Georg - Jürgen Leskien - E-Book

Georg E-Book

Jürgen Leskien

0,0

Beschreibung

Georg stellte das Rad hart auf das Pflaster zurück, das Vorderrad hüpfte. „Und du?“, fragte er und warf den Kopf ein wenig zurück. „Wie geht es dir, hast du eine neue Geschichte geschrieben?“ Er wusste, dass ich diese fordernde, vorlaute Art nicht mochte. Ich sah ihn an. Georg wurde unsicher ... „Es ist die Geschichte eines Jungen. Eines Jungen unserer Stadt. Ich glaube, sie ist ziemlich aufregend.“ „Also eine Abenteuergeschichte!“ „Es ist deine Geschichte, Georg!“ Georg wurde rot über beide Ohren. „Na, hör mal! Geht denn das?“ Er fuhr sich aufgeregt mit der Hand übers Gesicht. „Mit allem Drum und Dran?“ „So gut ich es konnte, in allem.“ „Und was werden die Leute von uns denken, von dir und von mir, wenn sie es lesen?“...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 277

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Jürgen Leskien

Georg

ISBN 978-3-96521-012-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1984 in Der Kinderbuchverlag Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

2020 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

Ein Jahr danach

Ein Jahr danach – an einem der heißen Sommertage auf der Schönhauser Allee in Berlin.

Georg sah mich zuerst.

„Hallo“, hörte ich ihn rufen. „Hallo!“

Nicht eine Sekunde musste ich überlegen, wer dort rief, und dass er mich meinte, erschien mir ganz sicher.

Eben noch hatte ich mich eilig an den Leuten vorbeigedrängt, um die nächste S-Bahn zu erreichen, plötzlich fiel alle Hast von mir ab. Ich blieb stehen, sah mich um.

„Na“, sagte er im Näherkommen, „wieder mal in unserer Gegend?“ Er schob sein Rad auf den Bürgersteig. Taubenblauer Renner, mit Tourenreifen allerdings, sonst jedoch mit allen Raffinessen. „Zusammengebaut. Den Rahmen hatte die Tietze noch auf dem Wäscheboden, von früher. Der Lenker ist aus dem Müllcontainer. Nicht zu sehen, stimmt’s?“

Als Georg das Rad mit einem Arm ausstemmte, sah ich sofort, das war eine ganz leichte Maschine. Und aus alten Teilen!

„Und das Tandem?“, fragte ich vorsichtig.

„Hör auf! Das ist nie in Waltersdorf angekommen. Marek meint, wir hätten uns den Namen des Baggerfahrers merken sollen. Aber wer nimmt schon an, dass ein solch prima Typ Kinder beklaut! Oder hättest du das gedacht?“

„Vielleicht ist es beim Transport verloren gegangen?“, versuchte ich einzulenken.

Georg aber winkte ärgerlich ab. Wie so oft stand auch jetzt sein Urteil unverrückbar fest – der Baggerfahrer hatte enttäuscht. Basta.

Aus Georgs Umhängetasche ragte ein roter Thermosbehälter. Georg bemerkte meinen Blick.

„Da war Eis drin. Für Kaule, der liegt im Krankenhaus.“ Ein wenig leiser fügte er hinzu: „Eine merkwürdige Geschichte, sage ich dir!“

„Unfall?“, wollte ich wissen.

„Bei Kaule? Unfall? Bei dem nicht, der ist doch auf Draht!“

„Na, aber …!“

Georg schnitt mir mit einer energischen Handbewegung das Wort ab.

„Hier“, er zeigte auf seinen Bauch, „Blinddarm. Appenditiz. Oder so ähnlich. Aber ich weiß Bescheid!“

Im Frühjahr hatten Kaules Eltern am Rande der Stadt einen Garten gepachtet, erzählte Georg. Eine Unkrautwüste, aber nicht die Melde oder das Franzosenkraut, auch nicht die zähe Quecke erregten Kaules Unwillen. Wo Erdbeeren wachsen sollen und Astern, musste das Unkraut weg, das war leicht einzusehen. Nicht begreifen aber wollte Kaule, dass die ganze Familie von einem Tag auf den anderen nun ganz anders leben sollte.

Kaules Eltern, so erzählte Georg weiter, fuhren nach der Arbeit stets in den Garten, und sein Freund Kaule fand statt geschmierter Abendbrotstullen immer häufiger Zettel vor: Sei so nett und hole Milch! Wir kommen etwas später! So hieß es am Anfang. Je höher aber die Sonne stieg, um so kürzer wurden die schriftlichen Anweisungen. Den letzten Zettel habe ihm Kaule im Krankenhaus gezeigt: Milch, Brot, Kartoffeln! stand dort und: Aufräumen!!! ja, mit drei Ausrufezeichen, Einen zusätzlichen Fünfmarkschein hatten sie an das Papier geheftet. Wahrscheinlich für ein extragroßes Eis, denn der mehrfach versprochene Besuch des Eis-Cafés war immer wieder verschoben worden. Denn für keimenden Grassamen ist es das Schlimmste, kein Wasser zu bekommen, da vertrocknet der glatt, der größte Teil jedenfalls.

So hat es Kaule Georg, die Tränen niederkämpfend, im Krankenhaus erzählt.

Der Garten beherrschte als böser Geist die Eltern. Kaule aber wollte sich nicht von flüchtig geschriebenen Anweisungen beherrschen lassen.

Beim Ausheben der Grube für das Fundament der Gartenlaube erreichte die Eltern die schlimme Nachricht. Ihr Sohn Kaule war mit Anzeichen einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie ließen alles stehen und liegen und fuhren sofort in die Stadt. Kaule aber: Ich mag heute keinen Besuch. Fast zerriss es ihm das Herz, als er die Gesichter seiner Eltern hinter der Glastür sah. Aber er blieb hart.

Am nächsten Tag kam die Mutter sogar in ihrer Mittagspause, mit einem Taxi. Pfirsiche brachte sie. Kaule lehnte ab. Pfirsiche blähen, meinte er, Ananas aus der Büchse, das wäre besser.

Am Abend kamen beide, Vater und Mutter – mit Ananas.

Ananas mache scharfen Urin, kam es Kaule in den Sinn. Apfelmus wäre das Richtige. Mus aus Klaräpfeln, mit der Flotten Lotte gerührt, das wollte er.

Kaule ließ die Puppen tanzen, sonnte sich in der Fürsorge seiner Eltern. Er scherte sich nicht um das müde Gesicht der Mutter und nicht um den Arbeitsausfall des Vaters. In böser Freude dachte er, jetzt sind sie bei mir, jeden Tag. Der Rasen wird gelb, und die Erdbeerpflanzen mickern dahin, aber sie sind bei mir. –

„Schon bei meinem ersten Besuch habe ich gemerkt, dass hier was nicht stimmt.“ Georg drehte am Verschluss der Trinkflasche, schaute versonnen den Autos nach. Es schien, als sei sein Bericht nun zu Ende.

Einen Augenblick später sah er mich mit großen Augen an. „Zu dir gesagt – Kaule hat simuliert. Auf wissenschaftlicher Grundlage gewissermaßen.“

Als er mein verdutztes Gesicht sah, hob er die Stimme.

„Ja, er hat sich Bücher besorgt und Zahnpasta geschluckt, auch kleine Pflaumenkerne! Und einen Kumpel aus der Klasse, der diese Appendi, diese …“

„Appendizitis!“

„Genau! Der die echt hatte, vor einem Vierteljahr, den hat er ausgefragt. Im Krankenhaus sah es dann wie eine richtige Krankheit aus, da haben die Arzte operiert. Und Karde hat durchgehalten!“

Georg hob den Lenker ein wenig an und ließ das Vorderrad drehen.

„Wissen die Eltern nun Bescheid?“, fragte ich.

Georg schüttelte den Kopf. „Die vom Krankenhaus sind in Ordnung, die halten dicht, die lassen die Alten kreiseln. Kaule ist Stationsliebling. Gestern zum Beispiel! Fernsehen bis um zehn!“

Georg stellte das Rad hart auf das Pflaster zurück, das Vorderrad hüpfte.

„Und du?“, fragte er und warf den Kopf ein wenig zurück. „Wie geht es dir, hast du eine neue Geschichte geschrieben?“

Er wusste, dass ich diese fordernde, vorlaute Art nicht mochte. Ich sah ihn an. Georg wurde unsicher.

„Na ja, ich meine, jeden Tag eine Seite. Hast du doch gesagt, stimmt’s? Jeden Tag eine!“

Irgendwann hatte ich Georg in mein Innerstes schauen lassen, nun musste ich ihm ehrlich antworten. Heute und immer wieder. Ich sah ihn an, er beobachtete mich mit halb geschlossenen Augen.

„Es ist so, wie du sagst. Jeden Tag eine, möglichst eine gute. Wenn nicht grad die Kohlen kommen oder der Klempner oder unangemeldeter Besuch.“

Georg schien über meine Antwort verstimmt, ungeduldig trat er von einem Bein auf das andere. „Was ist es denn nun“, wollte er endlich wissen, „eine afrikanische oder eine Weltraumgeschichte ?“

Die Leute auf dem Bürgersteig drehten sich nach uns um, so heftig hatte Georg seine Frage gestellt.

„Es ist die Geschichte eines Jungen. Eines Jungen unserer Stadt. Ich glaube, sie ist ziemlich aufregend.“

„Also doch eine Abenteuergeschichte!“

„Es ist deine Geschichte, Georg!“

Georg wurde rot über beide Ohren, „Na, hör mal! Geht denn das?“ Er fuhr sich aufgeregt mit der Hand übers Gesicht. „Mit allem Drum und Dran?“

„So gut ich es konnte, in allem.“

Er wandte sich ab, sah zur U-Bahn, die langsam in den nahen Bahnhof rollte. „ Und was werden die Leute von uns denken, von dir und von mir, wenn sie es lesen?“

Ich zögerte einen Augenblick. „Vielleicht macht es sie neugieriger, vielleicht gehen sie behutsamer miteinander um, wenn sie gelesen haben. Vielleicht.“

Georg sah mir ins Gesicht, er lächelte ein wenig spöttisch. „Das ist auch solch ein Wunsch, wie der nach der schönen Seite jeden Tag. Du wünschst es dir, weil es deine Arbeit ist, stimmt’s?“

Ja, hätte ich nun sagen können, einfach ja, Georg, so ist es, aber ich wich seinem Blick aus und schwieg.

Georg schaute plötzlich auf die Uhr. „Verdammt! Ich muss los.“ Und schon mit den Riemen der Pedale beschäftigt, entschuldigte er sich: „Du weißt doch, halb fünf am Lichtenberger Rathaus!“

Er stieß sich leicht vom Pflaster ab und rollte auf die Fahrbahn. Schon ein Stück entfernt, drehte er sich noch einmal um. „Komm doch einfach mal vorbei“, rief er. „Immer noch Eisenhut – drei Treppen, Seitenflügel rechts!“

Mir schien, als sei in diesem einen Jahr unendlich viel Zeit vergangen.

Kapitel 1

1

Wiesenstein war tatsächlich nicht groß. Aber für Georg war es ein wichtiges Dorf. Zu Wiesenstein gehöre ihr Kinderheim, und hier war er zu Hause.

Lange hatte Georg gesucht, aber er fand nur eine einzige Karte, auf der Wiesenstein eingetragen war. Und das auch noch falsch, denn der Bach floss östlich am Dorf vorbei, aber die Kartenzeichner hatten ihn mitten durch das Dorf gelegt. Das wünschten sich die Dorfbewohner schon immer, besonders in den heißen Sommermonaten. Nur vom Wünschen allein kommt der Bach nicht ins Dorf, und die Karte ist verkleinerte Natur, die lässt sich nicht betrügen, da muss man genau sein. Ein falscher Strich, und schon versinkt ein Streifen Ackerland, in dem Maulwürfe leben und der mit seinen Rüben eine ganze Kuhherde ernährt.

Georg kann sich keine genauere Arbeit vorstellen als die des Kartenzeichners. Karten können viel erzählen, mit Karten kann man sich Erdteile ins Zimmer holen und sie in Ruhe betrachten. Das können sonst nur Kosmonauten. Sie wischen mit dem Ärmel die runde Sichtscheibe ihres Raumschiffes blank und sehen mit dem einen Blick die Küsten Afrikas und mit dem anderen schon Australien.

Es gab Tage, da holte sich Georg den Globus aus dem Regal und suchte darauf den Punkt, der Wiesenstein heißen könnte. Mit Mühe fand er das Land, in dem er lebte. Es war klein und vorwiegend grün und ihrem Wiesenstein sehr ähnlich. Klein und grün und im Sommer warm und selten mit traurigem Regen.

Er wurde auf die Kartenzeichner traurig, wenn einer seiner Freunde keinen Besuch bekam. Es gab viele Karten, die über interessante Burgruinen und über Autoraststätten Auskunft gaben, nur Wiesenstein suchte man vergebens. Das fand Georg sehr ungerecht, denn in einer Burgruine können Kinder nicht wohnen, und dort ist auch niemand ,der Besuch erwartet. Um aber jemand besuchen zu können, muss man wissen, welche Straße zu ihm führt. Deshalb war Georg dafür, dass Wiesenstein in alle wichtigen Karten eingetragen wird. Niemand der Erwachsenen soll sich herausreden können, er habe Wiesenstein nicht gefunden oder er wisse nicht, dass es das Kinderheim Wiesenstein gäbe!

Doch jetzt beschäftigte Georg etwas anderes. Lange schon lag er im Gras unter den hohen Kiefern, starrte durch die Äste der Bäume in den Himmel, bis ihn eine Erschütterung, die aus der Erde kam, aufscheuchte. Die Erde bebte in Wiesenstein! Georg lag ganz still und lauschte. Er erinnerte sich genau, nur einmal schon hatte er das Beben der Erde so deutlich gespürt wie eben. Das war nicht allzu lange her, ein halbes Jahr vielleicht. Zum dritten Mal war er bei Eisenhuts gewesen. Mit Mareks Freunden spielte er auf dem Hof. Alle hatten sich versteckt, Marek wollte sie suchen. Kaule aus dem Nebenhaus war sogar in den leeren Müllcontainer geklettert. Georg lag im Hinterhof auf dem Bauch, ganz dicht neben dem alten Motorrad, hielt den Atem an und wartete auf Marek Eisenhut. Er wünschte, in eine Fliege oder in einen Motorradreifen verwandelt zu werden, für zehn Minuten nur, denn Kaule hatte bestimmt: Wer zuerst entdeckt wird, muss aus dem Selbstbedienungsladen ein Päckchen Kaugummi besorgen. Besorgen hieß bei Kaule: Eine Runde mit dem Korb durch den Laden, ein Griff zum Kaugummi und mit harmlosem Gesicht an der Kasse vorbei. Die anderen sehen durch die Schaufensterscheiben zu. Davor hatte Georg Angst gehabt, denn er glaubte, dass Marek zuerst nach ihm suchen würde. Und mitten in diese Angst hinein spürte er plötzlich das Beben. Er spürte es ganz deutlich, vor allem an den Fingerspitzen. Die Erde zitterte, ganz kurz nur, es war wie ein Frösteln im eisigen Wind.

Natürlich entdeckte Marek ihn zuerst, aber er sagte auch gleich, dass diese Kaugummiaktion großer Quatsch sei und dass Kaule sich etwas Besseres ausdenken sollte!

Als es dunkel wurde, klemmte Kaule Marek am Müllcontainer die Hand. Vielleicht wegen des Kaugummis. Marek konnte die Hand trotzdem noch bewegen, und sie spielten weiter – und keiner der Jungen schien das Beben bemerkt zu haben.

Später dann, im Halbdunkel des Treppenhauses, als Georg mit Marek allein war, fragte er ihn. Nun ja, begann Marek seine Erklärung und streckte sich. Georg kannte das an ihm. Immer wenn Marek sich streckte, sagte er etwas Wichtiges. Aus dem dreizehnjährigen Marek wurde ein fast erwachsener Mensch, wenn auch nur für Minuten. Marek wusste viel.

Nun ja, fuhr Marek nach dem Recken und Strecken fort, das sei normal hier in Berlin. Die Stadt schwimme als riesige Erdscholle auf einem Sumpf. Marek war sehr verwundert, dass Georg während der Besuche die langen Betonstifte nicht gesehen hatte, die für die Fundamente der hohen Häuser in Richtung des Erdmittelpunktes getrieben wurden. Er fragte Georg, wartete aber die Antwort nicht erst ab. Es gehe ganz einfach darum, erläuterte er weiter, die Stadt festzunageln, sie zu verankern. Ja, sie solle nicht in Richtung Ostsee abtreiben oder zur Elbe oder zur Oder, was ja noch näher wäre. Die Stadt sei was Besonderes. Die Häuser stünden auf tausend Füßen, die hohen jedenfalls. Und sie stünden im Sumpf, bis zu den Knien gewissermaßen. Und es käme vor, dass diese Erdscholle manchmal ein wenig zittere – ein gewöhnliches Schollenbeben, ja, ein Schollenbeben.

Das alles gehöre in den Bereich der Physik. Physik der Erde, so schloss Marek und streckte sich wieder.

Georg hatte aufmerksam zugehört und, obwohl er das mit dem Sumpf und der Scholle nicht ganz verstand, Marek nicht durch Fragen unterbrochen. Er hatte versucht, sich den riesigen Hammer für die Betonstifte vorzustellen. In Richtung des Erdmittelpunktes … Die Bemerkung zur Physik fuhr Georg in die Glieder. Das war sein schwacher Punkt: Physik. Und das wusste Marek.

Jetzt, weitab von der großen Stadt, musste Georg an diesen Nachmittag denken, Physik der Erde. Er drückte das Ohr fester ins Waldgras. Wieder glaubte Georg ein Zittern unter dem Gras zu spüren, aber die Erde lag still und warm in der Sonne.

Die Stille trog. Das Beben wird bald hier sein. Es wandert und hat hier eine andere Gestalt und einen anderen Namen: Braunkohlentagebau Nord.

Georg hob den Kopf, sah zu dem Haus hinüber. Bald frisst ein Baggermaul die breite Treppe zum Speisesaal, den Platz für die Liegestühle, das Bügelzimmer mit der schiefen Wand und das Zimmer Sybilles und alles, was nicht weggetragen werden kann.

Kipper werden wie verrückt über die Blumenbeete kurven, und es nutzte der Eiche und der Kiefer nichts, dass sie ein Leben lang am Waldrand eng umschlungen, ineinander verwachsen, dem Nordwind tapfer ihre Zweige entgegengestreckt hatten. Sie hätten es von allen zuerst ahnen müssen, denn wessen Wurzel steckt so tief wie die einer alten Kiefer? Sie muss die Braunkohle doch vor den Menschen ertastet haben, mit ihrer Pfahlwurzel in Richtung des Erdmittelpunktes!

Georg drehte sich auf den Rücken, streckte Arme und Beine weit von sich. Der Wind wehte ein fernes metallisches Kreischen wie einen Vogelruf in die Waldlichtung. Er richtete sich auf, wandte sich wieder dem Haus zu.

Die Bagger sind schon sehr nahe. Marek hatte ausgerechnet, dass sie bei soundso viel Löffelhieben pro Minute, pro Stunde, pro Tag, pro Schicht, pro Woche nur noch zwei Monate und dreiundzwanzig Stunden bis zum hellen Haus brauchten.

Mareks Rechenkünste waren überzeugend, obwohl er jeden Monat nur mit dreißig Tagen berechnet hatte. Vielleicht wollte Marek ihm den Abschied vom Kinderheim leichter machen. Vielleicht.

Georg behielt Mareks Prophezeiung für sich. Nicht einmal mit Matthias oder mit Sybille sprach er darüber. Lediglich seiner Erzieherin, Fräulein Schönfeld, gegenüber machte er eine Andeutung. Sie wurde allerdings sehr nachdenklich.

Am Tag darauf stiftete er die Kinder der kleinen Gruppe an, mit ihm zu graben. Nach Erdöl, redete er ihnen ein. Sie schaufelten und schaufelten, Georg opferte seine letzten Bonbons, aber sie förderten nur Sand.

Später, als Fräulein Schönfeld ihnen das Weitergraben untersagt hatte, lief Wasser auf dem Boden der Grube zusammen. Auf Kohle waren sie nicht gestoßen. Aber das machte Georg nicht ruhiger.

Georgs Gedanken flatterten heute wie Schmetterlinge, nur die Bewegung im Innern der Erde hatte sie für einen Moment festgehalten.

Die Ferien werden in zwei Wochen vorbei sein, das konnte er sich an den Fingern abzählen. Erst waren es drei Monate noch, dann zwei Monate und nun nur noch zwei Wochen. Er wird das Heim und die Kinder im Wald zurücklassen.

Er weiß nicht einmal genau, ob es in ihrem Heim hier schön war oder schlecht. Andere Kinder waren aus anderen Heimen gekommen. In dem einen Heim gab es einen Hund, das andere lag an einem See mit einer Insel, und in dem Heim, aus dem Sybille kam, konnte man im Keller heimlich rauchen.

Er kannte nur dieses helle Haus, in dem es im Winter warm war und im Sommer nicht allzu heiß und in dem es immer jemanden gab, der ihm zuhörte, wenn er jemand zum Zuhören brauchte.

Drei Tage nach seinem fünften Geburtstag hatte ihn ein Berliner Polizeiauto hergebracht, und nun, in der Mitte des dreizehnten Lebensjahres, wie Sybille überdreht sagte, zog er aus. Im Haus kannte er alle beim Namen, auch den Dicken, den sie gestern erst gebracht hatten. Und viele im Dorf kannte er.

Das Dorf begann gleich hinter den Fliedersträuchern, hatte eine alte Kirche, eine Feuerwehrkapelle und einen Mann mit einem gelben Auto, über den sich Georg immer wieder ärgerte. Und seit zwei Jahren kannte er auch die Eisenhuts aus Berlin.

Eisenhut tut Georg gut, flüsterte manchmal Sybille. Den Spruch mochte Georg, vor allem wenn ihn Sybille flüsterte. Nur gefiel es ihm nicht, wenn sie ihn im Beisein anderer daherleierte. Aber das kam selten vor und hing mit Sybilles heimlichen Wünschen zusammen. Es gab viele im Heim, die ihn um die neuen Eltern beneideten und auch um den Marek, der dazugehörte und nun bald sein Bruder sein wird.

Georg weiß, dass bei Herrn Bergholz seine dicke Akte liegt. Bald wird der letzte Zettel eingeheftet werden: Georg ist zur Familie Eisenhut nach Berlin gezogen. Bis dahin aber ist noch Zeit.

Als er mittags den gepackten Beutel in die Zimmerecke schleuderte, wollte er für einen Moment nicht mehr zu den Eisenhuts. Dieses Wochenende sollte das letzte Besuchswochenende bei ihnen sein, das letzte vor dem Umzug, aber Eisenhuts waren nicht gekommen.

Nicht nur die Sonne hatte Georg zur Waldlichtung gezogen. Von hier konnte er den ausgefahrenen Weg beobachten, der zum Kinderheim führte. Diesen Weg mussten auch Eisenhuts nehmen.

Der Streit mit Matthias am Morgen hatte ihn nicht sehr berührt. In einem fort dachte er: Gleich kommen sie, gleich, nur noch eine Stunde. Hastig packte er seinen Beutel, denn Eisenhuts wollten mittags hier sein. Nun war es aber schon später Nachmittag geworden. Warum sind sie nicht gekommen? Es war doch versprochen! Warum sind sie gerade heute nicht gekommen?

2

Von der letzten Stufe der Treppe sah Georg noch einmal zum Wald zurück, zur Lichtung und zum Weg. Auf dem Weg war niemand, und der metallische Vogelschrei hatte sich nicht wiederholt. Georg ging ins Haus.

Im Speisesaal roch es immer noch nach diesem bulgarischen Fleischgericht, es roch nach Mittitei. Sybille hatte heute Geburtstag. Wer Geburtstag hatte, konnte an diesem Tag das Mittagessen bestimmen. Georg erinnerte sich gut. Zu Sybilles Geburtstag gab es jedes Mal Hefeklöße mit Blaubeeren. Heute hatte es Mittitei gegeben. Es gab Mittitei, weil Georg sich am sechsten Mai Mittitei gewünscht hatte, denn auf diesen Tag fiel sein Geburtstag. Bereits am dritten Mai hatte er seinen Wunsch angemeldet. Das war wichtig, denn was dafür gebraucht wurde, wuchs nicht auf der Wiese und auch nicht im Gewürzgarten hinter dem Haus, es musste in der Stadt gekauft werden. Und dafür rechnete Georg drei Tage.

Tante Lisa, die Köchin, stand neben ihm, als er den ersten Löffel kostete. Es war still im Speisesaal, alle sahen zu ihm. Prima, stellte er fest, besser als Damals. Dann stand er auf und küsste Tante Lisa auf die Wange. Alle klatschten und johlten und lachten. Schnell setzte er sich wieder auf den Stuhl zurück und beugte sich über seinen Berg Mittitei.

Es war ein richtiges Festessen, doch niemand fragte ihn nach Damals. Schade, er hatte sich eine schöne Geschichte ausgedacht, von Mittitei und von Damals.

Nun war Sybille einen Tag vor ihrem Geburtstag aus den Ferien zurückgekommen, hatte mit Tante Lisa geflüstert, und für die noch anwesenden sechs Kinder gab es plötzlich an Sybilles Geburtstag nicht Hefeklöße, sondern Mittitei.

Sybille löffelte und löffelte, und bevor Georg mit ihr reden konnte, war sie wieder fortgefahren. Aber im ganzen Haus roch es immer noch nach Mittitei.

Georg schloss die Tür des Speisesaals. Er stand auf dem langen Flur. Hinter irgendeiner Tür dröhnte ein Radio. Niemand war zu sehen und zu hören. Georg steckte zwei Finger in den Mund und pfiff gellend. Einmal und noch einmal. Das Radio verstummte. Es wurde so still, dass es in den Ohren sauste.

Am Ende des Flures wurde eine Tür geöffnet. Fräulein Schönfeld trat auf den Flur. „Hier hat jemand gepfiffen!“, sagte sie verwundert. Im gleichen Ton hätte sie feststellen können: Ein Düsenjäger ist durch mein Zimmer geflogen! So etwas konnte Fräulein Schönfeld mit Erstaunen und ohne Ärger sagen. Auch deshalb mochte Georg sie gut leiden.

„Ja, ich war’s, zweimal“, sagte Georg laut und deutlich.

„Na, dann ist gut“, antwortete Fräulein Schönfeld und verschwand wieder.

Als Georg an ihrer Tür vorbeiging, zögerte er einen Moment. Fräulein Schönfeld hatte heute ihren freien Tag. Trotzdem hatte sie mit ihm überlegt, warum Eisenhuts nicht gekommen waren. Doch Georg ging leise weiter.

Am Ende des Flures standen Rohre und Leitern. Im Erkerzimmer war das Heizungsrohr geborsten, und so musste das Zimmer des Heimleiters zum Klubraum ernannt werden. Herr Berghaus war in das Büro der Sekretärin gezogen.

Georg schaltete im Klubraum das Fernsehgerät ein und setzte sich in einen der Sessel. Durch die geschlossene Verbindungstür hörte er Herrn Berghaus telefonieren.

Georg öffnete das Fenster. Eigentlich hatte er hier im Klubraum Matthias erwartet. Matthias wollte ihr Tandem umbauen, drei Sättel waren plötzlich nötig, vier Pedale genügten Matthias nicht mehr, es sollten sechs sein. Vor allem auf langen Strecken, so meinte er, konnte man damit die Tagesleistung erhöhen, um dreißig Kilometer, mindestens. Georg starrte auf die Bildröhre und dachte dabei an Marek. Zwei Monate hatte der ausgerechnet, bei dreißig Löffelhieben pro Minute.

Ohne Georgs Einverständnis konnte Matthias nicht umbauen. Das rote Tandem hatten sie gemeinsam konstruiert und gebaut. Die Belastung des Rahmens muss erneut durchgerechnet werden, hatte Georg als letztes Argument gebraucht. Das klang aus Georgs Mund sehr fremd, aber Matthias verstand sofort. Hier im Bücherschrank standen Tabellenbücher, die konnten Auskunft geben über die Haltbarkeit der Fahrradrohre, über die Größe der Zahnräder, über alles, was wichtig war.

Und über den dritten Mann, der mitfahren sollte, musste Matthias mit ihm reden. Aber das wollte er nicht. Heute Morgen hatte Matthias plötzlich gesagt: Du haust sowieso ab. Zurück nach Berlin. Zu deinen neuen Eltern. Was soll dein Gefrage nach dem dritten Mann? Du bist ja nicht mehr dabei!

Das war gegen die Abmachung! Nicht weit von hier, im hohlen Stamm der alten Weide, steckte noch die grüne Flasche. Als sie vor einem Jahr begannen, das Tandem zu bauen, hatten sie das Dokument verfasst und es in einer Flasche dort versenkt. Im dritten Absatz stand, dass alle technischen Veränderungen – und das Verborgen – einstimmig beschlossen werden mussten. Inzwischen war das ganze Heim mit dem Rad gefahren, sogar beim Maiumzug war es dabei. Allerdings mit Stützrädern rechts und links, denn so langsam, wie der Zug sich bewegte, konnte niemand fahren. Aber immer war die Meinung des anderen gehört worden, und manchmal dauerte es, bis sie eine gemeinsame Entscheidung fanden.

Dabei ist die Idee nicht schlecht, ein Rad zu dritt! Immerhin hätte Sybille mitfahren können. In der Mitte oder hinten oder sogar vorn, wenn die Straße übersichtlich war und Rückenwind sie schob.

Vielleicht hatte Matthias recht, warum jetzt noch darüber reden. Wenn er weg ist, wird Matthias zum Schlosser Weitling gehen, und im Handumdrehen ist der Rahmen zersägt und der Platz für den Dritten eingepasst. Matthias weiß, was er will.

An die Tür des Nebenzimmers wurde geklopft. Gleichzeitig klingelte es schrill unter dem Fenster. Georg stand auf. Wie einen roten Schatten sah er Matthias auf dem Tandem im Wald verschwinden.

Neugierig sah sich Georg um. Neben den Rosenstöcken am Eingang stand wieder das große schwarze Auto. Der Fahrer des Autos stieg aus und trat mit dem Fuß gegen das linke Vorderrad. Aber Georg konnte er nicht täuschen, das Vorderrad interessierte ihn nicht, der Mann sah aufmerksam zum Wald, in dem Matthias verschwunden war.

Den Mann kannte Georg. Er hieß Karl, schlug fast jeden Ball vom Elfmeterpunkt in das Tordreieck, und manchmal schnitzte er aus weichem Holz Figuren, deren Gesichter erstaunt in die Welt guckten.

Karl war der Kraftfahrer des Genossen Feustel, und Genosse Feustel war Matthias‘ Vater. Er brauchte solch ein großes Auto, weil er schnell mal von hier nach dort musste und weil das Auto hinten neben dem Sitz eine Leselampe hatte, denn Matthias’ Vater musste oft noch auf der Heimfahrt, spät am Abend, in wichtigen Papieren lesen.

Matthias‘ Eltern waren gekommen, und Matthias versteckte sich wieder vor ihnen. Georg ging langsam zum Sessel zurück. Das Fernsehauge flimmerte kalt und grau, es wurde trotz der Sonne kühl im Zimmer.

„Als er uns kommen sah, ist er auf dieses rote Rad gestiegen und davongefahren, ja!“, hörte Georg Matthias‘ Vater sagen. Das klang ungeduldig und gefiel Georg überhaupt nicht.

„Was soll ich Ihnen sagen, darin drückt sich seine Haltung zu Ihnen aus, leider. Das ist nun mal so, und wir müssen sie ernst nehmen. Zwang wäre völlig fehl am Platze, wir müssen Geduld haben, aber wem sag ich das!“

Georg konnte sich vorstellen, wie Herr Berghaus nach solch einer Rede an seiner Brille rückte.

Matthias‘ Mutter sprach sehr leise. Sie war traurig, das konnte Georg sehr gut heraushören, nur, was sie sagte, konnte er nicht verstehen. Doch sie wurde auch gleich von Herrn Berghaus unterbrochen.

„Nein, nein, wir können nicht klagen, überhaupt nicht. Wenn Ihr Junge einverstanden wäre, könnte er sofort mit Ihnen nach Hause fahren! Nur, er will nicht. Erst gestern haben wir miteinander gesprochen. Er will einfach nicht.“

Georg hörte sie noch lange reden. Er hatte sich im Sessel ausgestreckt und blinzelte in die Sonne, die durch das Laub der Pappel ins Zimmer schien.

Wenn seine Mutter Lydia zu ihm käme! Sofort würde er mitgehen. So schnell wie die kleine Rosi aus der anderen Gruppe. Sie hatte sogar vergessen, sich bei Herrn Berghaus zu verabschieden! So schnell wollte sie fort.

Aber Georg weiß, dass sie nie mehr kommen wird, seine Mutter Lydia. Früher hatte er noch ihr Gesicht gemalt, so wie es Damals aussah. Das runde Gesicht mit den kurzen schwarzen Haaren, die kaum die Ohren verdeckten, aber doch bis zu den Augen reichten. Und immer hatte er Hände an die langen Arme gemalt.

Ihre Hände mochte Georg besonders gut leiden. Er mochte es sehr, wenn sie ihm übers Gesicht fuhr. Ihre Hände waren weich und rochen immer angenehm nach Seife. Und an die linke Hand malte er ihre kleine, eckige Uhr. Wie von selbst wuchsen unter seinem Stift Blumen auf dem Zeichenpapier. Blumen mit runden und ovalen Blütenblättern, mit langen Halmen, die sich zwischen hohen Sträuchern streckten. Wacholdersträucher, von denen Mutter Lydia ihm erzählt hatte. Oder war es Oma Lieschen gewesen? – Genau konnte sich Georg nicht mehr erinnern, das alles war Damals und lange, lange her.

Sie ist eine Trinkerin geblieben, hatte Herr Berghaus ihm erklärt. Ein Scheckbetrug war dazugekommen, und sie musste ins Gefängnis. Über all dies hatten Herr Berghaus und er noch einmal im vergangenen Sommer gesprochen. An diesem Tag war er einer neuen Gruppe zugeteilt worden und hatte sich heftig mit Fräulein Schönfeld gestritten. Plötzlich kam ihm Damals wieder in den Sinn, und er konnte nicht anders, als sich am Abend mit dem Campingbeutel zum Bahndamm zu schleichen.

Lange hatten die Menschen auf seinen Zeichnungen keine Gesichter gehabt, oder man sah ihre Gesichter nicht, weil sie sich bückten oder in den Himmel schauten. Die Kleider der Frauen bekamen breite gelbe Streifen. Das sah sehr langweilig aus. Bis eines Tages Sybille ihn um ein Bild bat. „Eins mit Blumen, Georg, nicht mit Kartoffelkäfern!“

Georg schenkte ihr sein schönstes Blumenbild, aber vor Schreck blieb er stumm, verkroch sich mit seiner Zeichenmappe in einer Ecke.

Tatsächlich! Mit den gelben Streifen hatte er die Menschen in Kartoffelkäfer verwandelt! Noch am gleichen Abend stieg er zum Hausmeister in den Keller. Sie warfen die Blätter gemeinsam in den Ofen. Erleichtert schloss Georg die große Ofenklappe.

Auch das ist schon eine Weile her, und manchmal haben die Menschen auf seinen Zeichnungen jetzt schmale Sybillegesichter mit langen gelben Zöpfen.

Nebenan schnarrte das Telefon. Georg sprang zum Fenster.

Matthias’ Eltern gingen auf das schwarze Auto zu. Der Mann hatte seinen Arm um die Schulter der Frau gelegt. Er ging aufrecht, mit geöffneter Jacke und drehte sein Gesicht zur Sonne. Sie gingen sehr langsam, Schritt für Schritt. Georg schien es, als hätte Matthias’ Mutter schwer am Arm ihres Mannes zu tragen. Sie ging ein wenig gebückt, hatte die Handtasche ungeschickt unter den linken Arm geklemmt. Karl putzte die Windschutzscheibe und sah den beiden flüchtig entgegen.

Georg hoffte, sie würden noch einmal zum Wald hinübersehen. Hinter der ersten Baumreihe stand Matthias. Georg konnte zwar den Freund nicht sehen, aber das rote Fahrrad lehnte am Baum. Die Eltern stiegen ein, und eine halbe Minute danach verriet nur noch eine blaue Abgaswolke, dass hier eben ein Auto gestanden hatte.

Matthias war am Waldrand hinter den Bäumen hervorgetreten. Er führte das Tandem auf die Lichtung, nach drei Schritten blieb er stehen, als müsse er nachdenken. Mit einer heftigen Bewegung stieß er das Fahrrad von sich und verschwand in langen Sätzen zwischen den Bäumen.

„Fräulein Schönfeld, der Matthias, Fräulein Schönfeld!“, schrie Georg und rannte den langen Flur entlang.

Die Köchin Lisa hielt ihn mit ausgebreiteten Armen auf, und schon stand Herr Berghaus neben ihm und auch Fräulein Schönfeld.

„Da, der Matthias“, keuchte Georg und zeigte zum Ausgang. Vor dem Haus sahen sie sich um. Herr Bergholz entdeckte das Tandem im Gras, hastig ging er Matthias nach.

Fräulein Schönfeld berührte Georgs Arm. „Komm, geh mit mir ein Stück“, bat sie ihn leise.

3

„Ich habe dich brüllen hören, der Wald hat ja gewackelt von deinem Geschrei!“

Matthias hatte sich, noch bevor Georg das Licht im Zimmer löschte, umständlich zur Wand gedreht. Dies war der erste Satz, den er am Abend an Georg richtete.

Georg kannte seinen Freund – begann der zu reden, dann war der Streit vergessen, und dem einen Satz folgten bald die anderen, man musste nur warten können.

Manchmal war Georg sehr ungeduldig, und den ersten mühsam herausgeknurrten Worten Matthias’ folgte sofort Georgs erste Frage. Diese Ungeduld hatte schon vieles verdorben. Alfons, der Dritte in ihrem Zimmer, musste dann lange mit Matthias reden, um den Frieden wiederherzustellen. In dieser Zeit sprachen weder Matthias noch Alfons mit ihm. Das war schlimm, aber länger als einen halben Tag blieb die Wolke nie zwischen ihnen hängen. Heute war Alfons noch im Zeltlager, und Georg hatte es mit seinen Fragen nicht eilig. Viel war an diesem Tag geschehen. Georg lag mit offenen Augen im Bett, hörte auf den Atem des Freundes.

Überhaupt mochte Georg die Stille des Abends und auch die der Nacht. Früher war er manchmal mitten in der Nacht aufgewacht und sah seltsame Schatten im Zimmer. Es kam. vor, dass er sich zitternd auf den Flur schlich und den diensthabenden Erzieher in ein Gespräch verwickelte.

Zuerst war er ärgerlich gewesen, als das Los entschied, in ihrem neuen Zimmer sollte er am Fenster schlafen. Aber dann sah er eines Nachts zwischen den Baumkronen das Sternbild des Adlers. Das heißt, er wusste noch nicht, dass es der Adler war. Immer wieder hatte er dieses Sternbild beobachtet.

Eines späten Abends saß er mit Fräulein Schönfeld in der Waldlichtung. Der Boden war noch warm von der Sonne. Als sie auf dem Rücken im Gras lagen, war nur Himmel über ihnen mit hellen und weniger hellen Sternen, die zu Bildern zusammenrückten, von denen Fräulein Schönfeld die seltsamsten Geschichten erzählte.

An diesem Abend erhielten seine Sterne die Namen, die sie schon seit vielen Hundert Jahren hatten. Und das war auch der Abend, an dem Georg das erste Mal den Mann mit dem gelben Auto gesehen hatte.

„Ich werde ihm wenigstens die Luft rauslassen!“

„Die Luft? Wem denn?“ Matthias hatte sich im Bett aufgerichtet.

Georg überhörte die Frage, er setzte sich ins weit geöffnete Fenster. „Heute ist er prima zu sehen!“

Matthias war mit einem Satz aus dem Bett und drängte sich neben Georg. „Tatsächlich, der Adler, wie frisch geputzt“, Matthias kicherte, „mit Wasser und Seife gewaschen, vom langen Alfons auf der Feuerwehrleiter.“

Nun musste auch Georg lachen, denn vor Putzarbeit mit Wasser und Schwamm drückte sich Alfons, wo es nur ging. An manchen Tagen, wenn die Höhe des Taschengeldes bei Alfons’ Ferieneltern von der geleisteten Putzarbeit abhing, war er in einer schwierigen Lage.

„Dachtest du heute Nachmittag, ich renne weg?“

Georg sah angestrengt zur Zimmerdecke. Fräulein Schönfeld hatte das auch geglaubt, Georg aber heftig bestritten. „Manchmal möchte man doch weg, einfach so, du hast es doch selbst gesagt. Außerdem hast du unser Rad mit solch einer Wucht auf die Erde geknallt. Da musste man ja sonst was denken!“

Wieder war es still. Sie sahen beide in den Nachthimmel. Es schien, als wäre ihnen das Sternbild heute besonders nahe, als strecke es sich auf dem Teppich der Milchstraße, um die Jungen in Wiesenstein zu grüßen.

Fast alles, was Fräulein Schönfeld von der Welt und von den Sternen und den Menschen wusste, hatte Georg von ihr erfahren. Und manchmal glaubte er, dass es mit seinem Umzug zu den Eisenhuts zusammenhing, wenn sich im späten Herbst das Bild der Sterne über Wiesenstein wandeln würde. Dem Adler folgte dann das Einhorn, ganz langsam wird es am Horizont heraufziehen, und vielleicht gibt es jemanden, der zwischen den Baumkronen und dem Dach des Hauses das neue Sternbild entdeckt, und vielleicht fragt er Fräulein Schönfeld nach diesem wunderlichen Sternhaufen und erfährt dessen Geschichte.

Aber es ist auch möglich, dass das Einhorn unbemerkt vorüberzieht und auch der Löwe und erst im nächsten Sommer jemand da ist, der lange nach oben schaut und sagt: Heute ist er prima zu sehen, einen Moment überlegt und hinzufügt: Der Adler ist es, ich glaube, der Adler!

Wenn sich der Tagebau tatsächlich bis hierher durchgearbeitet hat, wird es vielleicht der Maschinist des großen Baggers sein. In der Nachtschicht wird er irgendwann die Ölkanne zur Seite stellen und sich mit dem Lappen die Hände säubern und unter den vielen Sternbildern den Adler suchen. Einfach so.

„Mit dem Rad, das war Mist“, antwortete nun endlich Matthias, „hätte es an den Baum stellen können. Ich hatte es eilig. Na ja, ich, ich, ich wollte meine Eltern mal wieder aus der Nähe sehen.“

Das konnte Georg gut verstehen. Eisenhuts kannte er noch nicht sehr lange, aber wie hatte er heute auf sie gewartet!

„Du kennst doch die Kurve an der Böschung, von dort siehst du den Weg bis zum Heim auf einen Blick. Da wollte ich hin. Uber die Felder ist man schnell dort. Eher als ein Auto. Beim Rennen kam mir die Idee mit dem Strauch. Na ja, ich wusste, Karl würde anhalten. Vom letzten Hochwasser lag noch Gestrüpp im Graben. War nicht schwer, das Zeug auf den Weg zu ziehen. Natürlich vor der Kurve, damit Karl es rechtzeitig sah.“ Matthias hatte sich in Eifer geredet.

„Deine Mutter war ziemlich traurig“, unterbrach ihn Georg leise.

Matthias kroch auf Händen und Füßen langsam ins Bett zurück.

„Und hast du sie nun gesehen?“, wollte Georg wissen.

„Sie mussten anhalten, der Strauch lag ja auf dem Weg. Vor der Kurve hörte ich, wie Karl runterschaltete. Er fuhr nicht schnell. Mein Vater las schon wieder in seinen verdammten Akten!“

„Und deine Mutter?“

Matthias antwortete nicht sofort. „Meine Mutter lehnte mit dem Kopf an der Scheibe. Ihre Brille hatte sie abgenommen. Als Karl stoppte, wusste sie anscheinend gar nicht, was los war. Dann ist sie ausgestiegen und auf die Wiese gegangen. Sie und Karl haben eine geraucht. Dort an der Pferdekoppel, neben dem Wasserwagen.“

„Na, und dein Vater, hat der sich umgesehen?“

„Mein Alter hat einen Baum gesucht, und dann hat er gepinkelt.“