Wie Menschen entscheiden - Rainer Völker - E-Book

Wie Menschen entscheiden E-Book

Rainer Völker

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Beschreibung

Wir Menschen müssen täglich eine Vielzahl von Entscheidungen treffen. Dabei wollen wir optimal, nicht widersprüchlich und möglichst ohne unerwünschte Beeinflussung von außen entscheiden. Manchmal sollen unsere Entscheidungen zusätzlich noch hehren gesellschaftlichen und/oder nachhaltigen Zielen genügen. Unsere Ansprüche und die Wirklichkeit klaffen jedoch oft weit auseinander. Das gilt dann noch verstärkt, wenn wir z. B. als Manager oder Politiker für andere Entscheidungen treffen sollen. Die wissenschaftlich belegten Hintergründe für unser Scheitern sind uns oft nicht bekannt und das Bewusstsein für die damit verbundenen Probleme ist wenig vorhanden. Das Buch erläutert eben jene Hintergründe und zeigt anhand anschaulicher, unterhaltsamer Praxisbeispiele die Bedeutung der Thematik. Darüber hinaus werden Leitlinien angeboten wie tendenziell "besser" entschieden werden kann.

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Rainer Völker

Wie Menschen entscheiden

Anspruch und Wirklichkeit

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031163-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-031164-0

epub:   ISBN 978-3-17-031165-7

mobi:   ISBN 978-3-17-031166-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Vorwort

 

 

In einer sehr langen Phase der Menschheitsgeschichte glaubte wohl der überwiegende Teil der Weltbevölkerung, dass Unwetter und Naturkatastrophen mit dem Unmut und Zorn der »Götter« zusammenhängen. Von einigen noch existierenden Naturvölkern abgesehen sollte sich diese Ansicht gewandelt haben. Rudimentäre Vorstellungen wie etwa, dass die Erde eine Scheibe oder der Mittelpunkt des Universums sei, wurden und werden sukzessive durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzt. Im Zeitalter der Aufklärung etablierte sich in Europa und Nordamerika gar eine Kultur des Hinterfragens und des »Verstehenwollens«: Religiöse und andere Dogmen wurden in Frage gestellt und nur das, was durch den menschlichen Verstand und durch die Wissenschaft erfasst und erklärt werden konnte, sollte die Grundlage von Handlungen und Entscheidungen im öffentlichen Raum bilden. Die Erkenntnisse, welche sich im Zeitalter der Aufklärung etablierten, bildeten u. a. die Fundamente für Säkularität, die Beseitigung absolutistischer Herrschaftsformen oder die Herausbildung von Menschenrechtskonventionen.

Als These lässt sich wohl festhalten, dass sich grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse im Zeitablauf verbreiten, im Bewusstsein der Menschen festsetzen und letztlich auch gesellschaftlichen Wandel einleiten bzw. forcieren. Allerdings finden wissenschaftliche Erkenntnisse manchmal nur langsam Einzug in das gesellschaftliche Bewusstsein und/oder erfahren erst eine späte Umsetzung. Es gibt verschiedene »Beharrungstendenzen«. Wie Nobelpreisträger Angus Deaton zeigt, brauchte es oft viele Jahre bis nach der Entdeckung von Krankheitsursachen tatsächlich Krankheiten eingedämmt werden konnten (vgl. Deaton 2017, S. 87 f.). Die Keimtheorie wurde von Wissenschaftlern wie Robert Koch schon früh gefunden. Viel Überzeugungsarbeit und sehr viele Finanzmittel waren nötig, um nach vielen Jahren die Infektionskrankheiten in den Griff zu bekommen. Auch durch die Interessenslagen der Vertreter dogmatischer Religionen und anderer etablierter Machtstrukturen existieren »natürliche« Widerstände bei der Verbreitung neuer Erkenntnisse. Es gibt weitere Faktoren, welche dem Stand der Erkenntnis entgegenwirken. Psychische »Konstellationen« und überkommene Einstellungen spielen eine Rolle, wie das Beispiel Homophobie zeigt. So ist schon lange bekannt, dass Homosexualität keine Krankheit oder ein Verbrechen darstellt. Dennoch wurden noch in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts im Nachkriegsdeutschland Tausende homosexueller Männer zu Strafen, auch zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen, verurteilt. In vielen muslimischen und afrikanischen Ländern droht ihnen heute noch die Todesstrafe.

Trotz aller Beharrungstendenzen lässt sich mutmaßen – oder zumindest hoffen –, dass wissenschaftliche Einsichten sich mehr oder weniger schnell ihren Weg in das gesellschaftliche Bewusstsein bahnen. So gibt es z. B. in vielen Teilen der »aufgeklärten Welt« entsprechende Bewusstseinprozesse und Gesetzgebungen zur Gleichstellung von Menschen unterschiedlicher Rasse, sexueller Orientierung etc. Auf der anderen Seite gibt es selbst in unserer aufgeklärten Welt immer noch bzw. immer wieder Themenfelder, bei denen länger andauernd wissenschaftliche Erkenntnisse noch keine weite Verbreitung finden. Dazu gehören auch Erkenntnisse zum menschlichen Entscheidungsverhalten: Sehr weit verbreitet ist immer noch die Vorstellung, wir würden überwiegend oder zumindest bei »wichtigen« Entscheidungen auf Basis unseres Verstandes »sachbezogen« entscheiden. Ebenso gehen wir von der Existenz eines freien Willens aus. Wir würden im Zweifel auch den Einfluss unserer genetischen Prägung für unser Entscheidungsverhalten eher gering erachten. Die Wissenschaft spricht – wie wir in dem Buch zeigen werden – eine andere Sprache. Jeder Entscheid ist letztlich durch unsere Emotionen, unser limbisches System, determiniert. Wir haben keinen freien Willen in der Form, dass wir in einer bestimmten Situation tatsächlich zwischen A und B wählen können (es gibt nur die Vorstellung, dass wir es können) und unsere Gene determinieren in hohem Maße unsere Intelligenz, unsere Charaktermerkmale und andere unserer Eigenschaften und somit fundamental unser Entscheidungsverhalten. Viele unserer Entscheidungen haben sogar noch einen archaischen Ursprung. Verhaltensweisen, die in der Steinzeit sinnvoll waren, erweisen sich in der heutigen Zeit jedoch oft als suboptimal.

Entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen bislang keinen Einzug ins Bewusstsein der breiten Masse der Bevölkerung gefunden zu haben. Man mag entgegenhalten, dass in einer komplexen Welt nicht alles verstanden und hinterfragt werden kann. Wir fahren ja auch Auto und bedienen Computer ohne Mechatroniker oder IT-Experten zu sein. Allerdings haben wir auch Ansprüche an unser Entscheidungsverhalten: Wir wollen »optimal« entscheiden. Wir möchten konsistente Entscheide treffen. Wir wollen uns nicht manipulieren lassen. Und vor einem ethischen Hintergrund haben wir oft die Zielsetzung sozial, gerecht oder nachhaltig zu entscheiden. Wie wir in diesem Buch anhand von vielen Beispielen zeigen wollen, klaffen solche Ansprüche und die Wirklichkeit unseres Entscheidungsverhaltens häufig weit auseinander. Ähnlich verhält es sich, wenn wir unsere Entscheidungen delegieren – z. B. an Mitarbeiter, als Eigentümer an Geschäftsführer oder an Politiker. Auch hier stellen wir fest, dass diejenigen, denen wir Verantwortung übergeben, nicht optimal, konsistent oder nicht in unserem Sinne entscheiden. Vor diesem Hintergrund kann es durchaus sinnvoll sein, sich etwas mehr mit den Einflussfaktoren des Entscheidungsverhaltens auseinanderzusetzen.

Ein »Mehr« an Wissen über die Eigentümlichkeiten unserer Entscheidungs- und Beurteilungsprozesse wäre hilfreich, um unsere diesbezüglichen Möglichkeiten und Grenzen besser einzuschätzen. So könnten gegebenenfalls unser Verhalten verbessert bzw. unsere Ansprüche revidiert werden. Insofern kann das vorliegende Buch als Beitrag gesehen werden, den genannten Beharrungstendenzen entgegenzuwirken und wissenschaftliche Erkenntnisse weiter zu etablieren. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Personen bedanken, die bei der Erstellung des Buches unterstützt haben; letztlich gilt der Dank somit auch Personen, die mir mit ihrem Entscheidungsverhalten zahlreiche Impulse und Fallbeispiele gegeben haben. Besonderen Dank schulde ich schließlich dem Kohlhammer Verlag, der das Vorhaben jederzeit unterstützt hat. Namentlich möchte ich Herrn Dr. Fliegauf erwähnen, der stets mit wertvollen Hinweisen zur Seite stand.

 

Mannheim, im Oktober 2017

Rainer Völker

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort

1 Unsere Entscheide – Selbstbild und Ansprüche

1.1 Selbstbild …

1.2 …und Ansprüche

1.3 Definition und Formen von Entscheidungen

1.4 Ziele des Buches und Überblick

2 Vorurteile versus Forschungsstand

2.1 Zentrale Fakten im Überblick

2.2 Wir denken nur, dass uns der Verstand leitet

2.3 Der freie Wille ist Illusion

2.4 Gene beeinflussen mehr als wir denken

2.5 Motivationen, Emotionen und Charaktermerkmale

2.6 Intelligenz, Einstellungen und mentale Abkürzungen, die oft in die Irre führen

2.7 Informationen, Wissen und Einflussnahme von außen

2.8 Wenn mehrere – Gruppen, Wähler und Märkte – entscheiden

3 Wann sind Entscheide richtig oder falsch?

3.1 Ohne klare Ziele keine klaren Entscheide

3.2 Ziele von Einzelnen

3.3 Ziele von Gruppen

3.4 Auch über Ziele wird entschieden

3.5 Wenn Entscheider im Auftrag anderer handeln

3.6 Ziele von Gesellschaften

3.7 Ziele von Unternehmen

4 Anspruch und Wirklichkeit

4.1 Wir entscheiden häufig nicht optimal

4.2 Wir messen mit mehrerlei Maß

4.3 Wie wir uns manipulieren lassen

4.4 Wir entscheiden viel egoistischer als wir vorgeben

4.5 Entscheidungen aufgrund überkommener, unklarer oder unlogischer Ziele

5 Wie besser entschieden werden kann

5.1 Leitlinien

5.2 Besseres Entscheidungsverhalten erlernen

5.3 Mehr an Wissen hilft meistens

5.4 Entscheidungshilfen

5.5 Wenn mehrere Entscheider agieren

5.6 Auf die Umsetzung kommt es an

5.7 Wenn Entscheidungen doch »falsch« waren…

Literaturverzeichnis

 

1          Unsere Entscheide – Selbstbild und Ansprüche

 

 

Das Leben besteht aus der Summe aller Entscheidungen.

Albert Camus

1.1       Selbstbild …

Wir treffen jeden Tag tausende von Entscheidungen. Gleich nach dem Wachwerden entscheiden wir, wann wir aufstehen, was wir frühstücken, was wir anziehen etc. Die meisten unserer Entscheide geschehen unbewusst. Viele Entscheidungen – wir greifen nach dem Handtuch, um uns abzutrocknen, wir halten bei einer roten Ampel, wir grüßen manchmal auch andere, ohne sie bewusst wahrzunehmen – werden routinemäßig getroffen, während sich parallel bewusste Denkprozesse vollziehen. Allen Entscheidungen gehen Einschätzungen von Situationen, Personen, Objekten voraus. Wir beurteilen in Millisekunden, ob fremde Menschen uns freundlich gesonnen sind, ob wir sie leiden können etc. oder ob eine Situation für uns gefährlich werden könnte. Auch wenn wir nicht unmittelbar sichtbar nach außen agieren, so fallen erste Entscheide für ein mögliches späteres Handeln: Wenn uns jemand sympathisch ist, so werden wir ihn vielleicht später ansprechen; erscheint uns eine Situation gefährlich, so bleiben wir in angespannter Haltung etc.

Einen kleinen Teil unserer Entscheide nehmen wir bewusst wahr. Vor allem bei »Nicht-Routinehandeln« kommt unser Bewusstsein »ins Spiel«. Immer wenn wir mit etwas Ungewohntem konfrontiert sind, bei dem es um die komplexere Bearbeitung von Zusammenhängen geht, wird Bewusstsein benötigt. Für detaillierte Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung sowie für die komplexe Problemlösung, Detailplanung und Kommunikation ebensolcher Sachverhalte brauchen wir Bewusstsein. Die meisten Menschen haben bestimmte Vorstellungen über ihr Entscheidungsverhalten und ihr Entscheidungsvermögen. Es gibt ein bestimmtes Selbstbild:

•  Wir gehen davon aus, dass wir unsere bewussten Entscheide, zumindest die, deren Konsequenz für uns und andere eine gewisse Tragweite besitzen, letztlich Kraft unseres Verstandes »rational« entscheiden: Vor- und Nachteile werden bewusst abgewogen und Verstand und Vernunft determinieren den Entscheid. Emotionen wird zwar Einfluss zugebilligt, aber in wichtigen Fragen – so unsere Vorstellung – obsiegt die »Ratio«.

•  Wir billigen uns einen freien Willen zu – in dem Sinne, dass wir – angekommen in einer bestimmten Situation und ausgestattet mit einer genetischen Prägung und einer spezifischen Sozialisation – zwischen Alternativen A, B etc. »frei« wählen können.

•  Die meisten von uns würden zustimmen, dass Körpergröße, Haarfarbe, Gesichtsform etc. genetisch bedingt sind. Unser Entscheidungsverhalten – z. B. bei Wahlen oder bei Entscheiden für Lebenspartner – wird weniger mit Vererbung in Zusammenhang gebracht.

Die Wissenschaft spricht bezüglich der genannten Aspekte eine andere Sprache. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass alle unsere Entscheide von unserem limbischen System, dem Sitz unserer Emotionen, determiniert werden. Entscheide und Bewertungen, die in unser Bewusstsein dringen, werden unbewusst in diesem Hirnareal gesteuert und dort entschieden. Auch einen freien Willen in der genannten Form gibt es nicht. Ebenso ist wissenschaftlich geklärt, dass unser Entscheidungsverhalten wesentlich schon durch unsere genetische Disposition geprägt ist.

Eine Gemengelage verschiedener Faktoren definiert aus psychologischer Sicht unser Entscheidungsverhalten. Dazu gehören z. B. Charaktermerkmale, Einstellungen, Emotionen, unterschiedlichste – zum Teil auch »sehr niedrige« – Motive oder auch vorhandenes Wissen und Informationen. Auch unsere kognitiven Fähigkeiten – unser IQ, unsere emotionale Intelligenz – beeinflussen unsere Bewertungen und Entscheidungen maßgeblich. Nicht zuletzt bestimmen »Relikte aus der Steinzeit« die Qualität unserer Entscheide: Wir benutzen Heuristiken, die die Evolution herausgebildet hat. Sie sagen uns in Anbetracht des Gesichtsausdrucks, der Körperhaltung etc. von anderen was unsere beste Reaktion ist. Unsere Vorurteile basieren auf diesen »mentalen Abkürzungen« unseres Gehirns, die früher immer nützlich für schnelle Entscheide waren und in der heutigen Zeit teilweise höchst kontraproduktiv sind.

Alle genannten Einflussfaktoren spielen eine Rolle und sind offensichtlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass bei zwei gleichaltrigen Menschen mit gleichem Geschlecht, gleichen kognitiven Fähigkeiten, gleichen Informations- und Wissensständen, aber verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen (z. B. Risikoeinstellungen) eine Alternative völlig unterschiedlich entschieden wird. Oder: Dass zwei Menschen, die sich nur durch etwas andere Einstellungen unterscheiden, verschiedene Parteien wählen etc. Oder: Weil sie jeweils in einer Stadt bzw. mit einem bestimmten Verein aufgewachsen sind, beurteilen zwei Fans das Spiel der eigenen jeweils Mannschaft besser – und ihr Gehirn findet Begründungen, die das Bessersein »objektiv« darlegbar macht.

1.2       …und Ansprüche

Nun kann man sich auf folgenden Standpunkt stellen: Um ein Auto zu benutzen, einen Computer oder ein Medikament zu verwenden, muss man nicht Ingenieurwissenschaft, Informatik oder Medizin studiert haben. Also ließe sich folgern, dass man zum Entscheiden auch nicht psychologische, neurobiologische u. a. Erkenntnisse über Entscheidungsprozesse parat haben muss. Das Argument erscheint nachvollziehbar, ist aber nur bedingt zutreffend. Denn wir haben Ansprüche an unser Entscheidungsverhalten und vor allem an die Entscheidungsqualität. Wir möchten z. B. im Sinne unserer Ziele »richtig« oder »optimal« entscheiden. Viele haben den Anspruch, bei gleichen Entscheidungssituationen widerspruchsfrei zu agieren – also nicht in einzelnen Fällen für etwas Bestimmtes zu sein und im analogen Fall Gegenteiliges zu behaupten. Fünf Ansprüche kann man darlegen:

•  Wir möchten jene Alternativen wählen, die im Hinblick auf unsere Ziele »gut«, »richtig« oder »optimal« sind. Ziele für Entscheide können – so werden wir noch ausführlich erläutern – von uns selbst oder von außen – durch die Gesellschaft, z. B. in Form von Gesetzen, durch Unternehmen oder andere Organisationen, gesetzt werden. Auch dort sollten wir, wenn wir als Angestellte oder Dienstleister agieren – den Anspruch haben, gemessen an Zielen richtig zu entscheiden.

Trivialerweise besteht bei geringen Informationen oder wenig Wissen immer die Gefahr des Fehlentscheids. Diese Problematik steht hier weniger zur Debatte. Wir verfehlen unseren Anspruch des optimalen Entscheidens auch, weil unsere kognitiven Fähigkeiten nicht ausreichen oder unsere »mentalen Abkürzungen« uns in die Irre führen: Schemata und Heuristiken, die in grauer Vorzeit sinnvoll waren, sind es heute nicht mehr unbedingt. Wenn es früher noch sinnvoll war, der »Herde« zu folgen, kann das uns heute zum beträchtlichen Nachteil gereichen. Über 100 sogenannte Verzerreffekte, die sich negativ auswirken können, wie Haloeffekt, Framing, Recency-Effekt etc. sind bekannt und erforscht. Beim Ankereffekt, den wir noch ausführlich vorstellen werden, lässt sich sogar zeigen, dass er relativ unabhängig von der Intelligenz der Entscheider wirkt. Aber auch andere Aspekte wie emotionale Befindlichkeiten – Wut, Ärger etc. – oder überkommende Einstellungen und Werte hindern uns, eigene bzw. im Sinne unserer Auftraggeber adäquate Entscheide zu treffen.

Fehlentscheide sind auch in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Raum an der Tagesordnung und nehmen unter Umständen kaum vorstellbare Größenordnungen an. In der Wirtschaft stellen wir riesige Verluste und Wertvernichtung bei Unternehmen fest. Analog sind in öffentlichen Bereichen Ressourcenverschwendungen und Fehlplanungen in der Diskussion. Sicherlich spielen viele der oben genannten Faktoren wie Intelligenz, Wissen etc. dabei ebenfalls eine Rolle. Oft liegt allerdings bei Unternehmen oder im öffentlichen Bereich eine weitere zentrale Problematik zugrunde: Auftraggeber und die von ihnen eingesetzten oder gewählten Entscheider haben meist nicht die gleichen Interessen wie die Auftraggeber. Zudem haben die Entscheider oft Wissens- und Informationsvorsprünge. Das beschert uns den sogenannten Principal-Agent-Konflikt. Der zweite Anspruch lässt sich wie folgt charakterisieren:

•  Wir haben den Anspruch, Objekte oder Situationen konsistent zu beurteilen. Bei identischen Sachverhalten und Ausgangsbedingungen sollte eine Entscheidung gleich ausfallen.

Auch hier spricht die Realität eine deutlich andere Sprache. Wir legen z. B. Wert auf Political Correctness und achten peinlichst darauf, diskriminierende Begriffe nicht zu verwenden, gleichzeitig leben wir auf Kosten von Kinderarbeit und Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt. Wir lehnen Drogenkonsum, sexistisches Verhalten, Aggressionen ab, finden aber bestimmte Musiker, Schauspieler etc. gut, die diese Verhaltensweisen leben. Wir bevorzugen tendenziell attraktive Menschen bei Dienstleistungen, bei der Karriere u. a. Entsprechend benachteiligen wir hässliche oder solche Menschen, die weniger »adrett« auftreten. Wir würden ebenso eine faire Gleichbehandlung anderer für uns in Anspruch nehmen. So auch die Ärzte, bei denen Intensität und Zeit bei der Behandlung von Patienten im Rahmen einer Studie untersucht wurde. Weniger attraktive Menschen wurden weniger intensiv untersucht – unter Umständen mit entsprechender Folge für deren Gesundheit. Der nächste Anspruch betrifft unsere (Un-)Beeinflussbarkeit bei Entscheiden:

•  Wir sehen uns auch als Entscheider, die sich im Zweifel und zumindest bei wichtigen Entscheiden, nicht durch andere manipulieren lassen.

Unser Selbstbild hinsichtlich unserer Unabhängigkeit ist bei weitem nicht zutreffend. Die Arten der Einflussnahme sind vielfältig. Werbung hat einen immensen Einfluss auf unsere Kaufentscheide – wenn man sich nur überlegt, dass durch die Etablierung eines Markennamens Produkte zu einem viel höheren Preis gekauft werden wie nachweislich von den Inhaltstoffen her identische Produkte. Medien, gerade wenn kein breites Spektrum an Medienmeinung in einem Staat erkennbar oder zugelassen ist, haben ebenfalls einen erheblichen Einfluss. Je nachdem, ob man z. B. in Deutschland, Russland oder der Schweiz lebt und die lokalen Medien nutzt, hat man recht unterschiedliche Informationen zu Themen wie Ukraine oder Syrien. Unter Umständen – wenn ein Land oder eine Krisenregion nicht im Fokus der Medien ist – hat man vielleicht gar keine explizite Meinung: Die Agenda der Medien bestimmt nämlich, worüber wir überhaupt diskutieren. Einflussnahme geschieht im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld oft über Korruption und Lobbyismus. In unzähligen Fällen lässt sich nachweisen, wie Manager und öffentliche Entscheidungsträger in ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung beeinflusst wurden. Die Einflussnahme hängt von der Macht der Beeinflusser ab. Eine Lobbyorganisation ist nur so stark wie die dahinterstehende wirtschaftliche Macht. Überhaupt scheint Macht ein zentraler Faktor für das Zustandekommen vieler Entscheide zu sein: Wenn Entscheide in einer Gruppe oder zwischen Konfliktparteien getroffen werden müssen, kommt Macht eine überragende Bedeutung zu. Ein weiterer Anspruch betrifft die Frage, ob und wie wir andere Menschen und die Ökologie bei unseren Entscheiden berücksichtigen:

•  Die meisten Menschen würden den Anspruch erheben, nicht rein »egoistisch« zu entscheiden. Die Bedeutung von Ökologie und sozialen Belangen wird betont. Was im privaten Bereich gilt, ist für öffentliche Entscheide ein Muss. »Nachhaltigkeit«, »Gerechtigkeit« oder die Wahrung von Menschenrechten werden als zentrale Entscheidungsgrundlagen manifestiert.

Hier klaffen ebenfalls Anspruch und Wirklichkeit teilweise eklatant auseinander. Unsere Entscheide im privaten Bereich, z. B. bei unserem Konsumverhalten, offenbaren, welche Bedeutung wir tatsächlich der Umwelt und anderen Menschen beimessen. Wir leben weit über unsere Verhältnisse: In den Industrieländern verbrauchen wir ein Vielfaches der Ressourcen, die die Natur wieder regenerieren kann. Viele Entscheide in Sachen Nachhaltigkeit bei Unternehmen zeigen sich als reines »Greenwashing«. In puncto Menschenrechte werden durch Politiker gebetsmühlenartig Forderungen an diktatorische Staaten herangetragen. Dennoch werden an eben jene Staaten Waffen verkauft und andere Geschäfte mit der Elite des Landes ausgehandelt. Es gibt noch einen weiteren Anspruch – zumindest in einer Welt, die sich auf die »Aufklärung« und wissenschaftliche Erkenntnisse beruft:

•  Die Leitlinien und die Ziele, welche den Rahmen für unsere Entscheide bilden, sollten auf eben jenen wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren oder zumindest ihnen nicht grundlegend widersprechen. Ebenso wäre davon auszugehen, dass die Methoden und die Daten, welche zur Lösung von Fragestellungen herangezogen werden, auf dem Stand des Wissens fußen.

Bei diesem Anspruch geht es wohlgemerkt weniger um rein persönliche Ziele und Herangehensweisen. So macht es wenig Sinn, z. B. bei Entscheidungen über Kleidungsstücke oder das Eingehen einer Freundschaft mit Wissenschaftlichkeit zu operieren. Allerdings kann man im Berufsleben erwarten, dass sich die Berufstätigen auf aktuelle Wissensstände ihres Berufsstandes abstützen. Ähnlich sollten Politiker sowohl bei den von ihnen verwendeten Lösungsansätzen als auch bei den von ihnen vorgetragenen Zielen aktuelles Wissen nutzen. Insbesondere ist wohl zu erwarten, dass solche Entscheider nicht grundlegende Erkenntnisse, die seit der Aufklärung gewonnen wurden, konterkarieren. Diese eher selbstverständlichen Ansprüche scheinen des Öfteren nicht realisiert. Wir beziehen uns dabei nicht auf Staaten, die von vornherein Wissenschaft der Religion unterordnen, dort sind solche Ansprüche erst gar nicht zu erwarten. Man denke aber in unserer aufgeklärten Welt z. B. an den »Kreationismus«: Der ehemalige Präsident George W. Bush sprach sich für diese Lehre im Fach Biologie aus und jeder achte US-Biologielehrer lehrte 2008 Kreationismus (vgl. Welt24 2008). Aber dieses Phänomen findet sich nicht nur in den USA, auch in Europa scheint sie sich zu verbreiten (vgl. Blancke/Kjærgaard 2016). Zur Aufklärung gehört die Trennung von Kirche und Staat. Wie der Islamwissenschaftler Bassam Tibi (vgl. Tibi 2015) feststellen, findet in manchen Ländern in Folge des zunehmenden Anteils der muslimischen Bevölkerung eine Entsäkularisierung statt. Der Islam und viele seiner Vertreter setzen eine Agenda, die von Politikern und anderen Personen des öffentlichen Raums aufgegriffen wird: Anpassungen an religiöse Verbote, die im Kontext von öffentlichen Schulen vollzogen werden, Gerichtsurteile, welche geplante »Ehrenmorde« als Totschlag einstufen, Gewalt gegen Ehefrauen, die durch den »kulturellen Hintergrund zu relativieren« seien oder die Nichtveröffentlichung von Satire, die den Islam betrifft, zeigen wie sich Entscheidungskriterien und Entscheide entsprechend geändert haben.

1.3       Definition und Formen von Entscheidungen

Bislang haben wir von »Entscheid« gesprochen ohne den Begriff näher zu definieren. Jeder Entscheid besteht aus einem Prozess. Selbst bei den Fällen, in denen wir unbewusst bemerken, dass wir frieren und dann unser Körper entsprechend Bewegungen vornimmt, um nicht zu frieren, liegt ein Prozess vor, auch wenn der Vorgang nur Millisekunden dauert. Im Falle bewusster Entscheidungen steht am Anfang immer die bewusste Wahrnehmung einer »Fragestellung«: Welches Auto sollen wir kaufen, sollen wir einem Mitarbeiter eine Gehaltserhöhung geben, welche Partei sollen wir wählen. Neben der gängigen Unterscheidung bewusst und unbewusst sind fünf Entscheidungstypen zu unterscheiden. Diese Unterscheidungen treffen Hirnforscher; wir werden in Kapitel 2 genauer darauf eingehen. Die Typisierung ist auch eine wichtige Grundlage für Schlussfolgerungen, die man hinsichtlich eines »besseren« Entscheidens ziehen kann. Die fünf Typen lassen sich wie folgt beschreiben (vgl. Roth 2014):

•  Zunächst kann man automatisierte Routineentscheidungen nennen. Die meisten Entscheidungen unseres täglichen Lebens gehören dazu. Wir stehen auf, ziehen uns an, gehen zur Arbeit etc. Die meisten Entscheidungen, die wir hier treffen, fallen unbewusst oder nur mit begleitendem Bewusstsein – z. B. wenn wir beim Autofahren Gas geben, den Wasserhahn zum Waschen aufdrehen etc.

•  Dann gibt es Entscheidungen, die man affektiv nennen kann. Sie kommen emotional »aus dem Bauch heraus« zustande, aber sie müssen unter Zeitdruck getroffen werden. Man erkennt z. B. eine Situation, auf die man unmittelbar reagieren muss. Jemand fährt mit einem Fahrzeug auf einen zu und man muss entscheiden, ob man nach links oder rechts ausweicht. Auch wenn man unmittelbar bedroht wird (das kann durch physische Gewalt sein, aber auch durch verbale Anfeindungen) reagieren wir spontan »mit dem Bauch«. (Seit der Steinzeit tief verwurzelte Mechanismen wie Flucht oder Verteidigung, Unterwerfung oder die Ausübung von Dominanz kommen bei unseren Verhaltensmustern dann zum Vorschein. Ob wir aggressiv hupen oder schimpfen, wenn ein anderer nicht so fährt, wie er dies aus unserer Sicht sollte, oder ob wir diesen Verkehrsteilnehmer einfach gewähren lassen, hängt mehr mit unseren persönlichen »Steinzeitmustern« zusammen als mit »vernünftigen Erwägungen«).

•  Es gibt auch emotionale Entscheidungen ohne Zeitdruck. Bewusst (»wir lassen uns von unseren Gefühlen leiten«) oder unbewusst (in Phasen der Verliebtheit oder anderer starker emotionaler Bindungen) entscheiden wir hauptsächlich auf Basis unserer Gefühle.

•  Weiter gibt es sogenannte rationale Entscheide. Zum Bewerten von Vor- und Nachteilen von Alternativen werden bestimmte Teile der Großhirnrinde aktiviert. Rationale Entscheide »entstehen«. Es ist an dieser Stelle gleich anzumerken, dass es rein rationale Entscheide nicht gibt. Es ist immer unser limbisches System und damit unser Wollen und unsere Emotionen letztlich maßgebend. Wir werden dies im 2. Kapitel erläutern.

•  Schließlich gibt es noch sogenannte intuitiv aufgeschobene Entscheide. Dabei geht es um Entscheidungen, bei denen wir eine Fragestellung erst einmal verstehen, die Vor- und Nachteile von Alternativen bewusst ausloten und dann aber den Entscheid nicht unmittelbar treffen, sondern das Problem erst ein paar Stunden, Tage oder mehr ruhen lassen – »über etwas schlafen«. Der zentrale Aspekt dabei ist, dass Erfahrungen aus dem »Vorbewusstsein« (wir werden dies ebenfalls in Kapitel 2 erläutern) dann in unser Bewusstsein dringen können. In Kombination mit den »Fakten«, die unser Verstand erarbeitet hat, entsteht dann eine neue Entscheidungsbasis. Dieses Vorgehen – so zeigen wir ebenfalls später – liefert für viele Entscheidungssituationen Vorteile.

In diesem Buch wollen wir uns also auf Entscheide konzentrieren, die nicht automatisiert und nicht im Affekt zustande kommen. Jede Alternative, die wir betrachten können, beurteilen wir. Wenn wir uns für eine Alternative entscheiden, liegt ein Entscheid vor. Für die Zwecke dieses Buches genügt es, wenn wir Entscheide im Sinne dieser einfachen Darstellung definieren. Abbildung 1 skizziert diese Sichtweise. Wichtig ist, dass einem Entscheid zwischen A, B etc. immer eine Bewertung der Alternativen voraus geht.

Bei Bewertungen hat man manchmal kardinale Skalen (Geld oder ein Punktesystem) im Sinn, der Begriff Beurteilungen wird eher genereller gebraucht. Wir werden im Folgenden von Beurteilungen und Bewertungen meist synonym sprechen. Wichtig sind zwei weitere Aspekte: Wir beurteilen ständig Situationen, Begriffe und Personen. Wir taxieren z. B. in einer für uns neuen Situation (ein geschäftliches Treffen, ein Besuch in einem Restaurant o. Ä.) die anwesenden Personen, beurteilen meist unbewusst, wer uns sympathisch ist, wer uns gefährlich werden könnte u. a. Ein Entscheid, der mit für andere sichtbarem Handeln verbunden ist, ist damit zwangsläufig nicht verbunden, allerdings sind für uns durchaus bestimmte Entscheide – z. B. mit einer Person zu sprechen oder Kontakt zu vermeiden – schon gefallen.

Beurteilen bzw. bewerten bedeutet schließlich, dass zumindest in unserem Kopf ein Bezugssystem besteht. Dieses System ermöglicht uns erst eine Meinung darüber zu haben, ob Projekte, Vorgänge, das Verhalten von anderen etc. »gut« oder »schlecht«, »richtig« oder »falsch« sind. Ob ein Entscheid richtig, konsistent, optimal oder etwas Anderes ist, setzt immer einen solches Bezugs- oder Zielsystem voraus. Wir werden in Kapitel 3 auf diese Thematik im Detail eingehen.

Viele Entscheide und Bewertungen kommen erst im »Zusammenspiel« von mehreren Akteuren zustande. Jede Art der Einflussnahme durch Werbung, Lobbyismus, selektive Informationen durch Medien etc. gehört streng genommen zur Interaktion. Diese ist jedoch meist einseitig. Wir möchten hingegen auf Wechselwirkungen zwischen Entscheidern und deren Entscheidungsverhalten hinweisen. Das Spektrum solcher Beispiele ist breit: Entscheide von Paaren über die gemeinsame Urlaubsreise, von Arbeitsteams über Projektpläne, von Gemeinderäten über die Ansiedlung von Industrieunternehmen oder von EU-Staaten über eine gemeinsame Außenpolitik gehören allesamt dazu. Aber nicht nur direkte Interaktionen innerhalb einer Gruppe bringen Bewertungen und Entscheide hervor. Auch marktliche Interaktionen führen zu Bewertungen und zu Entscheiden. Über die individuellen Bewertungen von Nachfragern bezüglich Produkten und entsprechende Kalkulationen von Anbietern dieser Produkte stellen sich Preise und damit wieder Kauf- bzw. Verkaufsentscheide ein. Die Bewertung eines Autos, eines T-Shirts oder eines Sportlers beruht häufig auf dem Zusammenspiel von meist

Abb. 1: Kernfragen des Entscheidens

anonymen Akteuren. Auch bei einer demokratischen Wahl gibt es – ähnlich wie bei einem Markt einen »Mechanismus«, der die individuellen Entscheide aufnimmt und daraus einen definitiven Entscheid – über die Zusammensetzung der Regierung, die Wahl des Bürgermeisters etc. – der Akteure generiert. In der Frage, welche letztlichen Entscheide bei Interaktionen zustande kommen, spielen die Machtverhältnisse eine große Rolle. So z. B. stellen sich auf Märkten, auf denen Anbieter wenig Marktmacht besitzen, relative niedrige Preise ein. Für die gleichen Leistungen wird bei Kartellen oder Marktmacht ein weitaus höherer Preis für die gleiche Leistung zu zahlen sein, wie z. B. auf Strommärkten festzustellen ist.

Abbildung 2 skizziert eine typische Situation eines Entscheids, der durch Interaktion zustande kommt. Neben den »Gruppenentscheiden« und den Entscheiden über Mechanismen wie Märkte oder Wahlen gehört auch der Fall dazu, bei dem Personen Entscheide an andere delegieren. Bei den Ökonomen würde man dies auch als Principal-Agent-Konstellation bezeichnen. Eigentümer eines Unternehmens delegieren an Manager, Manager an Mitarbeiter; auch die Delegation von Entscheidungen durch das Volk an Politiker oder von Politikern an die ausführenden Bürokratien kann so gesehen werden. In der Realität sind die Interaktionen noch um etliches komplexer. Eine Gruppe von EU-Politikern verschiedener Staaten soll z. B. über EU-Hilfen für andere Länder entscheiden (Gruppenentscheid); jeder Politiker ist wiederum als »Agent« Teil einer »Principal-Agent-Beziehung« seines Landes und/oder über seine Partei.

In der Abbildung resultiert beispielhaft der Entscheid B. Ein bestimmter Politiker ist gewählt, ein bestimmter Preis stellt sich am Markt ein etc., ein bestimmter Urlaub wird von einer Familie gewählt. Die einzelnen Entscheide der Gruppenmitglieder werden oft unterschiedlich sein. Es muss auch nicht so sein, dass die Mehrheit entscheidet. Wie erwähnt ist Macht für die definitive Entscheidung wichtig. Ein oder mehrere mächtige Mitglieder der Gruppe können den Entscheid determinieren. Die Abbildung skizziert über die gestrichelten Linien eine mögliche direkte Interaktion (z. B. durch Informationsaustausch, Absprachen) der Personen. Das muss nicht so sein. Bei Massenmärkten

Abb. 2: Entscheide im Zusammenspiel

(man denke an eBay) findet zwischen den Nachfragern keine direkte Interaktion statt. Über den Mechanismus einer Auktion wird der Preis determiniert. Wie erwähnt ist Macht, speziell finanzielle Macht, auf Märkten ein zentraler Faktor: Auf Märkten, die z. B. durch Marktschranken von neuen Wettbewerbern geschützt sind, werden sich relativ hohe Preise einstellen. Oder es werden bestimmte Waren gar nicht bzw. zu gering produziert, wenn Nachfrager nicht über genügend eigene Finanzmittel oder politische Macht verfügen. Man denke nur an fehlende Impfstoffe für Malaria oder andere Krankheiten in Afrika. Es gibt eine zu geringe kaufkräftige Nachfrage, die Kalküle der Anbieter liefern das Entscheidungsergebnis: Die Entwicklung von Medikamenten ist nicht lohnend.

1.4       Ziele des Buches und Überblick

Zwischen unseren Ansprüchen an unsere Entscheide und der Realität – so unsere Ausgangshypothese – liegen mitunter Welten. Diese Widersprüche stärker ins Bewusstsein zu rücken, ist eines der Ziele dieses Buches. Um die Gründe für die Widersprüche zu verstehen, ist die Kenntnis der Bestimmungsgründe unseres Entscheidungsverhaltens hilfreich. In Kapitel 2 wird somit im Überblick erläutert, welche Erkenntnisse die Forschung zu unserem Entscheidungsverhalten hervorgebracht hat. Wichtige Ergebnisse aus der Hirnforschung, der Evolutionsbiologie und -psychologie, der Psychologie und der Ökonomie werden dargestellt. Unser Bild des rationalen, bewussten und freien Entscheiders wird mit dem Stand der Forschung konfrontiert. Die Bedeutung unseres Säugetier- bzw. Reptilienhirns, die Macht des Unbewussten und unser »unfreier Wille« werden erläutert. Es wird auch dargestellt, dass unsere Entscheide zu einem erheblichen Teil genetisch determiniert sind. Die Einflussfaktoren unseres Entscheidungsverhaltens – z. B. Motivationen, Emotionen, Intelligenz, Charaktermerkmale, Wissen – werden im Detail erläutert.

Ob ein Entscheid »falsch«, »nicht optimal« oder »widersprüchlich zu anderen« ist, kann nur in Bezug auf gegebene Ziele beantwortet werden. In Kapitel 3 werden deshalb vorab Ziele von Individuen, Gruppen, Gesellschaften und Unternehmen diskutiert. In Kapitel 4 zeigen wir anhand vieler Beispiele wie gewünschtes bzw. propagiertes vom tatsächlichen Entscheidungsverhalten abweicht. Wir beziehen uns dabei jeweils auf die fünf in Kapitel 1.1 genannten Ansprüche. Die Faktoren, die zu Fehlentscheiden oder Widersprüchen beim einzelnen Individuum führen, treten prinzipiell auch bei gesellschaftlich relevanten Entscheiden (durch Politiker bzw. Repräsentanten des Staates) oder auch bei Managern von Unternehmen auf. Allerdings haben hier bestimmte Aspekte – wie z. B. die genannte Principal-Agent-Problematik oder die Macht von Entscheidern – eine noch weitreichendere Bedeutung. Hinzukommt, dass gerade auf gesellschaftlicher Ebene insofern »fundamentale« Entscheide getroffen werden, als diese wiederum für Individuen Ziele determinieren: Gesetze und Normen sind Ergebnisse von Entscheidungsprozessen.

Das Auseinanderklaffen von Ansprüchen und Entscheidungswirklichkeit impliziert die Frage, wie unter Umständen »besser« entschieden werden kann. Kapitel 5 geht auf diesen Fragenkomplex ein. Allein aufgrund der Vielzahl von Entscheidungssituationen kann nicht der Anspruch erhoben werden, jeweils passende »Rezepte« vorzustellen. Durchgängig passende Patentrezepte wie sie teilweise in der Literatur oder in Magazinen propagiert werden, gibt es ohnehin nicht. Im Rahmen dieses Buches sollen jedoch einige Leitlinien und bewährte Konzepte skizziert werden, die helfen können, die Qualität von Entscheiden zu verbessern. Allerdings ist Folgendes zu beachten: Der Verbesserung der Entscheidungsqualität beim Einzelnen sind Grenzen gesetzt; Fähigkeiten können nur bedingt durch Training optimiert werden; andere Einflussfaktoren wie z. B. Charaktermerkmale sind kaum veränderbar.

 

2          Vorurteile versus Forschungsstand

 

 

2.1       Zentrale Fakten im Überblick

Die meisten Menschen halten sich mutmaßlich für Individuen, die bewusst, rational und in einer freien Willensäußerung über Objekte, Personen oder Situationen entscheiden können. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sprechen eine andere Sprache: Die Neurowissenschaftler zeigen, dass all unsere Entscheide letztlich von archaischen Teilen unseres Gehirns, dem limbischen System, determiniert werden; auch jene Entscheide und Bewertungen, welche in unser Bewusstsein dringen, werden für uns unbewusst im Vorfeld gesteuert. Ebenso gibt es keinen freien Willen – jedenfalls nicht in dem Sinn, dass wir in einer bestimmten Situation entgegen unserer genetischen und sozialen Prägung anders entscheiden könnten.

Auch die Psychologen haben – auf einer anderen Betrachtungsebene – einiges zur Entschlüsselung unseres Entscheidungsverhaltens beigetragen. Die Psychologen arbeiten mit »Konstrukten« wie Einstellungen, Motiven, Persönlichkeitsmerkmalen, die unser Verhalten und unsere Entscheide beeinflussen. Von Psychologen stammen z. B. Kenntnisse über »mentale Abkürzungen«: Dies sind genetisch geprägte und später durch unsere Erfahrung ergänzte »Wissensstrukturen« (Stereotype oder Heuristiken z. B.), die uns helfen, neue Situationen oder Personen gedanklich rasch einzuordnen und unbewusste Entscheide zu treffen. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass auch andere individuelle Fähigkeiten wie die klassische Intelligenz die Entscheidungsqualität fundamental beeinflussen. Wissenschaftlich erforscht und meist nicht allgemein bekannt bzw. anerkannt: Unser Entscheidungsverhalten ist maßgeblich von unseren Genen geprägt. Persönlichkeitsmerkmale, individuelle Fähigkeiten, Motivation etc. sind größtenteils vererbt.

Neben den Faktoren, die unserer Persönlichkeit selbst entspringen, gibt es weitere Aspekte. Vorhandene Informationen sowie Bildung und entsprechend der Wissensstand eines Menschendeterminiert wesentlich die Qualität eines Entscheides. Auch die Ausstattung an Ressourcen und die eigene Machtposition spielen eine Rolle. Wer über finanzielle Ressourcen verfügt, kann andere, z. B. riskantere, Entscheide treffen. Wer über Machtpositionen verfügt, kann ebenfalls an Alternativen anders herangehen und entscheiden. Unsere Entscheide werden schließlich fundamental durch Einflussnahme von »außen« geprägt: Werbung, Lobbyismus, Medienberichte u. a. bestimmen uns mehr als wir denken. Auch hier scheint unser Selbstbild weit entfernt von der Realität. Abbildung 3 zeigt die Einflussfaktoren im Überblick.

Abb. 3: Was unsere Entscheide beeinflusst

Der Aspekt Einflussnahme von außen führt zu einem weiteren wichtigen Themenkreis: Viele Entscheide kommen erst im Zusammenwirken von mehreren Personen zustande. Gruppenentscheide oder Verhandlungen gehören u. a. dazu. Kooperative Gruppenentscheide und nichtkooperative Entscheide sind in den Wissenschaften der Ökonomie, Politologie, Soziologie und Sozialpsychologie sehr gut erforscht. Ein wichtiges Instrumentarium, um speziell strategische Interaktion zu untersuchen, ist die Spieltheorie. Die Sozialpsychologie behandelt z. B. Konzepte wie Gruppendruck, Konformität etc. Machttheorien zeigen die Bedeutung der Ressourcenausstattung für Entscheide auf.

Mehrere Wissenschaftsdisziplinen haben sich mit der Erforschung des Entscheidungsverhaltens befasst und tun es weiterhin. Vor allem kann man die Ökonomie, die Psychologie und die »Neurowissenschaften« nennen. Darunter gibt es wiederum verschiedene Teilbereiche, wie z. B. Sozial- oder Evolutionspsychologie innerhalb der Psychologie. Die Neurowissenschaft ist von vornherein interdisziplinär aufgestellt. Die Neurowissenschaften (Neuroscience) sind eine jüngere interdisziplinäre Wissenschaftsdisziplin, die alle Untersuchungen über die Struktur und Funktion von Nervensystemen zusammenfasst und integrativ interpretiert. Oft wird im deutschen Sprachraum der Plural des Wortes benutzt, um die Forschungsbereiche zu kennzeichnen, die Aufbau und Funktion von Nervensystemen untersuchen. Sie vereinigt verschiedene biologische, medizinische und psychologische Disziplinen, unter ihnen z. B. die Molekularbiologie, die Evolutionsbiologie, die Neurophysiologie, die Anatomie, die Neurologie, die kognitive Neuropsychologie etc. Durch sogenannte bildgebende Verfahren wurden die Neurowissenschaften in jüngerer Vergangenheit äußerst populär, da diese erstmals ermöglichen, Gehirnaktivitäten bei Reizstimulierung konkret zu lokalisieren und sichtbar zu machen. Die Richtungen der Neurowissenschaft, die sich insbesondere mit der Untersuchung vom Aufbau und Leistungen des Gehirns von Primaten auseinandersetzen, werden oft als Hirn- oder Gehirnforschung bezeichnet.

Die Neuroökonomie (Neuroeconomics) ist ein häufig verwendeter Sammelbegriff für eine Wissenschaft, bei der Ökonomen, Neurowissenschaftler und Psychologen ihre jeweiligen Erkenntnisse untereinander austauschen und zu verbinden versuchen. Die Neuroökonomie nutzt die Möglichkeiten der Neurowissenschaft, um vor allem Antworten auf die Frage zu erhalten, wie Menschen Entscheidungen treffen. Weiterhin versucht sie, neuronale Prozesse innerhalb unseres Gehirns, die für die Wahl einer bestimmten Option bzw. für die finale Entscheidung verantwortlich sind, zu identifizieren und zu erklären. Dahinter steht auch die Absicht, die Lücke zwischen den Referenzmodellen des Homo oeconomicus und des Homo vivens zu schließen. Eine zentrale Schwachstelle enger ökonomischer Betrachtungsweisen ist das Ausblenden der Emotionen. Um die Bedeutung der Emotionen zu vergegenwärtigen, stehen der Neurowissenschaft die bereits erwähnten bildgebenden Verfahren zur Verfügung. Mit ihnen konnte z. B. empirisch nachgewiesen werden, dass es fundamentale Unterschiede in der Entscheidungsfindung zwischen Menschen, die Emotionen verwerten können und Menschen, deren Gehirn die Emotionen aufgrund der Beschädigung emotionaler Zentren nicht nutzen können, gibt. Die Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen ergänzen sich. Sie setzen – vereinfacht gesprochen – auf verschiedenen Ebenen an ( Abb. 4).

Abb. 4: Erkenntnisebenen

Die Ökonomen postulieren, dass der Mensch seinen Nutzen maximiert und eine entsprechende Präferenzordnung hat. Wie diese genau zustande kommt, wie sie im Detail aussieht, ist dort nicht Gegenstand. Aber allein mit diesem Konzept kann man schon viele Aspekte des Entscheidungsverhaltens speziell in der Wirtschaft analysieren und testen. Zentrale wirtschaftliche Entscheidungskriterien wie Kapitalwert, Renditeziele oder adäquate Risikomaße lassen sich damit herleiten. Die Psychologie erklärt Motivationen und Emotionen, sie legt dar, wie Präferenzen entstehen, sie liefert weiter die Erkenntnisse über kognitive Verzerrungen und beantwortet die Frage, warum letztlich »irrationale« Entscheide zustande kommen. Die Neurowissenschaften gehen, wenn man so will, tiefer und zeigen auf Ebene von Nervenzellen, Neurotransmittern etc. wie unser Gehirn agiert und letztlich die psychologischen Konstrukte Motivation, Emotion, Sympathie etc. »in Szene setzt«.

2.2       Wir denken nur, dass uns der Verstand leitet

Selbst ein scheinbar so einfacher Akt wie das Sehen, belehrte mich Crick in seinem forschen Britisch, erfordere einen gewaltigen Aufwand an neuronaler Aktivität. »Das Gleiche gilt für Bewegungen, etwa das Aufheben eines Kugelschreibers«, fuhr er fort, während er einen Kugelschreiber von seinem Schreibtisch hob und vor mir ›hin- und her schwenkte‹. Eine Menge Rechenarbeit ist erforderlich, bevor Sie diese Bewegung ausführen können. Der Entschluss ist Ihnen bewusst, nicht bewusst dagegen ist Ihnen die Art und Weise, wie dieser Entschluss zustande kommt. Was Ihnen als ein freier Willensentschluss erscheint, ist in Wirklichkeit das Ergebnis von Vorgängen, die Ihnen nicht bewusst sind.

Der Publizist John Horgan im Gespräch mit Francis Crick

Bewusstsein, Unbewusstes, Intuition u. a.

Die vorherrschende Meinung über unser Entscheidungsverhalten der breiten Öffentlichkeit ist wohl diese: Zumindest bei »sachlichen« Entscheidungen wägen wir rational Vor- und Nachteile ab und wählen dann die Alternative, die der Verstand für uns am besten erachtet. Emotionen werden als störend angesehen, um zum »besten« Entscheid zu gelangen. Es wird auch davon ausgegangen, dass wichtige Entscheide z. B. von Politikern, Managern tendenziell auf dieser Basis getroffen werden. Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist, dass es keine rein rationalen Entscheide gibt! Alle unsere bewussten Entscheide werden letztlich von unserem limbischen System – dem »Säugetiergehirn« – oder sogar vom Reptiliengehirn – dem Hirnstamm gesteuert. Alle diese Vorgänge finden unbewusst statt. Wir meinen nur, dass wir etwas rein rational entscheiden. Der Verstand allein entscheidet nichts. Über den Einbezug des Verstandes werden nur Vorschläge und mögliche Konsequenzen (eines Autokaufs, einer Betriebsverlagerung etc.) aufgezeigt. Welchen Vorschlag wir wollen, wird vom limbischen System – unseren »Emotionen« – entschieden. In einigen Situationen dominiert letztlich sogar nur das »Reptilienhirn«. Um besser zu verstehen, warum es letztlich keine nur rationalen Entscheide gibt, macht es Sinn, etwas eingehender die Begriffe »Bewusstsein«, »Unbewusstes«, »Verstand« und »Vernunft« zu erläutern. Zentral ist dabei auch der Begriff des »Vorbewussten«.

Bewusstsein ist »ein Bündel inhaltlich sehr verschiedener Zustände, die nur das eine gemeinsam haben, dass sie bewusst erlebt und im Prinzip sprachlich berichtet werden können« (Roth 2008, S. 76 ff.). Grundsätzlich zu unterscheiden sind Zustände des »Aktualbewusstseins« und des »Hintergrundbewusstseins«. Das Aktualbewusstsein ist durch ständig wechselnde Inhalte gekennzeichnet. Eine Form des Aktualbewusstseins ist Aufmerksamkeit. Zum Hintergrundbewusstsein gehören z. B. die jeweils individuelle Unterscheidung von Realität und Fiktion sowie das Erleben der Urheberschaft unserer Gedanken und unserer Handlungen. Wir können nur bewusst komplexe Probleme lösen, im Detail planen und komplexe Sachverhalte kommunizieren. Immer wenn wir mit etwas Ungewohntem konfrontiert werden, bei dem es um die komplexe Verarbeitung von Details geht, brauchen wir Bewusstsein. Bewusstsein entsteht in der Großhirnrinde, wenn unbewusst arbeitende Bereiche, wie Hippocampus, thalamische und limbische Kerne, die Wahrnehmungen oder auch Motive als »wichtig« und »neu« beurteilen. Die Großhirnrinde muss sich damit dann auseinandersetzen, da es noch kein Routineverfahren gibt, um dieses Problem zu lösen. Wichtig ist hier die Tatsache, dass unser »limbisches System« zum einen festlegt, was wichtig ist und zum anderen, wann wir etwas in der Großhirnrinde abarbeiten sollen. Das Bewusstsein wird also vom Unbewussten gesteuert.

Was gehört im Einzelnen nun zum Unbewussten? Bevor wir etwas bewusst wahrnehmen, gibt es unbewusste Wahrnehmungsvorgänge. Die sensorische Information wird auf vielen Ebenen unseres Gehirns eine Drittel- bis eine halbe Sekunde lang unbewusst vorbearbeitet. Dabei wird entschieden, ob etwas überhaupt ins Bewusstsein gelangen soll. Das Meiste wird »herausgefiltert«. Zweitens gibt es die unterschwelligen Wahrnehmungen. Dies sind z. B. alle wichtigen Inhalte, die das Gehirn ohne Bewusstsein abarbeiten kann, weil es dafür Routineprogramme besitzt. Unterschwellige Wahrnehmungen umfassen den allergrößten Teil unserer laufenden Wahrnehmungsprozesse. Drittens gehören zum Unbewussten alle Wahrnehmungsinhalte, die sich außerhalb unserer Aufmerksamkeit befinden. Viertens gehören zum Unbewussten alle Teile des Gedächtnisses, die das enthalten, was wir können, ohne dass wir genau beschreiben könnten, wie wir es machen: Radfahren oder bestimmte Bewegungen bei einer Ballsportart gehören z. B. dazu. Fünftens gehören dazu alle Inhalte des Gedächtnisses, die in Bereichen des Gehirns angesiedelt sind, die unserem Bewusstsein erst gar nicht zugänglich sind. Wir haben Gefühle und Motive, die aus dem Unbewussten kommen und uns antreiben, und meist wissen wir gar nicht warum. Das Unbewusste ist also viel umfassender als das Bewusstsein und es bestimmt unser Handeln, in alltäglichen und auch in entscheidenden Fragen unseres Lebens stärker als das Bewusstsein.

Einen Teil des Unbewussten lässt sich als Vorbewusstsein bezeichnen. Dieser Teil umfasst alles, was aktuell nicht bewusst ist, aber einmal bewusst war, und unter bestimmten Umständen bewusst gemacht werden kann. Hierzu gehört unser sprachlich berichtbares (deklaratives) Gedächtnis. Es enthält alles, was mit uns passiert ist (das episodisch-autobiografische Gedächtnis) ebenso wie das, was wir an Wissen verfügbar haben. Das Vorbewusstsein ist ebenfalls in der Großhirnrinde lokalisiert – sonst könnten seine Inhalte ja nicht bewusst werden –, aber seine Inhalte befinden sich sozusagen knapp unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Diese Schwelle wird entweder durch aktiven äußeren oder inneren Anstoß überschritten (uns fällt etwas ein, weil wir gerade etwas wahrnehmen, oder wir denken intensiv nach) oder es fällt uns scheinbar ganz zufällig ein. In Wirklichkeit gibt es einen solchen Zufall nicht, sondern die Tatsache, dass uns in einer bestimmten Situation etwas einfällt oder auch nicht, wird von vor- und unbewussten Prozessen in unserem Gehirn bestimmt, über die wir entsprechend keine direkte willentliche Kontrolle besitzen. Das Vorbewusstsein hat gegenüber dem, was wir bewusst verarbeiten können, eine viel größere Verarbeitungskapazität. Entsprechend ist auch die Fähigkeit des Vorbewussten zum Problemlösen sehr viel größer. Die Verarbeitung geschieht nach anderen Prinzipien als unser rationales Denken. Man kann diesen Unterschied annäherungsweise als den Unterschied zwischen linear-sequenzieller und hochgradig parallel-vernetzter Verarbeitung von Informationen begreifen.

In diesem Kontext lässt sich dann auch der Begriff Intuition aus Sicht der Hirnforschung erläutern. Das Vorbewusste enthält im Wesentlichen solche Inhalte, die einmal bewusst waren und wieder ins Unbewusste abgesunken sind. Dies umfasst auch alle Entscheidungen, die wir jemals bewusst getroffen haben, und die Bewertungen ihrer Konsequenzen. Diese Inhalte verdichten sich mit der Zeit immer mehr zu Intuitionen, die in vergleichbaren Situationen eine Entscheidung ratsam erscheinen lassen oder davor warnen. Wie erwähnt ist der Inhalt des Vorbewussten gegenüber der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses sehr groß. Wir könnten insofern nicht alle Erfahrungen detailliert und mit Bewusstsein durchgehen, um daraus für die aktuell anstehende Entscheidung irgendeine Hilfe zu gewinnen. Das Vorbewusstsein filtert somit alles, was ins Bewusstsein drängt. Das Vorbewusste wird um – es nochmals zu betonen – von unserem limbischen System gesteuert.

Begrifflich noch abzugrenzen sind Verstand und Vernunft. Unter Verstand kann man die Fähigkeit zum Problemlösen mithilfe erfahrungsgeleiteten und/oder des logischen Denkens verstehen. Verstand beinhaltet die Fähigkeit, Aufgaben in einer vorgegebenen Zeit zu identifizieren und vorhandenes Wissen richtig anzuwenden. Diese Fähigkeit ist eng verwandt mit der erläuterten klassischen Intelligenz, also mit dem, was ein Intelligenztest misst. Unter Vernunft versteht man hingegen meist die Fähigkeit zum Erfassen übergeordneter Zusammenhänge und Muster sowie die Einschätzung von Konsequenzen des eigenen Handelns. Man verzichtet dabei bei Bedarf auf den unmittelbaren Vorteil und/oder man schließt Kompromisse, um übergeordnete Ziele zu erreichen. Das bedeutet, dass ein rein verstandesorientierter Mensch (jemand mit hohem IQ) nicht unbedingt vernünftig sein muss und ein verstandesorientiertes Handeln nicht unbedingt ein vernünftiges Handeln. Vernunft lässt sich mehr mit dem EQ-Konzept in Verbindung bringen.

Das neuronale Bewertungs- und Entscheidungssystem

Psychologen, Ökonomen und auch Neurobiologen gehen letztlich alle von der Annahme aus, dass Individuen versuchen, Lust, Glück, Nutzen u. a. zu finden und diese zu maximieren bzw. das jeweilige Gegenteil zu vermeiden bzw. zu minimieren. In diese Grundhypothese lässt sich auch altruistisches Verhalten einordnen – also ein Verhalten, bei dem ein Individuum Unlust (persönliche Einbußen oder gar den eigenen Tod) auf sich nimmt, damit es anderen Individuen bessergeht bzw. Schaden von ihnen abgewendet wird. Altruistisches Verhalten ist nicht so selbstlos, wie es scheint: Es mag zwar dem Individuum selbst Nachteile oder gar den Tod bringen, aber man bekämpft vielleicht sein schlechtes Gewissen, stellt sich selbst in gutem Licht (als Held) dar oder tut etwas für den eigenen Genpool. Es geht im Gehirn darum, Lust und Unlust sowie Gewinn und Verlust zu registrieren und hieran das Verhalten auszurichten. Verschiedene Gehirnzentren mit bewussten und unbewussten Prozessen wirken dabei zusammen (vgl. Roth 2008, S. 149 ff.). Die Zentren führen dabei drei Aufgaben aus: Erstens machen sie bei einem anstehenden Entscheidungsproblem eine Abschätzung der Gewinn- und Verlustaussichten, der Risiken und nötigen Aufwände. Zweitens wird der tatsächliche Erfolg der Handlung, für die man sich entschieden hat, bewertet und drittens führt dies zu einer Bestätigung oder Korrektur der Bewertung weiterer ähnlicher Entscheidungen.

Die Teile unseres Gehirns, welche man oft als »Säugetierhirn« – oder wenn nur der Hirnstamm angesprochen ist – als »Reptiliengehirn« bezeichnet, sind Verursacher und Steuerer aller unserer Bewertungen und Entscheidungen: Für das Erkennen des Negativen ist auf unbewusster Ebene die Amygdala zuständig. Sie aktiviert in Zusammenarbeit mit dem Hypothalamus die vegetativen Zentren im Hirnstamm und die Hypophyse, die uns zu Verteidigung oder Flucht und zur damit zusammenhängenden Stressbewältigung bereit machen. Hypothalamus und Amygdala veranlassen die Ausschüttung bestimmter Stoffe wie es Noradrenalins, das uns zusammen mit dem Adrenalin in Millisekunden alarmiert und reaktionsbereit macht. Die Kopplung der Ausschüttung dieser Stoffe mit bestimmten Ereignissen ist es, was uns emotional konditioniert. In dem Maße, in dem diese Information und die genannten Stoffe in die Großhirnrinde gelangen, erleben wir all dies bewusst.

Das Positive wird von anderen Hirnzentren und dort produzierten Stoffen erzeugt. Zum einen handelt es sich um den Neurotransmitter Serotonin, der uns beruhigt und Zufriedenheit bringt. Ein höheres Maß an Lust und Freude bereiten uns endogene Opiate und andere Stoffe. Sie werden in limbischen Zentren produziert. Die Ausschüttung der »Belohnungsstoffe« ist es, was Säugetiere anstreben. Alles, was in unserem Leben Spaß macht, Freude und Lust bereitet, ist mit der Ausschüttung dieser Stoffe verbunden. Dies ist bei Sex und Alkohol so, die ziemlich direkt auf die genannten limbischen Zentren wirken, aber auch bei sublimeren Genüssen, wie dem Besuch eines Konzerts, dem Gewinn eines Wettbewerbs, der Verleihung einer Auszeichnung, einem Wahlsieg oder dem Gefühl, etwas Gutes für andere getan zu haben. Personen, bei denen die Ausschüttung dieser Belohnungsstoffe vermindert ist, haben wenig Spaß und Ziele, für die sie sich anstrengen. Dies nennt man Anhedonie, also anhaltende Unlust.

Die Aktivitäten der genannten Neurone bildet die Basis unseres Belohnungserwartungssystems. Es gibt Neurone, die umso stärker reagieren, je höher die Belohnungserwartung ist. Dabei handelt es sich durchweg um Neurone, die durch den Neurotransmitter Dopamin charakterisiert sind. Die Aktivität dieser Neuronen geht zurück, wenn die Belohnung immer wahrscheinlicher oder sicherer wird, sie »feuern« dann nicht mehr, wenn ein Mensch oder ein anderer Primat regelmäßig für eine bestimmte Leistung belohnt wurden. Dies stimmt mit der Alltagserfahrung überein: Eine Belohnung, die ziemlich sicher eintritt, wird nicht mehr als Belohnung empfunden. Das Belohnungserwartungssystem vergleicht die tatsächliche Belohnung mit der Erwartung; folgende Konstellationen gibt es: Die Erwartungen werden erfüllt. Die Abweichung ist null und es gibt keine Veränderung in der Aktivität der auf den Neurotransmitter Dopamin reagierenden Neuronen bzw. der von ihnen getriebenen Neurone. Die Abweichung ist positiv, d. h. die Belohnung fällt höher aus als erwartet. Dann gibt es eine Aktivierung der Neurone. Die Belohnung fällt geringer aus als erwartet. Dann ist das Abweichungssignal negativ, die Neurone in den genannten Regionen werden in ihrer Aktivität zusätzlich gehemmt. Diese Abläufe im Gehirn bilden eine wichtige Grundlage der Motivation, die in diesem Sinne nichts anderes ist als eine Belohnungserwartung. Die Belohnung selber stellt zunächst zufrieden, aber das Nachlassen eines Belohnungseffekts und das dadurch hervorgerufene Streben nach neuer Belohnung treibt voran, motiviert.

Mit diesen Grundlagen »im Kopf« können wir uns anschauen, wie aus neurobiologischer Sicht Bewertungen zu sehen sind. In den vergangenen Jahren wurden wie erwähnt zahlreiche Untersuchungen mithilfe bildgebender Verfahren, vornehmlich der Kernspintomographie, durchgeführt. Dabei geht es für die Versuchspersonen u. a. darum, hohe oder geringe Ressourceneinsätze bei unterschiedlichen Risiken des Gewinnens und Verlierens zu machen und dabei unterschiedliche Strategien einzuschlagen. Die Aktivierung des Gehirns ist abhängig von der Belohnungserwartung, die sich aus der Höhe der in Aussicht gestellten Summe, der Eintreffenswahrscheinlichkeit, des Zeitpunkts der Belohnung und einer Reihe anderer psychologisch wichtiger Faktoren zusammensetzt. In der Regel sind die entsprechenden Gehirnzentren umso aktiver, je höher und je risikoreicher der in Aussicht gestellte finanzielle Gewinn ist.

Folgende Ergebnisse können angeführt werden: Personen können bereit sein, ein relativ hohes Risiko einzugehen, wenn die Gewinnerwartung entsprechend hoch ist. Eine Wahlmöglichkeit mit völliger Unklarheit über das Risiko wird hingegen oft vermieden. Dies spiegelte sich auch im Gehirn der Versuchspersonen wider, die mit unterschiedlichen Situationen von Risiko und Ungewissheit konfrontiert waren. Auch konnte durch Untersuchungen mit dem Kernspintomographen die bei Ökonomen bekannte These bestätigt werden, dass Verluste mehr wehtun als Gewinne erfreuen. Wie sieht es mit zeitlichen Unterschieden in der Belohnungserwartung aus? Ökonomische Modelle postulieren, dass eine bald eintretende Belohnung gegenüber einer späteren Belohnung mit gleichem oder sogar etwas höherem Betrag bevorzugt wird. Eine Zeitpräferenzrate wird entsprechend unterstellt. Dies wurde auch bei Kernspinuntersuchungen bestätigt.

Auch das bei den Ökonomen bekannte Ultimatum-Spiel wurde aus neurobiologischer Sicht analysiert. Bei diesem Spiel muss eine erste Versuchsperson entscheiden, wie viel Prozent von einem Geldbetrag sie sich bzw. der zweiten Versuchsperson geben würde. Danach kann die zweite Person entscheiden, ob sie das Ergebnis akzeptiert oder nicht. Bei Nicht-Akzeptanz erhält keiner etwas. Viele Versuchspersonen verzichten bei einer Verteilungsquote von unter 50% lieber auf das Geld als andernfalls ein »unfaires« Angebot zu akzeptieren und auf diese Weise zumindest etwas zu erhalten. Forscher konnten zeigen, dass ein Teil des rechten präfrontalen Cortex bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle spielt. Wenn mithilfe einer bestimmten Magnetsimulation dieser Bereich vorübergehend außer Kraft gesetzt wurde, waren Versuchspersonen deutlich eher bereit, eine unfaire Aufteilung zu akzeptieren. Bemerkenswerterweise war dies stärker ausgeprägt, wenn es sich beim Bieter um einen realen Menschen und nicht um einen Computer handelte (vgl. Knoch et al. 2006). Moralische Einstellungen spielen offensichtlich eine wesentliche Rolle.

Risikoabschätzungen von vernünftigen, risikoaversen Personen führen nicht immer zu höheren Gewinnen. Zu diesem Ergebnis gelangten Forscher (vgl. Shiv et al. 2005), indem sie zeigen konnten, dass Patienten mit Schädigungen in der Amygdala und anderen Gehirnbereichen, die vor Risiken oder vor »Unfairness« warnen, im langfristigen Durchschnitt mehr gewannen als gesunde Versuchspersonen. Die Warnung der limbischen Areale vor hohen Risiken oder ein Bedürfnis nach Fairness fällt weg, und ein solches »krankes Hirn« kann sich offenbar recht gewinnbringend verhalten. Geld ist ein sogenannter »sekundärer Verstärker«, d. h. das Stück Metall oder Papier hat nicht an sich einen hohen Wert, sondern wird mit Dingen in Verbindung gebracht, die ihrerseits direkt positiv sind oder mit denen man negative Zustände abwehren kann. Generell lässt sich feststellen, dass es bereits auf der Ebene des limbischen Systems ein ausgefeiltes neuronales System gibt, das Belohnungen, deren Eintreffen oder Ausbleiben, ihre Höhe und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens verarbeitet. Dies alles funktioniert völlig unbewusst. Allerdings werden wie erwähnt, insbesondere wenn es komplizierter wird, Areale der Großhirnrinde zusätzlich aktiviert.

»Bauch« versus »Kopf«?

Häufig wird über die Frage, ob »Bauch«- oder »Kopfentscheidungen« besser sind, diskutiert. Aus Sicht der Hirnforschung stellt sich das nicht als Widerspruch dar. Zunächst wollen wir kurz rekapitulieren, welche Formen von Entscheidungen die Hirnforscher unterschieden. In Kapitel 1 hatten wir automatisierte Entscheide, affektive Entscheide (Bauchentscheide unter Zeitdruck), rationale Entscheide, intuitive Entscheide (Bauchentscheide ohne Zeitdruck) und aufgeschobene intuitive Entscheide unterschieden und kurz erläutert. Man kann also bei den Bauchentscheiden zwischen spontanen affektiven und intuitiven Entscheiden unterscheiden. Erstere treten bei plötzlich auftretenden Gefahren auf. Menschen reagieren meist ohne Einschaltung des Verstandes. Die Reaktionen basieren auf dem »Reptiliengehirn«. Solche Verhaltensweisen können äußert nützlich und sogar lebenserhaltend sein. Es kann aber auch sein, dass wir damit in unserer komplexen technischen Welt für uns nachteilige Effekte auslösen. Spontane Flucht war in Urzeiten – z. B. bei lauten Geräuschen, die große Tiere oder Steinlawinen ankündigen – die passende Reaktion, heute kann spontanes Weglaufen auch das falsche Verhalten sein. Daneben gibt es Entscheidungen »über den Bauch«, die ohne Zeitdruck vonstattengehen. Es sind intuitive Bewertungen, bei denen wieder unser limbisches System und auch Vorerfahrungen unser Verhalten determinieren. Wir lassen uns öfter von dem sogenannten ersten Eindruck leiten. Dieser trügt oft nicht, aber vielleicht doch öfter als man meint: Der erste Eindruck hat in ca. 70 Prozent der Fälle Bestand, d. h. wir werden in sieben von zehn Fällen auch noch später eine bestimmte Person sympathisch oder unsympathisch finden. Der Grund für diese hohe Verlässlichkeit des ersten Eindrucks liegt darin, dass Sympathie und Antipathie durch die jeweilige Mimik, Gestik, Körperhaltung, Körpergeruch und Sprache bestimmt werden. Diese Merkmale werden schnell und überwiegend unbewusst von Zentren der Großhirnrinde und des limbischen Systems, insbesondere der Amygdala registriert, und entsprechend reagieren wir stereotyp und überwiegend unbewusst. Da die Trefferquote des ersten Eindrucks aber nicht bei 100% liegt, kann es bei intuitiven Entscheidern durchaus angebracht sein, diese zu hinterfragen und sich mit etwas zeitlichem Abstand einen zweiten oder dritten Blick zu verschaffen. Beispielsweise kann man bei der Personalselektion Bewerber mehrmals treffen, um sein Urteil gegebenenfalls zu revidieren. Beim Verlieben gibt es diese Möglichkeit nur eingeschränkt, weil durch Geschlechtshormone nach dem ersten Eindruck verstandsmäßige Bewertungen weitgehend außer Kraft gesetzt werden und eine relativ unvoreingenommene Begegnung ausgeschlossen ist.

In vielen Fällen, gerade wenn kein Zeitdruck da ist, gibt es die Möglichkeit des bewussten Verarbeitens von Informationen. Sehr oft sind die bewusste Aufnahme und die Verarbeitung von Informationen zu empfehlen. Insbesondere bei wichtigen und komplexen Entscheidungen geht, bringt dies Vorteile. Werden Bewusstsein und Verstand miteinbezogen, so muss man sich allerdings auch klarmachen: Die Entscheidung über den Einbezug fällt unbewusst im limbischen System. Im Sinne des oft bemühten Unterschieds zwischen rationalem und emotionalem Entscheiden gilt auch: Es gibt rein rationale Abwägungen, aber keine rein rationalen Entscheidungen. Entscheidungen sind immer emotional, wie lange man auch abgewogen hat, und rationale Argumente wirken auf die Entscheidung nur über die mit ihnen verbundenen Emotionen. Jede Alternative ist mit unterschiedlichen Konsequenzen für das Individuum verbunden. Welche besser oder schlechter ist, wird nicht rational, sondern nur im Lichte des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses entschieden.

Schließlich gibt es noch die aufgeschobenen intuitiven Entscheide, die uns aus Sicht der Gehirnforscher bei komplexen Situationen am besten entscheiden lassen. Kennzeichnend ist, dass wir nach Aufnahme der Problemstellung und Abwägung der Alternativen dann das Thema erstmal einige Stunden oder einen Tag ruhen lassen (»darüber schlafen«) und dann erst entscheiden. Die aufgeschobenen intuitiven Entscheidungen sind keine Bauchentscheidungen, denn das genannte bewusste Abwägen ist sehr wichtig. Dadurch werden nämlich Netzwerke im Vorbewussten angestoßen, die dann weiterarbeiten, auch wenn wir nicht mehr bewusst über das Problem nachdenken. Das heißt nicht, dass sich die Probleme »von selbst« durch einfaches Ruhelassen lösen, sondern es heißt, dass das Vorbewusste ausreichend Zeit hat, sich damit zu befassen. Es rechnet sozusagen weiter, während sich der bewusste Verstand mit etwas anderem beschäftigt.

Dem oft beschriebenen Widerspruch Bauch versus Kopf gibt es so nicht. Zum einen gibt es wie erläutert gar keine reinen Verstandsentscheidungen. Unser limbisches System bzw. auch unser Reptilienhirn sind »der« Entscheider. Zum anderen gibt es Situationen – insbesondere solche von »Tragweite« für unser Leben, eine Organisation, eine Gesellschaft – wo Kopf und Bauch eine Rolle spielen bei aufgeschobenen intuitiven Entscheiden.

2.3       Der freie Wille ist Illusion

Keiner kann anders, als er ist. Die Annahme, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch hätten anders machen können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar.

Wolf Singer, Hirnforscher

Der freie Wille ist Illusion