Gerechter Entscheiden - Rainer Völker - E-Book

Gerechter Entscheiden E-Book

Rainer Völker

0,0

Beschreibung

Justice is regarded as being the crucial yardstick for human behaviour. There is consequently an expectation or a demand that decisions should be taken fairly and justly in the widest variety of contexts in professional and private life, as well as in relation to social responsibilities. The same facts should not be measured by different standards; no one should be discriminated against because of natural characteristics such as race, gender or appearance; fundamental human rights should be recognized unreservedly all over the world; and in the spirit of intergenerational justice, we should behave in a sustainable fashion and not live at the expense of later generations. This volume initially demonstrates that we are only able to live up to such requirements to a limited extent, and shows how the contradictions involved come about. Major reasons for this include using standards of justice that go back as far as the Stone Age, inadequate knowledge of economic and social interrelationships, and also one-sided information. In addition, it is only rarely that an individual=s own understanding of justice is concretely articulated, and this stands in the way of consistent argumentation from the outset. In conclusion, on the basis of the available scientific findings, this monograph outlines ways of overcoming the contradictions mentioned and arriving at more just decisions.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 392

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Denkanstößeherausgegeben von Rainer Völker

Rainer Völker

Gerechter entscheiden

Jenseits von Steinzeitgerechtigkeit, Fake News, alten und neuen Dogmen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039117-8

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-039118-5

epub:        ISBN 978-3-17-039119-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort

Verschiedene Aspekte, die allerdings eng zusammenhängen, gaben den Ausschlag zum Schreiben dieses Buches. Zunächst einmal kann man festhalten, dass es zwar eine breite Palette von Publikationen gibt, die sich mit dem Themenkreis »gutes«, »besseres«, »optimales« etc. Entscheiden auseinandersetzen. Häufig geht es dabei um die Frage, wie wir mit unseren »kognitiven Beschränkungen« umgehen können, um besser zu entscheiden. »Framing«, »Stereotype«, »Confirmation Bias« und andere »klassische« kognitive Verzerreffekte werden thematisiert. Die Zielsetzungen für die Entscheider/innen werden dabei als gegeben vorausgesetzt. Ziele, über die zu befinden wäre, werden nicht explizit thematisiert. Im Mittelpunkt stehen oft »egoistische« Ziele der Entscheider/innen aus dem privaten oder geschäftlichen Kontext. Fragen nach gerechten Entscheidungen schaffen jedoch zusätzliche Komplikationen: Es muss geklärt werden, was unter Gerechtigkeit zu verstehen ist und wie entsprechend Güter, Rechte, Pflichten etc. auf Personen oder Personengruppen aufgeteilt werden sollen. Insofern versucht dieses Buch diesen Aspekt – Entscheidungen bei Gerechtigkeitsfragen – aufzugreifen.

Zielsetzungen in Sachen Gerechtigkeit spielen offensichtlich in privaten und vor allem in öffentlichen Debatten eine zentrale Rolle; soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, globale Gerechtigkeit – um nur ein paar Stichworte zu nennen – stehen im Mittelpunkt vieler Auseinandersetzungen. Umso erstaunlicher ist es, dass in diesen Diskussionen häufig recht unklare Definitionen von Gerechtigkeit verwendet werden und überkommene Konzepte in einer aufgeklärten Welt immer noch eine wesentliche Rolle spielen. Neben religiösen Dogmen findet sich im Rahmen neuerer Ideologien z. B. das Denken in Identitäten. Personen bzw. Personengruppen werden anhand einfacher Merkmale in Opfer- oder Tätergruppen eingeteilt und auf dieser Basis Urteile getroffen. Viele unserer Gerechtigkeitskonzepte sind wenig konsistent und bisweilen recht vage. Wir propagieren z. B. Klimagerechtigkeit oder Nachhaltigkeit definieren aber nicht genau was das ist und freuen uns schon, wenn wir Trinkhalme aus Glas kaufen, für Flüge »einen Ablass« zahlen etc. Was im Privaten gilt, gilt auch für den öffentlichen Bereich. Die meisten Parteien in Deutschland bekennen sich zu dem 1,5 Grad Ziel, aber die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen reichen für die Erreichung dieser Ziele nicht aus.1

Ein weiterer Aspekt tritt hinzu. Auch wenn Gerechtigkeitsvorstellungen wie erwähnt wenig elaboriert sind, so werden viele Menschen für sich in Anspruch nehmen, sich für mehr Gerechtigkeit in dieser Welt einzusetzen. Ohne solche Engagements zu negieren oder kleinzureden, so sind jedoch einige Auffälligkeiten zu bemerken. Vielfach sind Einsätze gegen Ungerechtigkeiten rein symbolisch und letztlich recht »preiswert«: Virtue Signalling per Mausklick oder »Massenproteste« über regenbogenfarbene Shirts bei einem Länderspiel gegen Ungarn; die WM in Katar, wo horrende Menschenrechtsverletzungen stattfinden, will man allerdings schon ansehen. Unter Umständen wird erbittert gegen Straßennamen »gekämpft«, deren Namensgeber für Unterdrückungen in Kolonien verantwortlich waren. Wie es den heutigen Menschen in den betroffenen Staaten geht, ist weitgehend unbekannt, geschweige denn, dass wir etwas gegen die Not in diesen Ländern selbst tun. Allein unsere Ausgaben für Schönheitskosmetik betragen ein Vielfaches der Spenden für Menschen in Not. Die Ausgaben für Auto-Tuning sind in Deutschland so hoch wie unser Spendenaufkommen für humanitäre Zwecke. Überhaupt scheint uns unser eigenes Wohlergehen, eventuell das unseres direkten Umfelds oder maximal noch unseres Staates, zentral zu interessieren. Von dem Anspruch globaler Gerechtigkeit sind wir noch weit entfernt oder wie es der Historiker Yuval Harari oder andere Wissenschaftler vielleicht ausdrücken würden: Unsere evolutionären Muster bestimmen immer noch unser Gerechtigkeitsverhalten.

Das Buch möchte keinen moralischen Zeigefinger erheben. Es geht darum Denkanstöße zu geben: Wie entscheiden wir? Warum werden wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht? Wie kann unter Umständen besser entschieden und gehandelt werden? Zentral sind Verhaltensmuster, die noch aus der Steinzeit rühren. Auch wenn diese Muster im Sinne unserer Ansprüche nicht gewünscht sind, hilft es nichts, diese einfach zu negieren. Wenn sie nicht das Ende der Diskussion sind, bilden solche und andere wissenschaftliche Erkenntnisse notgedrungen den Ausgangspunkt für eine solche.

Mein Dank für die Erstellung dieses Buches gilt vielen Personen, mit denen ich über die verschiedenen Thematiken diskutieren konnte. Zwei Personen gilt mein besonderer Dank: Frau Julia Harkcom unterstützte maßgeblich bei der Umsetzung des Manuskripts und lieferte viele Diskussionsbeiträge. Dr. Uwe Fliegauf, Verlagsleiter beim Kohlhammer Verlag, unterstützte wie immer in souveräner Manier die Entstehung des Buches und übernahm das Lektorat.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen Personen aller Geschlechter; alle sind damit gleichberechtigt angesprochen.

 

Mannheim, im Oktober 2021

Mannheim, im Oktober 2021

Zum Autor

Prof. Dr. habil. Rainer Völker ist Professor für Management an der Hochschule in Ludwigshafen am Rhein. Er ist zudem als Referent, Berater und Autor tätig. Vor seiner Hochschultätigkeit hatte er verschiedene Führungsfunktionen in der Wirtschaft inne. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, promovierte an der Universität Konstanz und habilitierte an der Universität St. Gallen.

Inhalt

 

 

Vorwort

1   Einführung und Überblick

1.1   Anspruch und Wirklichkeit

1.2   Ziele des Buches und Überblick über den Inhalt

1.3   Einige zentrale Begriffe und Definitionen

2   Anspruch und Wirklichkeit

2.1   Wir messen mit mehrerlei Maß

2.1.1   Überblick

2.1.2   Straßennamen, Satire und Filme – Beispiele aus dem gesellschaftlichen Diskurs

2.1.3   Wenn politische Korrektheit Kapriolen schlägt

2.1.4   Umgang mit autoritären Regimen – Proteste gegenüber Ungarn, aber WM-Teilnahme in Katar

2.1.5   Militärische Interventionen und andere Beispiele aus der Politik

2.1.6   Wir diskriminieren mehr als wir denken

2.1.7   Das Recht ist eine Variable

2.1.8   Äpfel und Birnen?

2.2   Nichteinhaltung der Menschenrechte

2.2.1   Bedeutung der Menschenrechte

2.2.2   Menschen sind unterschiedlich viel Wert

2.2.3   Exkurs: Bewertung von Menschenleben

2.2.4   Wir unterstützen Sklaverei, Kinderarbeit und Terror

2.2.5   Was wir für Menschen in anderen Ländern tun müssten

2.2.6   Exkurs: Einige Fakten zur globalen Armut

2.3   Wir leben auf Kosten nachfolgender Generationen

2.3.1   Nachhaltigkeit – Gerechtigkeit gegenüber nachfolgenden Generationen

2.3.2   Wir brauchen jährlich mehrere Erden

2.3.3   Von wegen »klimagerecht«

2.3.4   Unser Müll in Afrika und Asien

2.3.5   Greenwashing und warum Konsumenten gern darauf hereinfallen

2.4   Unsere Gerechtigkeitsmaßstäbe – unklar, überkommen, nicht konsistent und egoistisch

2.4.1   Anforderungen an Gerechtigkeitsmaßstäbe – ein Überblick

2.4.2   Trotz Aufklärung und wissenschaftlicher Erkenntnisse: Alte und neue Dogmen

2.4.3   Denken in Identitäten

2.4.4   Über zu hohe Managergehälter und unverschämte Renditen

2.4.5   Gefühlte Ungerechtigkeit

2.4.6   Unsere Ausgaben offenbaren unsere Gerechtigkeitsvorstellungen

2.4.7   Unsere Beurteilung von Ursache-Wirkungszusammenhängen ist sehr limitiert

3   Ursachen und Lösungsansätze

3.1   Mögliche Ursachen im Überblick

3.2   Steinzeitgerechtigkeit

3.2.1   Genetische Muster der Steinzeit

3.2.2   Reproduktionserfolg – Geld für Kosmetik, Tuningteile und Luxuswaren statt für Hilfeleistungen

3.2.3   Altruismus – Wir helfen anderen, wenn wir auch etwas davon haben

3.2.4   Die Entstehung von Moral und Gerechtigkeitssinn

3.2.5   Die »Fundamente« der Moralität

3.3   Emotionen und kognitive Fähigkeiten

3.3.1   Die Limitationen im Überblick

3.3.2   Sympathie

3.3.3   Mentale »Abkürzungen«

3.3.4   Ein Gehirn – zwei Systeme

3.3.5   Die – zweischneidige – Rolle von Intelligenz

3.3.6   Einstellungen und Werte

3.3.7   Überforderung bei der Identifikation von Ursache- und Wirkungsketten

3.3.8   Verantwortung ja – aber kein freier Wille

3.3.9   Nutzung der Erkenntnisse über unsere »Unvollkommenheit«: Moralische Schubser

3.4   Wissen und Nichtwissen

3.4.1   Mehr an Wissen hilft, aber…

3.4.2   Verschiedene Arten der Wahrheit

3.4.3   »Fake News«

3.4.4   Manipulation der Meinung – Von unterschwelliger Einflussnahme bis hin zu wirtschaftlicher Macht

3.4.5   Die Macht der Medien

3.4.6   Unwissenheit über unser Wirtschaftssystem – Marktwirtschaften sind ökonomisch gut, aber nicht gerecht

3.4.7   Unwissenheit über Meritokratien – Abgehobenheit von Eliten

3.4.8   Unwissenheit und falsche Vorstellungen über die Evolution

3.5   Fehlende Gerechtigkeitskonzepte

3.5.1   Grundlegende Zusammenhänge

3.5.2   Das Glück der großen Zahl – Maximierung der Wohlfahrt einer Gesellschaft

3.5.3   Ungleichheit nur, wenn sie den Armen hilft

3.5.4   Ohne Ethik keine Gerechtigkeit

3.5.5   Es kommt darauf an, die Welt besser zu machen …

3.5.6   Welche Theorie ist die richtige?

3.5.7   Gerechtigkeit ist nicht alles

3.5.8   Exkurs: Materieller Wohlstand und soziale Gerechtigkeit

3.5.9   Globale Gerechtigkeit

3.5.10 Einhaltung von Mindestanforderungen auf globaler Ebene

3.6   Schwierigkeiten bei kollektiven Entscheidungen

3.6.1   Problemkreise

3.6.2   Groupthink, Groupshift etc. – Verzerreffekte auf Gruppenebene

3.6.3   Exkurs: Sozialwahltheorie oder »Welche Entscheidungsregel ist für Gruppenentscheidungen die richtige?«

3.6.4   Öffentlicher Vernunftgebrauch und globale Gerechtigkeit

3.7   Zusammenspiel der Ursachen

3.7.1   Die Faktoren nochmals im Überblick

3.7.2   Wenn mehrere Ursachen zusammenwirken – einige Beispiele

4   Gerechter urteilen, entscheiden und handeln

4.1   Die zentralen Leitlinien im Überblick

4.2   »Gehirn einschalten«, Wissen und andere Vorbedingungen

4.2.1   Mentale Muster erkennen und System 2 einschalten

4.2.2   Informationsbeschaffung und Medienpluralität – ohne Mühe geht es nicht

4.2.3   Das zeigen verschiedene Studien…

4.3   Akzeptable Gerechtigkeitsprinzipien und -maßstäbe

4.3.1   Elemente eines Beurteilungskonzepts

4.3.2   Anforderungen an eine Gerechtigkeitskonzeption

4.4   Gerechter Handeln

4.4.1   Mögliche Handlungsoptionen

4.4.2   Anforderungen an unser Handlungskonzept

4.4.3   Engagement für mehr Gerechtigkeit

4.4.4   Leitlinien der Priorisierung

4.4.5   Moralisieren versus Wirkungsverantwortung

4.5   Moral und moralische Bildung

4.5.1   Moral und Gerechtigkeit

4.5.2   Moral Nudges

4.5.3   Erziehung zu Moral und Gerechtigkeit

4.5.4   Sensibilisierung für globale Gerechtigkeit

5   Fazit

Literatur

1          Einführung und Überblick

 

 

1.1       Anspruch und Wirklichkeit

Unser Gerechtigkeitsempfinden könnte veraltet sein.1 (Yuval Noah Harari, Historiker)

Gerechtigkeit ist ein zentraler Wert menschlichen Zusammenlebens und häufiger Gegenstand privater und öffentlicher Debatten. Gerechtigkeit taucht in verschiedenen Kontexten als Leitlinie auf: Soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit und Generationengerechtigkeit werden gefordert; Nichtdiskriminierung von bestimmten Personengruppen und entsprechend der Schutz von Minderheiten, Chancengerechtigkeit sowie Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe sind weitere »Gerechtigkeitsterrains«. Im Zeichen der Globalisierung wird zunehmend die Forderung nach globaler Gerechtigkeit erhoben. Aber es sind nicht nur die »großen« politischen Fragen, die zu beantworten sind. Auch im beruflichen und privaten Kontext muss beurteilt werden, wie z. B. Entgelt, Lob, Tadel etc. zu bemessen sind. Oder: Wie können wir uns im täglichen Leben als Konsumenten »fair« gegenüber denen verhalten, die irgendwo auf der Welt zum Teil unter ausbeuterischen Bedingungen unsere Kleidung, unsere Smartphones etc. herstellen. Was kann Klimagerechtigkeit für uns im täglichen Leben bedeuten?

Als Bürger, als Inhaber beruflicher Positionen, als Vertreter von Organisationen und erst recht als Politiker sind wir gefordert, uns zu verschiedenen Gerechtigkeitsfragen eine Meinung zu bilden und Stellung zu beziehen. Ohne Zweifel gibt es bei Gerechtigkeitsthemen nicht »die richtige« Lösung, »das richtige« Urteil. Wie wir in diesem Buch noch ausführlich erläutern werden, basieren solche Bewertungen letztlich immer auf Werturteilen, die nicht von allen Menschen gleichermaßen geteilt werden. Unabhängig von spezifischen Gerechtigkeitsvorstellungen gilt es allerdings zu beachten: In einer aufgeklärten Welt gibt es durchaus bestimmte Ansprüche an unsere Urteile und Handlungen in Sachen Gerechtigkeit. So z. B. sollten gleiche Sachverhalte nicht mit mehrerlei Maß gemessen werden. Unsere Gerechtigkeitsvorstellungen sollten nicht auf Dogmen – egal ob religiös oder sonst wie motiviert – beruhen. Bestimmte Mindestanforderungen wie die Einhaltung von Menschenrechten und der Schutz der Menschenwürde sollten unseren Entscheiden zugrunde liegen. Wenn man es mit globaler Gerechtigkeit ernst meint, dann dürfen Gerechtigkeitsüberlegungen nicht an der nationalen oder an der europäischen Grenze jäh aufhören. Indiskutabel ist sicher auch, wenn Gerechtigkeitspositionen beim eigenen Handeln keine Berücksichtigung finden. Und schließlich: Wenn wir uns ehrlich für ein Mehr an Gerechtigkeit einsetzen wollen, dann kommt uns eine Umsetzungsverantwortung zu. »Virtue Signalling« per Mausklick, reines Moralisieren oder wenig effizientes Engagement wären nicht bzw. wenig konsistent mit diesem Anspruch.

Wie ist es tatsächlich um unsere Entscheidungen und Handlungen in puncto Gerechtigkeit bestellt? Eine zentrale These dieses Buches ist, dass unsere Ansprüche und reales Verhalten oft weit auseinanderklaffen. Die zentralen Aspekte lassen sich wie folgt charakterisieren:

Wir messen mit mehrerlei Maß

Es ist uns ein Anliegen, nicht mit mehrerlei Maß zu messen. Unter sonst gleichen Umständen sollten Personen oder Sachverhalte nicht unterschiedlich beurteilt werden. Allseits bekannt ist, dass im Sport die eigene Mannschaft bei Niederlagen tendenziell immer die bessere war und eher Pech hatte oder ein schlechter Schiedsrichter die Ursache waren. Solche und ähnliche verzerrte Urteile lassen sich leicht in die Kategorien »harmlos« oder »allzu menschlich« einordnen. Nicht harmlos sind allerdings Beispiele wie das Folgende: Ärzte und Ärztinnen behandeln ihnen weniger sympathische oder weniger attraktive Patienten signifikant kürzer als ihnen sympathische bzw. ansehnliche. Weltweite Studien zeigen übereinstimmend diese Tatsache und weisen auf die gesundheitlichen Konsequenzen für die Betroffenen hin. Ein anderes Beispiel: Wie ein Politmagazin berichtete, waren bestimmte »Heuschrecken« bzw. Finanzinvestoren wegen Ihres Geschäftsgebarens im Visier einer großen Gewerkschaft. Die gleiche Gewerkschaft bot ihren Mitgliedern eine private Rentenversicherung mit überdurchschnittlicher Rendite an. Die hohe Rendite wiederum basiert auf einem Fonds, den genau jene Heuschrecken aufgelegt haben. Die Liste von Beispielen, bei denen wir – oft unbemerkt – mit zweierlei Maß messen, lässt sich beliebig erweitern. Diskriminierung von Menschen wegen bestimmter unveränderbarer Eigenschaften wie Alter, Behinderung, Hautfarbe etc. ist bei uns verpönt und entsprechende Gesetze wurden geschaffen. Es gibt allerdings auch unveränderbare Eigenschaften, nach denen Menschen eklatant und durchaus gesetzlich erlaubt diskriminiert werden – wie z. B. soziale Herkunft und Attraktivität. Attraktive Menschen werden im alltäglichen Umgang, in den verschiedenen Ausbildungsstufen oder schließlich im Berufsleben klar bevorzugt; im Durchschnitt – so zeigen Ergebnisse über akademische Berufe, bei denen Schönheit nicht Teil der »Job Description« ist – verdienen ansehnliche Menschen in akademischen Berufen über ihre Lebenszeit im Durchschnitt über hunderttausende von Euros mehr als weniger ansehnliche.2 Mit mehrerlei Maß messen wir auch bei Geflüchteten. Moralphilosophen wie Peter Singer stellen fest, dass wir bestimmte Geflüchtete bevorzugen – nämlich die, die es bis nach Europa schaffen oder die, von denen die »Gefahr ausgeht«, dass sie sich auf den Weg machen. Andere, die keine Chance haben, zu uns zu kommen, erhalten viel weniger oder schlicht nichts.3

Wir tragen zur weltweiten Verletzung von Menschenrechten bei

Die Einhaltung von Menschenrechten ist sozusagen ein Mindestmaß an Gerechtigkeit, das wir fordern. Wir propagieren den Schutz dieser Rechte und wollen uns nicht an Verstößen beteiligen. Uns ist es vielleicht nicht bewusst, aber: Als Teil einer globalen Welt tragen wir zur Verletzung grundlegender Menschenrechte bei. Unser Anspruch ist es, z. B. Ausbeutung, Kinderarbeit und Versklavung nicht zu unterstützen. Als Aktionäre beteiligen wir uns an internationalen, aber auch nationalen Unternehmen, die genau jene Untaten in Verbindung mit Lieferanten oder manches sogar direkt veranlassen. Rund ein Viertel der börsennotierten Unternehmen »mischt« direkt oder indirekt bei eklatanten Verstößen gegen Menschenrechte mit. Über unsere Vermögensanlagen wie Renten oder Lebensversicherungen sind wir selbst als Kleinbürger an solchen Geschäften beteiligt. Dieses Phänomen gibt es nicht erst durch moderne, globale Kapitalmärkte. Historiker wie Yuval Noah Harari weisen auf viele Beispiele hin, bei denen Kriegszüge oder der Sklavenhandel der europäischen Staaten nicht ohne die Finanzierung durch »ehrbare« Bürger Europas zustande gekommen wären.4 Und als Konsumenten sind wir selbst bei geringen Mehrkosten nicht bereit, Produkte zu kaufen, die nachweislich den Vorzug haben, dass sie nicht unter Ausbeutungsbedingungen hergestellt werden – ganz zu schweigen davon, dass sich die wenigsten die Mühe machen, die Herstellungsbedingungen zu recherchieren.

Wegen des grundlegenden Werts der Menschenwürde dürfen Menschenleben nicht gegeneinander abgewogen werden. Eine Passagiermaschine, die durch Terroristen über einer Stadt zum Absturz gebracht werden soll, darf nicht abgeschossen werden. 200 Menschen im Flugzeug dürfen nicht mit Zehntausenden aufgewogen werden.5 Deutschland ist z. B. der viertgrößte Produzent von Rüstungsgütern weltweit. Dadurch werden in Deutschland Arbeitsplätze gesichert; gleichzeitig ist bekannt, dass diese Waffen oft in Abnahmeländer gehen, die die Menschenrechte nicht einhalten und die diese Waffen in Kriegen gegen die Zivilbevölkerung einsetzen. So z. B. setzte Saudi-Arabien Tornados und Eurofighter im Jemen bei Bombardements ein, bei denen auch zivile Ziele bombardiert wurden.6 Zusätzlich landet – auch das ist im Vorfeld von manchen Waffengeschäften ersichtlich – ein Teil der Waffen in den Händen von Terrororganisationen. Menschenleben sind zudem anscheinend unterschiedlich wertvoll. So erhielten z. B. afghanische Bürger, deren Familien versehentlich bei einem Angriff durch westliche Streitkräfte getötet wurden und die wegen des Verlusts bei Gericht klagten, wenige hundert Euro pro Person. In Europa oder den USA werden allein schon bei Unfällen, die ein Fingerglied untauglich machen, mehrere Tausend Euro bezahlt. Die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den Ländern erklären diesen horrenden Unterschied nicht alleine; es ist auch schlicht der Wert, den wir dem Leben und der Gesundheit von Menschen in anderen Ländern beimessen, der den Unterschied ausmacht.

Von den selbstauferlegten Gerechtigkeitszielen in Sachen Ökologie sind wir weit entfernt

Zum Thema Gerechtigkeit gehört die Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen. Unabhängig davon wie man ökologische Nachhaltigkeit genau definiert – über CO2-Ausstoß, Energieverbrauch, Raubbau an Ressourcen etc. – unsere Gerechtigkeitsbilanz sieht hier negativ aus. In den westlichen Industrieländern verbrauchen wir weiterhin mehrere Erden und leben auf Kosten ärmerer Länder und nachfolgender Generationen. Unwissen über die reale Situation ist weit verbreitet und konsistente Konzepte und Handlungen sind nicht immer erkennbar. Wir als Privatpersonen vermelden es z. B. als Erfolg, wenn wir weniger Flugreisen machen, auf Papierservietten verzichten oder ein neues Auto kaufen, welches etwas weniger Benzin verbraucht oder mit elektrischem Antrieb fährt. Allein die Produktion eines neuen Autos verursacht schon mehrere Tonnen CO2. Insgesamt ist unsere CO2-Bilanz horrend schlecht. Etwa 10 Tonnen CO2-Äquivalente entfallen im Schnitt auf einen Bundesbürger pro Jahr; etwa ein Fünftel müsste es sein, damit von deutscher Seite die Klimaziele zur Reduktion der Erderwärmung zu erreichen wären. Manche Aspekte werden in der ökologischen Debatte ausgeblendet: Die weltweite – politisch durchaus sehr positiv betrachtete – Digitalisierung ist ein zentraler Treiber des CO2-Verbrauchs. Neben der CO2-Problematk gibt es noch ganz andere Themenfelder, die bei uns noch kaum im Fokus sind. Die Wassermengen, die zur Gewinnung von Lithiumbatterien notwendig sind und die Veränderungen von Landschaften und Grundwasserspiegeln hervorrufen, schaffen enorme Probleme.7

Wir haben überkommene, unklare und inkonsistente Gerechtigkeitsvorstellungen

Wenn wir selbst Gerechtigkeitsvorstellungen formulieren, dann sollten diese bestimmten Anforderungen genügen. Dogmatische Positionen sind in einer aufgeklärten Welt sicher fehl am Platz; sie finden sich aber zuhauf. Neben religiös motivierten Dogmen finden sich »genug« weitere ideologische bzw. dogmatische Gerechtigkeitspositionen, die vor logischen und/ oder wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht haltbar sind. Verschiedene Ausprägungen der Political Correctness kommen z. B. mit dogmatischen Standpunkten daher. Das Denken in Identitäten und die Einteilung dieser Identitäten in Täter- und Opfergruppen führt zwangsläufig zu Widersprüchen. So ist es dann z. B. nicht verwunderlich, dass bei einer von einer Professorin initiierten Konferenz, bei der prominente Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen über das Tragen von Kopftüchern einen öffentlichen Diskurs führen wollten, islamfreundliche Aktivisten Proteste erhoben.8

Zum Teil absurde Auseinandersetzungen finden sich ebenfalls in anderen Gerechtigkeitskontexten: Ein beliebtes Thema sind Managergehälter. Diese werden als viel zu hoch oder als »unmoralisch« tituliert. Eine Deckelung auf das 30-fache des Einkommens eines Facharbeiters wurde von Gewerkschaftsvertretern als gerecht erachtet. »Warum«, so entgegnete in einer Talkshow der Ökonom Hans-Werner Sinn »nicht das 40- oder 50-fache« – welcher Maßstab wird zugrunde gelegt? Angesprochen auf die ebenfalls hohen Gehälter von Bundesligaspielern vertrat ein Spitzenpolitiker die Meinung, dass dieser Sachverhalt nicht mit Managergehältern vergleichbar wäre; schließlich müssten Spitzensportler jeden Tag »sehr hart trainieren«. Generell scheint recht viel Unwissen über den Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und Gerechtigkeit zu bestehen. Marktwirtschaften entlohnen nach dem Prinzip der Knappheit – und nicht per se nach hehren Prinzipien wie Fleiß, Anstrengung und Leistung. Ein wenig fleißiger Mensch, der gefragte Ressourcen wie z. B. ein bestimmtes Talent, Grundstücke, Zugänge zu bestimmten Netzwerken etc. besitzt, kann viel reicher werden als jemand, der sein Leben lang viel leistet, aber in Bereichen tätig ist, die auf wenig kaufkräftige Nachfrage treffen. Ähnlich unreflektiert wie die Marktwirtschaft werden Meritokratien beurteilt. Meritokratien sind Herrschaftssysteme, bei denen Personen wegen ihrer Leistungen und Fähigkeiten in gesellschaftliche Verantwortung kommen (sollen). Ämter, Führungspositionen etc. sollen nicht vererbt und nicht wegen sozialer Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit u. a. verwehrt werden. Die Durchlässigkeit des Systems ist allerdings oft nicht gegeben und wir finden bisweilen eine »Abgehobenheit von Eliten«.9

Selbstverständlich lassen sich Fragen nach gerechten Chancenverteilungen, gerechtem Einkommen oder nach Generationengerechtigkeit zielführend diskutieren. Es gibt nicht zuletzt durch renommierte Wissenschaftler und Philosophen klare und gut zu verstehende Konzepte, was unter Gerechtigkeit verstanden werden kann. Alternative Konzepte liefern zweifellos unterschiedliche Gerechtigkeitsergebnisse. Allerdings gestatten solche Konzepte die jeweiligen Vorstellungen konkret darzulegen und konsistent das Für und Wider zu diskutieren sowie letztlich jeweilige Interessenslagen zu identifizieren! Idealerweise sollten Vorstellungen von Gerechtigkeit konkretisiert und transparent dargelegt werden. So bestünde die Möglichkeit, im Diskurs Positionen zu prüfen, gegeneinander abzuwägen etc. Manchmal haben verschiedene Akteure kein übergroßes Interesse, ihr Weltbild von Gerechtigkeit im Detail zu klären oder ganz konkret zu werden. Das beste Beispiel bieten Parteien beim Thema soziale Gerechtigkeit. Jede Partei trifft in ihrem Wahlprogramm Aussagen dazu. Diese bleiben oft unkonkret, bieten bestimmten Klientelgruppen Chancen auf eine nicht näher spezifizierte Besserstellung und zeigen nicht klar, wer durch die jeweilige Besserstellung wie stark belastet wird.

Dem Wollen folgt kein Handeln – »Virtue Signalling« statt effektives Engagement

Idealerweise sollten unseren Gerechtigkeitsurteilen auch entsprechende Handlungen folgen. Dem ist allerdings häufig nicht so. Oft bleibt es in der Politik oder bei Unternehmen bei reinen Verlautbarungen von gerechterem Handeln. Die Reduktion von Rüstungsexporten in Staaten, die Menschenrechte verletzen, wird angekündigt, aber nicht durchgeführt. Unternehmen propagieren einen besseren Umgang mit der Umwelt, aber es bleibt beim »Greenwashing«. Die Liste solcher Beispiele ließe sich beliebig fortführen. Auch bei uns Bürgern lassen sich deutliche Diskrepanzen zwischen dem »Propagierten« und dem eigenen Handeln erkennen. Hier ein einfaches Beispiel: Viele Menschen sind sehr für die Aufnahme von Migranten und die Integration der Kinder in Schulklassen. Nicht selten versuchen allerdings Befürworter der Aufnahmepolitik, ihre eigenen Kinder auf andere Schulen mit geringerem Migrationsanteil zu bringen.10

Auch mit unserer globalen Gerechtigkeit ist es nicht so weit her: Die meisten unserer Entscheide legen implizit oder explizit unsere ethischen Bewertungen und damit unsere realen Gerechtigkeitsvorstellungen offen – auch wenn uns dies meist nicht bewusst ist. So z. B. geben wir als deutsche Bürger im Durchschnitt allein für Schönheitskosmetik über 300 € pro Jahr aus. Unsere persönlichen Ausgaben pro Jahr in Form von Entwicklungshilfe (über unsere Steuerzahlungen) sowie in Form von direkten Spenden für die Menschen, die in bitterer Armut leben und vom Hungertod bedroht sind (rund 800 Millionen), betragen zusammen noch nicht einmal 100 €.

Unter Umständen wollen wir uns aktiv gegen Ungerechtigkeit engagieren. Eine Forderung, die hier ins Feld geführt werden kann – und auch von einigen Moralphilosophen ins Feld geführt wird – ist die Frage nach der Effektivität. Unser Engagement für mehr Gerechtigkeit ist häufig wenig effektiv und zum Teil eher eine »Alibiübung«.11 Reines Moralisieren, nur im Internet seinen Unmut zu äußern, über Mausklicks Virtue Signalling zu betreiben sowie auch der »Kampf« für neue Straßennamen bringen im Zweifel für die reale Beseitigung von lokalen und globalen Ungerechtigkeiten recht wenig.

1.2       Ziele des Buches und Überblick über den Inhalt

Ein Ziel des Buches ist es, die angedeuteten Widersprüche zwischen Ansprüchen und Wirklichkeit aufzuzeigen. Viele Beispiele dazu werden in Kapitel 2 vorgestellt. Manche dieser Widersprüche sind aufgrund eines unter Umständen verengten Blickwinkels oft nicht unmittelbar ersichtlich; es wird auch Widersprüchlichkeiten geben, die man nicht als solche »empfindet«.

Das Buch soll nicht beim Aufdecken von Widersprüchen stehen bleiben. In Kapitel 3 werden zentrale Gründe für die Widersprüche erläutert. Wenn Ursachen lokalisiert sind, können sinnvolle Ansatzpunkte gefunden werden, um zu besseren – sprich hier gerechteren – Entscheiden und Handlungen zu gelangen. Folgende Themenfelder, bei denen angesetzt werden kann, werden angesprochen:

Ein wichtiger Aspekt betrifft unsere Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen, die – wie z. B. Evolutionsbiologen oder Historiker dokumentieren – im Wesentlichen noch aus der Steinzeit stammen. Dies ist ein faktischer Ausgangspunkt, der klar darzulegen und nicht zu bestreiten ist: So z. B. werden viele Konsumenten den Standpunkt vertreten, dass die Art der Produktion der konsumierten Waren – die »irgendwo« in der globalen Lieferkette unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt werden – nicht in ihrem Verantwortungsbereich läge. Auch der Verkauf von Waffen an kriegerische Staaten oder die Finanzierung von Unternehmen, die an Ausbeutung oder Umweltschädigungen beteiligt sind, wird von vielen Menschen als nicht widersprüchlich zu den eigenen Werten betrachtet werden. Werte werden verbindlich für überschaubare Gemeinschaften wie Familie, Bekanntenkreis und maximal für ganze Nationen eingefordert. Wir sind noch weit davon entfernt, globale Verantwortung zu übernehmen! Wie der Historiker Harari erläutert, sind wir leider oft noch im Modus unserer »Steinzeitgerechtigkeit«.12 Allerdings gibt es Hoffnung. Zum einen lassen sich Mitgefühl und Unterstützungsverantwortung sinnvoll wecken und Evolutionspsychologen oder Wissenschaftler anderer Disziplinen sehen Chancen, dass wir über die Familie oder die Nation hinaus mehr Verantwortung übernehmen. Zum anderen bietet gerade unser evolutionsbiologisch begründetes Verhalten weitere Ansatzpunkte zur Veränderung. Über bestimmte Mechanismen (»Moral Nudges«) lässt sich unser Verhalten in Richtung sozialer und ökologischer Ziele lenken.

»Merkwürdige« Entscheide finden ihre Erklärung auch in unseren begrenzten Fähigkeiten Situationen und Zusammenhänge richtig einzuordnen und zu verstehen. Zum einen gibt es die bekannten »Verzerreffekte« (Cognitive Bias), die evolutionär betrachtet Sinn ergeben, aber in heutigen Entscheidungssituationen zum Teil hinderlich sind. Stereotype, falsche Attributionen von Ursache und Wirkung etc. erschweren uns das Leben, wenn wir vorurteilsfrei und ursachengerecht urteilen wollen. Bei komplexen Themen macht uns zudem mangelnde »klassische« Intelligenz einen Strich durch die Rechnung. Bestimmte Anforderungen an die Beurteilungen komplexer Situationen lassen sich mit reiner Intuition und/ oder dem oft zitierten »gesunden Menschenverstand« nicht unbedingt erfüllen.

Weitere Bausteine zur Verbesserung unserer Entscheidungsqualität liefern Bildung und Wissen – z. B. über globale Wertschöpfungsketten und globale Verflechtungen. Ohne Wissen über die Funktionsweise von Marktwirtschaften – ein System das sich ja weltweit, auch innerhalb eines kommunistischen Regimes wie in China – etabliert hat, dürfte eine Beurteilung politischer Eingriffe zur Schaffung von Gerechtigkeit schwierig sein. Eine Marktwirtschaft schafft ein insgesamt hohes Wohlstandsniveau, ist aber per se nicht gerecht, weil letztlich nach Knappheit Preise und Löhne gebildet werden und nicht rein nach Leistung. Auch Umweltprobleme – sogenannte externe Effekte – lösen Marktmechanismen nicht von allein. Insofern gibt es für mehr soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Umwelt Gesetze und Regeln, nationale und internationale. Um unserer globalen Verantwortung gerecht zu werden, sind durchaus bessere Regeln z. B. für Finanzmärkte oder den IWF notwendig. Auch der Abbau von Regeln kann in manchen Fällen ebenfalls sinnvoll sein. So z. B. erklärt sich ein Teil der Armut afrikanischer Länder durch Importbeschränkungen der EU. Zu einem besseren Wissen über die Welt werden zudem Medien benötigt, die diese Zusammenhänge thematisieren; die gleichen Medien stehen ebenso in der Pflicht, nicht einseitig zu informieren und Kausalzusammenhänge nicht unnötig verkürzt darzustellen. Auch hier besteht latent die Gefahr der Steinzeitgerechtigkeit: »Wir«, die EU, der »Westen« etc. sind manchmal bei der Berichterstattung (unreflektiert) von vornherein »die Guten«.

Ein ganz zentraler Punkt ist die Klärung der Frage, welche Gerechtigkeitskonzepte, die allerdings mit den Erkenntnissen der Aufklärung vereinbar sein sollten, existieren und wie konkret entsprechende Gerechtigkeitskriterien aussehen sollen. Kein solches Konzept ist per se dem anderen überlegen. Aber ohne die Kenntnis der Konzepte und deren Vor- und Nachteile lässt sich kaum klären, welcher Gerechtigkeitsmaßstab sinnvollerweise in welcher Situation angewandt werden soll. Debatten ohne genaue Klärung des Begriffs Gerechtigkeit bleiben tendenziell auf Stammtischniveau.

Die in Kapitel 3 genannten »Ursachenfelder« und mögliche Lösungsansätze werden in Teil 4 des Buches wieder aufgegriffen. Das Kapitel umfasst Empfehlungen, wie die Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit gerechten Entscheidens und Handelns geschlossen werden können. Eine zentrale Rolle dabei spielen unsere Gerechtigkeitsvorstellungen. Wie erwähnt sind diese zwangsläufig mit Werturteilen verknüpft. In einer Welt, in der globale Verantwortung immer wichtiger wird, müssen diese Vorstellungen jedoch bestimmten Anforderungen genügen. Anforderungen wie Konsistenz, Freiheit von Dogmen, eindeutige Berücksichtigung der Menschenrechte, Nachvollziehbarkeit bei politischen Diskursen etc. werden in Kapitel 4 ausführlich erläutert. Mit passenden Gerechtigkeitskonzeptionen ist es nicht getan; entsprechendes Handeln muss folgen, die Konzepte geben nur den Rahmen vor. Wie der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen pointiert feststellte, geht es zudem weniger darum, völlig »perfekte« Gerechtigkeitsmaßstäbe zu entwickeln; diese wird es ohnehin nicht geben. Es gilt vielmehr, effizient die größten Ungerechtigkeiten zu beseitigen.

Wenn wir uns nun explizit für mehr Gerechtigkeit engagieren, dann gilt es eine weitere Frage zu beantworten: Wir haben nur begrenzte Ressourcen. Wie ist also zu priorisieren? Welche Themen sollen aufgegriffen werden? Auch dazu werden Leitlinien in Kapitel 4 diskutiert.

Gerechtigkeit basiert auf moralischen Werten. Diese sind in ihren »Grundfesten« aus Sicht von Evolutionsbiologen und Hirnforschern in uns prinzipiell schon verankert. Diese moralische Grammatik kann aber durch moralische Bildung detaillierter geprägt werden.13 Auch dazu finden sich in Kapitel 4 einige Erläuterungen. Wegen unserer globalen Vernetzung geht es darum, mehr globale moralische Verantwortung zu übernehmen. Im Sinne des Sozialpsychologen Jonathan Haidt gilt es, immer an den evolutionären Gegebenheiten der Moral anzusetzen. Entsprechende emotionale Fundamente wie »Loyalität« oder »Autorität« sind im Menschen anzusprechen. Nur über die Ansprache des Verstandes wird es nicht gehen.14

Zu guter Letzt soll in Kapitel 4 auf einige Aspekte aufmerksam gemacht werden, die generell bei vernünftigen Entscheidungen und Handlungen herangezogen werden sollten: So wird erläutert, wie man kognitive Verzerrungen reduzieren kann. Sehr nützlich kann es sein – wie es umgangssprachlich genannt wird – »das Gehirn« einzuschalten. Gemäß dem Psychologen und Nobelpreisträgers Daniel Kahneman geht es hier darum, in manchen Situationen nicht nur seinen Intuitionen zu folgen, sondern im Zweifel das »System 2« – bewusste, verstandsmäßige Prozesse – zu aktivieren.15 Weitere Vorbedingungen für gute Entscheide sind Wissen und eine ausreichend breite Informationsbasis. Medienpluralität ist gefordert.

1.3       Einige zentrale Begriffe und Definitionen

Um was geht es substantiell bei Entscheidungen, Urteilen oder Handlungen, die das Thema Gerechtigkeit betreffen? Die Antwort ist vom Kern her recht einfach. Es geht um Fragen der Verteilung. In der öffentlichen Diskussion spielt z. B. das Thema soziale Gerechtigkeit eine große Rolle; hier ist die Frage angesprochen wie Einkommen oder Vermögen auf Personen oder Personengruppen einer Gesellschaft oder eben auch weltweit verteilt werden sollen. Wie sollen Leistungsträger im Gegensatz zu Menschen, die wenig Leistung erbringen oder erbringen können, entlohnt werden. Ist ein Grundeinkommen gerecht, in welcher Höhe sollte es sein? Solche und viele andere Themen sind hier zu diskutieren. Auch immaterielle Güter wie Rechte, Freiheiten, Begünstigungen, etc. werden zugeteilt. Hier stellen sich ebenfalls viele grundlegende Fragen. Wer soll konkret welche Rechte besitzen? In früheren Zeiten waren Adelige oder Großgrundbesitzer mit viel besseren Rechten als Bauern bzw. Geringverdiener ausgestattet; auch Rechtlose gab es. Vieles, das wir an der Verteilung von Grundrechten heute als selbstverständlich erachten, ist in manchen Teilen der Welt nicht existent. In allen Kulturen haben Kinder und Heranwachsende weniger Rechte als Erwachsene und meist weniger Pflichten. Ab wann sollen sie volle Verantwortung tragen? Ab wann soll z. B. das aktive oder passive Wahlrecht gelten? Chancen gilt es ebenfalls gerecht zu verteilen. Chancengleichheit bei der Bildung ist ein wesentlicher Aspekt in modernen Gesellschaften. Unter Umständen kann es Sinn machen, über sogenannte »positive Diskriminierung« gesellschaftlicher Gruppen, die aufgrund verschiedener Umstände bislang benachteiligt sind oder waren, zu bevorteilen. Quotenregelungen sind eine Möglichkeit dabei. Auch im Kontext der Rechtsprechung geht es um gerechte Verteilungen. Richter sollen Strafzumessungen, mildernde Umstände etc. gerecht auf Straftäter verteilen. Verschiedene Täter, die die gleiche Straftat begehen, sollten, wenn sonst Umstände, Motivationen etc. identisch sind, nicht unterschiedlich bestraft werden.

Um zu entscheiden, was gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch ist, werden Zielvorstellungen benötigt. Entscheidungen – und als Teil davon solche in Sachen Gerechtigkeit – sind ohne Ziele, Maßstäbe, Kriterien etc. nicht sinnvoll möglich. In unserem Kontext wollen wir untergliedern in grundsätzliche Zielvorstellungen und daraus abgeleitete Gerechtigkeitsprinzipien bzw. -kriterien etc. Entscheiden heißt dann schließlich gemäß der Zielsetzungen Alternativen zu beurteilen, die relevant für die Fragestellung sind. In der folgenden Abbildung (Abb. 1) sind die wesentlichen Elemente des Beurteilens und Entscheidens dargestellt. Neben einer Fragestellung werden also ein oder mehrere Entscheider, deren Zielvorstellungen, Kriterien etc. sowie eine mögliche Antwort oder Antwortalternativen benötigt, die zur Beantwortung der Fragestellung möglich sind. Jede Antwort bzw. Alternative kann im Hinblick auf die Ziele beurteilt werden. Die Alternative wäre – wenn sie realisierbar ist – zu wählen, die die Zielsetzung(en) am besten erfüllt. So kann man sich z. B. vorstellen, dass über die Ausgestaltung eines Steuersystems – eine Steuerreform – zu entscheiden ist. Ist die entsprechende Regierung sehr an sozialen Zielen und an Bedürfnisgerechtigkeit interessiert, dann wären wohl entsprechende Steuererhöhungen für Besserverdienende eine Option. Schon an diesem Beispiel ist zu erkennen, dass die Beurteilung einer Alternative im Hinblick auf die Zielsetzung unter Umständen nicht einfach ist; je nach Ausgestaltung der Reform gibt es bei Leistungsträgern eine Verringerung der Leistungsbereitschaft und/ oder Kapitalflucht – was den gewünschten Effekt konterkarieren kann.

Abb. 1: Zentrale Elemente des Beurteilens und Entscheidens

Bei einigen Fragen sind von vornherein viele Antwortalternativen zu vergleichen. Bisweilen wird »nur« gefragt, ob etwas gerecht oder moralisch gut oder richtig ist. Ist es richtig, bestimmte Produkte, die eventuell unter Ausbeutungsverhältnissen hergestellt wurden, zu kaufen? Soll man in den Urlaub fliegen? Sollen Nichtgeimpfte von bestimmten Veranstaltungen ausgeschlossen werden? Soll an Hochschulen für bestimmte Minderheiten positive Diskriminierung stattfinden? Sollen Panzer an ein bestimmtes Land, welches nicht die Menschenrechte einhält, geliefert werden? Jede Frage hat zumindest zwei Antwortalternativen. Sie kann mit ja oder nein beantwortet werden. Insofern passt unser Schema aus Abbildung 1 auch zu diesem Fragetypus. Wichtig ist: Jede vernünftige Antwort setzt voraus, dass eine Zielvorstellung existiert, anhand derer eine konsistente Beurteilung der Antworten stattfindet.

Zu fragen ist weiter: Welcher Personenkreis wird bei der jeweiligen Frage berücksichtigt? In etlichen Fällen ist die Antwort darauf klar und wirft keine weiteren Probleme auf. Wenn es z. B. darum geht, insgesamt einen vorhandenen Bonusbetrag auf die Mitarbeiter einer Abteilung zu verteilen, ist der Personenkreis ebenso klar wie bei der Frage, wie Lob, Tadel oder Zeit auf die eigenen Kinder zu verteilen sind. Auch bei Themen wie Steuerreformen, Veränderungen des Kindergeldes, Herabsenkung der Wahlaltersgrenze etc. ist prinzipiell der Personenkreis abgrenzbar. Es sind die Bürger eines Staates, die die Vor- oder Nachteile solcher Reformen spüren. Doch schon beim letzten Beispiel zeigt sich, dass die Frage des Personenkreises nicht trivial ist. Eine Gesetzgebung heute tangiert lebende Generationen und mehr oder weniger auch spätere Generationen. Gerade in Zeiten der Nachhaltigkeitsdebatte hat dieser Umstand zentrale Bedeutung. Versäumnisse in der Klimapolitik können sich für nachfolgende Generationen genauso verheerend auswirken wie Defizite in der Renten- oder Bildungspolitik. Die Forderung nach »Generationengerechtigkeit« bedeutet unter anderem, dass klargestellt wird, welche Generationen wie genau zu berücksichtigen sind.

In puncto Personenkreis sind noch weitergehende Überlegungen zu berücksichtigen. Wie wir später im Buch ausführlich erläutern werden, neigen wir doch sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen Zusammenhang dazu, ein begrenztes Umfeld zu betrachten. Im individuellen Bereich interessiert uns Familie, der Arbeitsbereich und der Bekannten- und Freundeskreis. Dort achten wir auf Gerechtigkeit und/ oder fordern sie ein. Im gesellschaftlichen Kontext verengt sich unser Betrachtungshorizont außerhalb der Staatsgrenzen merklich. Ungerechtigkeiten in fernen Ländern nehmen wir nur wahr, wenn darüber in den Medien berichtet wird. Dass irgendwo auf der Welt Menschen ungerecht behandelt werden, interessiert beispielsweise im Vergleich zu ungerecht empfundenen Erhöhungen der Kfz-Steuer oder des Eintrittspreises für eine Sportveranstaltung recht wenig. Über dieses letztlich schon in einer archaischen Welt geprägte enge Gerechtigkeitsempfinden wird in Kapitel 3 zu reden sein. Jedenfalls zeigen die Beispiele, dass neben der Frage, was gerecht verteilt werden soll, auch die Frage, welche Personen für die Verteilung in Betracht gezogen werden, von Bedeutung ist.

In der Abbildung 1 ist vereinfachend von »Entscheidern« die Rede. Dahinter können sich verschiedene Konstellationen verbergen. In vielfältiger Weise sind wir als Privatpersonen, im beruflichen Kontext oder bei öffentlichen Ämtern mit Fragen gerechter Entscheidungen und Handlungen konfrontiert. Viele Entscheidungen treffen wir nicht alleine. In vielen Entscheidungsprozessen gibt es Gruppen (Gremien, Teams, Familien etc.), die Alternativen beurteilen und entscheiden müssen. Solche Konstellationen beeinflussen auf verschiedene Arten die Qualität von Entscheidungen; darauf wird in dem Buch ebenfalls einzugehen sein.

2          Anspruch und Wirklichkeit

 

 

2.1       Wir messen mit mehrerlei Maß

Wenn wir über bürgerliche Ungleichheit klagen, so sind alsdann unsere Augen nach oben gerichtet, wir sehen nur diejenigen, die über uns stehen, und deren Vorrechte uns beleidigen; abwärts sehen wir nie bei solchen Klagen.1 (Heinrich Heine, Poet)

2.1.1     Überblick

Die meisten Menschen haben sicherlich den Anspruch unter sonst gleichen Umständen einen bestimmten Sachverhalt oder bestimmte Taten und Eigenschaften von Personen nicht unterschiedlich zu beurteilen. Was im privaten Bereich ein Anspruch ist, ist im beruflichen und vor allem im öffentlichen Bereich ein »Muss«. Mitarbeiter sollen für die gleiche Leistung von ihren Vorgesetzten, Angeklagte für identische Taten von Richtern und Schüler für gleiche Schulleistungen von Lehrern gleich beurteilt werden. Die Realität spricht allerdings eine andere Sprache.

Bekannt sollte sein, dass wir tendenziell eigene Fehler weniger gewichten als die, welche andere begangen haben. Wir monieren, wenn andere bei ähnlicher Leistung mehr als wir verdienen. Im gegenteiligen Fall versuchen wir eher Argumente für den »gerechten« Lohn- oder Gehaltsabstand zu finden. Im Sport war unsere Lieblingsmannschaft meist die bessere und/ oder hat unverdient verloren. Die meisten Menschen werden das Verhalten von Menschen, die Mitglied in einer kriminellen Vereinigung sind, sexistisch agieren und Drogen nehmen, ablehnen, eventuell anprangern und sicher nicht bewundern. Interessanterweise ist dies kaum der Fall bei von uns verehrten Künstlern oder anderen Prominenten, die unter Umständen besagte Taten begangen haben. Schon Frank Sinatra und Dean Martin lag das Publikum zu Füßen, obwohl ihre engen Kontakte zu organisierter Kriminalität bekannt waren. Sowohl bei ehemaligen Hip-Hop-Prominenten wie Tupac, Notorious BIG u. a. als auch bei jüngeren Hip-Hoppern und Rappern kam keiner ihrer Bewunderer auf die Idee, diese wegen krimineller Aktivitäten, Sexismus etc. zu verurteilen. Die meisten von uns würden es nicht gutheißen, wenn jemand ohne offizielle Anmeldung und Genehmigung mitten in einer Stadt hoch über einer zentralen Kreuzung zwischen zwei Hochhäusern ein Seil spannt und versucht, darüber hinweg zu balancieren. Der Aufschrei wäre groß und die Stadtverwaltung würde Anzeige erstatten. Dieser Effekt ist jedoch nicht zwangsläufig. Zwischen den beiden damals noch bestehenden Twin Towers in New York hat unerlaubterweise ein Artist eben ein solches Seil gespannt und die Strecke unbeschadet zurückgelegt. Er wurde angeklagt, aber freigesprochen und in aller Welt bewundert.2 Wäre etwas passiert (z. B. wenn sich das Seil aus der Verankerung gelöst hätte und er abgestürzt wäre) – so darf man mutmaßen – dann wäre kein Freispruch erfolgt und Bewunderung hätte sich nicht eingestellt.

Die bislang genannten Widersprüche dürften vielerorts als »harmlos« oder »allzu menschlich« und »ohne schlimme Konsequenzen für andere« eingestuft werden. Ohne in eine diesbezügliche Diskussion einzutreten wollen, wir im Folgenden lieber Beispiele aufzeigen, die ohne Zweifel erhebliche Auswirkungen haben können.

In Studien zeigt sich, dass besonders gepflegte und elegant gekleidete Menschen deutlich seltener vom Arzt unterbrochen wurden als andere. Bei weniger gepflegten Menschen oder auf andere Weise vernachlässigt wirkenden Patienten erfragten die Mediziner weniger Details und gaben seltener Gelegenheit, Fragen zu stellen. Ein Mediziner, der einen Patienten weniger sympathisch findet, tendiert dazu, diesen nicht ausreden zu lassen und sich schnell auf eine unter Umständen »bequeme« Diagnose einzulassen.3 Sympathie und Antipathie in der Arztpraxis haben Bedeutung für die Sorgfalt der Untersuchung, Diagnose und Therapie; sie haben im Zweifel Einfluss auf Krankheit oder Gesundheit, Leben oder Tod.

Das Phänomen, dass wir an und für sich gleiche Sachveralte, Situationen oder Verhaltensweisen mit mehrerlei Maßstäben beurteilen, finden wir in allen Lebensbereichen. In Abschnitt 2.1 werden wir eine breite »Palette« solcher Fälle aufzeigen. Viele davon sind uns vielleicht nicht bewusst. Wir greifen dazu verschiedene Themen aus der »kleinen und großen« Politik auf: Über die Umbenennung von Straßennamen, die Grenzlinien für Satire, den Umgang mit Menschenrechten usw. bis hin zu militärischen Interventionen in anderen Staaten wird dargestellt, wie wir mit mehrerlei Maß messen. Vom Ursprung her ist die Political Correctness-Bewegung ebenfalls ein Ansatz, um dem »Prinzip des mehrerlei Maßes« entgegenzuwirken. In nicht wenigen Fällen – insbesondere, wenn Personengruppen von vornherein zu Opfer- und Tätergruppen zusammengefasst werden – können neue Widersprüche geschaffen werden.

Wir wollen nicht diskriminieren. Antidiskriminierungsgesetze wurden entsprechend geschaffen. Wir diskriminieren aber viel mehr als wir denken. Die Rechtsprechung ist ebenfalls nicht frei von inkonsistenten Beurteilungen; auch diese Ungerechtigkeiten wollen wir beispielhaft belegen. Wir messen zudem menschlichem Leben unterschiedlichen Wert bei. Egal, ob es sich um persönliche Spenden, staatliche Entwicklungshilfe oder um militärische Hilfe geht – unsere Hilfeleistungen für bestimmte Länder, Volksgruppen oder einzelne Personen sind sehr unterschiedlich. Je nachdem wie Katastrophen auf der Welt medial zu uns gelangen und/ oder ob bestimmte machtpolitische Interessen dahinterstehen, wird Menschenleben verschiedene Bedeutung beigemessen. Wegen seiner Bedeutung wollen wir in Abschnitt 2.2 das Thema Wert des menschlichen Lebens nochmals gesondert aufgreifen.

Woher rühren die Widersprüche, die wir im Folgenden skizzieren? Unwissenheit, bewusste und unbewusste Sympathien oder mediale Beeinflussung gehören unter anderem zu den Faktoren. Evolutionäre Muster wie Stereotypen sind ebenfalls ursächlich. Eine Eigenschaft, die wir im folgenden Steinzeitgerechtigkeit nennen wollen – die eigene »Gruppe«, die eigene Gesellschaft sind uns näher und wichtiger als entfernte Menschen und Kulturen in verschiedenen Teilen der Welt – spielt eine Rolle. In Kapitel 3 werden wir alle Faktoren, die uns zum Messen mit mehrerlei Maß veranlassen, im Detail erläutern.

2.1.2     Straßennamen, Satire und Filme – Beispiele aus dem gesellschaftlichen Diskurs

In den letzten Jahren findet verstärkt eine Diskussion über Straßennamen, Inhalte von Büchern und Filmen sowie über Denkmäler statt. Im Lichte heutiger Auffassungen über Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Chauvinismus, Sexismus oder Kolonialismus werden diese einer kritischen Analyse unterzogen. Bei diesen Untersuchungen sind recht häufig Inkonsistenzen in der Beurteilung zu erkennen. Beispielsweise findet man beim Thema Vergabe von Straßennamen in Deutschland allein schon je nach Region und Stadt unterschiedliche Vorgehensweisen. In Gegenden, die früher zur DDR gehörten, findet man nach wie vor Ernst-Thälmann-Straßen, im ehemaligen Westen war und ist diese Straßenbezeichnung nicht denkbar. Manche Städte und Gemeinden haben schlichtweg keine Mittel, um teure Untersuchungen von Historikern durchführen zu lassen; die alten Schilder bleiben dann einfach. Hat man das Geld für solche Aktionen, kann folgendes passieren: Selbst in derselben Stadt werden unterschiedliche Personen, deren Namen auf den Schildern stehen, nicht konsistent nach den vorgeblichen Kriterien beurteilt. Das übliche Vorgehen bei der »Überarbeitung« der Straßennamen sieht grob eine Einteilung in folgende Kategorien vor.4 Es gibt Schilder, die ohne Kommentar bleiben können. Wenn eine Person ein Fehlverhalten im Sinne der definierten Kriterien vorgeworfen wird, dieses Fehlverhalten aber als weniger bedeutungsvoll eingestuft wird, dann soll ein Schild zum Straßenschild mit entsprechenden Hinweisen angebracht werden. Bei eklatantem Fehlverhalten in einer oder mehreren Kategorien soll ein Austausch der Namensgebung stattfinden. Offensichtich ist eine trennscharfe Einleitung in Kategorien sowie eine entsprechende »Einsortierung« keine leichte Aufgabe und es steht zu vermuten, dass man trefflich darüber Dispute führen kann – aber nicht nur das. In manchen Fällen wird schlicht mit mindestens zweierlei Maß gemessen. Prominente Beispiele, die durch die Medien verbreitet wurden, sind unter anderem Luther, Kant oder Marx. Diese sind allesamt als »Judenhasser« in verschiedenen Ausprägungen bekannt. Ganz eklatant findet sich diese Attitüde bei Martin Luther. In den wenigsten Fällen wurde in Städten ein Zusatzschild angebracht, geschweige denn der Name entfernt. Entsprechend findet dies bei Kant und Marx ebenfalls nicht statt, was bei der einen oder anderen weniger bekannten Person jedoch vollzogen wurde. Es könnten wohl noch andere Abwägungen, Zwänge, Ängste etc. – neben den definierten Kriterien – bei der Selektion vorhanden gewesen sein. Die Liste mit Beispielen, welche solche Inkonsistenzen aufzeigen, ließe sich beliebig fortsetzen.

Ähnliche Widersprüche findet man bei der Beurteilung von Filmen, Büchern oder Denkmälern. Zur Veranschaulichung einige Beispiele zum Thema Film. Es muss hier darauf hingewiesen werden, dass die Filme und ihre rassistischen, chauvinistischen oder sexistischen Inhalte selektiv herausgegriffen werden. Ein prominentes Beispiel ist der Film »Vom Winde verweht«. Der Streaming-Dienst »HBO Max« nahm ihn zeitweise aus dem Programm. Andere Sender reagierten ähnlich oder »prüften« den Inhalt. Vorwürfe, die man unbestreitbar nachvollziehen kann, waren, dass der Film Sklaverei beschönigend darstelle und rassistische Stereotype zeige. Inzwischen gibt es für den Film einen erklärenden Vorspann, der den Film in Kontexte einordnet und kritisch reflektiert. Das Vorgehen ähnelt dem, das bei den ergänzenden Hinweisschildern bei Straßennamen verwendet wird. Vom Prinzip her wird dieses Vorgehen aus Sicht der meisten Menschen wohl als sinnvoll und hilfreich erachtet. Das Problem ist, dass scheinbar recht erratisch Filme – aber auch Bücher oder Denkmäler – in den Fokus geraten und bestimmte Maßstäbe nur für das jeweils identifizierte Objekt angelegt werden. Neben dem Film »Vom Winde verweht« gibt es Unmengen an prominenten und zum Teil ebefalls oscarprämierten Filmen, die genauso rassistisches oder eben auch chauvinistisches etc. Gedankengut verbreiten. Amerikanische Filme früherer Zeiten, aber auch solche der Neuzeit stellen afrikanische Menschen oft in stereotypen Rollen dar. Ebenso sind in amerikanischen Filmen meist Asiaten einseitig typisiert – wie der Koch in »Bonanza« oder der indische Wissenschaftler in der Serie »Big Bang Theory«. Rassismus bezieht sich nicht nur auf Menschen afrikanischer oder asiatischer Abstammung. Man denke nur an alle Filme der westlichen Filmindustrie, die die Auseinandersetzung zwischen »dem Westen« und der Sowjetunion oder heute noch Russland zum Thema oder als Rahmenhandlung haben. Wie oft werden Russen als tumb, aggressiv, wenig sympathisch negativ stereotypisiert? Die »Bösen« in vielen Filmen sind oft Osteuropäer, Deutsche oder Asiaten. Beispielhaft sei auf die weltweit äußerst bekannte Filmreihe »James Bond« verwiesen, an der man trefflich Stereotype prüfen kann. Apropos James Bond: Der Serienheld verhält sich meist völlig chauvinistisch bzw. sexistisch. In den frühen Bond-Filmen ist es teilweise sogar so, dass Frauen gegen ihren Willen vom Protagonisten umarmt und geküsst werden. In den gleichen Filmen dienen Schwarze meist entweder als Gehilfen von Bond oder spielen Bösewichte. Keiner dieser Filme wurde von Streaming-Diensten jemals hinterfragt oder gar zurückgezogen.

Die Meinungsfreiheit ist in westlichen Ländern ein hohes Gut. Eine spezielle Form dieser Freiheit ist die Satire. Durch Überzeichnungen können Satire und auch entsprechende Karikaturen auf gesellschaftliche oder politische Missstände hinweisen. Satire findet dann ihre Grenzen, wenn einzelne oder Gruppen beleidigt werden. Insofern müssen im Zweifel Gerichtsurteile entscheiden. In der Vergangenheit gab es verschiedene solcher Streitfälle, die allerdings wohl nur einen kleinen Teil der Bevölkerung interessierten. Es gibt unzählige Karikaturen über kirchliche Würdenträger, Jesus und (den christlichen) Gott. (z. B. Jesus als Frosch, diverse Papst-Karikaturen etc.). Mediales Aufsehen erregten dann allerdings die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten im Jahr 2005 und – allerdings sehr seltene – Wiederabdrucke, z. B. in der »Welt« oder bei »Charlie Hebdo«. Nach verschiedenen Terroranschlägen (unter anderem in New York, Madrid, London), gab es eine sehr große Zurückhaltung bei der Veröffentlichung dieser Satire, obwohl die Karikaturen harmlos waren – im Vergleich zu den Karikaturen, die über den Papst, sonstige kirchliche Würdenträger, Jesus, (den christlichen) Gott und natürlich »normale« Prominente in den Medien zu finden sind.5 Um auch dies der Vollständigkeit halber zu sagen: Die Veröffentlichung in den genannten Zeitschriften ist (z. B. nach Gerichtsurteilen in Dänemark, Frankreich und Deutschland) völlig statthaft. Auf die wenigen Veröffentlichungen gab es in der islamischen Welt heftigste Reaktionen. Zeichner und Redakteure der dänischen Zeitung wurden und werden mit dem Tode bedroht. Etliche stehen heute noch für ihre vorgebrachte Kritik unter Polizeischutz – ähnlich wie Salman Rushdie und viele andere Personen. Menschen kamen bei den gewalttätigen Protesten ums Leben. Hinzuzufügen ist noch, dass wohl nur verschwindend wenige Menschen die Karikaturen jemals gesehen haben.

Warum wird augenscheinlich mit zweierlei Maß gemessen und entsprechend unterschiedlich gehandelt. Zum einen wird Angst bei Medien, der Politik und der Gesellschaft als Begründung für Nichtveröffentlichungen gemutmaßt. Öffentlich wird eher das Argument der »Rücksichtnahme« geäußert – Rücksichtnahme auf Religionsgemeinschaften, die nicht in der Tradition der Aufklärung stehen. Insofern könne man auch nicht von zweierlei Maß sprechen. Allerdings überzeugt diese Argumentation nicht: Es gibt in westlichen Zeitschriften auch Unmengen von Karikaturen über die Götterwelt und die Religion des Hinduismus, über Buddha und den Buddhismus, den Dalai-Lama usw.