Gerontopsychiatrie multiprofessionell -  - E-Book

Gerontopsychiatrie multiprofessionell E-Book

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Beschreibung

Bei der im Alter besonders bedeutsamen Multidimensionalität psychischer Störungen wird die Patientenversorgung durch die Zusammenarbeit einer Reihe von Berufsgruppen gewährleistet: Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte, Ergo-, Physio- oder Künstlerische Therapeuten, Sozialarbeiter u.v.m. Deren Kompetenzen müssen in gut abgestimmter Teamarbeit zusammengeführt werden. Dies setzt eine gemeinsame Sprache und die Kenntnis der Konzepte der jeweils anderen Professionen voraus. Unter dieser Zielsetzung gibt dieses Praxislehrbuch einen fundierten Überblick über die wichtigsten gerontopsychiatrischen Themenbereiche und Krankheitsbilder aus multiprofessioneller Perspektive. Es bietet so eine praxisnahe Grundlage für eine patientenorientierte Teamarbeit.

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Der Herausgeber und die Herausgeberinnen

Walter Hewer, Prof. Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Facharzt für Innere Medizin mit der Zusatzbezeichnung Geriatrie. Bis 2019 war er Chefarzt für Gerontopsychiatrie am Klinikum Christophsbad in Göppingen. Er hat eine außerplanmäßige Professur an der Universität Heidelberg inne und wirkt in verschiedenen medizinischen Fachgremien mit.

Vjera Holthoff-Detto, Prof. Dr. med. habil., ist Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden. Sie ist Leiterin des Referats Gerontopsychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

Simone Schmidt ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und seit 1993 als Qualitätsmanagerin im Gesundheitswesen mit gerontopsychiatrischer Fortbildung im Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim tätig. Seit 2016 ist sie dort darüber hinaus Qualitätsverantwortliche der Pflegedirektion.

Kathrin Seifert, Prof. Dr. paed, ist Dipl.-Kunsttherapeutin und seit 1996 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn tätig. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt in der kunsttherapeutischen Behandlung psychiatrisch Erkrankter im Erwachsenenalter – einschließlich der Gerontopsychiatrie. Seit 2019 hat sie eine Professur für Kunsttherapie an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg inne.

Walter Hewer Vjera Holthoff-Detto Simone Schmidt Kathrin Seifert (Hrsg.)

Gerontopsychiatrie multiprofessionell

Ein Praxislehrbuch

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2024

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-041170-8

 

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-041171-5

epub:      ISBN 978-3-17-041172-2

Geleitwort

von Andreas Kruse

Entstehung und Verlauf psychischer und neurokognitiver Erkrankungen im hohen Alter sind als multikausales Geschehen zu begreifen. Es sind also in der Regel mehrere Ursachen für das Auftreten einer psychischen und neurokognitiven Erkrankung sowie für deren Verlauf – wie auch für den Symptomverlauf – erkennbar. Die einzelnen Ursachen haben von Störung zu Störung, in Teilen auch von Person zu Person unterschiedliches Gewicht; dies aber enthebt nicht von der Aufgabe, grundsätzlich die Vielzahl möglicher Ursachen im Hinblick auf die Ätiopathogenese und auf den Verlauf der spezifischen Störung in den Blick zu nehmen und die einzelnen Ursachen sorgfältig zu gewichten. Gleiches gilt für den interventionellen Aspekt: Es ist in aller Regel nicht nur eine spezifische Intervention, die zur Anwendung gelangt, sondern es ist das Gesamt mehrerer, einander ergänzender Interventionskomponenten, das hier besondere Beachtung verdient; dies gilt auch, wenn eine Interventionskomponente im Zentrum steht: Es gruppieren sich weitere um sie.

Das Verständnis psychischer und neurokognitiver Erkrankungen – ihrer Entstehung wie auch ihres Verlaufs – erfordert einen mehrdimensionalen Zugang zu Person und Persönlichkeit. Die Person beschreibt dabei das Gesamt des Erlebens, der Erfahrung, des Handelns und Verhaltens eines Individuums. Dieses ist in seiner Totalität gemeint und angesprochen, zudem in seiner Dynamik: Person ist immer als Geschehen oder Prozess zu begreifen. Persönlichkeit beschreibt besondere Eigenschaften einer Person, die sich im Lebenslauf mehr und mehr zu einer Struktur ausbilden, die ihrerseits ein hohes Maß an Stabilität aufweist, die aber im Falle hoch variabler Umwelten und Situationen (mit ganz unterschiedlichem Aufforderungs- und Ermöglichungscharakter) durchaus intraindividuelle Variabilität zeigen kann.

Wenn von Person als einem mehrdimensionalen Geschehen oder Prozess gesprochen wird, so sind damit – in erster und grober Näherung – Geschehens- und Veränderungsabläufe in der körperlichen, alltagspraktisch-funktionalen, motivationalen, emotionalen, kognitiven, empfindungsbezogenen, ästhetischen, wertbezogenen, spirituellen und sozialkommunikativen Dimension angesprochen; diese Geschehens- und Veränderungsabläufe sowie deren Interaktion konstituieren die Gesamtheit und Einzigartigkeit der Person. Hinzu treten die spezifischen Lebensthemen (oder: Daseinsthemen) in der Biografie – mit ihren Nachwirkungen bis ins hohe Alter – und in der Gegenwart. Dabei sind diese Themen von der existenziellen Verfasstheit der Person mitbestimmt, also von den Grundfragen der Existenz, die in unterschiedlichen Lebensaltern besonderes Gewicht gewinnen und damit Erleben, Erfahren, Verhalten und Handeln mitbestimmen (»strukturieren«). Dies ist auch eine Kunst der Psychiatrie des hohen Alters: die aktuellen Lebensthemen in ihrer biografischen und situativen Prägung, aber auch in ihrer existenziellen Kontextualität differenziert zu erfassen, zu erspüren, anzusprechen – und dies durch die spezifischen Störungen und Symptome »hindurch«.

Das vorliegende Buch – aus einem intensiven Austausch zwischen höchst fundierter Theorie und höchst fundierter Praxis hervorgegangen – gibt Einblick in die Multikausalität von psychischen und neurokognitiven Erkrankungen sowie ihres jeweiligen Symptomverlaufs. Dies gelingt dadurch, dass zahlreiche Disziplinen – mit ihren disziplinspezifischen Konzepten, Konstrukten und Methoden – zu Wort kommen; aber nicht nur: In allen Kapiteln werden Berührungspunkte und Schnittmengen der Disziplinen offenbar und besonders akzentuiert. Die Leserin und der Leser fühlen sich sozusagen in die Mitte des interdisziplinären »Umgangs« mit Patientinnen und Patienten gestellt. Und weiter: Die einzelnen Kapitel spiegeln in ihrer Gesamtheit die Vielfalt der Dimensionen wider, die das oben skizzierte Person-Verständnis begründen; diese umfassende, die Einmaligkeit der Person akzentuierende Sicht von alten Menschen, von alten Patientinnen und Patienten bildet den cantus firmus des Buches: jede Generalisierung (auf die nicht verzichtet werden darf) hat die Individualität (und damit die ausgeprägte Heterogenität und Variabilität) zu beachten und zu achten. Die theoretisch-konzeptionellen Einführungskapitel legen hier ein bedeutendes Fundament, welches in den weiteren Kapiteln konsequent aufgegriffen und genutzt wird. Dies ist für die Kohärenz des ganzen Bandes von großem Wert. Die lebensthematischen, biografisch-situativen und lebensweltlichen Bezüge von Störungen und Symptomen wie auch von Ressourcen und Vulnerabilitäten werden immer wieder in das Zentrum gerückt. Und es ist hervorzuheben, dass »Psychiatrie im Alter« auch in ihren sittlich-normativen Bezügen untersucht wird, wenn nämlich zentrale ethische Problemlagen, die sich in der Intervention und Begleitung ergeben können, ausführlich erörtert werden. Der konsequent interdisziplinäre Bezug ermöglicht die Entwicklung eines multidisziplinären Vorgehens im Verständnis der Patientin und des Patienten sowie der bestehenden Erkrankung, ihres Verlaufs, ihrer Symptome, schließlich der Intervention.

Psychiatrie im Alter wird damit sehr lebendig … und fachlich, ethisch und human sehr überzeugend. Mein Kompliment zu diesem Buch, zu seiner Gesamtkonzeption wie auch zu den einzelnen Kapiteln!

Im Juni 2024

Andreas Kruse

Vorwort

Multiprofessionalität1 stellt ein Kernelement psychiatrischer und speziell auch gerontopsychiatrischer Behandlungskonzepte dar. Dies gilt vor dem Hintergrund weitreichender Entwicklungen in den unterschiedlichen Berufsgruppen, die ihre therapeutischen Kompetenzen in die moderne gerontopsychiatrische Behandlung einbringen und das gesamte Behandlungsspektrum bei alten Menschen mit psychischen Erkrankungen gestalten. Dass die Gerontopsychiatrie regelhaft mit medizinischen Problemen in Verbindung mit Multimorbidität konfrontiert ist, deren Behandlung die Kompetenzen verschiedenster Berufe erfordert, trägt ebenso dazu bei, dass Multiprofessionalität »zur DNA« des Faches gehört. Weiterhin ist der stark gewachsene Stellenwert therapeutischer Verfahren, die Gerontopsychotherapie eingeschlossen, zu nennen. Dies steht im Kontext einer Entwicklung, die zu einer vielfältigen Erweiterung eines traditionell stark auf Kliniken zentrierten Behandlungssystems durch multiprofessionelle teilstationäre, ambulante und gemeindepsychiatrische Angebote geführt hat.

Im Alltag gerontopsychiatrischer Einrichtungen wird Multiprofessionalität weithin sozusagen »geräuschlos« im Sinne der Patientinnen und Patienten umgesetzt. Gleichzeitig erleben wir aber auch immer wieder Konstellationen, in denen multiprofessionelle Teams hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Ein bedeutsamer Grund dafür liegt nach unserer Einschätzung in den teilweise sehr unterschiedlichen professionellen Sozialisationen und damit häufig sehr verschiedenen Konzepten, die das berufliche Selbstverständnis von Teammitgliedern prägen.

Vor diesem Hintergrund haben wir uns als multiprofessionelles Herausgeberteam zu dem Versuch entschlossen, gemeinsam mit Autorinnen und Autoren aus einer Reihe verschiedener Berufsgruppen ein Praxisbuch mit folgender Struktur und Zielsetzung auf den Weg zu bringen:

•  Im einführenden Teil I sind die für unser Thema bedeutsamen Grundlagen in knapper Form zusammengefasst.

•  Teil II ist der Vorstellung der üblicherweise in multiprofessionellen Teams zusammenarbeitenden Berufsgruppen gewidmet. Dem Raum zu geben, resultierte daraus, dass es vielen von uns, das Herausgeberteam eingeschlossen, nicht immer gut genug gelingt, sich in die Sichtweise anderer Berufsgruppen hineinzuversetzen. Deshalb werden in diesem Buchteil wichtige Grundlagen zum professionellen Selbstverständnis der jeweiligen Berufe in Erinnerung gerufen. Dabei haben wir auch Berufe berücksichtigt, die im Normalfall nicht in die durch Abrechnungssysteme erfasste Patientenversorgung einbezogen sind. Dies geschah unter dem Aspekt, dass wir den jeweiligen Beiträgen eine bedeutsame Rolle, z. B. für die Weiterentwicklung von Behandlungskonzepten, beimessen. Es konnte nicht unser Anspruch sein, in diesem Teil des Buches alle Akteure der gerontopsychiatrischen Versorgung und Behandlung vorzustellen, zumal in dieser Hinsicht nicht unbeträchtliche Unterschiede von Institution zu Institution existieren.

•  In Teil III finden sich Kapitel zu den in der Praxis am häufigsten vorkommenden Krankheitsgruppen. Um den Umfang des Buches nicht zu sehr anwachsen zu lassen, haben wir von einer der ICD-10/11-Systematik folgenden umfassenden Abhandlung psychiatrischer Krankheitsbilder Abstand genommen. Diesbezüglich möchten wir die Leserinnen und Leser auf vorhandene Lehrbücher verweisen, wenn sie sich zu fachspezifischen Fragen (z. B. medizinische oder psychologische Diagnostik, Pflegetechniken oder Behandlungsverfahren der therapeutischen Berufe) im Detail informieren möchten, und natürlich auch auf die in den einzelnen Kapiteln genannte weiterführende Literatur. Bei den Krankheitsbildern, auf die wir uns konzentriert haben, war es unser Hauptanliegen, diese aus der Perspektive multiprofessioneller Arbeit abzuhandeln und damit die alltägliche Arbeitsweise gerontopsychiatrischer Einrichtungen auf dem Stand aktueller wissenschaftlicher Evidenz abzubilden. Wir freuen uns deshalb sehr darüber, dass es uns gelungen ist, multiprofessionelle Autorengruppen zu gewinnen. Dass wir auf die Besprechung weiterer Krankheitsbilder verzichtet haben, möchten wir auch mit einem Generalisierungseffekt begründen: Damit meinen wir, dass Gruppen/Teams ebenso wie Individuen, wenn sie Problemlösestrategien in bestimmten Bereichen mit Erfolg anwenden, diese relativ leicht auf andere Gebiete übertragen können.

•  Schließlich haben wir in den Teilen IV-VI Kapitel zu übergeordneten Themen zusammengefasst, sei es, dass sie krankheits- bzw. störungsübergreifend für multiprofessionelle Behandlungskonzepte bedeutsam sind (z. B. Resilienz, Personenzentrierung, Trialog, geriatrische Grundlagen, Rechtsfragen), sei es, dass es sich um besonders herausfordernde oder mitunter tabuisierte Bereiche handelt (Palliativversorgung, Gewalt gegen alte Menschen) oder um Themen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu Diskussionen und Konflikten in Teams führen (medizinethische Fragen, Stellenwert somatischer Diagnostik und Therapie in der Gerontopsychiatrie).

Weiterhin möchten wir auf Folgendes hinweisen:

•  Dieses Buch wurde überwiegend aus einer klinischen Perspektive verfasst. Wir hoffen dennoch, dass es auch in anderen Bereichen Anwendung finden kann und verweisen auf den bereits erwähnten Generalisierungseffekt.

•  Um den Belangen eines multiprofessionellen Leserkreises gerecht zu werden, haben wir gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren versucht, auf eine möglichst sparsame Verwendung einer berufsgruppenspezifischen Fachterminologie hinzuwirken. Aus Gründen des Umfangs war die Zahl an Referenzen begrenzt. Die am Ende der Kapitel aufgeführten Bücher, Zeitschriftenartikel und anderen Quellen dienen in erster Linie der Vertiefung des Stoffs. Dies geschieht im Einklang mit dem Konzept eines Praxisbuchs, in dem die Umsetzung zeitgemäßer Behandlungskonzepte im multiprofessionellen Team im Mittelpunkt steht. Hingegen konnten Fragen, die Gegenstand aktueller wissenschaftlicher Entwicklungen sind, in dem gegebenen Rahmen nur in begrenztem Maße berücksichtigt werden.

•  Natürlich ist es uns auch ein Anliegen gewesen, den heutigen – im öffentlichen Diskurs bekanntlich sehr unterschiedlich bewerteten – Anforderungen an eine sensible und inklusive Sprache gerecht zu werden. Im Kontext unseres Buches geht es dabei v. a. um eine Sprache, die die Absicht einer respektvollen Interaktion mit allen beteiligten Personen, insbesondere unseren Patientinnen und Patienten, zum Ausdruck bringt. Wenn wir uns, anders als in diesem Vorwort, in den Fachkapiteln des generischen Maskulinums bedient haben, dann geschah dies aus Gründen der Sprachökonomie und steht aus unserer Sicht nicht in einem Widerspruch zu den hier umrissenen Prinzipien.

Ein Werk wie dieses verdankt seine Entstehung vielen engagierten Menschen, denen wir nicht allen namentlich danken können. Als Praxisbuch fußt es entscheidend auf der tagtäglichen multiprofessionellen Zusammenarbeit in unseren Kliniken. Die wertvollen Erfahrungen, die wir in der gemeinsamen, patientenbezogenen Arbeit sammeln durften, haben uns ermutigt, dieses Buch gemeinsam zu erarbeiten. Allen früheren und heutigen Kolleginnen und Kollegen gebührt unser uneingeschränkter Dank für die Erfahrungen, die sie uns hinsichtlich der Potenziale und vielfältigen Facetten von Multiprofessionalität ermöglicht haben. Ebenso sind wir allen Autorinnen und Autoren zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihre Expertise und die Bereitschaft, sich auf unsere vielfältigen Wünsche und Anregungen einzulassen, wäre das Werk nicht zustande gekommen. Dass das Buch in einer gut lesbaren und mit größter Sorgfalt bearbeiteten Form erscheinen kann, verdankt es einer Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kohlhammer Verlags, von deren Expertise wir sehr profitiert haben. Unser Dank gilt insbesondere Frau Anita Brutler und Frau Dr. Carmen Rommel, die das Projekt in einer konstruktiven, durch wechselseitiges persönliches Einvernehmen geprägten Arbeitsatmosphäre in jeder Hinsicht zu unserer absoluten Zufriedenheit begleitet haben, ebenso Herrn Dr. Ruprecht Poensgen, der unsere Idee von Anfang an uneingeschränkt unterstützte. Schließlich und nicht zuletzt gilt der Dank unseren Familien, die uns erlaubt haben, zahlreiche Stunden am Abend und an Wochenenden für dieses Buch aufzuwenden.

Wir hoffen, dass wir mit diesem Buch bei einer multiprofessionellen Leserschaft auf Resonanz stoßen, und freuen uns über Rückmeldungen und Kritik.

Im September 2024

Walter Hewer, Vjera Holthoff-Detto, Simone Schmidt und Kathrin Seifert

1     Anmerkung zur Nomenklatur: »Multiprofessionalität« wird von uns synonym mit »Interprofessionalität« verwendet. Dies entspricht dem in der Psychiatrie und Psychotherapie üblichen Sprachgebrauch. Beide Begriffe beschreiben eine über die bloße Addition verschiedener Fachkompetenzen hinausgehende enge Kooperation der beteiligten Berufsgruppen und damit eine unverzichtbare Voraussetzung für Versorgungskonzepte für Menschen mit komplexen medizinischen Problemen, die in der Regel nicht durch eine Berufsgruppe lösbar sind.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

von Andreas Kruse

Vorwort

1         Grundlagen

1.1      Grundlagen aus der Biologie, Psychologie und Soziologie

Heinrich Burkhardt und Uwe Sperling

1.2      Perspektiven der gerontopsychiatrischen und -psychotherapeutischen Versorgung

Hans Gutzmann

1.3      Das multiprofessionelle Team – Chancen und Grenzen

2          Beteiligte Professionen – Kernteam und weitere Disziplinen

Hermann Brandenburg, Tamara Großmann und Christoph Betz

2.1      Medizin

Walter Hewer und Vjera Holthoff-Detto

2.2      Psychologie

2.2.1    Psychologische Diagnostik

Gabriele Valerius

2.2.2    Psychologische Psychotherapie

Petra Dykierek

2.3      Pflegeprozess und theoretische Grundlagen

Charlotte Henn-Kollen und Simone Schmidt

2.4      Spezialtherapien

Kathrin Seifert

2.4.1    Ergotherapie

Svenja Wleklinski

2.4.2    Physiotherapie und Bewegungstherapie

Tim Fleiner und Peter Häussermann

2.4.3    Logopädie

Angelika Kartmann und Ursula Kling

2.4.4    Musiktherapie

Dorothea Muthesius

2.4.5    Kunsttherapie

Kathrin Seifert

2.5      Soziale Arbeit

Harald Zellner

2.6      Pharmakotherapie/Klinische Pharmakologie

Heinrich Burkhardt

2.7      Zahnmedizin

Ina Nitschke und Julia Jockusch

2.8      Schmerzmedizin

Karsten Henkel

2.9      Ernährungsmedizin

Julia Liebens, Cornelius Bollheimer und Mirja Geelvink

2.10   Gestaltung des räumlichen Umfelds: Demenzsensible Architektur

Gesine Marquardt und Kathrin Büter

2.11   Gerontechnologie

Barbara Klein

2.12    Seelsorge

Wolfgang Reuter

3          Häufige Krankheitsbilder

3.1      Demenz

Vjera Holthoff-Detto, Frank Jessen, Simone Schmidt und Kathrin Seifert

3.2      Delir

Walter Hewer, Anne Stöhr, Claudia Eckstein und Christine Thomas

3.3      Depression im Alter und Suizidalität

Vjera Holthoff-Detto, Petra Dykierek, Ute Lewitzka und Kathrin Seifert

Exkurs: Schlafstörungen

Walter Hewer

3.4      Sucht

Rüdiger Holzbach, Siegfried Huhn und Ernst Pallenbach

3.5      Psychosen und Bipolare Störungen

Alexander Sartorius und Simone Schmidt

3.6      Angststörungen

Rosa Adelinde Fehrenbach

3.7      Posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung, akute Belastungsreaktion

Antje Orwat-Fischer und Andreas Fellgiebel

4          Geriatrie und Gerontopsychiatrie

4.1      Multimorbidität und geriatrische Syndrome

Daniel Kopf

5          Chancen und Herausforderungen

5.1      Resilienz und Prävention

Andreas Fellgiebel und Alexandra Wuttke

5.2      Trialog

Heike Petereit-Zipfel

5.3      Personenzentrierte Konzepte

Nora Bötel, Benjamin Volmar und André Nienaber

5.4      Somatische Komorbidität

Walter Hewer

5.5      Palliativmedizin in der Gerontopsychiatrie

Walter Hewer, Simone Schmidt, Kathrin Seifert und Vjera Holthoff-Detto

5.6      Gewalt gegen alte Menschen

Rolf Dieter Hirsch

6          Übergreifende Themen

6.1      Ethische Herausforderungen an das multiprofessionelle Team

Christine Thomas und Günter Thomas

6.2      Rechtsfragen

Thorsten Detto

6.3      Gerontopsychiatrie multiprofessionell: Rückblick und Ausblick

Walter Hewer, Vjera Holthoff-Detto, Simone Schmidt und Kathrin Seifert

Verzeichnisse

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

1       Grundlagen

1.1       Grundlagen aus der Biologie, Psychologie und Soziologie

Heinrich Burkhardt und Uwe Sperling

Die wichtigsten Kernpunkte

•  Alterung ist ein Teil eines Lebensphänomens (evtl. auch ein universales Welt-Phänomen), das wir als Entwicklung über die Zeit bezeichnen können.

•  Die wichtigsten zellulären Alterungsmotoren sind die abnehmende Telomerenlänge in somatischen Zellen und die zunehmende Vulnerabilität vieler Strukturen, was oxidative Prozesse anbelangt.

•  Die meisten lebenden Strukturen zeigen einen Alterungsprozess und sind bzgl. ihrer Lebenserwartung insgesamt regelhaften und mathematisch beschreibbaren Vorgängen unterworfen.

•  Ältere Menschen führen gegenwärtig in der Mehrzahl ein aktives, von Zufriedenheit geprägtes Leben. Auf der anderen Seite setzen sie sich mit Beeinträchtigungen und Behinderungen auseinander, die weniger aufgrund des kalendarischen Alters, als vor allem aufgrund gesundheitlicher und finanzieller Problemlagen entstehen.

•  Nach Demenzerkrankungen stellen depressive Erkrankungen, Angststörungen und Abhängigkeitserkrankungen die häufigsten psychischen Störungen im höheren und hohen Lebensalter dar.

•  Somatische und psychische Erkrankungen müssen bei alten Menschen in ihrer gegenseitigen Bezogenheit diagnostiziert und behandelt werden.

1.1.1     Biologische Grundlagen

Zwei wesentliche Beobachtungen können für die allermeisten komplexen lebenden Strukturen geltend gemacht werden. Erstens: Die maximale Lebensspanne ist endlich und bewegt sich speziesabhängig in relativ engen Grenzen. Zweitens durchläuft der Organismus eine definierte Abfolge von Lebensphasen, an deren Ende die Phase der Alterung mit sukzessivem Verlust unterschiedlicher biologischer Ressourcen steht. Diese Phase kann man aber für viele Organismen in ihrer Lebenswelt kaum beobachten, da ihr Leben früh von Fressfeinden oder anderen Ereignissen beendet wird. Leben sie aber in Obhut von Menschen, findet sich diese Phase dann fast regelhaft. Von einer leistungszentrierten Perspektive aus ergibt sich eine Hormesis-artige Kurve mit einem Optimum, einem mehr oder weniger langem Plateau, am Ende gefolgt von einem mehr oder weniger akzelerierten Verlust der maximalen Leistung. Beispielhaft lässt sich dies an solchen Aspekten wie maximale Muskelkraft, Reaktionsgeschwindigkeit, aber auch maximale Herzfrequenz und maximale Sauerstoff-Aufnahme zeigen, um nur einige Beispiele aus der Physiologie anzuführen. Von einer Entwicklungsperspektive aus kann man sagen, dass sich biologische Formationen über juvenile Phasen zu einer adulten Ausprägung entwickeln, die über eine meist längere Zeit der Stabilität Aktivitäten wie Bewegung, Kommunikation, Fortpflanzung etc. erlaubt. Dieser Zustand ist aber für alle Organismen sehr komplex und kann leicht Störungen, ausgelöst sowohl von externen Faktoren (thermische und Strahlenwirkungen, Ressourcenknappheit etc.) wie auch solchen des internen Milieus, z. B. des Stoffwechsels, ausgesetzt sein. Bezüglich letzterem ist wichtig zu verstehen, dass auch im eigenen Organismus potenzielle Störmomente entstehen. Dabei handelt es sich insbesondere um chemische Stoffwechselprodukte, die sich hemmend oder anderweitig schädlich auf alle möglichen Systeme vom Genom über Eiweiße bis hin zu komplexeren Strukturen wie Zellmembranen oder Details der Organstruktur auswirken können und somit das Optimum der Leistung beeinträchtigen. Letztlich ist jeder Organismus wie alle Strukturen der Welt dem Druck der Entropie (hin zu einer weniger geordneten Struktur) ausgesetzt.

Die Biogerontologie beschäftigt sich mit den Mechanismen dieser Alterungsphänomene bzw. der zu beobachtenden langsamen Destabilisierung der zellulären und physiologischen Integrität und dem Schwinden der diesen Aspekten innewohnenden Reservekapazität. Sie versucht, dies auf den Ebenen der molekularen, zellulären und organphysiologischen Stabilität zu beschreiben.

Neben dieser mechanistischen Sicht mit dem Fokus auf die Mechanismen der Alterung, quasi die Frage nach dem »Wie«, gibt es aber auch eine stärker systemische Betrachtungsweise. Klassischerweise werden hierbei ökologische Aspekte (Mikro- und Makroökologie) und evolutionsbiologische Aspekte (Anpassung und Optimierung an sich verändernde Bedingungen) integriert. Aus dieser Perspektive werden zusätzlich die Fragen nach dem »wozu« der Alterung adressiert. Grob gesprochen meint dieser Ansatz die klassischen Fragen, was nützt es einem einzelnen Individuum zu altern, einer Spezies, einer Gruppe und der Gesamtheit der biologischen Sphäre? Damit eröffnen sich einige grundlegende Fragen und unklar bleibt zum Beispiel, ob evolutive Prozesse letztlich nur eine Reaktion auf die im Grundsatz nicht zu erhaltende Stabilität hyperkomplexer Strukturen, wie sie lebende Formationen darstellen, ist.

In den letzten Jahrzehnten wurde auf diesem Weg eine Fülle an einzelnen Befunden zu den unterschiedlichsten molekularen Aspekten (omics), zu Aspekten der Zellphysiologie (z. B. Signaltransduktion, intrazelluläre Kommunikation) und zu organspezifischen Befunden zusammengetragen. Einige von diesen werden weiter unten noch im Detail erwähnt, da sie für sich eine modellhafte Rolle in Anspruch nehmen können und theoretische Konzepte geprägt haben. Heute wird stärker versucht, an integrierenden Konzepten der Systembiologie zu arbeiten und all diese einzelnen Befunde in einem komplexen Kontext zu verstehen. Eine wichtige Erkenntnis in diesem Zusammenhang ist, auch diese Vorgänge eingebettet in Lebensphasen des Organismus zu begreifen. Beispielsweise kann eine genetische Veränderung, die sich im höheren Erwachsenenalter als ungünstig erweist, weil sie Alterungsphänomene unterstützt, in einer frühen Lebensphase sehr wohl vorteilhaft beim Aufbau und der initialen Stabilisierung des Organismus gewirkt haben. Das zeigt, wie bedeutsam es ist, auch die Rolle einzelner molekularer Mechanismen vor dem Hintergrund von Lebensphasen zu betrachten. Einige Kardinalpunkte dieser Befunde sollen hier explizit erwähnt werden:

•  Für die meisten Spezies existiert ein individuelles maximal erreichbares Alter, welches auch unter optimierten Bedingungen wenig veränderbar ist.

•  Je höher der Grundumsatz einer Spezies in einer Familie von Spezies ist, umso geringer ist dessen maximal erreichbare Lebenserwartung (rate of living).

•  Moderate Nahrungsrestriktion kann bei einigen Spezies die Lebenserwartung unter kontrollierten Bedingungen (Labor) verlängern.

•  Die Lebenserwartung einer Geburtskohorte insgesamt folgt für sehr viele Spezies einer mathematischen Regel (Gompertz-Kurve).

Theoretische Konzepte

Eine Reihe theoretischer Konzepte, diese Phänomene besser erklären zu können, konvergieren heute zu einer multifaktoriellen Zuschreibung genetisch oder proteomisch präformierter Motoren der Alterung.

Lange suchte man unter dem Eindruck des ersten der oben aufgeführten Punkte und dem Modell der »biologischen Uhr« nach determinierenden Prozessen, welche letztlich die maximale Lebenserwartung einer Spezies bestimmen und in der Struktur des Organismus zu finden wären. Ein Durchbruch und eine sehr überzeugende Bestätigung dieser Programmtheorie war die Entdeckung der mit jeder Zellteilung der somatischen Zellen abnehmenden Länge der Chromosomenenden (Telomere). Hier fand man ein eindrucksvolles zellmorphologisches Korrelat für diese deterministischen Aspekte der Alterstheorien. Aber auch hier zeigt sich, dass dies nur auf den ersten Blick ein hart determinierter Aspekt ist. Neuere Arbeiten zeigen nämlich multiple mögliche Einflüsse, welche die Abnahme der Telomerenlänge quasi als messbares Korrelat der Lebensprognose in gewissen Grenzen eher wieder plastisch erscheinen lassen.

Ein nach wie vor ebenfalls sehr attraktiver Aspekt ist die Signaltransduktion, hier der IGF1-Signalweg, der eine zentrale Rolle bei wichtigen Alterungsphänomenen wie der Sarkopenie (alterungsbedingte Abnahme der Muskelmasse) einnimmt. Dieser ändert sich ebenfalls mit zunehmendem Lebensalter. Die Nähe zur Pathogenese klassischer geriatrischer Syndrome legt eine bedeutende Rolle dieses Befundes im Kontext der Alterungsvorgänge nahe. Andererseits ist die Alterung sicher auch nicht frei von stärker stochastisch beschreibbaren Phänomenen. Dies wurde von den Aspekten der »Verschleißtheorie« aufgegriffen. Auch hier fand sich ein in diesem Fall zellphysiologisches Korrelat in Form der hyperreaktiven freien Sauerstoffradikale, die hauptsächlich im Energiestoffwechsel in den Mitochondrien entstehen und im Laufe der Lebensspanne verstärkt auftreten. Diese chemisch reagiblen Produkte können sogenannte Advanced Glycation End (AGE)-Produkte hervorrufen, welche ihrerseits die strukturelle Integrität wichtiger Bestandteile der Zelle beschädigen und so bei Akkumulation und Überforderung von Reparaturmechanismen zum Tod der einzelnen Zelle führen können (Apoptose). Dies ist ein sehr attraktives Konzept für einen wichtigen Motor der Alterung und erklärt im Übrigen auch die Pathogenese vieler degenerativer Erkrankungen wie Arteriosklerose und Niereninsuffizienz, Erkrankungen, die ihrerseits mit der Alterung einhergehen. Dass aber solche Aspekte sicher nicht die einzigen Faktoren sind, sondern nur ein Mix aus unterschiedlichen Vorgängen letztlich die Phänomenologie der Alterung bestimmt, macht ein einzelnes berühmtes Gedankenexperiment klar. Wären wir Menschen wie Reagenzgläser im Labor nur durch Verschleißmechanismen in unserer Lebenserwartung determiniert, müsste allein aus stochastischen Gründen eine andere Verteilung der Lebenserwartung entstehen und es wäre auch in unserer historischen Zeit ein Mensch mit einem Alter sehr deutlich über 120 Jahre aufgetreten. Im Labor kann ein Reagenzglas, welches nie benutzt wird, viel länger bestehen als die anderen, die einem ständigen Verschleiß unterworfen sind. Das ist aber bei der Betrachtung der menschlichen Lebenserwartung nicht der Fall und auch nicht der Fall bei besser beobachtbaren verwandten hochkomplexen Organismen. Aspekte, die eher deterministisch zu verstehen sind, wie die Telomerenlänge, und solche, die eher stochastisch erfassbar sind, wie die Effekte der radikalen Sauerstoffspezies, konvergieren heute in eine komplexe multidimensionale Konzeption der biologischen Alterung. Insgesamt stellt die Phase des Alterns ein untrennbar mit dem Organismus verbundenes Phänomen dar. Seine fassbaren Ausprägungen in Form von Veränderungen der Gestalt und Performance des Gesamtorganismus sind eines der essenziellen Attribute des Lebendigen und erregen seit je die Aufmerksamkeit des Menschen und der menschlichen Gesellschaft.

1.1.2     Psychologische und soziologische Grundlagen

Altern ist nicht nur biologisch betrachtet eine Wirklichkeit, die das Leben des Menschen grundlegend bestimmt, sondern es betrifft auch die in die Zeitlichkeit eingebundene psychische und soziale Entwicklung des Menschen in seinem Lebenslauf. Dieser Wirklichkeit und ihren Einflüssen kann der Mensch zwar nicht entrinnen, aber er gestaltet sie individuell und gesellschaftlich mit. Deshalb altern Menschen unterschiedlich und die Unterschiede zwischen den Individuen werden mit dem steigenden Lebensalter immer größer. Ist es also allein eine Frage der klugen Lebensführung, physisch, psychisch und sozial gesund ein hohes Lebensalter zu erreichen und dann innerhalb kurzer Zeit zu sterben, wie es die Theorie der »Compression of Morbidity« aufgrund der im 20. Jahrhundert erfolgten Zunahme der Lebenserwartung und der Anzahl von Jahren ohne schwere Krankheit (Fries 1980) annimmt? Wie so oft lautet die Antwort: »Es kommt darauf an.«

Zunächst muss geprüft werden, ob die im physischen Bereich festgestellte Zunahme der Vulnerabilität im höheren Lebensalter auch im psychischen und sozialen Bereich zu beobachten ist. Dagegen spricht das sog. »Wohlbefindensparadox« (Staudinger 2000), das den vielfach bestätigten Befund zusammenfasst, dass ältere Menschen trotz eines höheren Belastungsgrads aufgrund gesundheitlicher, funktioneller und sozialer Einschränkungen genauso zufrieden wie jüngere oder gar zufriedener als diese sind. Sie haben offensichtlich die Fähigkeit, durch aktive Anpassungsprozesse an die sich verändernde Situation und durch kognitive Restrukturierung mit altersassoziierten Veränderungen und im höheren Lebensalter auftretenden Herausforderungen bspw. so umzugehen, dass ihr Erleben auf einem für sie von Zufriedenheit geprägten Niveau bleibt. Man kann diesen Befund auch als eine Bestätigung für die seit Charlotte Bühler (1959) in der Gerontologie postulierte und vielfältig erforschte »lebenslange Entwicklung« verstehen. Die menschliche Entwicklung ist keineswegs mit dem Ende der Kindheit und Jugend abgeschlossen, sondern sie erstreckt sich bis ins höchste Alter. Lebenslang sieht sich der Mensch immer neuen Veränderungen, Aufgaben und Verlusten gegenübergestellt, mit denen er sich auseinandersetzen muss: Solchen, die ihn unmittelbar voranbringen, solchen, die ihn in Krisen stürzen, oder solchen, die sein bisher Erreichtes in Frage stellen. Seine weitere Entwicklung hängt davon ab, inwieweit er ausreichend eigene Kräfte und Verhaltensweisen sowie die Unterstützung der psychosozialen Umwelt für den Coping-Prozess mobilisieren kann, ob er den Anforderungen ausweicht oder von ihnen überfordert wird.

Wegweisende theoretische Modelle, die in den zurückliegenden Jahrzehnten entstanden sind, leisten einen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung des Menschen im höheren und hohen Lebensalter. Auf dem psychologischen Feld hat bspw. Erikson (1973) die Aufgabe, das eigene Leben anzunehmen, als spezifische »Entwicklungsaufgabe« (Integrität vs. Verzweiflung) für das höhere Lebensalter formuliert. Später hat seine Frau herausgestellt, dass auch die von der Kindheit bis ins mittlere Erwachsenenalter vollzogenen Entwicklungsschritte unter den gewandelten Lebensbedingungen nochmals neu bearbeitet werden wollen (Erikson und Erikson 1997). In weltweiten Studien, die die soziologisch fundierte Aktivitätstheorie (Tartler 1961) und Rückzugstheorie (Disengagementtheorie) (Cumming und Henry 1961) überprüften, wurde die Bedeutung der sozialen Rollen und die damit verbundenen Rollenaktivitäten für ein zufriedenes Altern herausgearbeitet. Die Schaffung neuer sozialer Rollen im Alter gilt bis heute als längst noch nicht erfüllte gesellschaftliche Aufgabe. Soziale Teilhabe gilt als zentrales Element bei der Entwicklung von Maßnahmen für altersgerechtes Leben im Quartier. Unter dem Konzept der Kompetenz im Alter sind das von Lawton und Nahemow (1973) entwickelte Umwelt-Anforderungs-Modell und das von Baltes (1990) prominent vertretene SOK-Modell bekannt geworden. Lawton hebt vor allem auf das Zusammenspiel der jeweiligen Kompetenz des Individuums und dem Anforderungsgrad seiner Umwelt ab, um Überforderung, Komfort und Trainingseffekte zu erklären. Dabei sieht er den Einzelnen jedoch nicht passiv seiner Umwelt ausgeliefert, sondern dieser kann sie auch proaktiv verändern. Baltes erklärt mit Hilfe der Begriffe Selektion, Optimierung und Kompensation im sog. SOK-Modell, wie betagte Menschen trotz Einschränkungen ihre Kompetenz stärken und erhalten. Sie tun dies dadurch, dass sie vermehrt die Aktivitäten wählen, die sie besonders gut beherrschen (Selektion), darin ihre Fähigkeiten durch Übung verbessern (Optimierung) und zugleich Fähigkeiten, über die sie nicht mehr in der gewohnten Weise verfügen, durch den Gebrauch von Hilfsmitteln oder Strategien ersetzen (Kompensation).

Seit der Berliner Altersstudie (Baltes und Meyer 1996) ist die Unterscheidung des höheren und hohen Lebensalters in ein drittes und viertes Lebensalter üblich geworden. Damit wird der Beobachtung Rechnung getragen, dass bei vielen Menschen auf eine aktive Altersphase ohne wesentliche gesundheitliche Probleme eine Zeit folgt, in der vor allem gesundheitlich bedingte Einschränkungen zunehmen und zu einem Pflegebedarf führen. Die Zeiten, als man im Defizitmodell des Alters davon ausging, dass mit zunehmendem Alter bei allen Menschen alle Funktionen abnehmen, sind zwar längst vorbei. Dennoch besteht die Gefahr, dass man in unseren Tagen die auch im vierten Lebensalter vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten unterschätzt und die alten Vorstellungen von Defizit und Abbau auf dieses vierte Lebensalter projiziert und verschiebt. Diese rücken damit zwar weiter in die Ferne, können andererseits aber umso unausweichlicher und beängstigender erscheinen.

Merke

Alles kommt darauf an, einen möglichst differenzierten Blick auf die Lebensphase des Alters zu gewinnen und die inter- und intraindividuellen Unterschiede alter Menschen wahrzunehmen.

Dabei hat sich in den Alterswissenschaften immer deutlicher herauskristallisiert, dass man diese Lebensphase zwar weiterhin unter dem Blickwinkel eines möglichst erfolgreichen Umgangs mit Einschränkungen, Abschied und Sterben betrachten muss. Zugleich aber müssen die Interessen und Potenziale der älteren und alten Menschen sowie ihre gesellschaftliche Partizipation und Verantwortung stärker als dies bisher gelungen ist in den Blick genommen werden.

Dementsprechend verortet Kruse »das Alter im Schnittpunkt von Chancen, Einschnitten und Aufgaben« (Generali Deutschland 2017, S. 1) und betont die selbst- und mitverantwortliche Lebensführung älterer Menschen, die sich in den Ergebnissen der Generali-Altersstudie (2017) widerspiegelt. Aus der Altersstudie (Generali Deutschland 2017), der eine repräsentative Stichprobe der deutschsprachigen Wohnbevölkerung in Privathaushalten im Alter von 65–85 Jahren in Deutschland zugrunde liegt, geht hervor, dass die große Mehrheit der 65–85-Jährigen eine positive Lebensbilanz zieht bei guten materiellen Verhältnissen, einem stabilen sozialen Umfeld und einer positiv bewerteten Wohnsituation.

Merke

Mehr als das Alter wirken sich der eigene Gesundheitszustand und die soziale Schichtzugehörigkeit darauf aus, wie das eigene Alter wahrgenommen wird.

Jeder siebte gibt finanzielle Sorgen an. Die Studie beschreibt die älteren Menschen heute als vitaler und innovationsoffener, im Vergleich zu ihrem kalendarischen Alter fühlen sie sich sieben bis acht Jahre jünger. Allerdings wird das Leben im Alter auch mit Beschwerden und Mühen verbunden, 12 % äußern, öfter das Gefühl zu haben, nicht mehr gebraucht zu werden. Nach Ansicht der Studienautoren weist dies auf Isolation und Einsamkeit hin; man könnte darüber hinaus aber auch an Rollenverluste denken. Ältere Menschen gehen mehr nach draußen als noch vor wenigen Jahrzehnten, am Beispiel des gewachsenen Anteils älterer Autofahrer wird die steigende Mobilität festgemacht. 15 % der älteren Menschen sind beruflich aktiv, wenn auch meist mit reduzierter Stundenzahl, 42 % engagieren sich ehrenamtlich mit durchschnittlich 4,4 Stunden in der Woche. Auch wenn die Wohnsituation überwiegend positiv bewertet wird, fehlt es oft an der Barrierefreiheit, die monatlichen Kosten sind hoch. Was die sozialen Kontakte angeht, können die meisten auf ein sicheres und verlässliches Netzwerk zurückgreifen, was auch daran abzulesen ist, dass nur 4 % häufiger das Gefühl von Einsamkeit berichten. Die gesundheitliche Belastung steigt ab dem 75. Lebensjahr kontinuierlich an. »Während 52 Prozent der 65–85-Jährigen aus den höheren sozialen Schichten eine positive Bilanz ihres Gesundheitszustands ziehen, ist dies nur bei 28 Prozent der Gleichaltrigen aus den niedrigen sozialen Schichten der Fall.« (Generali Deutschland 2017, S. 338). Das Thema der Pflegebedürftigkeit wird trotz des teilweisen Hilfebedarfs besonders mit Blick auf die Zukunft als belastend erlebt.

Bereits 20 Jahre zuvor haben die Ergebnisse der Berliner Altersstudie (1996) ähnliche Trends gezeigt. Mit Hilfe von 23 Variablen aus den vier Forschungseinheiten in der Berliner Altersstudie (BASE) »Innere Medizin/Geriatrie«, »Psychiatrie«, »Soziologie/Sozialpolitik« und »Psychologie« wurden elf Altersmuster unterschieden (Mayer et al. 2010). Hochgerechnet auf die Berliner Bevölkerung ab 70 Jahren konnten fast 65 % den Altersmustern 1–7 zugeordnet werden, die von hoher körperlicher und geistiger Fitness und Lebensfreude bis hin zu psychischer Stabilität bei einer Herzkrankheit oder kognitiven bzw. sensorischen Einschränkungen bei Selbstbestimmtheit reichten. Den Mustern 8–11, die auch unter psychiatrischer Perspektive als problematisch anzusehen sind, gehörten hochgerechnet gut 35 % der Berliner Bevölkerung ab 70 Jahren an, wobei hochaltrige Personen, und hier vor allem Frauen, bevorzugt betroffen waren. Die Muster wurden folgendermaßen charakterisiert: (8) krank, depressiv, ängstlich und einsam, (9) zurückgezogen, passiv, freudlos und wenig unterstützt, (10) kognitiv und sensorisch sehr eingeschränkt und (11) sehr gebrechlich, depressiv und einsam.

Nach wie vor stellen die Daten der Berliner Altersstudie (BASE) zur Prävalenz psychischer Erkrankungen im höheren und hohen Lebensalter einen wichtigen Referenzpunkt dar (Helmchen et al. 2010), weil sie besonders die älteren Jahrgänge in der Allgemeinbevölkerung repräsentiert. Ab einem Alter von 70 Jahren bis über 95 Jahre waren je 43 Männer und Frauen pro 5-Jahresgruppe eingeschlossen (Helmchen et al. 2010). Hochgerechnet auf die Berliner Gesamtbevölkerung kamen zu den 23,5 % mit einer psychiatrischen Diagnose weitere 16,9 % mit einer nicht näher bezeichneten psychischen Erkrankung sowie 16 %, die zwar Symptome, aber keine Erkrankung aufwiesen (Helmchen et al. 2010). An der Spitze lagen Demenzerkrankungen (14 %), gefolgt von depressiven Erkrankungen (9,1 %), Angststörungen (1,9 %) und Abhängigkeit/Missbrauch von Alkohol (1,1 %) oder Medikamenten (0,7 %). Aktuell gibt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft (2020) für Demenzerkrankungen eine Prävalenzrate von 8,4 % an. Diese fällt im Vergleich zur BASE vor allem deshalb geringer aus, weil hier auch die 65–69-Jährigen eingeschlossen werden, bei denen Demenzerkrankungen relativ selten sind. Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen steigt mit dem Lebensalter stark von 1,3 % (65–69 Jahre) auf 40,9 % (90 Jahre und älter) an (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2020). Dieser Anstieg ist für die mit dem zunehmenden Lebensalter wachsende psychiatrische Gesamtmorbidität verantwortlich. Insbesondere bei den Depressionen fand man »keinen eindeutigen Trend über die Jahrgänge jenseits des 70. Lebensjahres« (Helmchen et al. 2010, S. 220). Bei den Depressionen darf jedoch ein anderer Befund nicht übersehen werden, dass nämlich zu den diagnostizierten weitere nicht näher bezeichnete, aber behandlungsbedürftige depressive Erkrankungen mit einer Prävalenzrate von 17,8 % (Helmchen et al. 2010) hinzukamen. Damit stellen Depressionen die häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren und hohen Lebensalter dar. Auch bei den Angststörungen sollten die nicht näher bezeichneten Erkrankungen und reinen Symptome nicht übersehen werden. Die Bedeutung der Abhängigkeitserkrankungen wird immer wieder unterschätzt, nicht zuletzt auch in ihrem Bezug zum Suizid.

Abgesehen von Demenzerkrankungen sind ältere Menschen für psychische Erkrankungen in ähnlichem Ausmaß vulnerabel wie Menschen im mittleren Erwachsenenalter. Heuft et al. (2000) berichten, dass etwa ein Viertel der Patienten einer geriatrischen Akutstation nach Berücksichtigung aller somatischen Befunde eine psychiatrische Diagnose aufwies. Die Tatsache, dass lediglich ein Drittel davon neu erkrankt war, spricht dafür, dass die meisten psychischen Erkrankungen nicht erst im höheren Lebensalter entstehen. Dennoch sind die Diagnostik und Behandlung älterer Menschen mit psychischen Erkrankungen mit besonderen Herausforderungen verbunden, denen man am ehesten mit einer interdisziplinären Herangehensweise gerecht wird. Erkrankungen im höheren Alter weisen häufig eine unspezifische Symptomatik auf und sind multifaktoriell bedingt. »Bei der psychotherapeutischen Behandlung muss berücksichtigt werden, dass eine psychische Störung immer durch eine somatische Krankheit verursacht sein kann. Psychische Störungen sind aber umgekehrt auch ein erheblicher und oft unterschätzter Risikofaktor für körperliche Erkrankungen.« (Kessler 2021, S. 36). Dies macht die Kooperation der Vertreter aus dem somatischen und psychiatrisch-psychologischen Bereich erforderlich; das betrifft nicht nur Ärzte, sondern ebenso die jeweils zuzuordnenden Therapeutengruppen. Gerade bei psychotherapeutischen Behandlungen sind ältere Menschen unterrepräsentiert (Peters und Lindner 2019). Darüber hinaus ist es essenziell, weitere Berufsgruppen heranzuziehen, um bspw. lebensgeschichtliche, soziale und gesellschaftspolitische Aspekte einer psychischen Erkrankung im Alter zu erkennen und entsprechend der individuellen Konstellation zu behandeln (zur Rolle der sozialen Arbeit vgl. Dörr 2020). Eine zunehmende Bedeutung gewinnen Menschen, die als Arbeitskräfte oder als Geflüchtete gekommen sind, und jetzt das höhere Lebensalter erreichen. Hier sind zusätzliche soziale, sprachliche und kulturelle Aspekte bei der Entstehung und Therapie psychischer Erkrankungen zu berücksichtigen. Eine solche multiprofessionelle Behandlung erfordert sektorenübergreifende Konzepte. Selbstkritisch muss allerdings durchaus festgestellt werden, dass es noch nicht allzu lange her ist, dass sich die Erkenntnis, dass psychische Störungen im Alter behandelbar sind, durchsetzt (Radebold 1971).

Literatur

Baltes PB, Baltes MM (1990) Psychological perspectives on successful aging: The model of selective optimization with compensation. In: Baltes PB, Baltes MM (Hrsg.) Successful aging: Perspectives from the behavioral sciences. New York: Cambridge University Press. S. 1–34.

Bühler C (1959) Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. 2. Auflage. Göttingen: Verlag für Psychologie.

Cumming E, Henry WE (1961). Growing old, the process of disengagement. New York: Basic Books Inc.

Deutsche Alzheimergesellschaft (2020). Informationsblatt 1: Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen. (https://www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/Alz/pdf/factsheets/infoblatt1_haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf, Zugriff am 23.02.2024).

Dörr M (2020) Soziale (Alten-)Arbeit in der Gerontopsychiatrie. In: Aner K, Karl U (Hrsg.) Handbuch Soziale Arbeit und Alter. 2 Auflage. Wiesbaden: Springer VS. S. 187–196.

Erikson EH (1973) Identität und Lebenszyklus. Frankfurt: Suhrkamp.

Erikson EH, Erikson JM (1997) The Life Cycle Completed. Extended version with new chapters on the ninth stage of development by Joan M. Erikson. New York: Norton.

Fries JF (1980) Aging, natural death, and the compression of morbidity. NEJM 303(3): 130–250.

Generali Deutschland AG (2017) Generali Altersstudie 2017. Wie ältere Menschen in Deutschland denken und leben. Repräsentative Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach mit Kommentaren des wissenschaftlichen Beirats der Generali Altersstudie 2017. Berlin: Springer.

Helmchen H, Baltes MM, Geiselmann B et al. (2010) Psychische Erkrankungen im Alter. In: Lindenberger U, Smith J, Mayer KU, Baltes PB (Hrsg.) Die Berliner Altersstudie. 3 Auflage. Berlin: Akademie Verlag. S. 209–243.

Heuft G, Schneider G, Nehen HG et al. (2000) Funktionelle Störungen bei älteren Menschen. Deutsches Ärzteblatt-Ärztliche Mitteilungen-Ausgabe A 97(36): 2310–2312.

Kessler E-M (2021) Psychotherapeutisches Arbeiten mit alten und sehr alten Menschen. Stuttgart: Kohlhammer.

Lawton MP, Nahemow L (1973) Ecology and the aging process. In: Eisdorfer C, Lawton MP (Hrsg.) The psychology of adult development and aging. Washington, DC: American Psychological Association. S. 619–674.

Mayer KU, Baltes PB (1996) Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag.

Mayer KU, Baltes PB, Baltes MM et al. (2010) Wissen über das Alter(n): Eine Zwischenbilanz der Berliner Altersstudie. In: Lindenberger U, Smith J, Mayer KU, Baltes PB (Hrsg.) Die Berliner Altersstudie. 3 Auflage. Berlin: Akademie Verlag. S. 623–658.

Peters M, Lindner R (2019) Psychodynamische Psychotherapie im Alter. Grundlagen, Störungsbilder und Behandlungsformen. Stuttgart: Kohlhammer.

Radebold H (1971) Probleme einer integrierten psychiatrischen Tätigkeit im Allgemeinen Krankenhaus. Nervenarzt 42(1): 41–44. Abgedruckt in: Lindner R, Hummel J (2015) Psychotherapie in der Geriatrie. Aktuelle psychodynamische und verhaltenstherapeutische Ansätze. Stuttgart: Kohlhammer. S. 26–29.

Staudinger UM (2000) Viele Gründe sprechen dagegen, und trotzdem geht es vielen Menschen gut: Das Paradox des subjektiven Wohlbefindens. Psychologische Rundschau 51(3): 185–197.

Tartler R (1961) Das Alter in der modernen Gesellschaft. Stuttgart: Enke.

1.2       Perspektiven der gerontopsychiatrischen und -psychotherapeutischen Versorgung

Hans Gutzmann

Die wichtigsten Kernpunkte

•  Die Gerontopsychiatrie und -psychotherapie sind für die Versorgung schon heute unverzichtbar und werden in Zukunft angesichts des demografischen Wandels weiter an Relevanz gewinnen. Andere Fachgebiete können sie nicht ersetzen.

•  Dass eine angemessene psychotherapeutische Versorgung der alten psychisch kranken Menschen immer noch die Ausnahme ist und im Heimbereich praktisch nicht stattfindet, ist ein versorgungspolitischer Skandal.

•  Auch für die Gerontopsychiatrie stellen innovative Versorgungsangebote eine begrüßenswerte Erweiterung des therapeutischen Instrumentariums dar, dies besonders angesichts der Option, auch den Heimbereich mit vielen dieser Interventionen erreichen zu können.

1.2.1     Die Bedeutung der Gerontopsychiatrie für die Versorgung

Nach einem Statement der WHO aus dem Jahr 1998 ist eine kompetente Gerontopsychiatrie und -psychotherapie für die Versorgung unverzichtbar und nicht durch andere Fachgebiete, etwa die Geriatrie oder die allgemeinpsychiatrische Kompetenz zu ersetzen. Das Royal College of Psychiatrists hält es für nicht akzeptabel, in einer Versorgungsregion nur einen altersübergreifenden allgemeinpsychiatrischen Dienst anzubieten, wie es an vielen Stellen in unserem Land weiterhin Standard ist, und nennt in seiner entsprechenden Veröffentlichung »making equality a reality« aus dem Jahr 2009 ein solches Vorgehen eine Altersdiskriminierung (Gutzmann 2021). Auch wurde bereits die Sorge formuliert, dass ein dauerhaftes »Verstecken« der Gerontopsychiatrie in der Allgemeinpsychiatrie einer durchaus auch in professionellen Kreisen immer noch zu beobachtenden Bereitschaft zur Stigmatisierung alter Patienten Vorschub leisten könnte (Gutzmann 2024). Auch der Vergleich der Deckung spezifischer Bedarfe alter Patienten in spezialisierten gegenüber »age-inclusive« Einrichtungen macht selbst im »Mutterland der Gerontopsychiatrie«, dem Vereinigten Königreich, die Bedeutung der Gerontopsychiatrie für die Versorgung nur zu deutlich. Der Bericht der AG Psychiatrie der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG) für die Gesundheitsministerkonferenz 2012 unterstreicht ebenfalls die unverzichtbare Rolle der Gerontopsychiatrie (Gutzmann 2021). Dort wird ihre Geschichte in Deutschland nachgezeichnet und deutlich gemacht, dass sie als Teil der Psychiatrie wichtig ist und in Zukunft angesichts des demografischen Wandels noch wichtiger werden dürfte. Geriatrie und Gerontologie werden in diesem Zusammenhang als Quellen genannt, aus denen gerontopsychiatrische Kompetenz gezielt schöpfen kann, wobei die Kernkompetenzen des Fachs Psychiatrie und Psychotherapie mit seinem Wissens- und Skill-Fundus unbestritten die Basis der Gerontopsychiatrie sind.

1.2.2     Welche Elemente der Versorgung stehen in Deutschland zur Verfügung?

Die meisten gerontopsychiatrischen Patienten leben heute in der Gemeinde und werden dort von ihren Familien oder professionellen Diensten unterstützt. Die ärztliche Versorgung erfolgt in der überwiegenden Mehrzahl durch die Hausärzte. Während sich die Gerontopsychiatrie früher wesentlich auf stationäre Angebote beschränkte, wurden in den letzten 25 Jahren ambulante und aufsuchende Angebote häufiger. Hierbei spielen niedergelassene Psychiater, gelegentlich in einer Schwerpunktpraxis, und gerontopsychiatrische Institutsambulanzen von Kliniken eine wesentliche Rolle. Zum ambulanten Angebot zählen auch auf Diagnose und Therapie von Demenzerkrankungen spezialisierte Gedächtnissprechstunden. Nach den Vorschlägen der Expertenkommission der Bundesregierung 1988 sollen als Kompetenzzentren für alte, psychisch kranke Menschen spezialisierte Tageskliniken, Ambulanzen und Beratungsstellen in sogenannten Gerontopsychiatrischen Zentren zusammengefasst werden. Ein vergleichbares Konzept wurde bei der Psychiatrieplanung der Länder bisher zu wenig berücksichtigt. Besonders an spezialisierten Tageskliniken besteht immer noch ein deutlicher Mangel. Trotz der »Ambulantisierung« der Gerontopsychiatrie sind stationäre Behandlungen weiterhin insbesondere bei Menschen mit schweren Depressionen und Suizidalität sowie bei gravierenden Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit Demenz notwendig. Psychotherapien, wenn klinisch indiziert, werden bei jüngeren Patienten achtmal häufiger eingesetzt als bei Älteren, auch wenn die Evidenz ihrer Wirksamkeit in der Gerontopsychiatrie belegt ist. Schließlich stellen Menschen über 60 Jahre einen nicht geringen Teil der Klientel psychiatrischer Notfalldienste und Rettungsstellen dar, über die dann eine spezifische psychiatrische oder auch gerontopsychiatrische Versorgung angesteuert werden kann. Ein größeres versorgungspolitisches Gewicht sollten geschulte Laien als sogenannte Gatekeeper in der Region gewinnen, indem sie psychische Erkrankungen frühzeitig erkennen und die Menschen dahingehend ansprechen. Auch der in der Allgemeinpsychiatrie bewährte Peer Support, also ältere Menschen mit der eigenen Erfahrung psychischer Erkrankungen im Alter, gewinnt für ältere psychisch Kranke ebenfalls eine bedeutendere Rolle.

Medizinische Angebote

Krankenhaus

Im Barmer Krankenhausreport (Augurzky et al. 2021) weist das ICD-10-Kapitel »Psychische und Verhaltensstörungen« regelmäßig die höchste Anzahl an Krankenhaustagen je 1.000 Versichertenjahre auf. Dabei ist ein Anstieg von 284 (2006) auf 359 Krankenhaustage je 1.000 Versichertenjahre (2019) zu beobachten, ein Plus von 26,6 Prozent. Dieses Kapitel verzeichnet auch die höchsten Verweildauern. Dabei ist insbesondere der Geschlechterunterschied auffallend. Frauen weisen mit 28,2 Tagen eine deutlich längere Verweildauer auf als Männer mit 22,0 Tagen. Mit dem Alter der Patienten nimmt die Verweildauer zu. Bemerkenswert erscheint, dass sich die Gründe für eine Aufnahme in psychiatrische Kliniken oder Fachabteilungen in Allgemeinkrankenhäusern zwischen älteren Patienten und jüngeren Altersgruppen nicht wesentlich unterscheiden. So war der Aufnahmegrund für den überwiegenden Teil der in die gerontopsychiatrischen Abteilungen eingewiesenen Patienten in einer versorgungsverpflichteten Berliner Klinik selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten. Es zeigte sich also ein ähnlicher Indikationsschwerpunkt für eine stationäre Aufnahme, wie er für jüngere Altersgruppen typisch ist (Wetterling et al. 2008).

Tageskliniken

Tageskliniken (TK) sollen als intermediärer Behandlungsort akut psychisch Erkrankter und als Alternative zu einer vollstationären Behandlung dienen. Sie sollen aber auch den Übergang von der stationären in die ambulante Behandlung unter rehabilitativen Trainingsgesichtspunkten bahnen. Ferner halten sie auch im höheren Alter ein förderndes Setting für gerontopsychotherapeutische Behandlungsziele bereit, die dadurch lebensraumnah erarbeitet werden können. Auch eine Verminderung der Belastung von Angehörigen durch die Implementierung einer TK ist belegt. Die Entwicklung von gerontopsychiatrischen TK begann in Deutschland sehr zögerlich. Die erste TK wurde in Hamburg 1976 eingerichtet. In einer aktuellen Untersuchung (Hirsch et al. 2020) konnten für das Jahr 2018 insgesamt 49 spezialisierte und 15 im Alter »gemischte« TK identifiziert werden. Die Anzahl der Behandlungsplätze lag bei den spezialisierten Einrichtungen im Durchschnitt bei 16, bei den »gemischten« TK bei 11. Auch wenn eine tagesklinische Behandlung für einen psychisch kranken alten Menschen oft angemessener wäre als eine vollstationäre, scheitert die Realisierung dieser differenzialtherapeutisch sinnvollen Überlegung deshalb nicht selten am fehlenden Angebot. Es gilt festzuhalten, dass TK und stationäre Bereiche komplex interagieren. In einer Studie einer universitären Gerontopsychiatrie von Eren und Mitarbeitern sank die stationäre mittlere Verweildauer in fünf Jahren von 33,3 auf 9,5 Tage. Gleichzeitig verdoppelte sich die Wiederaufnahmerate von 5,3 auf 10,8 % und stieg die Rate der Verlegungen in die TK von 10 % auf 47 % (Holthoff-Detto 2015). Das legt die Vermutung nahe, dass eine gewünschte Verweildauerverkürzung den Bedarf an tagesklinischen Angeboten nachhaltig erhöhen dürfte.

Klassische Angebote, meist mit »Komm-Struktur« (Hausärzte, Nervenärzte, Psychiater, psychiatrische Institutsambulanzen)

Hausärzte stellen im Gesundheitswesen in der Regel die primäre Anlaufstelle für Patienten dar. Auch bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen spielt das hausärztliche Setting eine große Rolle. So werden etwa zwei Drittel der depressiven älteren Patienten primär hausärztlich behandelt. Der Hausarzt hat hier gegenüber dem Psychiater den Vorteil, dass die Patienten in der Regel bereits längerfristig bei ihm in Behandlung sind. Auch die meist gute Erreichbarkeit durch räumliche Nähe kann dem Patienten einen Besuch beim Hausarzt erleichtern. Allerdings kann eine geriatrische Kompetenz von Hausärzten und ihre Kenntnis der für ältere psychiatrische Patienten wesentlichen komplementären Strukturen nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, wie eine Studie von Wangler und Jansky (2021) belegt, die die Versorgung von Menschen mit Demenz im hausärztlichen Bereich fokussiert. Die wünschenswerte Beteiligung von Fachärzten an der Versorgung bei dieser Klientel zeigt starke regionale Unterschiede. Zudem wird kaum die Hälfte dieser Patienten überhaupt fachärztlich vorgestellt (Nelles et al. 2015). Ein besonders drängendes Problem ist die mangelnde psychotherapeutische Versorgung Älterer. Auf 60-jährige und ältere Patienten entfallen nach einer Untersuchung von Melchinger im Jahr 2011 32 % aller ambulant gestellten psychiatrischen Diagnosen, aber nur 6 % aller Psychotherapiefälle (Holthoff-Detto 2015).

Psychiatrische Institutsambulanzen (PIAs) sind Einrichtungen an psychiatrischen Kliniken und Abteilungen. Sie sind seit mehr als einem Vierteljahrhundert hinsichtlich der Versorgung psychisch schwer kranker Menschen sowie der psychiatrischen Krisenintervention unverzichtbar geworden. Sie arbeiten multiprofessionell einerseits eng mit den stationären Bereichen zusammen, bilden aber gleichzeitig die Brücke in die Gemeinde mit den dortigen komplementären Einrichtungen und Dienstleistungen. Sie haben keine reine »Komm-Struktur«, sondern sind auch, gelegentlich auch primär, aufsuchend tätig. Struktur, Aufgaben und Vernetzungen variieren von Bundesland zu Bundesland und von Region zu Region recht stark.

Gedächtnisambulanzen wenden sich sowohl an Patienten mit Demenz als auch an Patienten in Risiko- und Frühstadien von Demenzen und bieten Diagnostik und Differenzialdiagnostik, Behandlung und Beratung an. Derzeit existieren mindestens 200 dieser Einrichtungen in Deutschland. Entsprechend ihrer unterschiedlichen Struktur und organisatorischen Anbindung, es sind zum Teil universitäre Forschungsambulanzen, psychiatrische Institutsambulanzen, medizinische Versorgungszentren oder auch Schwerpunktpraxen, unterscheiden sie sich in ihrer Schwerpunktsetzung und Arbeitsweise.

Gerontopsychiatrische Zentren

Von einem Gerontopsychiatrischen Zentrum (GZ) ist zu sprechen, wenn im Kernbestand eine teilstationäre Behandlungs- und Rehabilitationseinrichtung (TK), eine Ambulanz und eine Altenberatung einbezogen sind. Nach einer mehr als dreißig Jahre alten Formulierung der Expertenkommission der Bundesregierung besteht die Aufgabe eines GZ darin, »treibende Kraft der gerontopsychiatrischen Versorgung« zu sein (Expertenkommission 1988, S. 457). 1991 wurde das erste GZ in Gütersloh eingerichtet. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger psychiatrischer Krankenhäuser stellte ein »Aktionsprogramm gerontopsychiatrische Versorgung« vor, in dem für jedes Versorgungsgebiet von 150.000 bis 250.000 Einwohnern ein GZ gefordert und 30 bis 50 klinische Betten/Plätze als angemessenes Angebot angesehen wurde, von denen 20–25 % als teilstationär ausgewiesen sein sollten (Gutzmann 2021). Aus einer aktuellen Erhebung (Hirsch et al. 2020) geht hervor, dass aktuell über ganz Deutschland verteilt erst 40 GZ bestehen. Daneben existieren 22 Einrichtungen, die unterschiedliche Bausteine eines GZ aufweisen und meist auch planen, ein vollständiges GZ zu schaffen. Allerdings wären auch nach konservativen Berechnungen in Deutschland weit über 350 GZ erforderlich.

Neue Versorgungsangebote: Assertive Community Treatment, ambulante Konsiliar- und Liaisondienste, stationsäquivalente Behandlung

Anders als bei jüngeren Patienten und Patienten im mittleren Lebensalter gibt es gegenwärtig noch wenig wissenschaftliche Erkenntnisse zu der Behandlung älterer psychisch Erkrankter im Rahmen der Behandlungsstrukturen mit multiprofessionellen Assertive Community Treatment (ACT)-Teams. Gerade in der Altersgruppe, bei der eine niedrige Inanspruchnahme und eine häufige Krankenhausbehandlung bei komplexen somatischen und psychischen Syndromen und psychosozialen Belastungssituationen bekannt sind, wäre die zeitlich ununterbrochen verfügbare, aufsuchende und stationsersetzende Behandlung durch ACT-Teams ein vielversprechender Ansatz (Holthoff-Detto 2015). Bemerkenswert erscheint, dass über den ACT-Ansatz eine verbesserte Adhärenz erzielt werden konnte und zudem der Zugang zu niedergelassenen Fachärzten im Sinne einer Sicherung der längerfristigen Regelversorgung befördert werden dürfte. Aufsuchendes gerontopsychiatrisches Home-Treatment hat seine Effektivität mit signifikanten Verbesserungen der psychiatrischen Symptomatik und der bestehenden psychosozialen Probleme, einer verminderten Rate an Krankenhauseinweisungen und Aufnahmen in Pflegeheimen und schließlich einer Reduktion der Versorgungskosten in einer Reihe von Studien, allerdings unterschiedlicher Qualität, bewiesen. Schließlich könnten auch telemedizinische Angebote für immobile Patienten oder Patienten, die in einer versorgungsschwachen Region in Bezug auf gerontopsychiatrische und -psychotherapeutische Behandlung leben, eine Lösungsstrategie darstellen (Holthoff-Detto 2015).

Die stationsäquivalente Behandlung (StäB) ist als fünfte Säule der Versorgung im Sozialgesetzbuch (SGB V) verankert. Diese Form der Zuhause-Behandlung umfasst ebenso wie eine Krankenhausbehandlung, die sie ersetzen soll, eine Betreuungs- und Interventionsoption an sieben Tagen in der Woche über 24 Stunden. Sie setzt einige spezifische Strukturmerkmale voraus. Dazu gehören der tägliche Kontakt mit einer Pflegekraft, die regelmäßige ärztliche Visite und das therapeutische Angebot mindestens einer weiteren Berufsgruppe wie bspw. Ergo- oder Physiotherapie. StäB bietet eine Reihe von Vorteilen bei der Bewältigung von psychischen Krisen und hält dabei, im Gegensatz zu ACT-Teams und anderen Home-Treatment-Modellen, Sektorengrenzen ein und ist zudem von vornherein mit einer strikten Indikationsstellung zeitlich limitiert, ähnlich wie ein stationärer Aufenthalt. StäB ist geeignet, um stationäre Behandlung zu verhindern oder zu verkürzen und dient der Gestaltung von Behandlungsübergängen. StäB zielt auf Patienten, die bei Vorliegen einer stationären Behandlungsindikation nicht auf einer Station verbleiben könnten, weil es Angehörige oder Kinder zu versorgen gilt, für die eine stationäre Therapie eine Überforderung darstellen würde oder von denen das stationäre Milieu nicht als förderlich erlebt würde. Allerdings müssen neben einem hochqualifizierten und engagierten Team ein therapieförderndes Umfeld und eine durch einen überschaubaren logistischen Aufwand gesicherte Erreichbarkeit gegeben sein (Spannhorst et al. 2020). Unter diesen Bedingungen stellt StäB auch für die Gerontopsychiatrie eine begrüßenswerte Erweiterung des therapeutischen Instrumentariums dar, besonders angesichts der Option, auch den Heimbereich mit dieser Intervention zu erreichen und somit einzelnen Patienten einen möglicherweise zusätzlich traumatisierenden stationären Aufenthalt zu ersparen, wenn selbst eine optimale Liaisonversorgung nicht ausreicht.

Pflegerische Versorgung

Seniorenheime

Alte Menschen haben nach aktuellen Angaben in der Mehrzahl den Wunsch, zu Hause bleiben zu können und dort die notwendige Pflege zu erfahren. Nur knapp 4 % der Menschen über 65 Jahre leben in Alten- und Pflegeheimen. Jenseits des 80. Lebensjahres steigt dieser Anteil auf 11 % an (Holthoff-Detto et al. 2021). Der Anteil chronisch psychisch Kranker in Alten- und Pflegeheimen variiert in Abhängigkeit von deren Größe und Zielsetzung stark. In einigen Einrichtungen sind bis zu 75 % der Bewohner chronisch psychisch erkrankt; dabei dominieren depressive und demenzielle Störungsbilder. Depressive Symptome traten nach Angaben unterschiedlicher Studien bei 40–50 % der untersuchten Bewohner auf, davon waren 15–20 % als schwere depressive Erkrankungen zu werten. Die Demenzprävalenz lag dagegen bereits nach den im GEK-Pflegereport 2008 erhobenen Daten bei 50–70 % (Gutzmann et al. 2017). Schizophrene und wahnhafte Erkrankungen lagen etwa bei 10 % der Bewohner vor. Ihr Anteil bleibt recht konstant, während affektive und besonders organische psychische Störungen kontinuierlich zunehmen. Die überwiegende Mehrheit der Bewohner muss ärztlich im Heim behandelt werden. Eigene Heimärzte sind selten (weniger als 5 %), eine Mit-Versorgung durch Krankenhausärzte (psychiatrische Institutsambulanzen) nach der Studie zur ärztlichen Versorgung in Pflegeheimen kaum häufiger (weniger als 10 %) (Gutzmann et al. 2017). Immerhin nehmen laut dieser Studie, in der auch die Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung in vollstationären Einrichtungen untersucht wurde, rund 30 % aller Bewohner einmal im Quartal oder häufiger einen Nervenarzt in Anspruch, der nach Auskunft der Pflegekräfte in nahezu allen Fällen Hausbesuche im Heim macht. Dabei werden Bewohner mit einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis anteilsmäßig am häufigsten mindestens einmal im Quartal nervenärztlich behandelt (58,8 %), gefolgt von Bewohnern mit einer affektiven Störung (42,6 %), anderen organischen psychischen Störung gemäß ICD-10 (Codes F06–F09) (35,6 %) sowie Bewohnern mit einem Demenz-Syndrom (33 %). Eine spezifische psychotherapeutische Versorgung dieser Klientel findet praktisch nicht statt.

Ambulante Pflege

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) ermittelte, dass bei rund einem Viertel der von ambulanten Diensten versorgten Demenzkranken ein nicht zufriedenstellendes Versorgungsniveau bestehe, das potenzielle Gesundheitsgefährdungen impliziere. Es ist davon auszugehen, dass sich Pflegeprobleme noch verstärken, wenn die Angehörigen auf die Unterstützung ambulanter Dienste ganz verzichten. Allein vor dem Hintergrund der finanziellen Entwicklung von Kranken- und Pflegekassen ist es aus ökonomischer Sicht dringend geboten, den Erkrankten und ihren Familien ein Netz aus medizinischer und pflegerischer Unterstützung bereitzustellen, damit sie – wenn von ihnen gewünscht und von der Familien- und Pflegesituation her verantwortbar – solange wie möglich im vertrauten Wohnumfeld verbleiben können. In der DIAS-Studie (Gutzmann 2021) wurde im Jahr 2008 festgestellt, dass in der deutlichen Mehrzahl der Fälle die Pflegedienste die von ihnen betreuten Demenzpatienten täglich, größtenteils sogar mehrfach täglich, aufsuchten. Die Kontaktdauer wurde von den Pflegediensten mit überwiegend ca. 30–45 Minuten angegeben. Die für den jeweiligen Pflegebedürftigen zur Verfügung stehende Zeit wurde aber von zwei Dritteln der Pflegedienste selten (42,6 %) bzw. fast nie (15,9 %) als ausreichend beurteilt. Seitdem hat sich die Situation der zu Pflegenden sicher nicht verbessert, sie hat sich vielmehr noch verschärft, auch durch überproportionale Fehlzeiten und Frühverrentungen der Fachkräfte, aber besonders der Hilfskräfte in der Altenpflege, wie der BARMER-Pflegereport 2020 ausweist (Rothgang et al. 2021).

Präventive Hausbesuche

Präventive Hausbesuche (PHB) für ältere Menschen waren anfangs oft Teil von eher medizinisch ausgerichteten Programmen und entwickelten sich dann zu sozialraumorientierten Interventionen der kommunalen Daseinsfürsorge. Der Unterstützungsbedarf der älteren Klientel ist dabei zunächst wenig spezifiziert, Kriterium ist aber meist eine Behinderung bei der Inanspruchnahme geeigneter Leistungen. Von PHB wird primär ein positiver Effekt auf die Sicherung sozialer Teilhabe erwartet. Renz und Meinck (2020) schlossen in ihre Untersuchung 38 PHB-Programme ein, konnten aber trotz des plausiblen Ansatzes noch keinen schlüssigen Beleg für ihre Wirksamkeit finden. Eine finnische Gruppe (Liimatta et al. 2019) fokussierte beim Einsatz eines multidisziplinären Teams die sinkende Lebensqualität Älterer und beobachtete initial einen stabilisierenden Effekt durch PHB. Allerdings vermissten sie einen überdauernden Gewinn nach Beendigung der Intervention. Diesen Aspekt des Problems der zeitlichen Entgrenzung eines initial durchaus fokussierten Angebots teilen die präventiven Hausbesuche mit anderen niederschwelligen gerontopsychiatrischen Versorgungsmodulen.

Case-Management/Collaborative Care

Case-Management wird oft definiert als eine Intervention im Quartier oder der Region, nicht jedoch im Krankenhaus und nur im Ausnahmefall in der stationären Altenpflege. Sie zielt auf ein definiertes Bedürfnis einer einzelnen Person und plant und koordiniert dafür Dienste und Leistungen. Durchgeführt wird das Case-Management meist von Professionellen aus dem pflegerischen oder sozialtherapeutischen Bereich. Aber auch Hausärzte können diese Funktion in kooperativen Versorgungsmodellen bei gerontopsychiatrischen Patienten mit Erfolg wahrnehmen. In einem solchen Modell fällt den Case-Managern die Hauptaufgabe zu, die Kommunikation mit den Hausärzten und weiteren therapeutisch im Einzelfall Involvierten, etwa Fachärzten, zu stabilisieren und aufrechtzuerhalten. Bei der Behandlung von Patienten mit Depressionen kann das etwa auch bedeuten, den Ablauf eines gestuften Behandlungsplans zu begleiten und zu intervenieren, wenn davon abgewichen wird. In einer systematischen Übersicht, in die 53 Arbeiten eingeschlossen wurden, fanden Dham und Mitarbeiter (Holthoff-Detto et al. 2021) im Wesentlichen erfolgreiche kollaborative Interventionen bei Patienten mit Depressionen. Nur wenige Studien schlossen auch Menschen mit Demenz oder Suchtkranke ein. Als eine Voraussetzung für die Effektivität von Case-Management ist neben einer verlässlichen regionalen Implementierung und der gesicherten Finanzierung ein sehr hoher Standard in der Aus- und Weiterbildung der Behandlungsteams unverzichtbar (Holthoff-Detto et al. 2021).

1.2.3     Qualitätskriterien für Versorgungsmodelle

An alle Organisationsmodelle für die Versorgung einer älteren Bevölkerung sind Qualitätskriterien anzulegen, von denen hier einige genannt seien:

1.  Als erstes Kriterium, welches unverzichtbar und selbstverständlich ist, jedoch immer wieder betont werden muss, ist aufzuführen, dass die Organisation gerontopsychiatrischer Versorgung an den spezifischen Bedürfnissen der Region und ihrer Einwohner verpflichtend orientiert sein muss.

2.  Ein zweites Kriterium ist ein an einer Stelle oder aber koordiniert an mehreren Stellen praktiziertes Aufnahmeverfahren, das auch aufsuchend erfolgen kann. Wer immer die Versorgungsstruktur nutzt, sollte unabhängig vom Ort oder vom Zeitpunkt seines Kontakts mit Gleichbehandlung rechnen können. Bedingung dafür ist ein standardisiertes Aufnahme-Assessment, das eine verlässliche Klassifizierung der Klienten und ihrer Probleme erlaubt: »Wer geht wohin und wer braucht was?« All dies soll durch ein laufendes Case-Management, bevorzugt auch mit Budget-Hoheit, hinterlegt sein, das neben der Versorgungssicherheit auch eine Kosten- und Leistungskontrolle, bezogen auf den einzelnen Klienten, gewährleistet.

3.  Schließlich, ebenfalls eigentlich selbstverständlich, müssen verlässliche Kommunikationsstrukturen für Klienten und Angehörige gewährleistet sein.

Literatur

Augurzky B, Decker S, Mensen A et al. (2021) BARMER Krankenhausreport 2020. Berlin: Barmer.

Expertenkommission (1988) Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich Zusammenstellung und Redaktion: AKTION PSYCHISCH KRANKE. Hrsg. vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Bonn.

Gutzmann H (2021) Gerontopsychiatrische Versorgungsstrukturen. In: Pantel J, Schröder J, Bollheimer C, et al. (Hrsg.) Praxishandbuch Altersmedizin: Geriatrie - Gerontopsychiatrie – Gerontologie. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. S. 766–774.

Gutzmann, H (2024) Das Stigma Demenz – ein Versorgungshindernis? Sozialpsychiatrische informationen 54: 11–15.

Gutzmann H, Schäufele M, Kessler E-M et al. (2017) Psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von Pflegebedürftigen. In: Jacobs K, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A (Hrsg.) Pflegereport 2017. Stuttgart: Schattauer. S. 107–117.

Hirsch RD, Gutzmann H, Schwandt S (2020) Übersicht über die Gerontopsychiatrischen Zentren und Tageskliniken in Deutschland. Psychiatrische Praxis 47: 399–405.

Holthoff-Detto V (2015) Innovative Versorgungsstrategien in der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Nervenarzt 86: 468–474.

Holthoff-Detto V, Nienaber A, Bötel N et al. (2021) Komplexbehandlung bei schweren psychischen Erkrankungen im Alter – eine Positionsbestimmung. Nervenarzt.

Liimatta H, Lampela P, Laitonen-Parkkonen P et al. (2019) Effects of preventive home-visits on health-related quality-of-life and mortality in home-dwelling older adults. Scand J Prim Health Care 37: 90–97.

Nelles G, Bergmann F, Gold R et al. (2015) Neurologische und psychiatrische Versorgung aus sektorübergreifender Perspektive. Akt Neurol 42: 418–425.

Renz J-C, Meinck M (2020) Präventive Hausbesuche für ältere Menschen: eine systematische Bestandsaufnahme ihrer praktischen Anwendung in Deutschland. Gesundheitswesen 82: 339–344.

Rothgang H, Müller R, Preuß B (2021) BARMER-Pflegereport 2020: Belastungen der Pflegekräfte und ihre Folgen. Berlin: Barmer.

Spannhorst S, Weller S Thomas C (2020) Stationsäquivalente Behandlung – Eine neue Versorgungsform auch in der Gerontopsychiatrie. Z Gerontol Geriat 53: 713–720.

Wangler J, Jansky M (2021) Factors influencing general practitioners’ perception of and attitude towards dementia diagnostics and care-results of a survey among primary care physicians in Germany. Wien Med Wochenschr 171: 165–173.

Wetterling T, Gutzmann H, Haupt K (2008) Gründe für die Einweisung in eine gerontopsychiatrische Klinik. Nervenarzt 79(3): 340–347.

1.3       Das multiprofessionelle Team – Chancen und Grenzen

Hermann Brandenburg, Tamara Großmann und Christoph Betz

Die wichtigsten Kernpunkte

•  Zur Begrifflichkeit: Das »multiprofessionelle Team« beschreibt die Zusammenarbeit verschiedener Professionen, in diesem Fall in einer gerontopsychiatrischen Behandlungseinheit. Multiprofessionalität muss hierbei begrifflich von Begriffen wie Interdisziplinarität oder Interprofessionalität abgegrenzt werden, die häufig in einer darüber hinausgehenden Bedeutung verwendet werden.2

•  Setting Gerontopsychiatrie: Die allgemeine Bedeutung dieser Thematik wird in Folge des Versorgungs- und Unterstützungsbedarfs von Personen in der Gerontopsychiatrie verstärkt. Dieser hat zur Folge, dass eine Vielzahl verschiedener Professionen in die Versorgung involviert ist (neben Medizin und Pflege sind dies auch Krankengymnastik, Logopädie, Ergotherapie etc.).

•  Bedeutung: Die Zusammenarbeit im Team sollte nicht nur von Interesse sein, wenn sie nicht gelingt. Grundsätzlich sollte die Art und Weise der Kooperation immer wieder reflektiert werden, denn eine hohe Qualität diesbezüglich ist nicht selbstverständlich.

•  Hauptvorteil einer effektiven Zusammenarbeit: Hier wird in vielen Studien der positive Einfluss auf die Patientenversorgung betont. Als Herausforderung sind organisatorische Aspekte, vor allem aber Einstellungs- und Habitusfragen zu nennen.

•  Förderliche Maßnahmen: Dazu gehört unter anderem ein hohes Maß an Kommunikation. Regelmäßigkeit, Vollständigkeit und inhaltliche Substanz der Kommunikation sind hierbei entscheidend. Das kann unter anderem durch fest eingeplante (Fall-)Besprechungen mit allen Akteuren und den Betroffenen gewährleistet werden. Klar formulierte Aufgaben und Verantwortlichkeiten unterstützen die Zusammenarbeit. Außerdem sind Einblicke in das Aufgabengebiet anderer Professionen hilfreich. Die Möglichkeit hierzu besteht bspw. dann, wenn Raum für Teamentwicklung in Form von Team- und/oder Klausurtagen gegeben wird. So können auch Ziele, Wertvorstellungen und Haltungen definiert werden, die vom Team gemeinsam verfolgt werden.