diese Probleme in fünf anderen Bereichen. Die BBC identifizierte acht Probleme, die Zeitungen Independent und Sun jeweils zehn und die aggressiv antieuropäische Daily Mail nicht weniger als zwanzig. Um ihnen nicht nachzustehen, versicherte der europafreundliche Schriftsteller Philip Pullman dem Guardian nach der Abstimmung, die Katastrophe habe »tausend Ursachen«. Die Nachwahlbefragungen deuteten darauf hin, dass selbst diese Schätzung zu niedrig angesetzt war: Manche Bürger stimmten für den Austritt, weil sie glaubten, die Befürworter des Verbleibs würden sich ohnehin durchsetzen; viele erklärten, nicht zu wissen, warum sie die eine oder andere Option gewählt hatten; und entgegen jeder Logik hatten 7 Prozent der Anhänger von Farages Partei gegen einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt.6 Nachdem sie die Meinungsumfragen einer Reihe statistischer Tests unterzogen hatten, gelangten die Politikwissenschaftler Harold D. Clarke, Matthew Goodwin und Paul Whiteley in ihrem Buch Brexit: Why Britain Voted to Leave the European Union zu folgendem Ergebnis: »Die knappe Brexit-Entscheidung entsprang einer komplexen Mischung übergreifender Berechnungen, Emotionen und Auslöser.«7 Sie hatten zweifellos recht. Doch Farage hatte ebenfalls recht, denn seine fünf Faktoren umfassten eine ausreichend große Zahl der für die Wähler wichtigen Fragen, um ihm den Sieg zu sichern.

Tatsächlich scheint Farage noch mehr im Recht gewesen zu sein, als ihm bewusst war. Die Big History deutet darauf hin, dass Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität nicht nur im Jahr 2016, sondern immer die größten Sorgen der Menschen waren. In einer der ältesten erhaltenen schriftlichen Darstellungen Britanniens versichert uns der römische Historiker Tacitus, dass die Einheimischen bereits vor 2 000 Jahren über diese Fragen diskutierten. Während Rom Britannien in sein Reich zog, erklärt Tacitus, genossen einige Briten die Verfeinerung und den Glanz, den ihre gewalttätigen Eroberer auf die Insel brachten, während andere alles, was vom Kontinent kam, als von Haus aus dekadent betrachteten. Rom setzte all seinen Charme und seine weiche Macht ein, um dafür zu sorgen, dass die erste Einstellung die Oberhand über die zweite gewann. Das Resultat war Tacitus zufolge, dass die Briten, »welche gerade noch die römische Sprache abgelehnt hatten, sich nun sogar um die [Kunst] der Beredsamkeit bemühten. Daher übernahmen sie auch unsere äußere Haltung und legten regelmäßig die Toga an«. Doch er fügt etwas hinzu, das sich anhört, als läse er aus der Daily Mail vor: Die arglosen Briten bezeichneten dies als Zivilisation, »während es doch ein Teil der Knechtschaft war«.8

In mancher Hinsicht hat sich seit damals nicht viel geändert. Wie im 21. neigten auch im 1. Jahrhundert jene Briten, die in einer größeren Welt leben wollten, zu der Vorstellung, ihr eigenes Denken sei offen und aufgeklärt, während ihre Gegner beschränkt und ignorant seien; hingegen betrachteten jene, die das Lokale dem Globalen vorzogen, sich selbst als offen und demokratisch und die andere Seite als beschränkt und elitär. »Sie sind dumm, sie sind alt, sie sind rückständig, sie sind rassistisch« – so sahen die kosmopolitischen Eliten nach Farages Aussage im Jahr 2016 seine (sowie Trumps) Anhänger.9 Seit der Antike fürchten sich die Europhilen, von mit Heugabeln bewaffneten Bauern in den Abgrund gezogen zu werden, während die Europhoben einen Groll gegen Cliquen von Besserwissern hegen, die ihnen sagen wollen, was sie tun sollen. Die Europafreunde überhäuften den früheren Bildungsminister Michael Gove mit Spott, als er drei Wochen vor dem Referendum in einem Fernsehinterview erklärte, dass »die Menschen in diesem Land von den Experten genug haben«, aber er las von einem Skript ab, das schon vor Jahrtausenden geschrieben worden war.10

Doch in anderer Hinsicht hat sich alles geändert. Die Briten denken heute ganz anders über Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität als zu Churchills Zeiten, geschweige denn zu den Zeiten Königin Victorias, Raleighs und Drakes sowie Caesars. Warum? Nun, wenn man das historische Gesamtbild betrachtet, erkennt man, dass letzten Endes etwas anderes – etwas sehr viel Grundlegenderes – darüber entscheidet, wie die Menschen über diese fünf Kräfte denken. Gemeint ist die Geographie.

In gewisser Hinsicht wissen wir das bereits alle. Als der damalige Premierminister David Cameron im Jahr 2010 nach seinem Lieblingsbuch aus der Kindheit gefragt wurde, nannte er Henrietta Marshalls Our Island Story (1905), eine fesselnde Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Insellage den britischen (oder, wie Marshall es normalerweise ausdrückte, den englischen) Charakter geprägt hat.11 Der Historiker Robert Tombs denkt genauso und stellt seinem faszinierenden Buch This Sovereign Isle eine offenkundige Wahrheit voran: »Die Geographie kommt vor der Geschichte. Inseln können nicht die gleiche Geschichte haben wie kontinentale Ebenen.«12 Ganz richtig, aber die Geographie hat noch größere Bedeutung, als Cameron, Marshall oder Tombs behaupten. Während sich die physische Gestalt der britischen Inseln in den letzten paar tausend Jahren kaum geändert hat – ihre Küsten, Flüsse und Berge befinden sich immer noch mehr oder weniger dort, wo sie waren, als Stonehenge errichtet wurde (Abbildung 0.2) –, hat sich die Bedeutung dieser geographischen Gegebenheiten erheblich verändert. Bei langfristiger Betrachtung zeigt sich, dass die Bedeutung der Geographie stets von zwei Dingen abhängt: von der Technologie, insbesondere von jenen Bereichen, die mit Mobilität und Kommunikation zu tun haben, sowie von der Organisation, vor allem von jenen Organisationsformen, die es den Menschen ermöglichen, neue Technologien effektiv zu nutzen. Da sich Technologie und Organisation ständig wandeln, wandelt sich auch die Bedeutung der Geographie, was wiederum die Bedeutung von Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität verändert. Der Brexit ist lediglich die vorläufig letzte Runde in einer uralten Diskussion über die Bedeutung der britischen Geographie.

Farage (und fast alle Politiker seit römischer Zeit) betonten Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität, weil wir in diesen Bereichen die Auswirkungen der Geographie direkt erleben. Daher sind sie das, was den meisten von uns die meiste Zeit am Herzen liegt und worüber die Politiker die meiste Zeit sprechen. Aber wenn wir verstehen wollen, warum diese Kräfte bestimmte Auswirkungen auf uns haben und wohin sie uns als nächstes lenken könnten, müssen wir tiefer schürfen.

Abbildung 0.2. Die Bühne wird bereitet: in der Einleitung erwähnte Orte.

Der antike griechische Historiker Thukydides wusste das bereits vor 2 500 Jahren. Das furchtbarste Geschehnis seiner Zeit war ein brutaler Krieg, der im Jahr 431 zwischen Athen und Sparta ausbrach; aber als Thukydides im Rückblick das Geschehen analysierte, sah er »den wahrsten Grund […], zugleich den meistbeschwiegenen, […] im Wachstum Athens, das die erschreckten Spartaner zum Kriege zwang«.13 Erst als Thukydides die Ereignisse aus einer Perspektive betrachtete, die sich von seiner eigenen Zeit über fast ein Jahrtausend zurück bis zum Trojanischen Krieg erstreckte, konnte er den wahren Grund erkennen. Genauso müssen wir uns, wenn wir wirklich wissen wollen, warum die Briten 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union stimmten und was diese Entscheidung für das 21. Jahrhundert bedeuten wird, mit dem Grund auseinandersetzen, über den am wenigsten gesprochen wird.

Drei Karten

Wie die meisten geographischen Geschichten kann auch meine am besten anhand von Karten erzählt werden. Drei davon werden den Großteil der Erklärungen liefern. Sie stellen jeweils eine der drei großen Phasen dar, welche die Beziehung Großbritanniens zu Europa und der Welt in den letzten acht Jahrtausenden durchlaufen hat.

Die erste Phase war die mit Abstand längste und erstreckte sich über mehr als 7 500 dieser 8 000 Jahre. Abbildung 0.3, eine Karte, die vor etwa sieben Jahrhunderten von einem Mann namens Richard of Haldingham and Lafford gezeichnet (oder in Auftrag gegeben) wurde, fasst diese Geschichte äußerst anschaulich zusammen. Die Karte ist mit einem Durchmesser von mehr als anderthalb Metern groß und hängt heute in einem Kreuzgang der Kathedrale von Hereford. Sie weist viele Eigentümlichkeiten von Richards Zeit auf, darunter die Konventionen, den Osten oben zu zeigen, weil dies die Himmelsrichtung war, aus der Christus wiederkehren würde, und Jerusalem in die Mitte zu setzen, weil es der Mittelpunkt der christlichen Welt war. Doch viele der Details wären zu jedem Zeitpunkt in den vorausgegangenen 7 500 Jahren ebenso sinnvoll gewesen wie zu Richards Zeiten.

Abbildung 0.3. Die Hereford-Karte, die Richard of Haldingham and Lafford bald nach 1300 anfertigte (oder anfertigen ließ). Den mittelalterlichen Konventionen entsprechend befindet sich der Osten (wo Christus bei seiner Wiederkehr erscheinen würde) oben, und der Kreis in der Mitte ist Jerusalem. Die britischen Inseln sind die unten links in die Karte hineingezwängten Flecken. Richards Karte bietet ein gutes Bild von der Bühne, auf der die Geschichte Britanniens in den 7 500 Jahren zwischen seiner Trennung vom Kontinent um 6000 v. Chr. und Giovanni Cabotos Reise nach Neufundland im Jahr 1497 spielte.

Da ist vor allem die Tatsache, dass Richards Welt sehr klein war. Aus Gründen der Symmetrie musste eine runde Karte mit Jerusalem im Zentrum Afrika und Asien beinhalten, aber je weiter wir uns nach oben und nach rechts bewegen, desto dünner gesät und phantasievoller sind die Details, und Abbildungen mythischer Ungeheuer füllen die leeren Räume. So wie für alle, die vor ihm lebten, war die Bühne Britanniens auch für Richard Europa, vor allem Westeuropa, und sie war auf den linken unteren Quadranten der Karte beschränkt.

Sodann war Britannien in Richards Augen eng mit Europa verbunden. Den Ärmelkanal und die Nordsee zeichnete er nicht breiter als den Rhein und die Seine und schmaler als den Nil. Zweifellos wusste er, dass die Gewässer zwischen Britannien und dem Kontinent gefährlich sein konnten; erst im Jahr 1120 war die europäische Politik auf den Kopf gestellt worden, als ein Schiff, auf dem der englische Thronerbe reiste, im Kanal gesunken war (allerdings war die Besatzung stockbetrunken gewesen). Doch Richard wusste auch, dass auf jeden Schiffsuntergang hunderte ereignisarme Überfahrten kamen. Ärmelkanal und Nordsee waren keine Barrieren, sondern Autobahnen; Britanniens Nähe zu Europa hatte größeres Gewicht als seine Insularität.

Besonders auffällig ist, dass Richard Britannien, obwohl er es als Akteur auf einer europäischen Bühne betrachtete, nicht in den Vordergrund und ins Zentrum, sondern an den Rand setzte. Im Rampenlicht standen größere, reichere Länder im Mittelmeerraum und im Osten: Italien, Ägypten, der Irak, Indien. Wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, war es seit Jahrtausenden so. Jede große Transformation – von der Ankunft des Menschen bis zur Einführung von Landwirtschaft, Metallverarbeitung, Schrift, Staat, Großreichen und Christentum – hatte weit entfernt begonnen, auf der anderen Seite der Hereford-Karte. Das galt im Guten wie im Schlechten. Jede dieser Neuerungen erzeugte Ungleichgewichte zwischen ihren Ursprungsorten und allen anderen Regionen, und diese Ungleichgewichte wurden im Lauf der Zeit im Raum ausbalanciert.

Die Frage, wie genau das funktionierte, beschäftigt die Archäologen und Historiker seit jeher. Antiseptische Worte wie »Ungleichgewichte« und »Ausbalancierung« verdecken eine Vielzahl von Sünden. Die »Ungleichgewichte« waren in Wahrheit Ungleichheit zwischen Gesellschaften: Ungleichheit von Wohlstand, Wissen und Ressourcen, Ungleichheit von Zahlen, Effizienz und Gewalt. Manchmal wurden die Ungleichgewichte durch Kreativität und Triumphe des menschlichen Verstandes beseitigt, manchmal gelang der Ausgleich durch Terror und Massaker. Wir werden uns in den folgenden Kapiteln mit verschiedenen Formen von Ungleichgewichten und unterschiedlichen Versionen der Ausbalancierung beschäftigen, aber an einem zentralen Faktor besteht kein Zweifel. In den ersten 7 500 Jahren ihrer Geschichte waren die britischen Inseln der letzte Ort, an dem auf der anderen Seite der Karte entwickelte Güter, Institutionen, Ideen und Wertvorstellungen eintrafen, nachdem sie sich überall sonst durchgesetzt hatten.

»Der letzte Ort« ist die zutreffende Beschreibung, denn jenseits von Britannien gab es nichts mehr auf der Karte. Für Richard war der Atlantische Ozean das Ende der Welt. Natürlich wussten viele Europäer zu dieser Zeit bereits, dass es in Wahrheit nicht so war, denn in den drei Jahrhunderten zuvor hatte die Erderwärmung den Nordatlantik so gut passierbar gemacht, dass die Wikinger von Norwegen bis nach Neufundland segeln konnten. Aber wie die meisten gebildeten Männer seiner Zeit maß Richard dem keine Bedeutung bei. Sein geographisches Weltbild beruhte im Wesentlichen auf der Vorstellung antiker griechischer und römischer Autoren, die kaum Zweifel daran hegten, dass Seeleute, die sich von den Küsten Europas entfernten, bald über den Rand der Welt fallen würden. »Jenseits von Gadeira [Cádiz] ins Dunkel darf man nicht!«, hatte der Dichter Pindar die Griechen um 470 v. Chr. gewarnt.14 »Noch weiter dürfen Weise wie Unweise nicht gehn.«15 Die Furchtlosen, die diesen Rat missachteten, kehrten normalerweise entweder enttäuscht oder gar nicht heim. Es gab dort kein Festland, wie der griechische Geograph Strabon fünf Jahrhunderte später feststellte, sondern nur »Nahrungsmangel und Öde«.16

Pindar und Strabon hätten die Hereford-Karte für vollkommen sinnvoll gehalten, und dasselbe galt für fast jedermann in den etwa 70 Jahrhunderten, bevor Richard sie entwarf. Sie war auch noch sinnvoll, als fast zwei Jahrhunderte später ein anderer Richard, der dritte englische König dieses Namens, im Jahr 1485 auf dem Bosworth Field in Stücke gehackt wurde. Doch ein weiteres Jahrhundert später, als Shakespeare sein Stück Richard III. schrieb, begann die Hereford-Karte bereits veraltet zu wirken. »Die ganze Welt ist eine Bühne«, versicherte der Dichter den Engländern in Wie es euch gefällt, und er hatte recht.17 Der Vorhang war für einen neuen Akt im Drama aufgegangen, für einen Akt, in dem Britannien vom Rand der Welt in ihr Zentrum rückte. Als der Geograph und Entdecker Halford Mackinder im Jahr 1902 die zweite der drei Karten zeichnete, die meine Geschichte zusammenfassen (Abbildung 0.4), hatte Großbritannien seine Bühne auf den Großteil des Planeten ausgeweitet und eine globale Führungsrolle übernommen.

Abbildung 0.4. Mackinders Karte. Zwischen 1500 und 1700 ersetzten die britischen Inseln Jerusalem als Mittelpunkt der Welt. Die Briten verwandelten Ozeane in Autobahnen und schlossen den Ärmelkanal. Doch als Halford Mackinder die neue Weltordnung im Jahr 1902 in dieser Karte zusammenfasste, löste sie sich bereits auf.

Seit den Tagen von Richard of Haldingham and Lafford waren zwei Dinge geschehen. Erstens begannen die Europäer zu der Zeit, als die Wunden Richards III. noch frisch waren, Schiffe zu bauen, die einigermaßen zuverlässig Ozeane überqueren und wieder heimkehren konnten. Der Atlantik war genauso breit wie eh und je, aber jetzt bedeutete er kein Hindernis mehr, sondern eine Autobahn in die Welt.

Portugiesische, italienische und spanische Seefahrer waren die ersten, welche die Grenzen der Hereford-Karte überschritten (»John Cabot«, der erste von der englischen Krone entsandte Entdecker, der nachweislich amerikanischen Boden betrat, war ein venezianischer Abenteurer namens Giovanni Caboto, der sich in Bristol niedergelassen hatte). Dass nicht Portugal, Italien oder Spanien (oder auch Frankreich oder die Niederlande) in Zentrum von Mackinders Karte rückten, lag daran, dass es den Engländern besser als allen anderen gelang, die neue Schifffahrtstechnologie mit neuen Organisationsformen zu verbinden. Seit die britischen Inseln vom Kontinent getrennt worden waren, hatte die Nähe zum Kontinent stets ihre Insularität übertrumpft, denn wer die französische Kanalküste erreichte, konnte auch den Ärmelkanal überqueren und nach England gelangen. Die Hereford-Karte wurde zu Mackinders Karte, weil die Regierungen in London Wege fanden, Flotten zu bauen, die stark genug waren, um das zu verhindern. Der Ärmelkanal war genauso schmal wie zuvor, aber wenn die Royal Navy den Feinden Englands den Zugang zu dieser Meerenge verweigern konnte, setzte sich die Insularität gegen die Nähe durch. Philipp II. in Spanien, Ludwig XIV. und Napoleon in Frankreich und Hitler in Deutschland machten die Erfahrung, dass die 34 Kilometer von Calais nach Dover so weit wie eine Million Kilometer waren, solange die Briten das Meer beherrschten.

Es ist kein Zufall, dass Shakespeare der erste Autor war, der England im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts als uneinnehmbare Festung beschrieb:

Dies Kleinod, in die Silbersee gefasst, die ihr den Dienst von einer Mauer leistet, von einem Graben, der das Haus verteidigt vor weniger beglückter Länder Neid: der segenvolle Fleck: dies Reich: dies England.18

Chaucer und Malory sagten nie etwas in der Art, weil es in den neunziger Jahren des 14. oder 15. Jahrhunderts einfach keinen Sinn gehabt hätte. Erst zu Shakespeares Zeiten erreichte der englische Staat ein Maß an Organisation, das es ihm ermöglichte, den Ärmelkanal in einen Verteidigungsgraben zu verwandeln, und im folgenden Jahrhundert vollzogen die Briten eine der kühnsten strategischen Kehrtwenden der Geschichte. Tatsächlich tauschten sie ihre Nebenrolle auf einer europäischen Bühne gegen die Hauptrolle auf einer atlantischen ein, und hinter ihren hölzernen Mauern geschützt, vereinten sie die britischen Inseln zu einem einzigen Staat, der von London aus regiert wurde, während sie gleichzeitig ein interkontinentales Großreich errichteten.

Tausende Jahre lang waren im Nahen Osten und im Mittelmeerraum entstandene Ungleichgewichte aller Art im Verlauf ihrer Ausbreitung verringert worden, bis sie die britischen Inseln erreichten, aber jetzt wurde Großbritannien der Ort, von dem aus Menschen, Güter und Ideen bergab rollten. Die Briten verdrängten die indigenen Bevölkerungen Nordamerikas, Australiens und (weniger vollständig) Neuseelands oder rotteten sie aus und übernahmen die Kontrolle über alles von Kairo bis zum Kap der Guten Hoffnung und von Aden bis Singapur. Sogar Jerusalem, der Mittelpunkt der alten Hereford-Karte, wurde 30 Jahre lang von britischen Beamten regiert.

Dies war eine der erstaunlichsten weltgeschichtlichen Leistungen, aber – und das kann nicht genug betont werden – sie war auch sehr kurzlebig. Großbritannien dominierte die Welt wie ein Koloss, allerdings nur während 3 Prozent seiner 8 000-jährigen Geschichte; in 95 Prozent dieser Zeit war es eher Europas armer Verwandter. Mein Großvater wurde im Jahr 1906 geboren, nur vier Jahre, nachdem Mackinder seine Karte gezeichnet hatte, aber als er 1980 starb, war Mackinders Weltbild ebenso veraltet wie das von Richard of Haldingham.

Auf den ersten Akt des britischen Dramas, dessen Bühne die Hereford-Karte war, folgte zwischen 1500 und 1700 der zweite Akt, weil Schiffe, die ganze Ozeane überqueren konnten, große Teile der Welt auf eine neue, von Großbritannien dominierte Bühne zerrten. Zur Lebenszeit meines Großvaters ging der zweite Akt, der auf Mackinders Karte stattfand, aus ähnlichen Gründen in einen dritten über. Neue Technologien – Telegraphenleitungen und mit Öl angetriebene Motoren, Containerschiffe und Düsenflugzeuge, Satelliten und das Internet – verkleinerten den Raum noch mehr als die Galeonen des 16. Jahrhunderts. Genau wie im 17. und 18. Jahrhundert reagierten die Menschen auf diese Veränderungen mit der Errichtung neuer Organisationen – der Vereinten Nationen, der Welthandelsorganisation und natürlich der Europäischen Union –, um die sich wandelnde Bedeutung der Geographie zu nutzen. In den letzten 100 Jahren haben die neuartigen Technologien und Institutionen große Teile der Welt miteinander verbunden, wodurch die Bühne so viel größer und die Akteure so viel zahlreicher geworden sind, dass Großbritannien aus dem Rampenlicht verdrängt worden ist.

Einige Theoretiker sind der Meinung, dass es in unserer neuen vernetzten Welt keine Zentren und Peripherien wie auf den Bühnen der ersten beiden Akte mehr gibt. Meine dritte Karte (Abbildung 0.5) legt einen anderen Schluss nahe. Hier handelt es sich um eine einfallsreiche (wenn auch ein wenig desorientierende) Karte, auf der die Größe eines Landes nicht von der Fläche, die es einnimmt, sondern von seinem Anteil am Wohlstand der Welt abhängt.1 Diese »Karte des Geldes« zeigt, dass es mittlerweile drei Zentren auf dem Planeten gibt: Nordamerika, Westeuropa und Ostasien. Großbritannien nimmt keine Vormachtstellung mehr ein wie im zweiten Akt, sondern findet sich am Rand eines der drei modernen Geldberge wieder. Die Hauptrollen auf dieser neuen Bühne spielen die Akteure in Peking, Brüssel und Washington. Der Ärmelkanal und die Ozeane sind immer noch da, aber sie sind keine Verteidigungsgräben mehr. Präzisionsgelenkte Raketen und die fast augenblickliche Informationsübermittlung haben sie jeglicher Relevanz beraubt.

Abbildung 0.5. Die Karte des Geldes: Drei Geldberge in Nordamerika, Westeuropa und Ostasien beherrschen alles. Auf dieser desorientierenden Karte wird jedem Land eine Fläche zugewiesen, deren Größe dem Anteil am globalen Wohlstand entspricht, den es im Jahr 2018 erzeugte. Großbritannien hat auch auf dieser Bühne immer noch eine Sprechrolle, aber es ist nicht länger der Hauptdarsteller.

Das Wachstum der europäischen und amerikanischen Geldberge um das Jahr 1900 verformte Mackinders Karte, aber das Wachstum des chinesischen Bergs seit dem Jahr 2000 hat ihre Grenzen endgültig gesprengt. »China verschiebt das globale Gleichgewicht derart, dass die Welt ein neues Gleichgewicht finden muss«, erklärte Lee Kuan Yew, der ehemalige langjährige Premierminister Singapurs, im Jahr 2012. »Wir können unmöglich so tun, als wäre dies einfach ein weiterer großer Akteur. Dies ist der größte Akteur in der Geschichte der Menschheit.«19

Die neuen Bedeutungen der Geographie haben die etablierten Vorstellungen von Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität auf den Kopf gestellt. Die Veränderungen versetzen nicht nur Großbritannien, sondern die gesamte westliche Welt in Aufruhr. Ein Vierteljahrtausend lang waren die Länder rund um den Nordatlantik das globale Machtzentrum. Nicht für alle Menschen im Westen war das Leben einfach (mein Großvater, ein Stahlarbeiter, wusste das nur zu gut), aber es war – insbesondere für männliche Angehörige der weißen Mittelschicht – einfacher als für die Bewohner der übrigen Welt. Erst in den letzten 30 Jahren hat sich das zu ändern begonnen. Das Leben ist im Westen weiterhin einfacher als in der restlichen Welt, aber nicht mehr so viel einfacher als früher. Und in 50 Jahren wird es möglicherweise überhaupt nicht mehr einfacher sein. Die Überlegenheit des Westens wirkt nicht länger mühelos. Der globale Wettbewerb hat sich verschärft, und wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass die gewohnten Methoden funktionieren. Kein Wunder, dass die Menschen im Westen verunsichert sind.

In den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als sich der Vorhang für Mackinders Karte noch nicht vollkommen geschlossen hatte, machte sich der große britische Schriftsteller George Orwell bereits Sorgen, nach dem Ende des Empire werde England »eine kalte und unbedeutende kleine Insel« sein, »auf der wir alle hart arbeiten und hauptsächlich von Heringen und Kartoffeln leben müssten«.20 Dazu ist es nicht gekommen: Großbritannien hat nach wie vor die sechst- oder neuntgrößte Wirtschaft der Welt (abhängig von der Berechnungsweise) und wahrscheinlich die fünftstärkste Flotte (hinter den Vereinigten Staaten, China, Russland und Japan); außerdem ist es eine von nur neun Atommächten. Nur die Vereinigten Staaten haben mehr Nobelpreisträger, und im Jahr 2018 nahm das Land laut dem Soft-Power-30-Index den weltweit ersten Rang unter den Ländern mit der größten »weichen Macht« ein, weil es in der Lage ist, »Ziele durch Attraktion und Überzeugung zu erreichen«.21 (Im Jahr 2019 verlor es den Spitzenplatz an Frankreich, weil es durch das unendliche Gezerre um den Brexit an Attraktivität verloren hatte.) Großbritannien ist weiterhin ein wichtiger Akteur, wenn es auch nicht länger in der Mitte der Bühne steht. Die Royal Navy kann die Strände der britischen Inseln oder die Handelsrouten nicht mehr verteidigen. Das Empire hat sich aufgelöst, der Großteil Irlands ist fort, und im Jahr 2014 fehlten nur eine halbe Million Stimmen, damit sich Schottland ebenfalls aus der Union verabschiedet hätte.

Eine Generation nach Orwell löste der amerikanische Außenminister Dean Acheson Empörung mit der Aussage aus, Großbritannien habe »ein Weltreich verloren und noch keine neue Rolle gefunden«.22 Zwei Generationen nach Acheson geht die Suche immer noch weiter. Sollte Großbritannien Schutz im Schatten des amerikanischen Bergs suchen? Oder wäre es besser beraten, sich an Brüssel anzulehnen? Oder sollte es auf den chinesischen Berg klettern? Könnte es einen unabhängigen Weg zwischen den drei Gipfeln finden? Könnte es mit dem alten englischsprachigen Commonwealth zusammenarbeiten, um einen eigenen vierten Hügel aufzuhäufen? Oder könnte es versuchen, mehrere dieser Rollen gleichzeitig zu spielen? Könnte es sogar eine vollkommen neue Rolle für sich selbst schreiben?

Im Jahr 2016 waren die Briten mit einer brennenden Frage konfrontiert, aber es war nicht die Frage, die im Sommer auf dem Abstimmungszettel stand: »Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?«23 In einer Big-History-Perspektive betrachtet, war die Brexit-Debatte nicht mehr als eine Ablenkung. Im 21. Jahrhundert wird es nicht um Brüssel, sondern um Peking gehen. Die eigentliche Frage lautet, welche Rolle Großbritannien – und der Rest der westlichen Welt – auf einer Weltbühne anstreben sollte, die sich nach Osten neigt.

Eine vierte Karte

Dass diese Frage so schwer zu beantworten ist, liegt unter anderem daran, dass es »Britannien« möglicherweise gar nicht gibt. Vor der Nordwestküste Europas gibt es etwa 6 390 Inseln, von denen gegenwärtig rund 150 bewohnt sind; und die Geographie verbindet ihre Schicksale miteinander, trennt sie zugleich jedoch auch voneinander. Daher möchte ich eine vierte Karte einführen (Abbildung 0.6), der wir auf den folgenden Seiten ebenso viel Aufmerksamkeit widmen werden wie den ersten drei.

Keine zwei Inseln sind exakt identisch, aber einige Unterschiede sind besonders bedeutsam. Der offenkundigste ist der zwischen den beiden größten Inseln, Irland und Großbritannien (das heißt England  /  Schottland  /  Wales). Der Anstieg des Meeresspiegels nach der Eiszeit füllte das Gebiet zwischen Irland und Schottland um das Jahr 9000 v. Chr. mit Wasser, aber das Land, das sich in Irland verwandelte, unterschied sich schon seit Millionen Jahren geologisch von Großbritannien. Irland bildet eine Art von Becken: Das Hochland aus Sandstein- und Granitmassiven im Norden und Süden fasst eine sandige, lehmige, sumpfige und von Seen übersäte Senke ein.

Abbildung 0.6. Uralte Felsen. Die drei großen geographischen Zonen der britischen Inseln: das fruchtbare Tiefland des Südostens, das ärmere Hochland im Norden und Westen und das irische Becken. Land, das sich mehr als 200 Meter über Meeresspiegel erhebt, ist grau markiert.

Die zweite geographische Verwerfungslinie verläuft vom Mündungsgebiet des Exe in Devon quer durch Großbritannien bis zum Esk in Yorkshire. Sie trennt den tiefliegenden, eher warmen und (zumindest gemessen an britischen Maßstäben) trockenen Südosten mit seinen fruchtbaren jungen Böden von den älteren, härteren Schieferformationen im kälteren, feuchteren Hochland des Nordens und Westens. In einer ihrer Mrs.-Miniver-Erzählungen gibt Jan Struther eine wunderbare Beschreibung dieser Grenze. (In meinen Augen sind dies die englischsten Geschichten, die je geschrieben wurden – oder sollte ich vielleicht sagen: die südöstlichsten und typischsten für die obere Mittelschicht.) Eine Fahrt nach Norden über die Exe-Esk-Linie brachte Struthers Familie in den dreißiger Jahren

endlich aus der Ebene heraus, hinauf in ein vollkommen anderes Land, ein Land kleiner abschüssiger Felder, rauer Steinmauern, blökender Schafe, kreischender Regenpfeifer und einsamer Bauernhäuser, die im Schutz von Ahornen stehen […] plötzlich begannen die Knochen der Erde in felsigen Narben und Aufschlüssen durch das Gras zu brechen; und noch höher gab es überhaupt keine Felder mehr, sondern nur kahle Moore.24

Genau so ist es.

Die Geographie ist unfair: Unter ansonsten gleichen Bedingungen sind die Menschen, die auf den kargen Böden im Norden und Westen Britanniens und auf den schweren, feuchten Böden Irlands leben, stets kleiner und ärmer gewesen als jene, die auf den fruchtbaren Böden im Südosten leben – die wiederum kleiner und ärmer gewesen sind als die Bewohner des westeuropäischen Festlands mit seinen noch besseren Böden. Schon im Jahr 1932, als die britische Archäologie gerade erst in Schwung kam, erkannte der Pionier Cyral Fox, was das bedeutet: »Es ist eine Tragödie der britischen Vorgeschichte und Geschichte und der Schlüssel dazu, dass die am besten bewohnbaren und am leichtesten urbar zu machenden Gebiete an jene Küsten angrenzen, an denen Invasoren am leichtesten landen können.« Die Folge: »Im [südöstlichen] Tiefland Britanniens werden neue Kulturen kontinentalen Ursprungs den älteren oder indigenen Kulturen aufgezwungen. Im [nördlichen und westlichen] Hochland hingegen werden sie eher von der älteren Kultur absorbiert.«25 So hat die Geographie Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität bestimmt. In der englischen Geschichte ging es die meiste Zeit darum, zu bewältigen, was vom Kontinent kam, während es in der Geschichte von Wales, dem Norden und dem West Country, von Schottland und Irland darum ging, zu bewältigen, was aus England kam.

Ich wuchs in den Midlands in Stoke-on-Trent auf, direkt nördlich der Linie, die den Südosten vom Norden und Westen trennt. Dieser Ort ist weder das eine noch das andere, sondern wird von den Geographen als Midland Gap bezeichnet, ein 50 Kilometer breites Tal zwischen den Cambrian Mountains in Wales und den Pennines in Nordengland. Die Midland Gap ist zweifellos nicht südöstlich, hat aber auch keinen eindeutig nördlichen oder westlichen Charakter. Beim Referendum von 2016 stimmte eine überwältigende Mehrheit von 69 Prozent der Einwohner Stokes für den Austritt aus der Europäischen Union, weshalb die Medien dazu übergingen, es als »Brexit-Hauptstadt« zu bezeichnen.26 Als der Parlamentssitz für Stoke Central (wo ich meine Jugend verbrachte) im Jahr 2017 vakant wurde, rechnete sich die UKIP so große Chancen aus, dass Paul Nuttall, der kurz zuvor Nigel Farage als Parteiführer abgelöst hatte, selbst dafür kandidierte. Er verlor (der Sitz war seit seiner Einführung im Jahr 1950 stets an den Kandidaten der Labour Party gegangen; nur im Jahr 2019 wechselte er den Besitzer und ging an die Konservativen), aber es gelang ihm, ein Viertel der Stimmen zu erringen.

Ich verließ Stoke-on-Trent im Jahr 1978 und habe mehr als die Hälfte meines Lebens im Ausland verbracht, vor allem in Chicago und Kalifornien. Ob das mein Verständnis von Großbritanniens Platz in der Welt erweitert oder dazu geführt hat, dass mir meine alte Heimat vollkommen fremd geworden ist, mag der Leser beurteilen; allerdings verbrachte ich einen Großteil des Jahres vor dem Brexit-Referendum als Gastprofessor an der London School of Economics (LSE), die versteckt zwischen den Monumenten, Theatern und Restaurants von Westminster liegt.2 Dies dürfte eines der internationalsten Viertel auf der Erde sein (meine Studenten sagten, LSE stehe für »Learn to Speak English«), ein Ort, an dem die Vorstellungen von Identität, Mobilität, Wohlstand, Sicherheit und Souveränität größere Ähnlichkeit mit denen in San Francisco als in Stoke-on-Trent haben. Und in einem exakt spiegelverkehrten Ergebnis zu dem meiner Heimatstadt stimmten im Jahr 2016 69 Prozent der Einwohner von Westminster für den Verbleib in der EU.

Die Regionen in Abbildung 0.6 sind so unterschiedlich, dass man Zweifel hat, ob man sie wirklich in der Kategorie »britisch« zusammenfassen kann. Zwischen 1916 und 1923 starben mindestens 5 000 Menschen in blutigen Auseinandersetzungen über die Frage, ob Irland britisch sei, und zu meinen Lebzeiten sind im Konflikt über die Frage, ob die nordöstliche Ecke Irlands als britisch zu betrachten sei, weitere 3 500 Todesopfer zu beklagen gewesen – mehr als beim Terrorangriff auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001. In früheren Jahrhunderten starben noch mehr Menschen in ähnlichen Auseinandersetzungen über die Zugehörigkeit von Schottland und Wales.

Es überrascht nicht, dass viele Leute das »B-Wort« vollkommen ablehnen. Der Journalist Eddie Holt schlug im Jahr 2006 nur teilweise im Scherz vor, es scheine »bloß vernünftig, den logischen Sprung ins kalte Wasser zu wagen, da sich die fraglichen Inseln um ein Gewässer drängen, das als Irische See bekannt ist. Es wird gewiss niemand ein Problem damit haben, von den irischen Inseln zu sprechen.«27 Um solche Diskussionen zu vermeiden, sprechen Regierungsvertreter in Dublin und London in gemeinsamen Dokumenten nur von »diesen Inseln«.28 Der Historiker Norman Davies, der eine ausgezeichnete tausendseitige Monographie über diesen Teil der Welt geschrieben hat, dachte über die Bezeichnungen »britische und irische Inseln«, »Europas vorgelagerte Inseln« und »anglokeltischer Archipel« nach, bevor er sich für das neutrale The Isles entschied.29

Ich verwende die Begriffe »Britannien«, »Großbritannien« und »britische Inseln« als Bezeichnungen für den gesamten Archipel. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens sind diese Namen so gebräuchlich, dass es pedantisch wirkt, sie zu vermeiden. Sie gehen auf die älteste erhaltene Diskussion zurück, in der der griechische Philosoph Aristoteles (oder vielleicht einer seiner Schüler) im Jahr 330 v. Chr. erklärte: »[In dem Ozean] liegen noch zwei sehr große Inseln, die sogenannten Britannischen, nämlich Albion [Großbritannien] und Irland.«30 Das von ihm verwendete griechische Wort brettanikai stammte vermutlich vom keltischen pretani ab, womit »die Bemalten« oder »die tätowierten Menschen« gemeint waren. Da sich einige Briten immer noch bemalten, als Julius Caesar im Jahr 55 v. Chr. kam und sie sah, gewöhnten sich die Römer an, die Provinz, die sie auf dem Gebiet des modernen England und Wales gründeten, als »Britannia« zu bezeichnen. Nach dem Jahr 100 erwähnt kein Autor mehr bemalte Haut, und nach 400 gibt es keine Berichte mehr über Tätowierungen, aber der Name blieb hängen.

Der zweite und wichtigere Grund ist, dass die einende Kraft der Geographie letzten Endes größer ist als die zahlreichen Faktoren, die zur Trennung der Inseln beitragen. Die Inseln als »britisch« zu bezeichnen, bedeutet keineswegs, dass alle 6 390 von London aus regiert werden sollten, genauso wenig wie es bedeutet, dass sich ihre Bewohner weiterhin mit blauer Farbe bemalen sollten. Das gemeinsame Etikett »britisch« trägt lediglich einer grundlegenden Tatsache Rechnung, die uns von der Geographie aufgezwungen wird: So viel sie auch untereinander streiten mögen, sitzen die Bewohner der Inseln doch alle im selben Boot.

Zur Orientierung

So wie die Historiker seit den Tagen von Thukydides bringe ich meine Argumente vor, indem ich eine Geschichte erzähle und zeige, wie eines zum anderen führte. Ich beginne mit den Jahrhunderten bis 6000 v. Chr., als der Anstieg des Meeresspiegels die britischen Inseln vom Kontinent trennte. Die erste Hälfte des Buchs (Teil I, »Die Hereford-Karte«) bringt uns bis zum Jahr 1497, als Caboto bewies, dass die Hereford-Karte nicht die ganze Bühne zeigte. Die Kernaussage dieser Untersuchung ist, dass die Geschichte Britanniens stets von der geographischen Tatsache geprägt war, dass dieses Land eine Ansammlung von Inseln am äußersten Rand des europäischen Kontinents ist.

In Teil II (»Mackinders Karte«) untersuche ich, wie die Rollen, die Britannien spielen konnte, vollkommen neu definiert wurden, als seine Bühne auf den Atlantischen und den Indischen Ozean ausgeweitet wurde. Das nimmt fast ein Drittel des Buchs in Anspruch, obwohl der beschriebene Zeitraum – 1497 bis 1945 – gerade einmal ein Vierzigstel unserer Geschichte umfasst. Dies war in mehrerlei Hinsicht der außergewöhnlichste Teil der britischen Geschichte, aber das ist nicht der einzige Grund für das Missverhältnis. Die Anhänger des Brexit klangen im Jahr 2016 oft so, als entspräche Mackinders Karte dem natürlichen Zustand der Welt und der Planet werde in diesen Zustand zurückkehren, sobald Großbritannien seine kontinentalen Fesseln abgeschüttelt habe. Das war ein Denkfehler. Die Geographie hatte ganz bestimmte Bedeutungen annehmen müssen, damit Mackinders Karte möglich werden konnte, und im Jahr 1945 waren diese Bedeutungen für immer verschwunden.

Teil III (»Die Karte des Geldes«), umfasst lediglich anderthalb Jahrhunderte, und auch das nur, weil ein Großteil von Kapitel 11 Dingen gewidmet ist, die noch gar nicht geschehen sind; wie in Wer regiert die Welt? richtet sich mein Blick dabei auf das Jahr 2103. Ich versuche nicht, den Kampf um das Referendum von 2016 erneut auszutragen. Stattdessen frage ich, was uns die 10 000 Jahre alte Logik, die Britanniens Platz in der Welt bestimmt, darüber verrät, in welche Richtung die britischen Inseln als nächstes gehen werden – denn die Vergangenheit mag kein sehr guter Führer in die Zukunft sein, aber sie ist der einzige, den wir haben.

Teil I

Die Hereford-Karte: 6000 v. Chr. – 1497 n. Chr.

Kapitel 1Thatchers Gesetz: 6000 – 4000 v. Chr.

Das Dilemma

»Wir sind untrennbar mit Europa verbunden«, erklärte Margaret Thatcher den Briten im Jahr 1975. »Weder Mr. Foot noch Mr. Benn« – dies waren zu jener Zeit die wichtigsten Befürworter einer Trennung von Europa – »noch sonst irgendjemand wird es schaffen, uns ›aus Europa herauszuführen‹, denn wir gehören zu Europa und haben immer dazugehört.«1

Angesichts der Tatsache, dass sich Thatcher später den Ruf erwarb, die Erzfeindin der europäischen Integration zu sein, mag diese Aussage überraschen, und einige Historiker fragen sich, ob das tatsächlich Thatchers Überzeugung war. Sie hatte gerade die Führung einer Konservativen Partei übernommen, deren größter Erfolg in der jüngeren Vergangenheit war, dass sie Großbritannien in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft geführt hatte, und als eine Labour-Regierung diesen Schritt einem Referendum unterzog, war es zweifellos eine Frage der Ehre, dass sie ihn verteidigte. Doch welche Zweifel Thatcher auch immer hegen mochte (dazu mehr in Kapitel 9), ihr Rat an die Nation am Vorabend des ersten Brexit-Referendums beschrieb die grundlegenden Fakten der britischen Position vollkommen klar. Ihre These – Großbritannien ist untrennbar mit Europa verbunden und kann unmöglich herausgerissen werden, denn Europa ist der Ort, an dem es sich immer befinden wird – ist so überzeugend, dass ich sie als »Thatcher’s Law, Thatchers Gesetz, bezeichnen werde.

Wie bei allen wissenschaftlichen Gesetzen gibt es auch bei dem von Thatcher Ausnahmen. Tatsächlich ist Großbritannien nicht »immer ein Teil Europas gewesen«, was einfach daran liegt, dass es nicht immer ein Europa gab, dessen Teil es hätte sein können. Unser Planet existiert seit 4,6 Milliarden Jahren, aber die Landmasse, die wir als Europa bezeichnen, entstand erst vor etwa 200 Millionen Jahren durch die Verschiebung der Kontinentalplatten. Sieht man von dieser Einschränkung ab, so sind die britischen Inseln jedoch während 99 Prozent dieser Zeit Jahre buchstäblich Teil Europas gewesen, denn 198 Millionen Jahre lang waren sie überhaupt keine Inseln, sondern lagen am Westrand einer weitläufigen Ebene, welche sich von Russland bis zur Atlantikküste erstreckte, die etwa 150 Kilometer westlich des modernen Galway in Irland verlief (Abbildung 1.1). In Ermangelung einer besseren Bezeichnung werde ich diese riesige Erweiterung des Kontinents als »Proto-Britannien« bezeichnen.

Abbildung 1.1. Die Expansion Europas: Küsten und Gletscher in der kältesten Phase der letzten Eiszeit vor etwa 20 000 Jahren.

Während der Eiszeiten, die den Großteil der letzten 2,5 Millionen Jahre andauerten, zogen die Gletscher derart viel Wasser aus den Ozeanen, dass das, was wir heute als Nordsee und Ostatlantik kennen, im Wesentlichen über dem Meeresniveau lag. Zum kältesten Zeitpunkt vor 20 000 Jahren waren die Temperaturen im Durchschnitt 6 Grad niedriger als heute. Eine bis zu drei Kilometer dicke Eisschicht bedeckte einen Großteil der Nordhalbkugel und band 120 Quadrillionen Tonnen Wasser, was zur Folge hatte, dass der Meeresspiegel 100 Meter tiefer lag als heute.

Auf den Gletschern, unter den jenes Land begraben lag, das sich eines Tages in Schottland, Irland, Wales und das nördliche England verwandeln sollte, konnte auf dem Höhepunkt der Eiszeit kein Leben existieren, und die Tundra, die sich 150 oder mehr Kilometer im Süden erstreckte, war nicht viel lebensfreundlicher. Zu manchen Zeiten band das Eis derart viel Feuchtigkeit, dass kaum ein Fünftel des Regens fiel, der in der Gegenwart gemessen wird. Die Luft enthielt die 10- bis 20-fache Menge an Staub. Diese Trockenheit trug noch mehr als die Kälte dazu bei, dass in Proto-Britannien nur sehr wenige Pflanzen gedeihen konnten, weshalb es auch sehr wenige Tierarten gab, die sich davon ernähren konnten – und keine Menschen, die von irgendetwas hätten leben können.

Die ersten menschenähnlichen Affen (die Anthropologen werden sich nie darüber einig, wie sie den »Menschen« definieren sollen) entwickelten sich vor etwa 2,5 Millionen Jahren in den ostafrikanischen Savannen. Ihr Auftauchen beschwor rasch das ursprüngliche geostrategische Ungleichgewicht herauf. Das Muster, das uns in diesem Buch ein ums andere Mal begegnen wird – an einem Ort entsteht ein Ungleichgewicht, das im Verlauf seiner Ausbreitung im Raum ausbalanciert wird –, ist also so alt wie die Menschheit selbst. In diesem Fall nahm der Ausgleich einige hunderttausend Jahre in Anspruch; so lange brauchten die Hominini, um in die bis dahin nicht besiedelten Teile Afrikas vorzudringen. Doch ein weiteres Muster, dem wir ebenfalls immer wieder begegnen werden, ist jenes, in dem neue Ungleichgewichte entstanden, sobald die vorhergehenden ausbalanciert worden waren, denn es entwickelten sich immer neue Arten von Hominini, sei es in ihrem ursprünglichen Lebensraum in Ostafrika oder durch die Vermischung der Urmenschen, die sich in Asien und Europa verbreiteten. Vor 1,5 Millionen Jahren waren Menschen, die komplizierte Formen der Kommunikation beherrschten – obwohl dies keine Sprache im eigentlichen Sinn war – bis nach Indonesien, China und auf den Balkan vorgedrungen. In Europa konnten sie sich nur in wärmeren, feuchteren Phasen der Eiszeiten weiter ausbreiten, aber in einer dieser Phasen vor fast einer Million Jahren wanderten die Urmenschen nach Proto-Britannien ein.

Den Beleg für diese Migrationsbewegungen liefert ein Gewirr von Fußabdrücken im Schlamm eines Flussufers in Happisburgh (das »Häisbruh« ausgesprochen wird, weil wir es mit England zu tun haben) in Norfolk (Abbildung 1.2). Nachdem der Schlamm von Treibsand begraben worden war, verhärtete er sich und konservierte die Spuren bis zum Jahr 2013, als Unwetter das Erdreich, das sie all die Zeit bedeckt hatte, wegspülten. Innerhalb von zwei Wochen löschte das Wasser auch diese Fußabdrücke aus, aber in dieser Zeit gelang es den Archäologen, sämtliche Details festzuhalten (Abbildung 1.3) – womit sie sich die Auszeichnung für die »Rettungsausgrabung des Jahres« der Zeitschrift Current Archaeology verdienten.

Abbildung 1.2. Die britische Bühne zwischen 1 000 000 und 4000 v. Chr. (auf einer Karte, die den heutigen Küstenverlauf zeigt).

Es ist unmöglich, einen Fußabdruck zu datieren, aber es gibt zwei Techniken, mit denen man den Schlamm, in dem diese Füße einst versanken, zeitlich einordnen kann. Eine annähernde Bestimmung ermöglichen magnetisierte Partikel im Schlamm, denn alle 450 000 Jahre findet eine Umkehr der magnetischen Pole statt. Als sich der Schlamm in Happisburgh ablagerte, hätte eine Kompassnadel in die Richtung des heutigen Südpols gezeigt, was darauf hindeutet, dass der Schlamm fast eine Million Jahre alt ist. Eine zweite Technik ermöglicht uns eine noch genauere Bestimmung: Fossilien (vor allem Zähne von Wühlmäusen) im Sediment deuten darauf hin, dass dieser Schlamm zwischen 850 000 und 950 000 Jahren alt ist.

Die Archäologen vermuten, dass die Spuren in dieser uralten Uferbank von einer kleinen Gruppe von vielleicht fünf Menschen stammen, unter denen auch Kinder waren. Vermutlich sammelten sie Schalentiere und Tang für eine Mahlzeit. Wir wissen nicht, um welche Art von Hominini es sich handelte, da keine Knochen von ihnen erhalten sind. Tatsächlich sind die ältesten erhaltenen Fossilien von Proto-Briten nur halb so alt wie die Fußabdrücke von Happisburgh: ein Schienbein und zwei Zähne, die unweit einer weiteren uralten Uferbank in Boxgrove (Sussex) gefunden wurden, gehörten zu einem großen, muskulösen, etwa 40-jährigen Homo heidelbergensis (seit dem 19. Jahrhundert unterteilen die Archäologen die Hominini in Kategorien, die als »Homo soundso« bezeichnet werden, wobei die Urmenschen wie in diesem Fall oft nach dem Ort benannt sind, an dem das erste Exemplar gefunden wurde [Abbildung 1.3]).3 Diese Geschöpfe, die uns sonderbar ähnlich und zugleich sonderbar unähnlich waren, entwickelten sich vor etwa 600 000 Jahren vermutlich in Afrika und waren Vorfahren sowohl des Neandertalers als auch des Menschen.

Abbildung 1.3. Die europäische Bühne, 1 000 000 – 4000 v. Chr., auf einer Karte, die den heutigen Küstenverlauf zeigt.

Einer weiteren Tradition folgend, tauften die Archäologen diesen Homo heidelbergensis zu Ehren des Freiwilligen, der ihn ausgegraben hatte, auf den Namen Roger. Der prähistorische Roger lebte offenbar in einer der milderen Phasen der Eiszeit, als Proto-Britannien sogar wärmer war als in der Gegenwart und Nashörner und Elefanten durch Südengland zogen. Ein einfaches Klimamuster entschied darüber, was die Geographie Proto-Britanniens bedeutete: In warmen, feuchten Intermezzi in der Eiszeit, etwa jener von Roger, wurden die von neuartigen Urmenschen in Afrika oder Europa erzeugten Ungleichgewichte langsam beseitigt, als sie bis zum Ende der bewohnbaren Welt an der Atlantikküste vordrangen, aber in kälteren, trockeneren Phasen tat die Geographie das, was Mr. Foot und Mr. Benn nicht gelang: Eis und Staub verwandelten Proto-Britannien und einen Großteil des übrigen Gebiets nördlich der Alpen und der Pyrenäen in eine unbewohnbare Einöde und rissen sie damit aus Europa heraus.

Es gab jedoch eine Komplikation: Während die Erderwärmung Proto-Britannien zu einem Teil Europas machen konnte, konnte nicht nur eine zu geringe, sondern auch eine übermäßige Erderwärmung dieses Land wieder vom Kontinent trennen. Vor etwa 450 000 Jahren brach ein schmelzender Gletscher im Gebiet der heutigen Nordsee, und das eisige Wasser aus einem dahinter liegenden riesigen See ergoss sich über das Land. Monatelang rauschten jeden Tag mehr als eine Million Tonnen Wasser pro Sekunde durch die Bresche, frästen Gräben in den Boden des heutigen Ärmelkanals und häuften dort eigentümliche tränenförmige Hügel auf. Der gewaltige Tsunami zertrümmerte die Kreideschicht, die sich auf dem Gebiet erstreckte, das heute zwischen Dover und Calais liegt, und hob den Meeresarm aus, den wir heute als Ärmelkanal bezeichnen. So verwandelte sich Proto-Britannien in die proto-britischen Inseln.

Dieses dramatische Ereignis verlieh Britannien seinen Inselcharakter und verursachte ein klimatisches Dilemma. Wenn es auf den Inseln warm genug war, um dort Leben zu ermöglichen, war der Graben zwischen Britannien und dem Kontinent mit Wasser gefüllt, und egal, welche Fähigkeiten sie sonst besitzen mochten: Roger und seine Verwandten konnten die 34 Kilometer breite Meerenge nicht überqueren. Wenn es in Europa hingegen so kalt wurde, dass der Meeresspiegel sank und der Kanal wieder zu einer Landbrücke wurde, dann war es normalerweise auch so kalt, dass niemand in das lebensfeindliche Proto-Britannien wanderte. Das Klima wandelte Thatchers Gesetz ab: Die Inseln konnten nur Teil Europas sein, wenn sie wie der Brei des kleinen Bären im Märchen von Goldlöckchen weder zu heiß noch zu kalt waren, sondern genau die richtige Temperatur hatten. Sowohl Eis im Kanal als auch Wasser im Kanal schnitten Britannien vom Kontinent ab.

Soweit wir wissen, gab es zwischen den großen Ereignissen vor 400 000 und vor 250 000 Jahren keine Goldlöckchen-Momente. In Britannien lebten keine Urmenschen, bis ein vollkommen neues Ungleichgewicht entstand: Vor 300 000 Jahren entwickelten sich im afrikanischen Kernland oder irgendwo an der Grenze zu Europa die Neandertaler. Sie waren robuster und schlauer als der Homo heidelbergensis und konnten die Kälte besser bewältigen. Bei Pontnewydd in Wales beweisen 18 gefundene Zähne, dass sie vor 225 000 Jahren bis weit in den Nordwesten Europas vorgedrungen waren. In den folgenden 250 Jahrhunderten machten sie die Tundra Proto-Britanniens zu ihren Jagdgründen (die Zusammensetzung ihrer Knochen zeigt, dass sie viel rotes Fleisch aßen). Sie verschwanden erst, als vor vermutlich 160 000 Jahren (die Datierung ist bisher schwierig) eine gewaltige Flut – die noch größer war als die erste – den Ärmelkanal weiter vertiefte. Von kontinentaler Verstärkung abgeschnitten, starben die britischen Neandertaler aus, und es existieren keine gesicherten Hinweise auf Menschen auf den Inseln bis zu einem erneuten Anstieg der Temperatur in den Goldlöckchen-Bereich vor etwa 60 000 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war es so kalt, dass sich das Wasser aus dem Kanal zurückzog und die Entstehung einer Landbrücke ermöglichte, und gleichzeitig so warm, dass die Neandertaler bis nach Derbyshire wandern konnten. Doch weiter konnten nicht einmal sie vordringen.

Austritte und Eintritte

In den Ohren eines Neandertalers hätte Thatchers Gesetz lächerlich geklungen. Es stimmte einfach nicht, dass Britannien untrennbar mit Europa verbunden war. Vielmehr verband es sich mit dem Kontinent und löste sich wieder von ihm, egal ob es zu warm oder zu kalt war: Es war öfter von ihm getrennt als mit ihm verbunden. Dass sich dieses Muster schließlich auflöste, lag daran, dass sich der moderne Mensch entwickelte, der die geistigen Fähigkeiten für technologische und organisatorische Innovation besaß und die Herrschaft über die Geographie erlangte.

Vor rund 300 000 Jahren, etwa zur selben Zeit, als die ersten Neandertaler auftauchten, entwickelte sich in Afrika auch unsere eigene Version von Hominini: der Homo sapiens, der »verständige Mensch«. Es ist unklar, ob die ersten Vertreter unserer Spezies tatsächlich verständiger waren als die Neandertaler, aber vor etwa 100 000 Jahren war der Punkt erreicht, an dem sie es definitiv waren. Dies erzeugte ein geostrategisches Ungleichgewicht, das rascher beseitigt wurde als jedes vorangegangene. Als die Menschen Afrika verließen, bog ein Teil rechts ab und erreichte vor etwa 60 000 Jahren Australien. Jene, die links abbogen, überquerten vor rund 43 000 Jahren die Landbrücke nach Proto-Britannien (das Alter der ältesten Überreste des Homo sapiens, bestehend aus drei Zähnen und einem Stück Kiefer, die in Kent’s Cavern in Torquay gefunden wurden, ist umstritten).

Die Neuankömmlinge sahen genauso aus wie Sie und ich. Sie bewegten sich wie wir und sprachen wie wir – die Ähnlichkeit geht so weit, dass der erste Forscher, der im Jahr 1823 in Paviland in Südwales eines ihrer Skelette ausgrub (William Buckland, Professor für Geologie an der Universität Oxford), nichts darüber sagen konnte, wie alt es war. Buckland war ein sorgfältiger Wissenschaftler, und die Tatsache, dass neben den menschlichen Knochen der Schädel eines Mammuts gefunden wurde, hätte ein Hinweis darauf sein sollen, dass sie wirklich alt waren. Aber als gläubiger Christ war er auch überzeugt, die Bibel schließe die Möglichkeit aus, dass Menschen und ausgestorbene Tieren zur selben Zeit existiert hatten. Da er sicher war, dass das Mammut vor der Sintflut und der Mensch danach gelebt hatte, gelangte er zu dem Schluss, Totengräber hätten ein vorsintflutliches Relikt bewegt und so den irreführenden Eindruck erweckt, ein Mensch und ein vorzeitlicher Dickhäuter seien Zeitgenossen gewesen. Aus der Tatsache, dass es in der Nähe von Paviland ein römisches Militärlager gegeben hatte, schloss Buckland, dass das Skelett aus römischer Zeit stammen müsse; und da die Knochen mit rotem Ocker gefärbt und mit Elfenbein geschmückt waren, nahm er an, dass es sich um eine Frau handle. Und da diese »Rote Lady von Paviland« (wie er sie nannte) eine geschmückte Frau sei, die in der Nähe eines römischen Militärstützpunkts gelebt habe, sei sie wahrscheinlich eine Prostituierte gewesen.

Einem derart falschen Gedankengang begegnet man nur selten. Dank der Radiokohlenstoffdatierung, mit der die Physiker anhand des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Kohlenstoffisotopen in einem weniger als 50 000 Jahre alten organischen Objekt dessen Alter bestimmen können, wurde festgestellt, dass die Rote Lady keineswegs in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung dem ältesten Gewerbe der Welt nachgegangen war, sondern 31 000 v. Chr. gelebt und sich von Jagd und Sammeln ernährt hatte. Und dank eines besseren Verständnisses der menschlichen Skelettstruktur steht mittlerweile fest, dass die Lady ein Gentleman war.

Als der Rote Gentleman vor seinen Schöpfer trat, waren die britischen Neandertaler schon lange bei ihrem. Einige Archäologen sind überzeugt, dass die einwandernden Menschen Jagd auf die Neandertaler machten oder ihnen bei der Nahrungssuche überlegen waren; andere glauben, dass der Klimawandel oder Krankheiten die Neandertaler ausrotteten. Wie dem auch sei, der moderne Mensch hatte Proto-Britannien in den folgenden 20 000 Jahren für sich, bis das Eis dieses Land erneut von Europa trennte. Um 20 000 v. Chr. sanken die Temperaturen auf die geringsten je nachgewiesenen Werte. Mit Ausnahme Englands und der Südküste Irlands wurden die britischen Inseln unter Gletschern begraben, und selbst die Gebiete, die vom Eis verschont blieben, waren zu kalt und trocken, als dass dort menschliches Leben möglich gewesen wäre. Der Homo sapiens gab nicht nur Proto-Britannien auf, sondern zog sich aus fast sämtlichen Gebieten nördlich der Alpen zurück.

Als es vor 17 000 Jahren wieder wärmer wurde, kehrten die Menschen erwartungsgemäß nach Proto-Britannien zurück. Dank der jüngsten Fortschritte in der Gewinnung und Analyse uralter DNA wissen wir, dass die ersten Siedler aus Spanien kommend entlang der Atlantikküste nach Norden wanderten und um 11 000 v. Chr. bis nach Edinburgh gelangten; aber schon zwei Jahrhunderte später vertrieb erneut bittere Kälte die Menschen aus Proto-Britannien. Es vergingen weitere 1 200 Jahre, bis es erneut so warm wurde, dass die Menschen sich wieder auf den Weg dorthin machen konnten. Zuerst breiteten sich Pflanzen wie Birken, Weiden und Espen nach Nordosten aus und gesellten sich zu den Gräsern und Sträuchern, die in der eiszeitlichen Tundra hatten überleben können. Bis 8000 v. Chr. waren auch Haselnusssträucher zurückgekehrt, und 7000 v. Chr. bedeckten Eichen, Ulmen und Erlen einen Großteil Proto-Britanniens, insbesondere den Südosten der Inseln. Rotwild, Elche, Wildpferde und Wildschweine streiften durch diese Wälder, belauert von den Raubtieren, die sich von ihnen ernährten: von Braunbären, Wölfen, Wildkatzen – und natürlich von uns.

Ich sage mit gutem Grund »von uns«. Diese Neuankömmlinge, die vom Balkan, aus Italien und Spanien nach Norden wanderten, als sich die Gletscher zurückzogen, waren die ersten Briten, deren DNA noch heute in den Körpern von Inselbewohnern nachgewiesen werden kann. Das wissen wir seit 1996, als der Genetiker Bryan Sykes Fragmente uralter DNA aus einem Zahn des Cheddar Man gewann, eines prähistorischen Briten, der im Jahr 1903 in einer Höhle in Cheddar Gorge ausgegraben worden war, wo er rund 10 000 Jahre begraben gelegen hatte. Sykes wollte herausfinden, inwieweit sich der Genpool seit prähistorischer Zeit verändert hatte, und bewegte einen Lehrer namens Adrian Targett dazu, ihm bei der Sammlung von DNA-Proben von Menschen zu helfen, die in der Umgebung des Fundortes lebten. Zu seinem Entzücken fand er eine Person, die definitiv ein Nachfahre des Cheddar Man war: Targett, der weniger als einen Kilometer von Cheddar Gorge entfernt lebte.

Im Jahr 2019 gelang es Genetikern zu zeigen, dass der Cheddar Man, dieser älteste aller Engländer, vermutlich »blaue oder grüne Augen, dunkelbraunes (möglicherweise schwarzes) Haar und eine dunkle oder beinahe schwarze Haut« gehabt hatte.2 Die schwache Pigmentierung und sonnenempfindliche Haut der modernen Briten scheint sich erst in den letzten drei oder vier Jahrtausenden im Genpool durchgesetzt zu haben. Aber das ist gleichgültig, erklärt Targett: Er sieht »zweifelsfrei eine familiäre Ähnlichkeit« mit der jüngsten Rekonstruktion des Gesichts des Cheddar Man.3

Abbildung 1.4. Das wiedergewonnene und verlorene Paradies: Der Rückzug der Eismassen legte fruchtbare neue Gebiete frei, aber als der Meeresspiegel stieg, wurde ein Großteil davon überflutet.