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Till ist allein auf der Ferieninsel geblieben, der Vater musste plötzlich nach Afrika fliegen. Der Junge ist traurig, was soll er mit diesem Tag beginnen ... Er wird in die Berge wandern und die Wunderblume für den Vater suchen, die ihm ein langes Leben geben soll. Solch ein Wanderweg ist beschwerlich, viel gibt es zu beobachten: Fischer im Hafen, Arbeiter an der Dieselramme und Fräulein Wogenstein, die rote Elefanten und grüne Wolken zeichnet ...
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Seitenzahl: 75
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Jürgen Leskien
Rote Elefanten und grüne Wolken für Till
ISBN 978-3-96521-014-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1976 in Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
2020 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Am Rand der Wiese, vor der hohen Düne bleibt Till stehen und holt tief Luft. Er sieht zum Vater, der blinzelt in die Sonne und nickt. Langsam gehen sie weiter, steigen durch den lockeren Sand.
Till zieht den Gürtel des Bademantels fester, gleich wird sie der Wind anspringen. Gleich, er wartet schon hinter der Düne.
So ist das jeden Morgen. Wenn sie endlich über die Düne gestiegen sind und das Meer sehen, ist auch der kühle Wind da. Aber wenn kein Wind weht, ist das Meer grau und langweilig. Da ist Till der Wind schon lieber.
Der Vater fasst Till an der Hand, und sie laufen dem Wind entgegen. Ihre Bademäntel heben und senken sich wie Flügel.
Till sieht genau, sie sind wieder die ersten am Strand. Keine Fußstapfen im feuchten Sand, nur die Spuren der Möwenpfoten.
„Na komm“, sagt der Vater, „gehen wir ein Stück!“
Sie laufen auf dem festen Sand, an dem das Meer mit tausend Zungen leckt. Jeden Morgen suchen sie zwischen den Steinen und Muscheln den großen Bernsteinklumpen mit der eingeschlossenen Fliege. Ob sie ihn in diesem Sommer finden?
„Wir müssen doch mal Glück haben!“ Till ist ungeduldig.
„Das ist wohl nichts?“ Der Vater zeigt auf den Hühnergott, der vor seiner Brust baumelt. Als sie den Stein fanden, sagte Till sofort: „Du musst ihn jeden Tag umhängen, Vati, dann hast du Glück!“
Nun trägt der Vater den Hühnergott schon den vierten Tag, aber sie haben außer einem ausgeblichenen Hechtgebiss nichts Besonderes gefunden.
„Genug gesucht!“ Der Vater wirft den Bademantel in den Sand und beginnt mit dem Armkreisen. Till ist schon beim Kniebeugen, dabei äugt er zu den Möwen, die über ihnen steigen und fallen. Die heftigen Bewegungen der beiden beim Morgensport haben die Vögel in den ersten Tagen erschreckt, sie zuckten in den Wind zurück. Jetzt bleiben sie, selbst wenn Till mit Gezisch seinen Atem in die Luft stößt.
Vater pumpt noch drei Liegestütze und stakt mit großen Schritten ins Wasser. Till läuft mutig hinterher. Er taucht die Hände ein, den Bauch, die Brust. Schnell acht Schwimmzüge hin und acht zurück.
Zurück werden es zehn, dann liegt er mit dem Bauch im flachen Wasser auf dem Grund.
Till beobachtet den Vater, der winkt weit draußen. Er sieht, wie der Vater mit einer schnellen Bewegung wendet und zurückkommt. Till wartet einen Moment und schwimmt ihm acht Züge entgegen.
Wenn sie am Morgen vom Strand zum Haus laufen, folgen ihnen die Möwen. Sie haben sich daran gewöhnt: Der letzte Happen von Tills Frühstücksbrötchen gehört ihnen.
Auch heute segelt hoch über dem Schilfdach des weiß getünchten Hauses ein Möwenpaar. Doch Till hat das Ei noch nicht angerührt und vom Brötchen erst einmal abgebissen. Die Möwen müssen warten.
„Hier gibt es gar keinen Bernstein.“ Till schiebt sein Brötchen auf dem Teller hin und her. Der Vater zuckt mit den Schultern.
„Das sieht fast so aus. Bestimmt wird unsere Mühe irgendwann belohnt. Ein faustgroßer Batzen mit einer Fliege drin. Viele Tausend Jahre alt.“ Eine Möwe kreist nahe über Till. Hastig beißt er vom Brötchen ab. „Einen Sturm brauchen wir. Sturm wühlt den Grund auf. Irgendwo auf dem Grund liegt unser Bernstein. Die Wellen schleudern ihn an den Strand.“
„Hierher, an unseren Strand?“
„Schon möglich!“
Till erschrickt: „Aber die Schiffe!“
„Die Schiffe. Für Schiffe ist der Sturm gefährlich.“
„Nein, nein, dann suchen wir lieber weiter. Irgendwann haben wir schon Glück, stimmt’s?“
Till holt jeden Morgen nach dem Frühstück die Zeitung.
Die fünfzehn Pfennig dafür legt er am Abend auf dem Fensterbrett bereit. Bis zum Posthäuschen braucht er genau drei Minuten und dreißig Sekunden. Das hat er mit Vaters großer Uhr gestoppt. Die Wegzeit zu wissen ist wichtig für Till, denn er möchte immer zehn vor acht dort sein. Zehn vor acht holt Herr Wolters seine Zeitung. Herr Wolters hat einen gespaltenen Daumennagel und bedient die Dieselramme bei den Buhnen. Er kennt alle Blumen auf der Insel und fast alle Vögel. Wenn sie sich treffen, reden sie über das Wetter, über die Dieselramme, und Herr Wolters beschreibt, wenn Till ihn darum bittet, die Wunderblume, die in den Bergen wächst. Wenn Herr Wolters und Till sich begegnen, hängt Tills Vater allein die Schlafsäcke auf die Leine und wäscht schon das Frühstücksgeschirr ab. Kommt Till an solch einem Tag zurück, fragt er: „Herr Wolters, ja?“ Till nickt, und Vater weiß Bescheid. Sie nehmen die Zeitung, ihre Sachen und ziehen zum Strand. Es ist für Till schwierig, pünktlich zu sein und Herrn Wolters zu treffen. Es kommt vor, dass der Vater beim Baden vor dem Frühstück weit auf das Meer hinausschwimmt. Oder sie reden am Tisch über wichtige Dinge. Na, und wenn der Hund Lux morgens am Wasser ist, wird es ganz spät. Beide sehen sie dann auf die Uhr und zucken mit den Schultern.
Heute haben sie nicht auf die Uhr gesehen. Till denkt immer noch an den Bernstein und an den Sturm. Das Posthäuschen ist in Sicht. Till springt von einem Bein auf das andere.
„Guten Morgen, Till!“ Bald wäre er Frau Schliebhacke ins Fahrrad gelaufen.
„Guten Morgen!“
Frau Schliebhacke steigt ächzend vom Rad, umständlich kramt sie in der Posttasche. Till hat sich auf die Zehenspitzen gestellt. Ob sie Post für uns hat?
„Da war doch was, hier – nein, aber das, das ist es“, brummelt sie. „Hier, ein Telegramm für deinen Vater, nimmst du es mit?“
Till fährt zusammen.
„Nein, nein, ich – ich muss die Zeitung holen“, stammelt er.
„Aber Till, nimm mir doch den Weg ab, sieh, was ich alles zu verteilen habe!“
Till möchte fortlaufen, nur kein Telegramm annehmen. Angestrengt starrt er auf den Bernstein am Hals der Postfrau.
„Ist da eine tote Fliege drin?“
„Wo?“ Frau Schliebhacke streckt den Umschlag mit dem Telegramm weit von sich.
„Da, im Bernstein!“
„Ach so, nein, ich glaube, das ist ein winziges Stück Borke.“ Ungeduldig fügt sie hinzu: „Was ist denn nun, nimmst du das Telegramm?“ Till reißt ihr den Umschlag aus der Hand und steckt ihn unter das Hemd. Frau Schliebhacke wendet kopfschüttelnd ihr Rad und fährt davon.
„Ihr Schutzblech schleift!“, ruft Till ihr nach.
„Waas?“ Frau Schliebhacke will sich zu Till umdrehen, bald wäre sie gegen den Weidezaun gefahren.
„Das Schutzblech!“
„Ja, ja, danke.“ Sie dreht sich nicht mehr um, sie muss auf den Weg achten.
Wenn Till den Bauch einzieht, spürt er deutlich den Umschlag.
Ob Herr Wolters Rat weiß?
Frau Krüger hat ihn kommen sehen. Sie schiebt die Zeitung durch das kleine Fenster. Obenauf legt sie eine bunte Briefmarke.
„Für dich, Till, mein Sohn hat aus Kuba geschrieben.“
Till sieht sich um.
„Herr Wolters war schon hier, schönen Gruß!“
„Nehmen Sie auch Telegramme an?“, fragt er.
„Das besorgt meine Kollegin nebenan. Warum bist du so knurrig, Junge?“
Till steckt die Briefmarke in die Brusttasche, langsam geht er zurück.
Im vorigen Jahr, an einem Tag in den Winterferien, hatte Till solch ein Telegramm aus dem Briefkasten genommen.
Vater musste sich setzen, als er es las.
Die Mutter war verunglückt und lag im Krankenhaus. Noch vor dem Mittagessen waren sie zu ihr gefahren. Till musste draußen warten. Der Vater blieb nicht lange. Als er kam, war er blass und hatte seine Mütze vergessen. Er streichelte Till in einem fort, und am Abend kam er zu Till ins Zimmer. „Wir sind nur noch zu zweit“, hatte der Vater gesagt. Sein Gesicht war nass. Immer wieder streichelte er Till. Am Morgen saß er schlafend auf dem Stuhl neben Tills Bett. Das Telegramm damals hatte auch in einem Umschlag gesteckt.
Auf dem Weg kommen Till Kinder entgegen. Er kriecht schnell durch den Weidezaun. Beim Bücken reißt ihm der Wind den Umschlag aus der Hand und weht ihn über die Weide.
Till hat die Zeitung an die Brust gedrückt und sieht dem Telegramm nach. Es flattert, fällt ins Gras, wird wieder hochgerissen. – Und wenn ich es einfach davonfliegen lasse? überlegt er.
Das Telegramm bleibt in einem Strauch am anderen Ende der Weide hängen. Till schlägt Haken um die Maulwurfshügel. Er hat es nicht eilig.
Der Umschlag ist aufgerissen, die Klappe zittert wie ein Wimpel. Till geht nahe heran. Ein Wort ist zu lesen – Interflug. Die Zweige schlitzen das Papier weit auf, als Till es hastig aus dem Geäst zieht. Er streicht das Telegramm auf seinem Knie glatt. Den Umschlag treibt der Wind fort.
„Außergewöhnlicher Flug“, liest er, „Urlaubsunterbrechung für drei Tage notwendig. Start Freitag, 6.7., 10 Uhr. Kienbaum, Interflug.“
Till springt auf. Freitag, das ist ja schon morgen!
Er sieht auf die Zeitung, dort steht: Donnerstag, 5. Juli. Freitag, Sonnabend, Sonntag; danach bleiben ihnen nur noch vier Tage im Ferienhaus!
Till faltet das Telegramm zusammen. Und wenn es vorhin wie ein Vogel davongeflogen wäre? Noch einmal knifft er das Papier. Nun ist es nicht größer als ein eingewickeltes Bonbon. Er steckt es in die Brusttasche. Das Telegramm plustert sich in der Tasche auf. Till schaut an sich herunter. Man sieht, dass ein Telegramm in der Tasche steckt, denkt er.
Ein Pferdewagen zuckelt vorbei. Er ist hoch mit Koffern bepackt, Urlauber sind angekommen. Till läuft ein Stück hinter dem Wagen her, dann stapft er durch den Sand zu den Dünen.
Am Strand steigen die ersten Bälle in den Morgenwind.
Schimpfend kurven die Möwen zum Hafen ab.
Vom großen Stein hinter den Dünen kann Till weit sehen: klein und fern die Dieselramme, auf halbem Weg zu den Bergen mit dem Leuchtturm. Dort oben zwischen Dornen soll die Wunderblume wachsen.